Zur Methode der philologischen Begriffsforschung
Von Paul Hackeb, Münster
Diskussionen, bis hin zur Kontroverse, gehören zum Leben der Wissen¬
schaft. Früher waren sie auch in der Indologie oft sehr rege, wie etwa
manche alten Bände der ZDMG bezeugen. Heute kommen sie seltener
vor. Aber mindestens an einem Punkte gibt es sie noch. FreUich ist das
eher ein Nachklang aus einer Zeit, die 30 bis 50 Jahre zurückUegt. Ich
meine den Streit um f<a.
Heineich Lüdees hat rta untersucht. Seine nachgelassene Arbeit,
soweit sie die Wirren des Zusammenbruchs des Deutschen Reiches über¬
dauert hatte, ist von Ludwig Alsdoef pietätvoll, verständnisvoll und
mit großer eigener Mühe teilweise wiederhergestellt und herausgegeben
worden: H. Lüdees, Varuna, Band 1—2, Göttingen 1951—1959.
Unglücklicherweise finden nun aber die Ergebnisse von Lüdees nicht
die Anerkennimg und Beachtung, die sie verdienen. Die Fronten zwischen
den Zustimmenden und den Ablehnenden scheinen sich zu versteifen,
wenn man nach Paul Thiemes kürzlich in dieser Zeitschrift erschiene¬
nem Beitrag urteUen will: ZDMG 113, 1964, S. 683—694. Tragisch oder
komisch, wie man's nimmt.
Lüdees' Arbeit ist sicher ein Muster gründlicher philologischer Unter¬
suchung, und die Ergebnisse reichen in ihrer Bedeutung weit über das
nur Philologische hinaus. Das Unglück, das die Anerkennung erschwert,
ist sein ,, konsequentes Übersetzen" von rta mit Wahrheit, das nun von
Thieme (a.a.O. 691) ausdrücklich verteidigt wird, gegen Gonda, Rau
und Renou. Auch das Unternehmen Hanns-Petee Schmidts, der neuer¬
dings vedisch vrata untersucht hat, ist mehrfach kritisiert worden:
H. P. Schmidt, Vedisch vratd und awestisch urväta, Hamburg 1958 (Alt-
und neuindische Studien 9). Die Untersuchung ist außerordenthch
gründlich und soUde, und das Material ist vollständig und wohlgeordnet
dargeboten; aber ebenso wie Lüdees die Übersetzung Wahrheit für ;•<«,
so hält Schmidt die Übersetzung Gelübde für vrata beharrUch durch, und
gerade diese Beharrüchkeit ist kritisiert worden.
Die Sache erfordert offenbar einige Diskussion ihrer grundsätzlichen
Seite. Thiemes Gedankengänge laden dazu ein. Im folgenden geht es mir
hauptsächhch um die Frage, welchen Wert und welche Grenzen das
Übersetzen bei der phüologischen Begriflfsforschung habe. Meine Aus¬
führungen sind eine Antwort an Thieme; auf Gond as Ansichten gehe
ich nur an einer SteUe und nur insoweit ein, als Thieme ihn zitiert.
Thieme fordert, gewiß mit Recht, daß die Methode der Vedainterpre- tation dieselbe sein müsse wie die anderer philologischer Interpretation
auch. Aber er formuliert diesen (1.) Grimdsatz so: ,,Die Validität der in
der RV-Interpretation geübten Methoden ist zu messen an ihrer Über¬
einstimmung mit den Methoden aller sonstigen philologischen Interpre¬
tation" (a.a.O. 687). Dazu wäre hinzuzufügen, daß die Methoden sonstiger
philologischer Interpretation keine ein für allemal feststehende Größe
sind. Alle Untersuchungsmethoden müssen sich immer wieder der Nach¬
prüfung stellen. Sie müssen den Gegebenheiten des je vorliegenden Ma¬
terials entsprechen ; diese aber kann man fürs erste nur finden, bemerken.
Im Zuge des Demonstrierens und Testens des Bemerkten gestaltet sich
die — je zu modifizierende — Methode, die die Wissenschaft erst zur
Wissenschaft macht. Man kann sich daher von der Arbeit anderer For¬
scher und auch von andern Wissenschaftszweigen wohl fruchtbar an¬
regen lassen — ja, man darf solche Anregung nicht verschmähen — aber
man kann eine Methode nie so weit übemehmen, daß ein eigener Methode¬
entwurf unnötig würde — sofem man etwas finden will.
Als „elementarste Konsequenz" seines 1. Grundsatzes bezeichnet es
Thxbme, ,,daß man den wissenschaftlichen Wert konsequenten, wörtli¬
chen Übersetzens bejaht" (ebendort Anm. 3). Nun, den wissenschaft¬
lichen Wert des Übersetzens kann man bejahen, aber doch etwas anders
einschätzen, als Thieme ihn darstellt. Mir scheint, der Wert des Über¬
setzens besteht bei der philologischen Untersuchung von Begriffen nicht
so sehr in einer beharrlichen ,, Konsequenz", sondem darin, daß es als
heuristisches Verfahren nutzbar gemacht werden kann.
Zunächst ist gegen gewisse mechanistische Moden der Gegenwart fest¬
zustellen, daß alle geisteswissenschaftliche Untersuchung ein gewisses
Maß von Selbstbeobachtung* erfordert. Gewisse Bhckrichtungen, Wahr¬
nehmungsfähigkeiten und Kriterien sind die Voraussetzung des Findens
und Bemerkens. Der Forscher kann und muß diese Fähigkeiten rmd Per¬
spektiven entwickeln, er kann und muß die Ergebnisse ihrer Betätigung
möglichst objektiv testen; aber der Erfolg seiner Forschungsbemühimg
hängt davon ab, ob er sie hat und ob er sich nach ihnen richtet oder nicht.
Ein Verfahren solcher Selbstbeobachtung ist auch das Experimentie¬
ren mit dem Übersetzen in die Muttersprache des Forschers (oder in
eine andere Sprache, die er beherrscht). Faktisch wendet jeder Philologe
vom Anfänger bis zum Universitätsprofessor dies Verfahren unzählige
Male an. Er fragt sich, ob diese oder jene Übersetzung „paßt" oder nicht.
* Hiermit meine ich das, was in formalistischer Linguistik als "intro¬
spection" abgelehnt zu werden pflegt — wobei gewöhnlich übersehen wird,
daß der Formalismus nur dort mit einiger Aussicht auf Erfolg arbeiten
kann, wo methodisch entwickelte introspection bereits das Material geklärt hat.
296 PAtTL HaOEEB
Er macht sich dabei gar keiae weiterreichenden Gedanken über die
philosophischen, psychologischen und geschichtlichen Hintergründe imd
Implikationen der je einzelnen Schritte des Verfahrens ; er braucht dar¬
über auch gar nicht zu reflektieren, denn die Anwendbarkeit des Verfah¬
rens hängt an Gegebenheiten des Geistes, die aueh sonst ein Verständ¬
lichwerden möglich machen. Es wäre zu global, ein solches Probieren in
jedem Falle als „Willkür und subjektives Raten" zu verm-teilen, und
auch Thieme, der solche Ausdrücke a.a.O. S. 688* gebraucht, meint es
wohl nicht so. Das Experiment, das die passende Übersetzung sucht,
kann schon ein methodisches Verfahren sein, nämlich die Methode des
Einsetzens des Denkbaren. Diese ist zur ersten Approximation unent¬
behrlich, wenn auch ihre Ergebnisse später häufig wieder verworfen
werden müssen. Wissenschaft wird solches heuristische Geschäft dadurch,
daß das im Übersetzungsexperiment Bemerkte nach gewissen Regeln
geprüft wird, bis es sich bewährt, oder daß, im Falle des Nichtpassens
einer Übersetzung, gefragt wird, warum sie nicht paßt. Das Nichtpassen
kann durch Textverderbnis verursacht sein, und dann ist weiter zu fragen,
wie das Ursprüngliche ermittelt werden könne; es kann aber auch da¬
durch bedingt sein, daß etwas der fremden Konzeption genau Entspre¬
chendes in der Übersetzungssprache fehlt, und dann sind Methoden der
philologischen Begrififsforschung erfordert.
Die entscheidende Hilfe, die das Übersetzen bei der philologischen
Begriffsforschung leisten kann, beruht also zunächst darauf, daß die
Übersetzung sich fortgesetzt vor dem muttersprachlichen Bewußtsein
des Forschers verantworten muß. „Konsequenz", Festhalten an einer
und derselben Übersetzimg in mehreren Kontexten, hat dabei schon
einen Sinn, aber einen sehr begrenzten. Er besteht nur so lange, als die
Übersetzung nicht mit dem Sprachgebrauch der Übersetzungssprache in
Konflikt kommt. Denn der Forscher will ja etwas merken, etwas finden,
und oft genug ist das, was er finden muß, etwas Neues, etwas anderes
als das schon Bekaimte. Auch die Tatsache, daß etwas anderes da ist,
muß erst bemerkt werden, und das ist oft gar nicht so leicht. Ein Anzeichen,
das darauf aufmerksam machen kann, daß ein Anderssein vorUegt, ist
eben der Protest des Sprachbewußtseins gegen eine versuchte Über¬
setzung. Zum beharrhchen Festhalten an einer und der gleichen Über¬
setzung bedarf es keiner großen Übung ; der Forscher muß vielmehr eine
wache, bewegliche Wahmehmungsbereitschaft üben, und diese kann
dadurch entwickelt werden, daß er sich daran gewöhnt, sich von seinem
Sprachbewußtsein warnen zu lassen, aufzumerken und zu fragen, wenn
das Sprachbewußtsein Einspruch erhebt. Das gilt nicht nur für die Be¬
griffsforschung, sondern auch für die syntaktische Untersuchung. Wie
oft wird gerade durch „konsequentes, wörthches Übersetzen", das keine
Riieksicht nimmt auf den Sprachgehrauch der Übersetzungssprache,
eine Einsicht in Elemente des syntaktischen Baues der indischen Spra¬
che verbaut — etwa wenn sthä, i imd car unbeirrt mit „stehen" bzw.
,, wandeln" übersetzt werden, wodurch das reflexe Verständnis der Tat¬
sache, daß diese Verben in Verbindung mit Präsenspartizipien und Ab-
solutiven durative Aktionsart bezeichnen, unterbunden wird ; oder wenn
auf -tväi endende Komposita beharrlich mit „wegen des .. .seins" über¬
setzt werden, wodurch die Erkenntnis, daß solche Bildungen im Nominal¬
stil den begründenden Nebensätzen des Verbalstils entsprechen, paraly¬
siert wird !
Aber gedankenlose Trägheit hat Thieme natürhch rücht befürworten
wollen. Wahrscheinlich meint er sogar weitgehend das gleiche wie ich.
Im Blick auf die r<a-Untersuchung sagt er: „Die Nachprüfung selbst hat
auf neue Beobachtungen geführt" (a.a.O. 692). Auch ihm kommt es auf
das Finden des Unbekannten an. In seiner Darstellung der Methode je¬
doch erscheint mir einiges sehr bedenklich.
Es scheint mir nicht die , .Konsequenz" des Übersetzens (immer mit
dem gleichen Wort) zu sein, was Lüdees' Untersuchung hat erfolgreich
werden lassen ; die Leistung scheint mir vielmehr darin zu bestehen, daß
er, ausgehend von der Übersetzung mit Wahrheit, die mannigfaltigen
Verwendungen und Verbindungen des Wortes rta eingehend interpre¬
tiert hat. Soweit es sich dabei um Konkretisierungen handelt, hat er auch
Erweiterungen des Bereichs, der durch die Übersetzung greifbar ist,
faktisch anerkannt und festgestellt : beim Ansatz von fta als Kultlied und
in der Darlegung über die Materialisierung des rta. Was aber den geistigen
Inhalt des f<a-Begriflfs anbetrifft, so gibt es auch da Bereiche, die zwar
als mit unserem Begriff Wahrheit verwandt oder irgendwie zusammen¬
hängend begreifbar erscheinen, aber doch diesen Bereich überschreiten.
Dahin gehört insbesondere ,,das Rta als weltschaffende und welterhalten¬
de Macht" (Varutju II 568—580), und dahin gehören Stellen, wo sich —
nach der Methode des Einsetzens des Denkbaren — zunächst Übersetz¬
ungen wie „Treue, Redlichkeit" nahelegen, die sich dann dadurch zu
bestätigen scheinen, daß druh „Betrug" ein Gegensatzbegriflf zu rta ist.
Diese Verwendungen sowie femer die in der Ähnhchkeit mitgegebene
Verschiedenheit von fta und satya (auf die ich noch zurückkommen
werde), hätten Aiüaß geben können, den fto-Begrifif zu durchdenken,
zwar ausgehend von der Übersetzung Wahrheit, aber schließlich doch
frei von der Übersetzung. Dadurch hätte die Einheit des r^a-Begrififs,
seine Ähnlichkeit mit unserem Wahrheit-^egciS imd zugleich seine von
diesem abweichende Konzeption aufgewiesen werden können. Eine solche
Untersuchung steht nun noch aus; Lüdees lag sie offenbar nicht. Er
blieb bei der Übersetzung: Wahrheit.
298 Paui. Hackeb
Es wäre ungereclit, Forscher und Leistungen einer früheren Genera¬
tion wegen ihrer Grenzen geringzuschätzen. Was wir heute tun, können
wir nur, weil jene taten, was sie konnten. Aber wenn wir in der Erkeimt¬
nis weiterkommen wollen, dürfen wir uns auch nicht an ihre Grenzen
binden, im Methodischen ebensowenig wie im Faktischen. Darum sollte
man aus der Grenze von Lüdbks' Möglichkeiten kein Prinzip machen.
Zum Prinzip erhoben, könnte die Fordenmg eines „konsequenten, wört¬
lichen Übersetzens" die Gefahr heraufbeschwören, daß das Anderssein
einer (durch ein fremdes Wort symbolisierten) Konzeption, die Abwei¬
chung des geistigen Inhalts eines fremden Begriffs von den Möglichkeiten
einer Übersetzimgssprache, nicht gesehen und zumindest nicht zur re-
flexen Klarheit wissenschafthcher Darlegimg erhoben werden könnte.
Darum ist es wichtig, daß der Forscher die Proteste seines mutter¬
sprachlichen Bewußtseins beim Übersetzen beachtet,und daß er sich
durch dieselben immer von neuen anregen läßt, tiefer in die durch das
imtersuchte Wort symbolisierte fremde Konzeption einzudringen oder
näher an sie heranzukommen, das Netz der Reflexion und der wissen¬
schaftUchen Beschreibung enger zu ziehen. Aber auch weim er eine Über¬
setzung findet, die in manchen Kontexten zu passen scheint, darf er sich
damit nicht zufrieden geben. Daß die Übersetzung sich den Möglichkeiten
der Übersetzimgssprache glatt einfügt, ist keine Gewähr für die richtige
Erfassung des Fremden. Die Methode des Einsetzens des Denkbaren ist
nur zur ersten Annäherung brauchbar und immer wieder durch andere
Methoden zu ergänzen (fünf Aufweisverfahren sind am Schluß dieses
Aufsatzes genannt). Sehr oft ist das für uns Denkbare nicht das, was für
die Sprachgemeinschaft, der das imtersuchte Wort angehört, denkbar ist.
Das hat gerade auch Lüdbks sehr deutlich erkannt, und diese Erkennt¬
nis zeichnet seine Arbeitsweise aus vor früheren Versuchen (vgl. Varuna, I
S. 14). Weil er sich von der unreflektierten Voraussetzung unmittelbarer
Denkbarkeit des Fremden frei machte, konnte er den Inhalt des fremden
Begriffes wahrnehmen. Aber er kam dann doch an seine Grenze. Den
Drang zum Übersetzen überwand er nicht. Seiner Einsicht in die Einheit
der /-to-Konzeption gab er Ausdruck durch die Einheit der Übersetzung.
Dabei modifizierte er die Konzeption des verwendeten deutschen Wortes
nach dem BUd des untersuchten fremden Wortes.
Das ist ein Verfahren, das bei Übersetzungen, die einem Lebenszweck
dienen, tausendfach vorgekommen ist. Bei den zahlreichen Bibelüber¬
setzungen sind viele Begriffe des Originals in Übersetzungssprachen, die
dieselben vorher nicht kannten, mehr oder weniger überführt worden.
Aber der Zweck solcher Übersetzungen ist nun doch etwas anderes als
phUologische Begriffsforschung. Diese hat nicht die Aufgabe, fremde
Konzeptionen auf dem Wege der Übersetzung in eine Übersetzungs-
spräche unmittelbar imd imreflektiert zu überführen, also etwa die
Fähigkeit auszubilden, Wahrheit auch nach dem Bilde von rta zu denken ;
ihr Geschäft ist es viehnehr, das Fremde eines Begriffes, sofem der For¬
scher es in den Blick bekommen hat, auch reflex bewußt zu machen und
entsprechend zu beschreiben, darzustellen, damit auch andere es reflex
sehen können. Das hat Lüdees auf manchen Strecken seiner ;-<a-Unter-
suchung nicht erreicht, insbesondere da, wo der geistige Inhalt der r<a-
Konzeption reflex zu klären gewesen wäre. Er blieb dabei stehen, daß
er sich selber und seinen Lesern zumutete, Wahrheit auch als ria zu den¬
ken.
Dergleichen ist natürlich geradezu eine Einladung zum Mißverständ¬
nis. So wird denn Lüdees von mehreren Kritikern so mißverstanden,
als käme es ihm primär darauf an zu zeigen, rta sei „ completely identical
with German die Wahrheit", wie Gonda sagt (in: History of Religions, 1.
Chicago 1961, S. 252, zitiert bei Thieme a.a.O. 686^). Thieme tadelt ihn
deswegen. Gegen Gonda verteidigt er, neben Lüdees' Methode und
Lieistung, auch „den wissenschaftlichen Wert konsequenten, wörtlichen
Übersetzens". Was m.E. verteidigt werden muß, ist die Einheit der rta-
Konzeption, und diese meint Thieme mit seiner Forderung und mit
seiner Ablehnung eines Verfahrens, das „nach Gutdünken und Beheben
einmal so und einmal so übersetzt" (a.a.O. 688*). Weil er aber seine Ver¬
teidigung an die Forderung gleichbleibenden Übersetzens bindet, statt
die Grenzen und die Relativität des Übersetzens bei der philologischen
Begriffsforschung zu erörtern, behebt er das Mißverständnis nicht. Er
mißversteht Gonda; Gonda wird weiterhin sowohl Lüdees als auch
Thieme mißverstehen.
Soweit Thieme seine Grundsätze allgemein und ohne Bezugnahme
aufs Übersetzen formuliert, finde ich sie unanfechtbar. Nach dem (oben
erwähnten) 1. Grundsatz stellt er die beiden folgenden auf:
„2. Das vorläufig Unbekannte oder als unbekannt zu Unterstellende
ist zu fassen durch den Vergleich mit dem sicher Bekannten.
3. Das vorläufig (.tentativ') , Gefaßte' ist experimentell zu prüfen auf
seine konsequente Anwendbarkeit auf das vollständige Materiar'(a.a.O.
688).
Was aber Gonda und andere kritisieren und Thieme gegen sie vertei¬
digt, ist damit noch nicht eigenthch gekennzeichnet.
Zu 2 ist zu bemerken, daß Lüdees vedisch rto doch nicht bloß mit
Sanskrit (rta =) satya vergleicht — das ist ein Verfahren, das mir sehr
angemessen und fruchtbar scheint — sondern daß er (Varw^ II 405 und
sonst) rtd' und Wahrheit massiv und wuchtig gleichsetzt, ohne Erörte¬
rungen über die Inkongruenz der durch die beiden Wörter symbolisierten
Konzeptionen. So mußte der mißverständliche Eindruck entstehen.
300 Pattl Hackeb
es komme ihm primär auf diese Gleichsetzung an. Und nur deswegen
konnte der Einspruch gegen seinen Varuna erhoben werden.
Lüdees' Verdienst liegt anderswo als in dieser Gleichsetzung. Um dies
zu sehen, ist es jedoch notwendig, auch die Grenzen seiner Möglichkeiten zu erkennen.
Was Thiemes 3. Grimdsatz (s. oben) anbetrifft, so sind einige Indolo¬
gen und bin auch ich der Meinung, daß derselbe, auf Lüdees' und
Schmidts Arbeiten angewandt, das Gegenteil von dem beweist, was er
nach Thiemes Meinung beweisen sollte. Denn die Ubersetzungen Wahr¬
heit für rta und Gelübde für vrata sind auf das vollständige Material gerade
nicht ,, konsequent anwendbar". Das Durchhalten der beiden Überset¬
zungen führt zu sinnlosen Sätzen, bei vrata „Gelübde" noch viel mehr
als bei rta ,, Wahrheit". Gonda hatte darauf hingewiesen, daß vrata in
vielen Fällen nicht mit ,, Gelübde" übersetzbar sei; Thieme tadelt ihn
hart: „Es fehlt ihm (d.h. Professor Gonda) hier die Fähigkeit, eine ihm
persönlich fremde Vorstellung anderen zuzutrauen — also ist sie .un¬
möglich'" (a.a.O. 691 Anm. 6). Und Thieme fährt fort: „Sie (d.h. die
Gonda fremde Vorstellung) begegnet aber in ganz ähnlicher Form
auch in andern Religionen : Genesis 8,21 und 22 — um nur ein besonders
naheliegendes Beispiel zu nennen" (ebendort). An der genannten Bibel¬
stelle spricht Gott u.a.: „Solange die Erde steht, soll es Aussaat und
Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Herbst, Tag und Nacht ohne
Unterbrechung geben." Thieme fülirt die Stelle an, weil er meint, aus ihr
ein Argument gewinnen zu können gegen Gond as Satz : „It is impossible
to describe the fact that a god has extended sky and earth (RV 3, 6, 5),
marked off the expanse of the earth (8, 42, 1), or simply came (2, 24, 12)
as his Gelübden" (zitiert bei Thieme a.a.O.). Aber Thiemes Angriff trifft
den Angegriffenen gar nicht. Gonda hatte in dem zitierten Satz behaup¬
tet, in gewissen Sinnzusammenhängen (wo vrata steht) könne man nicht
von „Gelübde" sprechen. Er hat damit unbestreitbar recht. Ich verstehe
nicht, inwiefern seine Behauptung die Unfähigkeit, „eine ihm persön¬
lich fremde Vorstellung andem zuzutrauen", erweisen soll. Gonda sprach
nicht von der Fremdheit von Vorstellungen, sondem von der Nichtan-
wendbarkeit eines europäischen Wortes zur Übersetzung eines indischen
Wortes. Thieme verschiebt Gondas Argument, weil er Gelübde nach dem
Büde von vrata versteht. Und nur für das verschobene Argument führt
er als Beleg die Bibelstelle an. Selbst weim man die Worte Gottes in der
Stelle indisch als ein vrata beschreiben könnte* — es bezeichnet sie doch
niemand imDeutschen als Gelübde ! Sie sind eine Verheißung. In unserem
(christlich geprägten) Sprachgebrauch sind Gelübde und Verheißung un-
* Ich glaube nicht, daß man es kann. Uber vrata hoffe ich demnächst eine
Studie zu veröffentlichen.
verwechselbar verschieden. Aber ein vraM kann man auch nicht als Ver¬
heißung beschreiben. Und manches, was man indisch vrata nennt, kann
deutsch nur dann als Gelübde bezeichnet werden, wenn der deutsche
Sprachgebrauch mißachtet wird. Die Herbeiziehung der Bibelstelle be¬
stätigt also, was dadurch entkräftet werden sollte: die Berechtigung
von Gondas Einspruch.
Die Frage, was der Inhalt eines fremden problematischen Wortes sei,
muß getrennt werden von der Frage nach der passenden Übersetzung in
einem bestimmten Kontext und von der Frage nach der Eintragung in
ein zweisprachiges Lexikon an der Stelle des betr. Wortes. Die erste
Frage ist Aufgabe einer umfassenden Philologie, hineinreichend in die
Geistesgeschichte; bei der zweiten und der dritten geht es um eme An¬
leitung zum Verständnis, rmd diese Aufgabe ist durch Übersetzen immer
nur mit Kompromissen lösbar. Lüdees und Alsdoef haben umfassend
beschrieben, was rta ist, und dabei auch den weltanschaulichen Hinter-
grimd aufgezeigt. Thieme (a.a.O. 686) meint, die Leistung bestehe u.a.
darin, daß vedisch rto, Sanskrit satya und deutsch Wahrheit als ,, lexika¬
lische Äquivalente oder Quasiäquivalente" aufgewiesen würden. Damit
erscheint als ein Ziel der philologischen Begriffsforschung das Aufstellen
eines zweisprachigen Glossars, wobei zudem jedem fremden Wort je ein
"Übersetzimgswort entsprechen soll. Gewiß lebt die Lexikographie von
der begriffsforschenden Philologie, aber sie ist nicht deren eigenthches
Ziel. Die Kompromisse, mit denen die Lexikographie notwendig arbeiten
muß, dürfen von der philologischen Begrififsforschung nicht geschlossen
werden.
Nim weiß natürlich auch Thieme, daß die Lexikoneintragung Wahrheit
hinter rfa nicht alles sagt, was über rta zu sagen ist. Er stellt fest: ,,Das
Experiment führt also zur Aufdeckung von Vorstellungen. Diese Vor¬
stellungen weichen erheblich von denen ab, die der moderne Mensch z.B
mit dem Naturgeschehen verbindet" (a.a.O. 691). Aber Thieme will eine
und dieselbe Übersetzung durchhalten, weil er an dem „begrifflichen
Wert eines Ausdrucks" festhalten will, obwohl er diesem erlaubt, „sich
aus dem Kontext mit Vorstellungen zu supplementieren" (688*). Das be¬
deutet: Er fordert von dem Porscher und dem, der demselben zuhört,
daß er lerne, beispielsweise Gelübde als vrata und Wahrheit als rta zu den¬
ken. Und er rechtfertigt diese Forderung mit theoretischen Gründen.
Die Begriffe Begriff bzw. begrifflicher Wert und Vorstellung bezeichnen
den Kem von Thiemes theoretischer Rechtfertigung der Übersetzungs-
beharrhchkeit ; ich werde darauf sogleich zurückkommen.
Theemes Ausführungen enthalten nämlich auch eine Sprachtheorie.
Auf diese muß ich nun eingehen, fireilich nur insofem, als sie Thiemes
Bild von der Begriflfsforschung bestimmt. Berücksichtigt man diese
302 Pattl Hackeb
Theorie, so wird seine Verteidigung des „konsequenten, wörtUchen Über¬
setzens" verständhcher.
Nach dieser Theorie „benennt" ein Wort zunächst einen ,, Begriff".
Bedeuten heißt einen Begriff benennen (vgl. 685). Die ,, Begriffe"
sind offenbar von der Sprache unabhängig gesehen; denn vedisch j-ta,
Sanskrit satya ruid deutsch Wahrheit , .benennen die gleichen Begriffe"
(686), und „der Begriff .Wahrheit' " kann auch „durch ein anderes Wort
für Wahrheit ausgedrückt" werden (692). Ein Ausdruck hat einen „be-
griflfhchen Wert" (688*). Die Begriffe ..verbinden sich" dann aber mit
„Vorstellungen" (688*. 691.692'), und diese können uns fremd sein (6918).
Mit den ..Vorstellungen", die der Sprechende mit dem durch das Wort
benannten „Begriff" „verbindet", wenn er diesen ,, nennt", „meint" er
etwas; indem „ein bestimmter Sprecher in einem bestimmten Zusam¬
menhang" mit dem durch ein Wort benannten Begriff gewisse „Vorstel¬
lungen" verbindet. ..versteht" er etwas ..unter diesem Begriff". Die
Frage nach den Begriffen, die mit den Worten benannt werden, ist ..lexi¬
kalisch"; die Frage nach dem je Gemeinten oder unter einem Begriff
Verstandenen ist „exegetisch". Beide Fragestellungen sind „theoretisch
verschieden", ihre Beantwortung läßt sich aber „in der Praxis nicht
scharf trennen". Die lexikalische Frage gehört der „Sprache" an (Za
langue nach F. de Saussube), die exegetische der „Rede" (la parole).
„Die Rede ist unmittelbarer Beobachtung zugänghch, die Sprache ist
erst aus den an der Rede angestellten Beobachtungen zu erschließen"
(685). Der „erschlossene lexikalische Wert, die Bedeutung" ist eine ..Ab¬
straktion", aber erst die Beziehung auf diese macht die konkrete Beob¬
achtung an der ,,Rede" zu einem , .sinnvollen Ganzen" (685 f.).
Ob oder inwieweit diese Theorie bzw. dieser Begriffsapparat, soweit
bis jetzt dargestellt, manchmal zur Gewinnung von Erkenntnissen dien¬
lich sein kann, braucht hier nicht erörtert zu werden. Gewiß geht es bei
der philologischen Begrififsforschung um Elemente der Sprache, nicht nur
der je und je sich ereignenden Rede. In Thiemes Darstellung aber er¬
scheinen die (zu untersuchenden) Begriffe in fester Entsprechung zu
solchen der Übersetzungssprache, so daß das „konsequente Übersetzen"
eine zentrale methodische Funktion erhält. Die Antwort auf die Frage
nach dem Begriff — im Spezialfall: ..Was bedeutet rM? d.h. welchen
Begrifif benennt es" (685) — liefert den ..lexikahschen Wert, die .Be¬
deutung' " (686). und ,.die Prüfung eines tentativen lexikalischen Wertes
auf seine Gültigkeit innerhalb eines bestimmten Literaturwerkes oder
-Stratums ist nicht anders möglich als durch konsequentes Übersetzen"
(691). Hier ist also vorausgesetzt, daß ein Begrifif prinzipiell übersetzfcar
sei (in eine beliebige fremde Sprache), daß folglich ein Begriff der unter¬
suchten Sprache als Begriff dem Forscher immer schon bekannt oder
wenigstens in ausreichender Annäherimg bekannt sei (gleich wie fern und
fremd auch die untersuchte Sprache sein mag ; er kann dem Forscher
aber nur bekannt sein aus dessen muttersprachlichem Bewußtsein). Es
kommt nur darauf an, „die nächsten lexikalischen Äquivalente" (686^)
für fremde Worte aufzufinden. Die Möglichkeit, daß die Übersetzungs¬
sprache gar kein Äquivalent enthalten könnte, daß im Bereich des unter¬
suchten Wortes die begriffliche (konzeptuelle, inhalthche) Struktm- der
fremden Sprache eine ganz andere sein könnte als die der Übersetzungs¬
sprache, ist offenbar nicht vorgesehen. Hier liegt die Fragwürdigkeit von
Thiemes BegrifflVorstellung-Theorie.
Die Anwendung der Theorie, die ich aus Thiemes Wortgebrauch
aufzubauen versucht habe, läuft darauf hinaus, daß das aus Europa
Bekannte (an das bei der Deutung des Fremden jeweils angeknüpft
werden muß) zum „Begriff" gestempelt wird und das Fremde zu „Vor¬
stellungen", die mit dem Begriff ,,verbvmden" sein sollen. Da der „Be¬
griff" der Sprache (la langue), die ,, Vorstellung" aber der Rede (la parole)
angehören soll (Thieme a.a.O. 685), würde zugleich ein indischer Text
zu einer Rede-foim der Sprache des Standard Average European. Ich
meine, man braucht diese Konsequenzen nur zu sehen, um die Frag¬
würdigkeit des ganzen Begriffsapparates nebst dem, was derselbe be¬
weisen soll, einzusehen. Werm ich z.B. als Europäer in niscaya den ,, Be¬
griff" Entscheidung (decision, peiueHue usw.) finden, niscaya auf das
Muster dieses ,, Begriffes" spannen und alles andere, was in dem Wort
ist, als ,, Vorstellimg" interpretieren will — dann steht es, sofern ich
indisch denken kann, in meinem Belieben, das Umgekehrte genau so zu
tun: Entscheidung auf den „Begriff" niscaya spannen und das, was im
Wortinhalt nichtdazu paßt, als „Vorstellung", die sich damit „verbinde",
in den Bereich europäischer Rede abschieben. In ähnhcher Weise kann
ich etwa dharma auf das Modell Recht festnageln und dann alles, was in
dharma dazu nicht paßt, als Vorstellung, die sich damit verbinde, ab¬
schneiden; ich kaim aber auch, indisch denkend, Religion auf dharma
spannen und die Glieder, die über dieses Lager hinausragen (vgl. Gondas
,Prokrustesmethoden' bei Thieme a.a.O. 688*), abhacken und in den
Schrank mit der Aufschrift ,, Vorstellung" legen: dazu würde denn alles
gehören, was in der Religion nicht Praxis oder Vorschrift ist. Solche
"Überlegimgen, denen manche hinzugefügt werden können, zeigen m.E.,
daß Thiemes Begriff! Vorstellung-Theorie, sofern sie, die Existenz von
Äquivalenten (oder Quasiäquivalenten) voraussetzend, die Forderung
gleichbleibenden Übersetzens einschließt, doch u.U. der Erkenntnis eher
hinderlich als förderhch sein kann.
Statt von einem „Begriff", der von einer „Vorstellung" zu unterschei¬
den und mit dieser zu „supplementieren" wäre, rede ich Heber von einem
304 Pattl Hacker
Wortinhalt und verstehe darunter eme an em Lautzeichen gebundene
geistige Gestalt, ia der sich eüie Sprachgemeioschaft ein Stück Welt an¬
verwandelt und die mit andern, in gleicher Weise Lautzeichen zugeord¬
neten geistigen Inhalten in Beziehungen steht, dergestalt daß es durch
die Gesamtheit dieser Gestalten fiu* die Sprachgemeinschaft möglich
wird, mit der Welt geistig mnzugehen. Wenn ich ia diesem Aufsatz von
philologischer Begriffsforschimg spreche, so verstehe ich dabei Begriff
als Wortinhalt. So verstandene Begriffe sind ia den verschiedenen Spra¬
chen mehr oder weniger ähnlich, aber selten gleich (und zwar in der
Sprache als la langue, nicht erst in der Rede, la parole). Die Ähnlichkeit
ermöglicht eiae Übersetzung, bedingt aber zugleich, weil Ähnlichkeit
immer Unterschiedlichkeit impliziert, daß die Übersetzung nie adäquat
ist. Das, was von der Muttersprache des eine fremde Sprachwelt unter¬
suchenden Forschers abweicht, was er zunächst als fremd entdecken
muß, gehört voraussichtlich zu dem Eigentümlichen der fremden Sprach¬
welt (zu Za langus, nicht erst la parole). Am Protest unseres muttersprach¬
lichen Bewußtseias können wir beim Übersetzungsexperiment u.U. er¬
kennen, daß sich hier die fremde Sprachgemeioschaft eia Stück Welt
anders anverwandelt, als wir es tun. In der philologischen Begriffsfor-
schimg kommt es u.a. ganz wesentlich darauf an, zu erkennen, wo die
fremde Sprachgemeiaschaft sich die Welt anders anverwandelt als wir
imd wie sie es tut.
Die Geistesgeschichte Indiens ist voll von Problemen, die denen von
j-ta und vrata ähnlich siad. Ich nenne nur ein paar Beispiele von Worten,
die ich immer wieder beobachte: sri, tejas, bhävanä, Sraddhä, sarnkalpa.
„Konsequent" übersetzen kann ich hierbei nur, weim ich den Weg zum
Verständnis der Worte verbauen oder ein unsachgemäßes und daher
mißverständliches Schema (etwa von der Art der Begriff! Vorstellung-
Theorie) anwenden will. Daß der Inhalt von rta weitgehend mit unserem
Wahrheit sich deckt, scheint mir außer Frage; Ordnung möchte ich als
Äquivalent ebenso ausschließen, wie Lüdebs, Alsdorf und Thieme es
tun. Aber ich plädiere überhaupt nicht für eine der vorgeschlagenen oder
eine neue Übersetzung. Ich bin der Meinung, daß nur durch das Mißver¬
ständnis, als sei das Ziel philologischer Begriffsforschung eine lexiko¬
graphische Univozität, der Rest der Lösung des ?-Za-Problems noch hint¬
angehalten wird.
Es besteht ja noch die leidige Frage nach dem Unterschied zwischen
fta und satya, insbesondere in spätvedischer Zeit, als beide offenbar als
ähnlich und daher gelegentlich austauschbar empfunden, aber doch
unterschieden Avurden. Auch Thieme hält es für „möglich, daß noch
eine begriffüche Nuance existiert, ... die Lüdees entgangen ist" (a.a.O.
693) — nämlich eine Nuance, die den Unterschied zwischen rta und saiya
ausmacht. Aber er fügt zu dem Ausdruck „begriffliche Nuance" (an der
Stelle, die ich durch Punkte angedeutet habe) sogleich den Relativsatz
hinzu: „die sich durch eine Übersetzung zum Ausdruck bringen läßt".
Es ist m.E. dies mißliche Postulat der Übersetzung, was die Lösung des
rto/sa<2/a-Problems erschwert und verzögert. Der Hinweis darauf, daß
rta ursprünglich nur Substantiv, satya mu* Adjektiv war, ist schon für
die ältere Zeit imbefriedigend, weil da auch satya als Substantiv vor¬
kommt, und die Rede von „lexikalischen Äquivalenten" (a.a.O. 693) ist
oberflächlich. Als Beispiel solcher Äquivalente nennt Thieme das deut¬
sche Paar Lügej Unwahrheit. Aber die beiden Wörter sind inhaltlich nicht
dasselbe. Wenn sie in einem Wörterbuch nebeneinanderstehen, so ist das
einer von den Approximationskompromissen, wie sie der Lexikograph
fortgesetzt schließen muß. Beschreiben aber beide ein und dasselbe
fremde Wort, etwa indisch anrta, so läuft doch Thiemes Begriff des ,, lexi¬
kalischen Äquivalents" auf eine partielle oder gar totale Aufhebung
seines Prinzips der „konsequenten" (d.h. gleichbleibenden), „wörthchen"
Übersetzung hinaus. Denn der Lexikograph, der zwei Wörter zur Be¬
schreibung eines fremden Inhalts anwendet, tut dies doch, weil er spürt,
daß eins nicht reicht und daß er besser daran tut, das Ziel durch mehrere
zwar fehlgehende, aber gutliegende Übersetzungsschüsse einzukreisen.
Das Prinzip der „konsequenten wörtlichen Übersetzung" lähmt und
beengt beide, die Philologie und die Lexikographie, weil es beiden Tätig¬
keiten nicht ihre fruchtbare Selbständigkeit läßt, sondern sie aneinander-
koppelt. Läßt man das Prinzip fahren, so erkennt man, daß in Lüdees'
und Alsdoefs Leistung alles Material für eine Lösung des ftajsatya-Vro-
blems schon bereithegt. Der Unterschied läßt sich eben nicht „durch
eine Übersetzung zum Ausdruck bringen". Aber das bedeutet nicht, daß
er der wissenschaftlichen Untersuchung und Beschreibung unzugänglich
wäre. Doch will ich auf diesen Einzelfall einer Begriffsuntersuchung hier
nicht eingehen. Ich möchte auf ihn nur hinweisen als ein Musterbeispiel
dafür, daß eine unsachgemäße Übersetzungsforderimg die Möghchkeiten
der Philologie einengt und lähmt.
An der Unsachgemäßheit seiaer Systemkonstruktion scheitert Thiemes
Versuch, einenMangel vouLüdeks' Arbeitsweise — der, wie mir scheint,
gar nicht durch theoretische oder systematische Reflexion entstanden
war — dadurch, daß er ihn aus einem System heraus interpretiert, als
philologische Weisheitzu rechtfertigen. Wenn dem , .konsequenten, wört¬
lichen Übersetzen" die Voraussetzung der Begriff! Vorstellung-Theorie zu-
grundehegt, so hat es in der Tat einen wissenschafthchen Sinn. Mit dem Zu¬
sammenbruch dieser Theorie aber erweist sich die Übersetzungsbeharrhch-
keit, die schon auf dem philologischen Gebiet selber als zumindest irre¬
führend nachweisbar ist, auch in der theoretischen Reflexion als unhaltbar.
306 Paul Hackeb
Thiemes Theorie koppelt mit der Identität eines „begriffhehen Wer¬
tes" unauflösbar die Identität der Übersetzung. Sehe ich dagegen den
begrifflichen Wert als den WortinhuÜ des problematischen Wortes, so
löst sich dieser von der Übersetzimg. Habe ich einmal gefunden, daß die
fremde Sprache sich ein Stück Welt anders anverwandelt, als wir es tun,
und habe ich nach Anwendung passender Methoden einigermaßen er¬
kannt, wie sie es tut, so bleibt die Verwendxmg von mehr als einer Über¬
setzung weiterhin sinnvoll imd nützlich, aber in einem andern Sinne als
am Anfang der Arbeit. Es geht nun nicht mehr darum, durch das Ex¬
periment mit der Übersetzung auf die Möglichkeit eines imbekannten
Wortinhalts aufmerksam zu werden, vielmehr hat die Abwechslung jetzt
den Sinn, daß dabei immer wieder gefragt werden kann, was dieser, was
jener Wortinhalt der Übersetzimgssprache mit dem fremden gemeinsam
habe und worin er sich unterscheide. Das klärt das Fremde, und zugleich
fördert es das Unabhängigwerden des Philologen vom Weltbild seiner
Muttersprache. Denn das Übersetzen ist doch schließhch für den Philo¬
logen nur eine HUfe, eine Brücke, die er überschreiten muß, die ihn aber
nie zum Ziel fiihrt und nie einen letzten Sprung entbehrlich macht. Er
muß sie hinter sich lassen, um zu einem unmittelbaren Verstehen des
Fremden zu gelangen und das Unbekannte darstellend bekanntmachen
zu können. Ist der fremde Wortinhalt einmal entdeckt, so erscheint beim
Übersetzen nicht nur die Ähnlichkeit, sondem auch die in jeder Ähiüich-
keit mitgegebene Inkongruenz als eine Folge des Wesens der beiden In¬
halte, des Inhalts des indischen und des des versuchsweise gebrauchten
Wortes der Übersetzimgssprache, und es erscheint unzulässig, das Diver¬
gente — als zur ,, VorsteUung" oder sonst einer Kategorie gehörig — von
dem fremden Wort abzulösen. Der Forscher befindet sich dann in einer
weitgehenden Freiheit gegenüber der Übersetzung. Er weiß, daß alle
Übersetzimgen an dem Inhalt des fremden Wortes vorbeigehen und
keine ihn ins Zentrum trifft; aber in solcher Lage ist es schon etwas wert,
von verschiedenen Richtungen aus an verschiedenen Seiten am Ziel vor¬
beizuschießen. Es kommt allerdings darauf an, daß die Schüsse, wie man
sagt, gut liegen, so gut, daß das Ziel einigermaßen eingekreist wird. Um
ein anderes Bild zu gebrauchen: die notwendige FüUe der Übersetzungen
sind Tangenten, die nie ins Ziel treffen, aber an verschiedenen Seiten
mehr oder weniger nahe an ihm vorbeigehen; je näher sie berühren,
desto besser. Das ist mehr oder weniger die Situation, die immer wieder
die PhUologen (und Lexikographen) bewogen hat, auf einen als fremd
empfundenen, aber deutlich gesehenen Wortinhalt nicht nur einen, son¬
dem ein ganzes Bündel von ÜbersetzungspfeUen abzuschießen oder eine
ganze Schar von Tangenten anzulegen. NatürUch kann die Verwendung
mehrerer Übersetzungen auch aus „Willkür und subjektivem Raten",
aus „Gutdünken tmd Beheben" hervorgehen (Thieme 688*). Aber nach¬
dem eme Erkenntnis erreicht ist, kann das Operieren mit mehreren Über¬
setzungen eine Folge davon sein, daß der Forscher den fremden Wort¬
inhalt geistig gesehen hat. Bei dem, der dem Forscher zuhört und die
fremde Sprache nicht kennt, kann zwar auch die Vielheit der Übersetzun¬
gen zu Mißverständnissen führen. Aber ihm müßte ohnehin der fremde
Wortinhalt durch eine besondere Beschreibung dargelegt werden. Auch
der Hörer oder Leser muß schließhch angeleitet werden, den fremden
Wortinhalt wahrzunehmen, und dazu muß auch für ihn der Bereich des
Übersetzens verlassen werden.
Ich insistiere nicht auf einer Theorie. Aber wenn ich von der Erfahrung
der philologischen Beobachtung aus weiterdenke, nähere ich mich einer
Theorie, von der Bestandteile in meinen obigen Ausführungen einge¬
schlossen sind. Die Theorie muß aus der Einzelbeobachtung wachsen
und darf dieser nicht übergestülpt werden. Aber eine methodisch ge¬
klärte philologische Begriffsforschung (zusammen mit syntaktisch-seman¬
tischer Forschung) dürfte auch zu einer Sprachtheorie brauchbare Bei¬
träge liefern ■— wie umgekehrt sich in solcher Forschung erweisen kann,
ob eine bestehende Theorie sich an den Tatsachen bewährt oder nicht.
Bei aller bisherigen Erörterung, auch bei Thceme, war vorausgesetzt,
daß das problematische fremde Wort eiwe „Bedeutimg" hat. Es gibt
aber auch Wörter, die mehrere „Bedeutungen" haben (faßt man Wort
als Einheit von Lautzeichen und Inhalt, so muß man sagen : Es gibt auch
Iiautzeichen, die zu mehreren Wörtern gehören). Deutsch Vermögen z.B.
hat die beiden „Bedeutungen", die approximativ durch die beiden
Wörter Besitz und Fähigkeit angedeutet werden können. Mögen beide
auch sprachgeschichtlich und bedeutungsgeschichtUch auf eine „ur¬
sprüngliche" Einheit hinweisen, so sind sie doch im Sprachbewußtsein
vöUig verschieden. Bei einem fremden Wort ist es oft schwierig und lang¬
wierig, zu finden, ob eine echte Bedeutungsmehrheit vorliegt. Solange
darüber Ungewißheit herrscht, ist es natürhch für den, der dem Forscher
zuhört, besonders mißverständhch, wenn dieser mit mehreren Über¬
setzungen operiert. Es kann sein, daß bloß der Zuhörer mißversteht ; es
konunt aber auch vor, daß der Porscher selber keine genügende Klarheit
gewonnen hat. Es geht wohl jedem so, daß er in sehr vielen Fällen diese
Klarheit nie erreicht. Hat aber ein Forscher die Einheit eines Wortinhalts
deutUcher gesehen als ein anderer, der noch mit der unzutreffenden An¬
nahme mehrerer „Bedeutungen" arbeitet, so erkennt er in. der Vielheit
der Übersetzungen, die der Kollege gebraucht, ein Anzeichen davon,
daß derselbe noch nicht zur Klarheit gekommen ist. Weim er von dieser
Erkenntnis aus die Vielheit der Übersetzimgen, die der Kollege gebraucht,
ablehnt, so hat das in diesem Zusammenhang einen guten, sachhchen
21 ZDMO 116/2
308 Paul Hackeb, Zur Methode der philologischen Begriffsforschung
Sinn. Soweit Lüdees' und Alsdoefs Ablehnung der Vielheit von Über-
setzunigen für rta, wie sie etwa Geldnee gebrauchte, so gemeint ist,
möchte ich ganz zustimmen. Freilich wäre dann immer noch nötig, her¬
vorzuheben, daß die Einheit des Inhalts von gerade wenn und weil
sie als Einheit gesehen ist, nicht eine Einheit der Übersetzung fordert,
uktadosaprasangät.
Wenn mm das Übersetzen nur einen beschränkten imd relativen Wert
hat zum AuflSnden des Inhalts eines problematischen Wortes, welche
Wege führen dann zum Ziel ? Nun, automatisch und mechanisch keiner.
Am Anfang aller wissenschafthchen Erkenntnis steht allein das Bemer¬
ken. Aber es gibt Hilfen zum Bemerken, und dieses führt erst dann zur
eigentlichen Wissenschaft, wenn das Bemerkte erwiesen wird. Thiemes
Grimdsatz, daß das Unbekannte „zu fassen" ist „durch den Vergleich
mit dem sicher Bekannten" (688), kann mannigfaltige Anwendung fin¬
den, je nach der Natur des Gegenstandes. Als die Methode oder den Kern
der Methode, die Lüdees bei r'a angewandt habe, nennt Thieme (688—
691, 694) das Aufsuchen und die Auswertung des Gegensatzbegriffes bzw.
der Gegensatzbegriffe. Das ist gewiß ein sehr brauchbares Aufweisver¬
fahren, aber für sich allein wohl nicht ausreichend. Über andere Verfahren
möchte ich hier nicht mehr ausführlich handeln; ich verweise auf die
methodologischen Bemerkungen meiner Aufsätze in der WZKSO, Bd. 7,
1963, und in KZ 78, 1963. Ich begnüge mich mit der Aufzählung einiger
Aufweisverfahren :
1. Das Aufsuchen von Stellen, wo der Inhalt des problematischen
Wortes im Text selber beschrieben ist;
2. Die Beachtung von Ausdrucksvariationen, und im Zusammenhang
damit
3. Das Aufsuchen inhaltsähnhcher Ausdrücke;
4. Die Auswertung der Inhalte von Wörtern, die häufig im nächsten
Kontext des problematischen Wortes vorkommen: solche Wörter können
einen Teil des Inhalts des problematischen Wortes insistierend heraus¬
heben.
Pür diese Verfahren sind Beispiele in den genaimten Aufsätzen ent¬
halten.
Bhävanäkrama
Von Mitsuyoshi Saigusa, Tokyo
GuiSEPPB Tucci hat in seinem Buch Minor Bitddhist Texts, Part II,
Serie Orientale Roma, IX, 2, Roma, Istituto Italiano per il Medio ed
Estremo Oriente, 1958, die Textausgahen des ersten Bhdvanäkrama in
Sanslirit imd Tibetisch veröffentlicht. Im ersten Kapitel seiner Einfüh¬
rung hat er sehr ausführlich das Leben des Kamalasila, des Verfassers
des Bhävanäkrama beschrieben, femer die historischen Ereignisse in
Tibet zur Zeit seines (Kamalaäilas) Tibetaufenthaltes. Im zweiten Ka¬
pitel seiner Einführung hat Professor Tucci den Inhalt dieses Textes
bekaimtgemacht, Sechs Jahre früher hatte Paul Demieville eine kurze
Zusammenfassung der chinesischen Übersetzung dieses Textes in Frag¬
ments du Dossier Indien de la Controverse I, Le Premier Bhävanä-Krama
de Kamalasila, Analyse sommaire d'aprh la version chinoise, gegeben.
Dieses Kapitel findet sich im Anhang S. 333—335 seines Buchs Le Con¬
cile de Lhasa (Bibliotheque de l'Institut des Hautes fitudes Chinoises,
Vol. VII) Paris 1952.
Tucoi hat sich die Ergebnisse dieser Zusammenfassung zunutze ge¬
macht, jedoch hat er die Texte nicht ihrer cliinesischen Übersetzung
gegenübergestellt. Deshalb habe ich auf Anregung von Professor Dr.
Helmut Hoffmann diese Texte mit ihrer chinesischen Version, dem
Kuang-shih p'u-t'i-hsin lun ^^-^ .f^ |^ (Taisho Bd. 32, Nr. 1664),
übersetzt von Shih Hu (Dänapäla), verglichen. Ich habe dabei
festgestellt, daß die chinesische Übersetzung weitgehend mit der Sans¬
kritfassung übereinstimmt. Hier möchte ich zum Beweis folgende zwei
Listen anführen.
1. Übereinstimmimg der beiden Texte.
Sanskrit (Tucci) chinesisch (Taisho 32, Nr. 1664)
fehlt 563a. Z. 13 ,^563a. Z. 27
§ 1. 663a. Z. 28 ^563c. Z. 17
§ 2. 563 c. Z. 17 ^563c. Z. 28
§ 3. 563 c. Z. 28 ^564b. Z. 4
§ 4. 564b. Z. 4 ^564b. Z.24
§ 6. 564b. Z. 24 ^564c. Z. 13
§ 6. 564c. Z. 13 r^564:C. Z. 26
§ 7. 5 '^la.l fehlt
fehlt 564c. Z. 26 r^565a. Z. 13
7a. 1 ~ 666 a. Z. 14 ~565b. Z. 11
21*