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Rede zur Freiheit in Nürnberg

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Rede zur Freiheit in Nürnberg

Prof. Dr. Dres. h. c.

Hans-Jürgen Papier:

„Freiheit als Sinn des Staates“

8. September 2008

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Herausgeber

Friedrich–Naumann–Stiftung für die Freiheit Truman–Haus

Karl–Marx–Straße 2 14482 Potsdam Verantwortlich Redaktion der Freiheit Reinhardtstraße 12 10117 Berlin

Telefon: 030.28 87 78–51 Telefax: 030.28 87 78–49 presse@freiheit.org Gesamtherstellung COMDOK GmbH Büro Berlin 2008

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Rede zur Freiheit in Nürnberg

Prof. Dr. Dres. h. c.

Hans-Jürgen Papier:

„Freiheit als Sinn des Staates“

8. September 2008

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Inhalt

Horst Förther

Grußwort 5

Dr. Wolfgang Gerhardt MdB

Grußwort 9

Prof. Dr. Dres. h. c. Hans-Jürgen Papier

Freiheit als Sinn des Staates 13

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4 Rede zur Freiheit in Nürnberg

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Grußwort Horst Förther

Bürgermeister der Stadt Nürnberg

„Freiheit als Sinn des Staates“ – unter dieser Über- schrift steht die diesjährige „Rede zur Freiheit“ der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, die heute zum ersten Mal hier in Nürnberg stattfindet. Es freut mich sehr, dass Sie Nürnberg als Ort für Ihre Veran- staltung ausgewählt haben. Wenn Sie akzeptieren, dass Frieden ein Bruder der Freiheit ist, dann sind Sie heute im Historischen Rathaussaal richtig behei- matet. Das Friedensmahl zum Ende des 30-jährigen Krieges fand hier statt und in jüngster Vergangenheit

die Feier zur Verleihung des Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreises.

Wenn Sie die Einladungskarte zur heutigen Veranstaltung in den Händen ha- ben, sehen Sie das berühmte Bild Nürnbergs aus der Schedelschen Weltchronik.

Die Freie und Reichsstadt Nürnberg zeigt sich hier in ihrem ganzen Glanz als Ur- bild einer mittelalterlichen Stadt.

Das Bild ist mehr als nur eine Abbildung der mittelalterlichen Freien und Reichsstadt Nürnberg. Es symbolisiert deren Freiheit und Wirtschaftsmacht, aber auch deren gesellschaftliche Ordnung und Hierarchie.

Im Mittelpunkt die Kaiserburg als Sitz der weltlichen Herrschaft, aber auch des Schutzherren der Stadt. Darunter die Vielzahl der Kirchtürme und der Häuser der Bürger. Das Ganze umgeben von starken, schützenden Befestigungsanlagen.

Eine hierarchische, in sich geordnete Gemeinschaft, geschützt durch starke innere und äußere Mauern.

Aber in dieses Bild schleichen sich auch kleine Störfaktoren ein. In der rechten unteren Bildhälfte sehen wir eine viereckige gemauerte Plattform: den Rabenstein, die Hinrichtungsstätte der Stadt, ein Bild der Durchsetzung der Ordnung gegen- über Störenfrieden. Und rechts unten in der Ecke der Anschnitt eines Gebäudes, scheinbar bedeutungslos, damals aber eine Sensation: die Stromersche Papier- mühle – der erste Betrieb in Deutschland, der im großen Umfang Papier herstellte.

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6 Rede zur Freiheit in Nürnberg

Das Gewerbe beginnt – nicht nur symbolisch – die Mauern der mittelalterlichen Stadt zu überwinden.

Auf kleinem Raum vereint diese Abbildung damit das tatsächliche, aber auch das symbolische Bild einer der damals zentralen Städte Europas auf dem Weg in die Neuzeit.

Exemplarisch deutlich macht es aber auch den langen Weg, den unsere Vor- stellung von Staat und Gesellschaft, den unser Staatsdenken, aber auch unser Verständnis von Freiheit seit dem Entstehen dieser Abbildung an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert durchschritten hat.

Freiheit war zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Bildes nicht die Freiheit des Einzelnen, des Individuums. Freiheit bedeutete Rechte im Rahmen einer Hi- erarchie, die vom Kaiser an der Spitze bis zum einfachen Bettler auf der Straße reichte. Freiheit orientierte sich an der Stellung in diesem großen Schauspiel der mittelalterlichen Gesellschaftspyramide.

Etwas lässt sich aber auch zur Rolle des Staates aus diesem Bild entnehmen:

Der Staat schützt seine Bürger vor der Unordnung dessen, was außerhalb der ei- genen Mauern liegt. Schützend scharen sich die Häuser und Kirchen um die Burg als Sinnbild der kaiserlichen Macht, drohend stellt sich der Rabenstein als Symbol der weltlichen Gerechtigkeit, aber auch der städtischen Freiheit vor die Kulisse der Reichsstadt.

In Zeiten zunehmend unsicherer werdender Lebensbiografien erscheint dieses Bild scheinbarer Geordnetheit und Sicherheit verführerisch. Jeder hat seinen Platz in einer geordneten, sicher nach außen abgegrenzten Gesellschaft.

Vielfach vergessen wird bei dieser Sehnsucht nach einer einfachen Welt aber die Kehrseite dieser Sicherheit. Die Enge und Starrheit eines Systems, das nur den Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie, den Schutz des Staatsganzen vor inne- ren und äußeren Störenfrieden zum Ziel hat.

Die Freiheit des Einzelnen zählt in diesem System – noch – nicht. Sie ist viel- mehr nur ein Störfaktor, der das Funktionieren des Rädchenwerkes des Staates und damit seine Sicherheit gefährdet.

Auch heute droht die Freiheit des Einzelnen vielfach zu einem bloßen Stör- faktor staatlicher Sicherheits bestrebungen abzusinken. In den Diskussionen über

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neue Online-Überwachungs methoden, den elektronischen Personalausweis oder auch die erweiterten Möglichkeiten der Videoüberwachung sehen sich diejeni- gen, die den Begriff der Freiheit, ja selbst die Grundrechte ins Feld führen, oft in die Rolle des Gefährders, desjenigen gedrängt, der sich schützend vor die Feinde des Staates stellt.

Dabei wird zu schnell vergessen, dass staatliche Sicherheitspolitik nicht Selbst- zweck ist, sondern immer nur dazu dienen kann, unsere freiheitliche Gesellschafts- ordnung zu sichern. Absolute Unfreiheit wäre selbst für absolute Sicherheit ein zu hoher Preis – wenn diese denn überhaupt zu erreichen ist!

Aufgabe des Staates ist dabei nicht allein die Sicherheit der Freiheit des Ein- zelnen, sondern auch ein gerechter sozialer Ausgleich, der die Leistungen des Einzelnen nicht ignoriert.

Gefordert ist hierbei aber auch ein Staat der seine eigenen Grenzen kennt und akzeptiert.

Dieses stetige Bemühen um den gerechten Ausgleich zwischen den verschie- denen Faktoren ist Grundlage der Akzeptanz der staatlichen Ordnung in der Be-

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8 Rede zur Freiheit in Nürnberg

völkerung. Meiner Einschätzung nach ist diese Akzeptanz eine wesentlich bessere Basis für eine sichere und gerechte Gesellschaft als dies jede Videoüberwachung und jeder polizeiliche Eingriff je sein kann.

Daher bin ich sehr auf die Ausführungen des Herrn Präsidenten, Professor Pa- pier, zu dieser Thematik gespannt.

Ich wünsche uns allen einen interessanten und anregenden Abend.

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Grußwort

Dr. Wolfgang Gerhardt MdB

Vorsitzender des Vorstandes der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,

herzlichen Dank für die freundliche Begrüßung hier im historischen Rathaussaal, herzlichen Dank für die Gastfreundschaft der Stadt Nürnberg.

Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts, meine Damen und Herren,

die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit feiert in diesem Jahr einen run- den Geburtstag. Im Mai 1958, vor 50 Jahren also, wurde sie von Theodor Heuss gegründet und nach Friedrich Naumann benannt, einem Mann, der leider viel zu früh verstorben ist, im August 1919, knapp 1 Jahr nach Kriegsende also und kurz nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der Deutschen Demokratischen Partei.

Theodor Heuss hat, als er mit einigen seiner politischen Weggefährten die Stiftung gründete, kaum ahnen können, wie sie sich im Laufe der Jahrzehnte ent- wickeln würde. Ihm ging es nach den Erfahrungen mit der instabilen und daher nur kurzlebigen Weimarer Republik darum, die zweite deutsche Demokratie auch innerlich, nicht nur institutionell zu festigen – das geeignete Mittel dazu war die politische Bildung. Ich denke, er wäre, wenn er uns heute sehen könnte, mehr als zufrieden; die Fahne von Demokratie, Menschenrechten und Marktwirtschaft nämlich hält die Stiftung in mittlerweile rund 60 Ländern hoch, in 48 Ländern hat sie sogar ein eigenes Büro.

Wir wissen natürlich, dass es zwischen einzelnen Staaten und Gesellschaften große Unterschiede gibt. Wir haben es zu tun mit prosperierenden Gemeinwesen, mit gescheiterten Staaten und mit Aufsteigern. Wir haben es zu tun mit Staaten, mit einer Art ethnischem Binnenzirkus, der viel Kraft kostet, Kraft, die eigentlich der Gesellschaft zugute kommen müsste, und wir haben es leider immer noch zu tun mit Diktatoren und Menschenrechtsverletzern.

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10 Rede zur Freiheit in Nürnberg

Kurzum, es gibt vieles, nur eines gibt es nicht mehr: Stammplätze. Es gibt Gesellschaften, die bereit sind, sich um des wirtschaftlichen Prosperierens willen auf Veränderungen einzustellen, sich zu öffnen. Natürlich sind dabei immer auch die Führungseliten in Politik und Gesellschaft gefragt. Wachstumsraten aber sind nicht die einzigen Indikatoren für den Erfolg einer Gesellschaft – nach Überzeu- gung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit spielen auch Wertezusam- menhänge eine wichtige Rolle.

Darüber verfügen wir auch in Deutschland. Die Freiheit – man kann es gar nicht häufig genug betonen – gehört dazu. Sie ist auch unser Potenzial, sie kann Deutschland wieder weiter nach vorn bringen. Sie ist eine wichtige Botschaft un- serer Verfassung. Marktwirtschaft mit Regeln, verbunden mit dem Ideal des Fair Play ist die Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg und damit auch für soziale Sicherheit. Differenzierung, Eigenverantwortung und Teilhabegerechtigkeit: das sind die entscheidenden Qualitätsmerkmale einer freiheitlichen Gesellschaft. Auf sie kommt es an.

Der Respekt vor ihnen aber wird in Deutschland viel zu wenig trainiert. Die Gleichgültigkeit, das Schulterzucken bei dem Wort Freiheit, Sätze wie „Das ha- ben wir doch schon. Worum geht es dabei eigentlich? Damit haben wir doch kein

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Problem!“ erschüttern mich immer wieder. Die Kenntnis über die Bedingungen für Freiheit ist längst nicht so weit verbreitet, wie manche meinen.

Ganz anders die Vorstellung vom Prinzip Gleichheit. Sie ist in Deutschland mancherorts nahezu grotesk. Stanislaw Lec hat mal gesagt, wenn alle Menschen gleich wären, würde einer ja genügen.

Auf unsere politische Agenda gehört auch die Selbstvergewisserung darüber, was uns Freiheit heute bedeutet. Was wir meiner Überzeugung nach brauchen, ist ein Kodex von Überzeugungen, ein Bewusstsein für zivilisatorische Formen, ein intakter Sinn für regulative Prämissen. Allein sie machen den humanen Zusam- menhang einer Kultur aus.

Im August, pünktlich zum Jahrestag des Mauerbaus, legte die Freie Universi- tät Berlin die Ergebnisse einer Studie vor. Dieser Studie ging es darum herauszu- finden, wie die heutige Schülergeneration die DDR wahrgenommen hat. Befragt wurden 5.000 Schüler aus 4 Bundesländern. Das Resultat war erschreckend. „Die Jugendlichen wissen gar nicht“, so der Kommentar von Klaus Schroeder, dem Leiter der Studie, „was eine Diktatur ist. Sie haben keine Bewertungsmaßstäbe wie Gewaltenteilung oder die Bedeutung der Menschenrechte im Kopf.“ Ihre Vor- stellung von der DDR sei erschreckend. „Es gibt die Vorstellung eines ärmlichen, skurrilen Landes, das aber irgendwie sehr sozial war.“ Auf die Frage „Wer hat die Mauer gebaut?“ gaben nur 30,1 Prozent die richtige Antwort – „die DDR“. Der Rest, 69,9 Prozent also, gab eine falsche Antwort. Das lässt mich eigentlich nicht ruhen. Ich habe die Sorgen, dass die Antworten jenseits der Schule nicht viel an- ders ausfallen würden.

Die Friedrich-Naumann-Stiftung hat ihrem Namen im vergangenen Jahr den Zusatz „für die Freiheit“ gegeben. Wir sind uns bewusst, dass Freiheit Verantwor- tung voraussetzt, dass sie mit anderen Werten abgewogen werden muss, dass sie nicht beliebig sein kann, dass es keine Überdehnung der Freiheit geben kann.

Aber von einem sind wir fest überzeugt: Alle anderen Werte wären nichts, wenn es in der Bundesrepublik den Grundwert der Freiheit nicht geben würde. Das war der Grund dafür, dass wir uns ganz bewusst für diesen Namenszusatz entschie- den haben.

Deswegen haben wir heute einen Mann eingeladen, der unseren Respekt und unsere Hochachtung genießt, genauso wie das Bundesverfassungsgericht, dem er vorsteht: Ich begrüße Herrn Professor Hans-Jürgen Papier. Wir können uns glück- lich schätzen, dass wir neben den mentalen Voraussetzungen, die eine lebendige

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12 Rede zur Freiheit in Nürnberg

demokratische Gesellschaft braucht, ein unabhängiges, als Garant der Verfassung auftretendes Gericht haben.

Hans–Jürgen Papier wurde 1943 in Berlin geboren. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er hat 1970 über die Forderungsverletzung im öffentlichen Recht pro- moviert und 1973 über die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte habilitiert. Von 1974 bis 1991 war er Professor an der Universität Bielefeld, 1992 folgte ein Ruf an die Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit Februar 1998 ist Profes- sor Papier Vorsitzender des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts und dessen Vizepräsident. Im April 2002 übernahm er die Präsidentschaft.

Seine heutige „Rede zur Freiheit“ hat er unter den Titel „Freiheit als Sinn des Staates“ gestellt. Herr Professor Papier, wir freuen uns auf Ihre Ausführungen, Sie haben das Wort.

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Vortrag

Freiheit als Sinn des Staates Prof. Dr. Dres. h. c.

Hans-Jürgen Papier

Präsident des Bundesverfassungsgerichts – Es gilt das gesprochene Wort –

Vorbemerkung

„Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.“ Diesen Gedanken hat der große niederländische Philosoph Baruch de Spinoza vor über 300 Jahren in sei- nem „Theologisch-Politischen Traktat“1 festgehalten. Ich möchte mit Ihnen heute der Frage nachgehen, inwieweit auch in der Gegenwart die Freiheit als grundle- gender zentraler Wert den Staat zu rechtfertigen vermag und wie sich die Freiheit zu anderen wichtigen Prinzipien wie der Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen, seiner Gemeinschaftszugehörigkeit und der „inneren Sicherheit“ verhält – inwie- weit es hier Wechselbezüglichkeiten, Spannungsverhältnisse oder Vorrangver- hältnisse gibt.

Dabei möchte ich in drei Schritten vorgehen: Zunächst (I.) werde ich mich in allgemeiner Form mit dem Menschen- und Gesellschaftsbild des grundgesetzlichen Staates befassen, und mit der Frage, welche grundlegenden Wertentscheidungen dabei zugunsten der Freiheit zu beachten sind. Sodann (II.) werde ich anhand der Doppelfunktion der Grundrechte als Quelle von Abwehrrechten und Schutzpflichten zu zeigen versuchen, dass die Freiheit letztlich sowohl Kern als auch Grenze des Sicherheitsgedankens ist; dabei werde ich auch auf den staatlichen Schutz der Freiheit vor privater Macht eingehen. Das wird mich schließlich (III.) zu der Frage führen, inwieweit eine staatliche Überregulierung die Freiheit gefährdet und zwar gleichgültig, ob es sich um Regelungen der inneren Sicherheit oder der sozialen, ökologischen und ökonomischen Sicherung des Einzelnen handelt.

1 Spinoza, Theologisch–Politischer Traktat, Zwanzigstes Kapitel: „Die Gedankenfreiheit“ – Deutsche Ausgabe von Günter Gawlick auf der Grundlage der Übersetzung von Carl Gebhardt, 1976, S. 301.

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14 Rede zur Freiheit in Nürnberg

I. Freiheit und andere Grundwerte

„Einigkeit und Recht und Freiheit“ – diese drei Anfangsworte der Nationalhymne sind zum einen wohlklingende Lyrik; sie können zum anderen aber auch als pro- grammatische Aussage über das Verhältnis des Einzelnen zum Staat verstanden werden. Dabei wird die Freiheit nur als eine von drei Seiten eines Wertemodells genannt. Das Recht steht in der Mitte zwischen der Freiheit des einzelnen Men- schen und der Einigkeit der Menschen. Aber worauf hat sich diese Einigkeit – die historisch wohl vor allem auf die Überwindung der früheren deutschen Kleinstaa- terei abzielte, sich aber schon semantisch keineswegs in diesem Aspekt erschöpft – heute zu beziehen und vor allem: sind mit Einigkeit, Recht und Freiheit schon die wesentlichen Seiten des Wertemodells beschrieben oder gilt es, noch weitere Wertedimensionen zu beachten? Lassen Sie mich zur Beantwortung dieser Frage mit dem Menschen- und Gesellschaftsbild des Grundgesetzes beginnen.

Die Verfassung stellt das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Würde jedes Men- schen und den Grundrechtekatalog mit seinen Freiheits- und Menschenrechten nicht zufällig an die Spitze aller Bestimmungen. Denn die Freiheit des Menschen soll sowohl die Grundlage seiner persönlichen Entfaltung als auch seiner zwi- schenmenschlichen und sozialen Beziehungen sein. Aus diesem Grund werden die Grundrechte auch nicht nur als Abwehrrechte gegen den Staat, sondern darüber hinaus auch ganz allgemein als objektiv-rechtliche Verbürgungen einer Werteord- nung für alle Bereiche des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens interpre- tiert. Nun ist es aber eine Binsenweisheit, dass Freiheitsrechte nicht grenzenlos bestehen können und dass sie insbesondere mit kollidierenden und gleichrangigen Freiheitsrechten anderer zu einem Ausgleich gebracht werden müssen. Das Men- schenbild des Grundgesetzes ist deshalb nicht das eines isolierten, souveränen Individuums; vielmehr hat die Verfassung die Spannung Individuum – Gemein- schaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums entschieden, ohne dass dabei allerdings dessen Eigenwert an- getastet werden dürfte. Die menschliche Existenz wird also nicht losgelöst von Gesellschaft und Staat gedacht.

Vor dem Hintergrund dieser korrespondierenden Aspekte der Freiheit und der Gemeinschaftsbezogenheit wird deutlich, dass der so häufig missbrauchte Satz

„Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ im grundgesetzlichen Kontext nur differenziert verstanden werden kann. Nur derjenige Gemeinnutz geht vor Eigennutz, der sich auf eine Gemeinschaft bezieht, die ihrerseits den Wert und die Würde des Ein- zelnen anerkennt und ihre kollektive Gestaltungsmacht an diesen quasi wieder

„zurückgibt“. Die Freiheit des einzelnen Menschen zu befördern und seine Würde

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auch dann zu achten, wenn im Interesse anderer Menschen und der Gemeinschaft gehandelt wird, hat insoweit tatsächlich der Sinn und das legitime Ziel des Staates zu sein. Nur in diesem Sinn kann Gemeinnutz staatliche Grundrechtseingriffe rechtfertigen und genau dies soll durch das – im Text der Nationalhymne an he- rausragender Stelle genannte – „Recht“ sichergestellt werden.

Nun könnte man daran denken, den noch ausstehenden Aspekt der „Einigkeit“

darauf zu reduzieren, dass eben Einigkeit hinsichtlich des Grundsatzes des frei- heitlichen Ausgangspunktes der Verfassung, der Gemeinschaftsbindung und der rechtlichen Rückbindung der Gemeinschaft an das Ziel individueller Freiheit be- stehen müsse – der Rest würde sich dann schon ergeben. Doch mit diesem – eher formalen – Minimalverständnis des Begriffs „Einigkeit“ wäre dessen Bedeutung für das grundgesetzliche Menschen- und Gesellschaftsbild wohl kaum vollstän- dig beschrieben. Denn es ist offensichtlich, dass alles, was an „Einigkeit“ fehlt, was also nicht von den Menschen aus Überzeugung und Engagement in die Ge- sellschaft eingebracht wird, im besagten Wertedreieck vom „Recht“ aufgefangen werden muss. Das kann im Extremfall zu einer Überforderung des „Rechts“, vor allem aber zu einer übermäßigen reglementierenden Einschränkung der „Freiheit“

führen und damit das gesamte System in Gefahr bringen. Darauf wird im letzten Teil des Vortrags noch zurückzukommen sein. Allerdings entzieht sich das Konzept der Einigkeit, ähnlich wie die Begriffe der „Brüderlichkeit“ oder der „Solidarität“, auf eigentümliche Weise einer eindeutigen Verortung, während die Ideen der Freiheit, des Rechts und der Gemeinschaftsbezogenheit letztlich von ihrer Wirkungsweise her recht präzise bestimmbar sind. Vielleicht ist das der Grund für die teilweise vertretene Ansicht, der Gedanke der Brüderlichkeit „scheine heute merkwürdig antiquiert“ und sei „im Sozialstaatsprinzip aufgegangen, belaste also nicht die einzelnen Bürger, sondern den anonymen Staat. Brüderlichkeit sei kein grundle- gender Orientierungswert mehr und präge nicht das Lebensgefühl der Menschen zueinander“ (Hoffmann–Riem2). Und in der Tat taucht der Terminus „Brüderlich- keit“ im Grundgesetz ausdrücklich ebenso wenig auf wie der der „Solidarität“ oder eben der „Einigkeit“.

Klar dürfte aber sein, dass eine naheliegende Verbindung zwischen der „Einig- keit“ und dem Aspekt der „Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebun- denheit“ des Menschen besteht. Ein Staat, dessen Bürger sich darauf beschränken, anderen nicht zu schaden, sich im Übrigen aber nicht füreinander verantwortlich

2 Hoffmann-Riem, Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge, ZRP 2002, 497 (498); vgl. auch Kronenberg, Die Verfassung als Vaterland?, in: Rößler (Hrsg.), Einigkeit und Recht und Freiheit (2006), S. 147 ff. (155, 165) und Krüger, Das dritte, fast vergessene Ideal der Demokratie, in: FS Theodor Maunz, 1971, S. 250 ff.

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16 Rede zur Freiheit in Nürnberg

fühlen, ist zum Scheitern verurteilt. Im Gesellschaftlichen gilt der Satz „Wer nicht viel macht, macht nicht viel falsch“ eben nicht. Vielmehr wird sich eine Gesellschaft nur dann an die stets wandelbare Welt anpassen können, wenn ihre Mitglieder eine Zivilgesellschaft bilden und sich auch füreinander in einem Mindestmaß ver- antwortlich fühlen. Allerdings – und das ist entscheidend – kann diese Haltung nicht erzwungen werden. Denn eine Einigkeit, die nicht auf Freiwilligkeit beruht, sondern auf Zwang – und sei er auch nur informeller Art –, stünde in einem kaum lösbaren Konflikt zum Gedanken der Freiheit. Es erscheint auch an dieser Stelle angebracht, den für die Staatslehre schon fast universellen – wenn auch in ganz anderem Kontext entwickelten – Satz Ernst-Wolfgang Böckenfördes zu zitieren, dass der Staat von Voraussetzungen lebt, „die er selbst nicht garantieren kann“3. Der Text unserer Nationalhymne erscheint vor diesem Hintergrund sehr weise, wenn er auch hinsichtlich der „Einigkeit“ dazu auffordert, nach dieser „brüderlich mit Herz und Hand“ zu streben. Denn in Sachen Einigkeit und Solidarität ist der Staat verloren, wenn „Herz und Hand“ nicht von den Menschen selbst – und nur von diesen – eingebracht werden.

Dabei sei darauf hingewiesen, dass auch bei einem solchen Verständnis von Einigkeit die Freiheit eine überaus wichtige Rolle spielt. Denn viele Schwierig- keiten, die häufig einseitig unter dem Aspekt der Solidarität – und damit der Ei- nigkeit – diskutiert werden, bedürfen ihrerseits einer kritischen Würdigung unter dem Aspekt der Freiheit. Denn die Kehrseite von Freiheit ist das Prinzip der Ver- antwortlichkeit des Einzelnen. In seiner Rede „Von deutscher Republik“ beschrieb Thomas Mann im Jahre 1922 die „Freiheit“ in der Demokratie folgendermaßen:

Diese sei kein bloßer Spaß und kein Vergnügen, der andere Name für „Freiheit“

laute vielmehr „Verantwortlichkeit“. Bürgerfreiheit bedeutet eben nicht „egoistische Selbstverwirklichung, unbeschränkte Bedürfnisbefriedigung oder schrankenlose Beliebigkeit“ (Detlef Merten4); vielmehr stehen Freiheit und Verantwortung in einem Komplementärverhältnis zueinander. Allerdings fordert das Grundgesetz diese Verantwortung des einzelnen Menschen nicht ausdrücklich ein – die weni- gen Stellen, an denen der Begriff „Verantwortung“ in der Verfassung zu finden ist (z.B. Präambel; Art. 20a GG), betreffen durchweg die Verantwortung des Staates, der Staatsorgane oder auch des ganzen Volkes. Und insbesondere die Grund- rechte sind zunächst und zuvörderst Abwehr„rechte“ gegen den Staat, nicht aber Grund„pflichten“. Gleichwohl wird die Eigenverantwortung des einzelnen Men- schen vom Grundgesetz vorausgesetzt, und zwar wegen der grundlegenden Idee

3 Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in ders.: Recht, Staat, Freiheit, erweiterte Ausgabe 2006, S. 92 ff. (S. 112 f.).

4 Merten, in: Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, VVDStRL 55 (1995), S. 7 ff. (19).

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der Freiheitlichkeit. Denn eine Gesellschaft, in der jeder zwar das Recht hätte, sein Verhalten frei zu bestimmen, den Gebrauch dieser Freiheit aber nicht auch für und vor sich verantworten müsste, führte quasi automatisch zur Konsequenz, dass der Staat alle Entscheidungen an sich ziehen und so die eingeräumte Frei- heit stante pede wieder kassieren müsste. Aus diesem Grund kann auch ein Staat weitestgehender Fürsorge kaum ein freiheitlicher sein.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Freiheit zwar nicht der einzige Grundwert der Verfassung ist, dass sie aber als systematischer Ausgangspunkt und als Kriterium beim Verständnis auch der anderen Grundwerte eine besondere und zentrale Position einnimmt.

Lassen Sie mich nach diesem allgemeingehaltenen Teil nun etwas detaillierter auf die verschiedenen Funktionen der freiheitlichen Grundrechte und ihre Wir- kungsweise eingehen, insbesondere im wichtigen Bereich der „inneren Sicher- heit“.

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18 Rede zur Freiheit in Nürnberg

II. Grundrechte als Abwehrrechte und Schutzpflichten

Ganz entsprechend dem grundgesetzlichen Menschenbild, das den Einzelnen gleichzeitig als frei und gemeinschaftsgebunden sieht, sind auch zwei Funktionen der in der Verfassung vorgesehenen Grundrechte nicht voneinander zu trennen:

Zunächst und zuvörderst sind die Grundrechte Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat und sichern so ganz konkret, dass der Staat dem grundgesetzlichen Befehl der Einräumung und Achtung eines Freiheitsraums nachkommt. Gleichzeitig sind die Grundrechte aber auch Quelle staatlicher Aufgaben, nämlich sog. staatlicher Schutzpflichten zur Verhinderung von Beeinträchtigungen dieser grundrechtlichen Freiheitspositionen durch Dritte.

1. Historisch wechselnde Gefahrenlagen

Dabei war der Gedanke staatlichen Schutzes für seine Bürger vor Todesangst und Gefahren für Leib und Leben als Gegenleistung für bürgerlichen Gewaltverzicht und bürgerliche Friedenspflicht der Ausgangspunkt der modernen Staatsvorstel- lung, wie sie insbesondere Thomas Hobbes auf den Punkt gebracht hatte. John Locke, Baruch de Spinoza und andere erweiterten diesen Gedanken dahin, dass zur Vermeidung von Willkür der staatliche „Leviathan“ seinerseits vernünftigen Regeln zu unterwerfen ist und dass dem Rechte der Menschen gegen den Staat korrespondieren müssen. Aus dieser Überlegung hat sich die Idee der Grundrechte entwickelt, die zunächst und zuvörderst Abwehrrechte gegen den Staat sein sollen.

Doch dadurch ist die Hobbes´sche Schutzverantwortung des Staates keineswegs obsolet geworden. Anspruch und Zweck des modernen Staates sind es vielmehr, beides – also den Schutz vor Grundrechtsbeeinträchtigungen durch nicht staatliche Dritte ebenso wie den Schutz vor grundrechtswidrigen Freiheitseinschränkungen durch den Staat – miteinander zu verbinden.

Allerdings sind die Arten von freiheitsbeschränkenden Einwirkungen durch staatliches oder privates Verhalten von Tag zu Tag vielfältigen Änderungen unter- worfen – nicht zuletzt durch neuartige technische Möglichkeiten. Dem historischen Vergleich sind deshalb gewisse Grenzen gesetzt. So hat der grundgesetzliche Staat seinen Schutzauftrag im Laufe der Zeit in mehreren konzentrischen Kreisen, in de- ren Zentrum der Mensch steht, erweitert. Nicht mehr nur der Schutz vor Gefahren für Leib und Leben, sondern auch der Schutz vor den Gefahren für die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen, die ein schrankenloser Gebrauch unternehme- rischer oder konsumierender Freiheit mit sich bringen könnte, werden einbezo- gen. Darüber hinaus ist der moderne Staat in weiten Bereichen auch Sozial- und Leistungsstaat geworden, sei es, um Chancengleichheit, Verteilungsgerechtigkeit

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oder das Existenzminimum zu gewährleisten. Und schließlich sieht sich der Staat berufen, Regeln für das Miteinander der privaten Personen im Zivilrechtsver- kehr aufzustellen, um Gefahren zu begegnen, die sich aus der unterschiedlichen – vor allem wirtschaftlichen – Macht der Privatrechtssubjekte für die Freiheit der Schwächeren ergeben können. Ob, wann und mit welchem Inhalt sich vor diesem Hintergrund eine staatliche Rechtsausgestaltung von Verfassung wegen gebietet, hängt von der Art, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der Art und dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts sowie von den schon vorhandenen Regelungen ab.5

2. Innere Sicherheit

Lassen Sie mich diese Fragestellung zunächst anhand des klassischen und gerade in heutiger Zeit aktuellen Referenzgebiets der inneren Sicherheit behandeln. Mein Ziel ist es darzulegen, dass das Sicherheitsrecht Ausfluss grundrechtlicher Schutz- pflichten ist, dass das Ziel der Freiheit deshalb letztlich auch dem Gedanken der Sicherheit innewohnt, dass deshalb aber auch die Freiheit selbst eine Grenze für Freiheitsbeschränkungen im Interesse der Freiheit darstellt.

Die Pflicht des Staates besteht nicht nur im Unterlassen eigener grundgesetz- widriger Freiheitsbeschränkungen; vielmehr hat der Staat mit den Mitteln des Rechts aktiv einen freiheitlichen Status des Einzelnen zu gewährleisten, sodass dieser nicht nur schöne Theorie bleibt, sondern sich individuelle Selbstbestimmung auch in der Realität entfalten kann. Doch ist die Kehrseite fast jeder staatlichen Intervention eine gleichzeitige Beschränkung von Freiheit. Die Verringerung von Risiken und die staatliche Gefahrenvorsorge einerseits und die Einschränkung von individuellen Handlungsmöglichkeiten andererseits sind in der Regel zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das komplizierte Problem besteht dabei darin, dass sich der moderne Staat einer Vielzahl von Grundrechtsträgern gegenübersieht und im Interesse der einen in die Grundrechte der anderen meint, eingreifen zu müssen.

Die Bedeutung des Konzepts der Schutzpflichten liegt dabei vor allem darin, dass staatliche Schutzpflichten Grundlage für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung staatlicher Eingriffe in Grundrechte sein können.

Damit wäre der grundgesetzliche Ansatz aber noch nicht vollständig beschrie- ben. Denn selbstverständlich kann auch über den Schutzpflichtgedanken die aus den Grundrechten folgende staatliche Pflicht zur Einräumung und Achtung ele-

5 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.08.1978, Az. 2 BvL 8/77, Kalkar I, BVerfGE 49, 89 (141/142).

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20 Rede zur Freiheit in Nürnberg

mentarer Freiheitsräume nicht ignoriert werden. Es bedarf grenzziehender Mecha- nismen. Das Grundgesetz kennt insoweit zwei verschiedene Grenzen, die absolute (thematisch enge und nicht abwägbare) der Menschenwürdegarantie einerseits und die relative (thematisch weite aber abwägungsoffene) der Verhältnismäßig- keit andererseits – beide Grenzen dienen dem Schutz eines Kernbereichs von Frei- heitlichkeit. Der Staat kann zwar Freiheitsrechte im Interesse der Wahrung der Grundrechte und Freiheiten anderer einschränken, muss diese Einschränkungen aber ihrerseits begrenzen im Einklang mit den Grundsätzen der Verhältnismäßig- keit und der Achtung der Menschenwürde, die sich als unverbrüchlicher Kernbe- stand auch in den meisten Einzelgrundrechten wiederfindet. Wie die staatlichen Organe ihren grundrechtlichen Schutzpflichten nachkommen, ist von ihnen prin- zipiell in eigener Verantwortung zu entscheiden. Bei der Wahl der Mittel sind sie aber in jedem Fall auf diejenigen beschränkt, deren Einsatz mit der Verfassung in Einklang steht.

Der staatliche Eingriff in den absolut geschützten Achtungsanspruch des Einzelnen auf Wahrung seiner Würde ist ungeachtet des Gewichts der betrof- fenen Verfassungsgüter stets verfassungswidrig. So kann unter Berufung auf die Schutzpflicht zugunsten des Lebens und der körperlichen Integrität der Staat nicht die Subjektstellung anderer unschuldiger Menschen in einer mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Weise und durch Verletzung des an ihn gerichteten Tö- tungsverbots missachten. Auch die Folter ist schon aus Gründen der Achtung der Menschenwürde unter allen Umständen und ausnahmslos ausgeschlossen (vgl.

auch Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG), was im Übrigen durch die Europäische Konven- tion zum Schutze der Menschenrechte ausdrücklich bestätigt wird – selbst für den Fall des Staatsnotstandes (vgl. Art. 3 i. V. m. Art. 15 Abs. 2 EMRK). Im engen Anwendungsbereich des Art. 1 Abs. 1 GG haben die staatlichen Achtungspflichten dabei unbedingten Vorrang vor den grundrechtlichen Schutzpflichten.

Aber auch außerhalb des – engen – Schutzbereichs der Menschenwürde und des Menschenwürdegehalts der Freiheitsrechte stehen die Freiheitsrechte nicht zur unbeschränkten staatlichen Disposition. Sie dürfen durch den Gesetzgeber auch außerhalb des ohnehin unverrückbaren Kernbereichs der Menschenwürde- garantie nur insoweit angetastet werden, als es dafür einen wichtigen Grund des gemeinen Wohls gibt und der Grundrechtseingriff zur Erreichung eines solchen verfassungslegitimen Ziels geeignet, erforderlich und im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs noch angemessen ist. Der abwägende Ausgleich ist dabei von der Ver- fassung nicht im Detail vorgegeben, sondern in der parlamentarischen Demokratie vor allem Aufgabe des Gesetzgebers. Bei dieser Abwägung hat der Gesetzgeber vornehmlich zwei Grenzen zu beachten: Einerseits ist der Staat verpflichtet, ein

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Mindestmaß an Schutz für die Grundrechte gegen nicht staatliche Beeinträchti- gungen zu gewährleisten – die grundrechtlichen Schutzpflichten führen also zu einem „Untermaßverbot“6. Andererseits findet die Pflicht des Staates zum Schutz von Grundrechten der einen ihre Grenze an dem Verbot unangemessener Grund- rechtseingriffe gegenüber anderen, deren Abwehrrecht bewirkt ein „Übermaßver- bot“. Der abwägende Spielraum des Staates besteht deshalb in einem „Korridor“

(Hoffmann–Riem7) zwischen Übermaßverbot und Untermaßverbot.

Dabei kommt im Bereich der inneren Sicherheit dem Übermaßverbot eine überragend wichtige Bedeutung zu. Insbesondere kann ein Grundrechtseingriff von hoher Intensität unverhältnismäßig sein, wenn der gesetzlich geregelte Ein- griffsanlass kein hinreichendes Gewicht aufweist. So gebietet beispielsweise die grundrechtlich verbürgte „Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG), dass eine „Online–Durchsuchung“, also die heimliche Infiltration eines solchen Systems, mittels derer die Nutzung überwacht und die Speichermedien ausgelesen werden können, nur zulässig sein kann, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut vorliegen8. Überragend wichtig sind Leib, Leben und Freiheit der Person, ferner sind überragend wichtig solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt. Grundsätzlich nicht angemessen ist demgegen- über eine staatliche Maßnahme, durch die die Persönlichkeit des Betroffenen einer weitgehenden Ausspähung durch die Ermittlungsbehörde preisgegeben wird, zum Schutz sonstiger Rechtsgüter Einzelner oder der Allgemeinheit in Situationen, in denen eine existenzielle Bedrohungslage nicht besteht.

Aber selbst bei höchstem Gewicht der drohenden Rechtsgutbeeinträchtigung kann auf das Erfordernis einer hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit nicht verzichtet werden. Die gesetzliche Eingriffsgrundlage beispielsweise für einen heimlichen Zugriff auf informationstechnische Systeme muss vorsehen, dass zu- mindest tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für die hinreichend gewichtigen Schutzgüter bestehen. Bloße Vermutungen oder allgemeine Erfah- rungssätze allein reichen nicht aus, um diesen Zugriff zu rechtfertigen. Vielmehr müssen bestimmte Tatsachen festgestellt werden, die eine Gefahrenprognose tragen. Dem Gewicht des jeweiligen Grundrechtseingriffs wird nicht hinreichend

6 Vgl. BVerfG, Urteil vom 28.05.1993, Az. 2 BvF 2/90, Schwangerschaftsabbruch II, BVerfGE 88, 203 (254 ff.).

7 Hoffmann–Riem, DVBl. 1994, 1381 (1384 f.) und EuGRZ 2006, 492 (494).

8 BVerfG, Urteil vom 27.02.2008, Az. 1 BvR 370/07, 1 BvR 595/07, NJW 2008, 822.

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22 Rede zur Freiheit in Nürnberg

Rechnung getragen, wenn der tatsächliche Eingriffsanlass noch weitgehend in das Vorfeld einer im Einzelnen noch nicht absehbaren konkreten Gefahr für die zu schützenden Rechtsgüter vorverlegt wird und Ermittlungen damit letztlich „ins Blaue hinein“ erfolgen dürfen.

Soviel zum Bereich der „inneren Sicherheit“ – es hat sich gezeigt, dass auch staatliche Sicherheitsgewähr im Kern der Freiheit dient, dass deshalb aber auch im Interesse der Freiheitssicherung grundrechtliche Freiheitsrechte vom Staat nicht im Kernbereich und Wesensgehalt angetastet werden dürfen. Das Grund- gesetz enthält einen Auftrag des Staates zur Abwehr von Beeinträchtigungen der Grundlagen einer freiheitlichen demokratischen Ordnung unter Einhaltung der Regeln des Rechtsstaates. Daran, dass er auch den Umgang mit seinen Geg- nern den allgemein geltenden Grundsätzen unterwirft, sie nicht einfach aus der Rechtsgemeinschaft ausschließt und sie nicht als „Feinde der Rechtsgemeinschaft“

rechtlos stellt, zeigt sich gerade die Kraft dieses Rechtsstaates.

Auch außerhalb dieses wichtigen und brisanten Gebiets der inneren Sicherheit ist der Staat in vielen anderen Bereichen zur Wahrnehmung seines grundrecht- lichen Schutzauftrags aufgefordert, so beispielsweise im Bereich des Steuer- und Sozialrechts, des Umweltrechts, aber auch des Zivilrechts. Exemplarisch möchte

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ich deshalb zum Abschluss dieses Abschnitts noch kurz auf die Frage des staat- lichen Schutzes vor privater Macht eingehen, bei der sich im Grundsatz dieselbe Problematik wie im Bereich der inneren Sicherheit stellt, wenn auch in völlig an- derem Gewande.

3. Private Macht, freie Gesellschaft und staatliche Schutzpflicht

Die Privatautonomie, vornehmlich die Vertragsfreiheit, das Privateigentum, die Be- rufs- und Gewerbefreiheit und die Freiheit, sich in Gesellschaften zu organisieren, sind Eckpfeiler einer freiheitlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Es gilt, sie nicht nur vor unangemessenen staatlichen Restriktionen zu schützen, sondern gerade in Zeiten der Globalisierung auch vor Freiheitsbeschränkungen aus dem Bereich des Marktes selbst, und zwar gegebenenfalls durch Schutzmaßnahmen des Staates. Es war dabei eine richtige und wichtige Erkenntnis der sog. „Freibur- ger Schule“ um Walter Eucken und Franz Böhm – auf deren Ideen das Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“ maßgeblich zurückgeht –, dass auch und gerade in einem freien Markt mit freiem Wettbewerb die wünschenswerte vollständige Konkurrenz in permanenter Gefahr schwebt und deshalb der staatlichen Steue- rung bedarf. Denn – bei aller Wirkmächtigkeit der von Adam Smith sogenannten

„unsichtbaren Hand“ des Freihandels – kann ein schlichtes „laissez–faire“ nicht verhindern, dass sich gerade auch im freien Markt private Macht agglomerieren und dadurch die vollständige Konkurrenz aus sich selbst heraus gefährden kann9, und zwar mit wirtschaftlichen Mitteln, wie faktischen Monopolen, Kartellen und sonstigen Einflüssen, vom Treuerabatt über Exklusivverträge bis zu Kampfpreisen gegen Außenseiter10.

Bereits im Jahr 1928 hat Franz Böhm im Zusammenhang mit Monopolen und Kartellen das Problem privater Macht erkannt und wie folgt umschrieben: „Jede Maßnahme des schlechteren Anbieters, die darauf abzielt, das Ausweichen des Partnerwillens auf das bessere Angebot durch Zufügung von ausreichenden Nach- teilen unmöglich zu machen, schaltet die Freiheit des Willens aus. (...) In der Mög- lichkeit als schlechterer Anbieter den Partner von der Annahme besserer Ange- bote abzuhalten oder ihn für deren Annahme zu bestrafen, beruht das Wesen der

9 Vgl. Eucken, Über die zweifache wirtschaftspolitische Aufgabe der Nationalökonomie (1947), abgedruckt in: N. Goldschmidt und M. Wohlgemuth (Hrsg.), Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik, 2008, S. 133 ff. (134/135).

10 Vgl. Eucken, Die Politik der Wettbewerbsordnung – Die konstituierenden Prinzipien (1952), ab- gedruckt in: N. Goldschmidt und M. Wohlgemuth (Hrsg.), Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik, 2008, S. 197 ff. (200/201).

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24 Rede zur Freiheit in Nürnberg

wirtschaftlichen Macht; in der Ausnützung dieser Möglichkeit aber das Wesen des wirtschaftlichen Zwangs.“11

Verfassungsrechtlich liegt diese Problematik allerdings erheblich anders als bei der Abwehr staatlicher Macht und staatlicher Grundrechtseingriffe, etwa im Bereich der „inneren Sicherheit“. Denn zwischen den mächtigen und ohnmäch- tigen Privatrechtssubjekten finden die Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat grundsätzlich keine unmittelbare Anwendung. Vielmehr ist es allein die Pflicht des Staates zum Schutz der grundrechtlichen Freiheiten Privater, die sich hier verfassungsrechtlich auswirkt. Dabei kann der Staat eine Steuerung über die Ausgestaltung der privatrechtlichen Vorschriften bewirken, bei deren Aus- legung und Anwendung die Wertungen der Verfassung zu berücksichtigen sind – nur insoweit kann es auch zu einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung kom- men. Die Erkenntnisse der Freiburger Schule sind deshalb in erster Linie als eine Handlungsaufforderung für den einfachen Gesetzgeber gedacht. Es erscheint mir aber wichtig, sie verfassungsrechtlich vor dem Hintergrund der grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates in Erinnerung zu rufen.

Auch hier wird man zwar von einem erheblichen gesetzgeberischen Gestal- tungsspielraum auszugehen haben. Allerdings kann sich gerade im Zeitalter der Globalisierung mit ihren exponentiell gesteigerten Möglichkeiten zu grenzüber- schreitender Unternehmensstruktur und grenzüberschreitenden Kapitalbewe- gungen durchaus auch ein gesteigerter Bedarf an Schutz von Verbrauchern und kleinen und mittelständischen Unternehmern vor wirtschaftlicher Übermacht er- geben. Der einfache Gesetzgeber ist insoweit besonders gefordert, weil die Grund- rechte nicht unmittelbar gegen den Träger privater Macht in Stellung gebracht werden können, sondern nur vermittelt über den Staat und seine grundrechtlichen Schutzpflichten bei der Ausgestaltung und Steuerung der Wirtschaftsordnung und der Auslegung und Anwendung seiner Gesetze. Eine Verpflichtung des Gesetzge- bers auf ein bestimmtes Regulierungsmodell dürfte allerdings nur sehr selten in Betracht kommen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Grundrechte ein wirkungs- volles Instrumentarium zur Abwehr von unverhältnismäßigen oder gar die Men- schenwürdegarantie missachtenden staatlichen Eingriffen in die Freiheit zur Verfügung stellen, und zwar auch dann, wenn der Staat sich seinerseits auf den Schutz von Grundrechten anderer beruft. Nicht übersehen werden darf aber auch,

11 Böhm, Das Problem der privaten Macht – Ein Beitrag zur Monopolfrage (1928), abgedruckt in:

N. Goldschmidt und M. Wohlgemuth (Hrsg.), Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungs- ökonomik, 2008, S. 49 ff. (55).

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dass die Grundrechte nicht für alle grundrechtlichen Probleme und Fragen fertige Antworten bereitstellen können oder sollen. Insbesondere bei der Abwehr von Freiheitsgefahren durch private wirtschaftliche Macht obliegt die Sicherstellung eines realen Raumes freier beruflicher und wirtschaftlicher Betätigung in erster Linie dem einfachen Gesetzgeber, dem dabei ein erheblicher Gestaltungsspielraum zur Verfügung steht, sowie den rechtsanwendenden Organen des Staates, die bei der Auslegung und Anwendung der Gesetze, insbesondere seiner Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe, den grundrechtlichen Schutzpflichten Rech- nung zu tragen haben.

Das führt mich zu meinem letzten Punkt – nämlich der Bedeutung von Nor- menflut und Überregulierung für die Freiheitlichkeit der Rechtsordnung.

III. Beeinträchtigung von Freiheit durch Überregulierung

1. Freiheit und Verantwortung

An mehreren Stellen habe ich von Gestaltungsspielräumen des einfachen Ge- setzgebers gesprochen. Es ist klar, dass diese abstrakten Aussagen in der Praxis durch den Erlass von Vorschriften umgesetzt werden müssen – einer rechtsstaat- lich verfassten Rechtsordnung entspricht ein kodifiziertes Recht in der heutigen hochkomplexen Gesellschaft am besten. Andererseits wohnt aber jeder Regelung – selbst dann, wenn sie die reale Ausübung von Freiheit sichern möchte – allein durch ihre Regulierungswirkung auch eine Freiheitsbeschränkung inne. Gibt es eine Lösung für dieses Paradox? Ich meine ja – nämlich eine Rückbesinnung auf die „freiheitssichernde Funktion des Rechts“.

Zunächst ist dabei festzuhalten: „Verrechtlichung“ ist nichts, was per se zu kritisieren oder zu verurteilen wäre. Vielmehr geht es um die Frage des richtigen Maßes. Was heute – meines Erachtens aus gutem Grund – beklagt wird, ist denn auch das Übermaß an Gesetzen und Bürokratie. So sehen sich etwa Unternehmen durch überzogene rechtliche Anforderungen daran gehindert, notwendige Anpas- sungen an die veränderte wirtschaftliche Situation zu vollziehen – dabei dürf- ten die weniger großen Unternehmen mit diesen bürokratischen Anforderungen schwerer zurechtkommen als mächtigere Großunternehmen. Überregulierungen werden auch für Probleme auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich gemacht. Aber auch im Kleinen – sei es bei der Abgabe der Steuererklärung, bei der Einstellung einer Haushaltshilfe oder bei dem Versuch, sich mit einer selbstständigen Tätig-

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26 Rede zur Freiheit in Nürnberg

keit eine Existenz oder einen Zuverdienst zu verschaffen – fühlen sich viele durch Normendickicht und Bürokratie überfordert und gegängelt.

Wie ich meine, bedarf es für einen erfolgreichen Abbau von Überregulierung und Bürokratie vor allem eines grundlegenden Bewusstseinswandels in der Gesell- schaft und bei jedem Einzelnen; eines Bewusstseinswandels, der mit einer Rück- besinnung auf die freiheitssichernde Funktion des Rechts einhergeht.

Das Grundgesetz geht von der Eigenverantwortung und der Selbstbestimmung des Menschen aus, sowohl als Grundlage seiner persönlichen Entfaltung als auch seiner sozialen Beziehungen. An der Spitze der Verfassung stehen deshalb das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen und der Grundrechte- katalog mit seinen Gewährleistungen von Freiheits- und Menschenrechten. Die Funktion des Rechts darf nicht losgelöst von dieser freiheitlichen Grundlage und Ausrichtung der Verfassung gesehen werden. Recht dient vor allem der Gewähr- leistung eines freiheitlichen Status des Einzelnen, es dient der Sicherung einer eigenverantwortlichen, selbstbestimmten Lebensführung.

Dazu gehört selbstverständlich auch, dass das Recht – wo nötig – ordnend, gestaltend und lenkend eingreift. Doch fast jede staatliche Intervention bedeutet zugleich eine Beschränkung von Freiheit. Rechtliche Normierungen und Regu- lierungen können dem Einzelnen nicht nur Verantwortung abnehmen, sondern sie können ihn eben dadurch auch in seiner Initiativkraft lähmen. Deshalb sollte die Rechtsordnung – jedenfalls auch und vermehrt – zu Eigenverantwortung und Eigeninitiative ermutigen. Von dieser freiheitlichen Grundlage lebt unser Gemein- wesen.

2. Normenflut und Aufgabenexpansion beim Staat

Die erforderliche Überprüfung und Korrektur von Normen und die bei deren Um- setzung entstehende Bürokratie lassen sich – was leider allzu häufig übersehen wird – nicht von der staatlichen Aufgabenpolitik trennen. Denn die kontinuierliche Ausdehnung der Staatsaufgaben hat nicht nur – in finanzieller Hinsicht – einen gewaltigen Anstieg der Staatsquote und eine besorgniserregende Staatsverschul- dung zur Folge, sondern auch eine kontinuierliche Zunahme der Dichte und Kom- pliziertheit rechtlicher Regelungen.

Das verdeutlicht etwa ein Blick auf unser Steuer- und Abgabenrecht: Die Ausdehnung der Staatsaufgaben spiegelt sich hier nicht nur in einer höheren Abgabenlast wider, sondern auch in einer Überformung des Steuerrechts mit Ge-

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staltungs- und Lenkungsmechanismen, mit Steuervergünstigungs- und mit Sub- ventionstatbeständen, die einen wesentlichen Beitrag zur besonderen Kompliziert- heit und zur Intransparenz dieser Rechtsmaterie leisten. Aufgabenexpansion und Gesetzesflut sind – wie das Beispiel des Steuerrechts zeigt – vielfach nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Will man zu Deregulierung und Vereinfachung des Rechts gelangen, muss man deshalb vorrangig an der Staatsaufgabe ansetzen, in deren Diensten die jeweilige Norm steht.

Die Übernahme von Aufgaben durch den Staat darf mithin keine „Einbahnstra- ße“ darstellen. Einmal übernommene Staatsaufgaben bedürfen der regelmäßigen Überprüfung zumindest darauf, ob ihre Wahrnehmung durch die öffentliche Hand noch angebracht ist, insbesondere den aktuellen politischen Prioritäten und finan- ziellen Handlungsspielräumen noch entspricht, und ob die Qualität der staatlichen Aufgabenerfüllung befriedigt oder ob die Aufgabe besser in privater Trägerschaft erfüllt werden kann. Unterstützt werden könnte eine solche regelmäßige Über- prüfung durch eine Befristung insbesondere solcher Gesetze, die auf aktuelle und entsprechend wandelbare Sachverhalte oder Problemlagen reagieren.

3. Gesetzgebung in heutiger Zeit

Richtig verstanden zielt Deregulierung nicht auf die Abschaffung oder Verflachung der Rechtsordnung oder einer Teilrechtsordnung, sondern auf den Abbau eines Übermaßes an Regulierung. Gleichzeitig soll der verbleibende, angemessene Be- stand an Gesetzen nicht nur im materiellen, sondern auch im rechtstechnischen Sinn „gutes“ Recht sein. Auch zu diesem eher „handwerklichen“ Aspekt will ich einige Worte sagen.

Anzusprechen ist hier zuvörderst der Gesichtspunkt der Rechtsklarheit, die – das sei hier festgehalten – jedenfalls zu einem gewissen Grad oder ab einem gewissen Punkt ein auch verfassungsrechtlich sanktioniertes Gebot darstellt. So gebietet es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts12 das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes, Normen zu erlassen, die dem Grundsatz der Normenklarheit genügen und so gefasst sind, dass der Betroffene die Rechtslage so konkret er- kennen kann, dass er sein Verhalten danach auszurichten vermag.

Auf der anderen Seite wird man freilich zugestehen müssen, dass die juristische Fachsprache und die juristische Regelungstechnik auch an gewisse Grenzen stoßen, wenn es um Allgemeinverständlichkeit geht. Dass der Gesetzgeber – nach einem

12 BVerfGE 108, 52, 75.

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28 Rede zur Freiheit in Nürnberg

in einem etwas anderen Zusammenhang geäußerten Wort des großen Rechtsge- lehrten des 19. Jahrhunderts Rudolph von Jhering13 – denke wie ein Philosoph und rede wie ein Bauer, wird deshalb wohl auf immer ein frommer Wunsch bleiben. Es muss aber auch nicht gerade umgekehrt sein.

Vereinfachen und handwerklich verbessern ließe sich die Rechtsetzung nicht zuletzt dadurch, dass mehr auf Systemgerechtigkeit geachtet und nicht das Un- mögliche versucht wird, jedem denkbaren Einzelfall schon auf der Ebene des Ge- setzes Rechnung zu tragen. Darüber hinaus sollten sich die Regelungsziele und die Grundwertungen eines Gesetzes auch einem juristischen Laien erschließen. Das gilt besonders dann, wenn es um grundlegende Neuordnungen und Umbauten geht.

Auch spielen die professionelle Vertretung von Interessen im Prozess der Ge- setzgebung eine wichtige Rolle: „Jedes Gesetz hat seine Lobby“, hat die Wochen- zeitung „Die Zeit“ vor einiger Zeit einmal getitelt14. Ich fürchte, „Die Zeit“ liegt damit gar nicht so falsch. Denn etwa dann, wenn Deregulierungsvorschläge ganz konkret werden, sehen montägliche Stellungnahmen professioneller Interessen- vertreter bisweilen anders aus als sonntägliche Reden, in denen weniger Bevor- mundung durch staatliche Reglementierung und mehr Selbstverantwortung ein- gefordert werden. Hinzu kommt, dass durch national und zunehmend europäisch organisierte Lobbyorganisationen neben dem „Regulierungsdruck“ auch ein nicht unerheblicher Druck hin zu einer weiteren Zentralisierung der Normsetzung aus- geht. Hierdurch wiederum wächst tendenziell die Gefahr einer steigenden Abhän- gigkeit der Gesetzgebung von der – naturgemäß interessengeleiteten – Expertise großer und finanzstarker lobbyistischer Gruppierungen.

Lassen Sie mich ein weiteres Phänomen ansprechen: Ungeachtet dessen, dass das Ziel von Entbürokratisierung und Deregulierung auf eine weitgehend positive Resonanz stößt, werden in Öffentlichkeit und Medien rasch und häufig Forde- rungen zur Schaffung neuer Regelungen oder Verbote und der Ruf nach neuen Aufgaben für „Vater Staat“ laut. Denken Sie nur an die verschiedenen Vorkomm- nisse rund um „Gammelfleisch“ in Handel und Lebensmittelbetrieben oder an das Problem des Doping im Sport.

13 Vgl. Rudolph von Jhering, Der Zweck im Recht, Erster Band (3. Auflage), 1893, S. 559.

14 „Die Zeit“ vom 5. Januar 2006.

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Ich meine nicht, dass wir gut beraten wären, den immer wieder auch dem Augenblick geschuldeten Rufen nach mehr Gesetzen und nach mehr Staat blind- lings zu folgen. Das Streben nach einer alle Lebensbereiche lückenlos abdeckenden staatlichen „Rundumbetreuung“ oder „Vollversicherung“ führt – übrigens nicht nur in Zeiten knapper öffentlicher Kassen – am Ende nicht weiter. Schon im Jahre 1960 hat der damalige Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Fritz Werner15, mit kritischem Blick auf die Neigung hingewiesen, alle persönlichen und gesell- schaftlichen Konflikte als Rechtskonflikte zu erleben und das eigene Schicksal als – wie er es formulierte – „einklagbaren Rechtsverlust“ zu betrachten.

Entgegengewirkt werden muss aber auch dem bisweilen vermittelten Eindruck, dass bei medienwirksamen Vorfällen, etwa im Bereich des Umwelt–, Gesundheits–

oder Verbraucherschutzes, ohne ein unverzügliches Eingreifen des Gesetzgebers immer gleichsam „rechtlose“ Zustände herrschten. Dies ist vielfach gar nicht der Fall, weil allgemeines Gefahrenabwehrrecht und allgemeines Sanktionenrecht zivil-, straf- und verwaltungsrechtlicher Art ohnehin gelten. Bestehende Mängel oder Lücken sind dann häufig eher auf der Vollzugsebene als auf der Ebene der Gesetzgebung anzutreffen. Allgemein geltende Regelungen des klassischen zivil- , straf- und verwaltungsrechtlichen Normenwerkes können der Vielgestaltigkeit von Lebenssachverhalten häufig weit besser gerecht werden als immer detailliertere Spezialregelungen, die trotz aller diesbezüglich unternommenen Anstrengungen des Gesetzgebers ohnedies niemals alle Wechselfälle des Lebens werden berück- sichtigen können.

Manche detailverliebte Neuregelung stellt sich denn auch mehr als eine Art von „Placebo“ dar, die in erster Linie auf aktuelle Anlässe und Stimmungen re- agiert und weniger einem echten Bedürfnis nach Rechtsetzung geschuldet ist.

Derartige Regelungen sind bisweilen auch kaum vollziehbar; etwa weil es an den dafür erforderlichen öffentlichen Mitteln oder dem Personal fehlt. Die Folge einer solchen Praxis der „Placebo–Gesetzgebung“ sind unter anderem schwindendes Rechtsbewusstsein in der Bevölkerung und ein weiterer Vertrauensverlust ge- genüber der Politik.

„Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ewge Krankheit fort; sie schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte und rücken sacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage; weh dir, dass du ein Enkel bist! Vom Rechte, das mit uns geboren ist, von dem ist, leider! Nie die Frage.“

15 Vgl. Werner, Das Problem des Richterstaates, Berlin 1960, S. 23.

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30 Rede zur Freiheit in Nürnberg

Diese wenig schmeichelhafte Charakterisierung der Rechtsordnung legt Johann Wolfgang von Goethe dem Mephisto im Dialog mit dem Schüler Wagner in den Mund. So mancher wird in dieser Charakterisierung – jedenfalls zum Teil – unser gegenwärtiges Normenwerk wiedererkennen.

„Aus Bequemlichkeit suchen wir nach Gesetzen“ heißt es in den „Neuen Frag- menten“ Friedrich Freiherr von Hardenbergs, der im Jahr 1794 – übrigens als Jahrgangsbester – sein Rechtsstudium abgeschlossen hatte. Friedrich Freiherr von Hardenberg wird Ihnen besser bekannt sein als der Schriftsteller Novalis.

„Aus Bequemlichkeit suchen wir nach Gesetzen.“ Ich denke, dieser Satz von Novalis fasst einige der Gedanken, die ich Ihnen ein wenig näher bringen wollte, auf prägnante Weise zusammen. Denn häufig sind es in der Tat Bequemlichkeit und Furcht vor Verantwortung, ja letztlich Furcht vor der Freiheit, die den Ruf nach immer neuen Gesetzen und nach der Übernahme von immer neuen Aufga- ben durch den Staat nicht verstummen lassen. Dabei wird gerne übersehen, dass persönliche Freiheit und individuelle, nicht an staatliche Stellen delegierte Ver- antwortung untrennbar zusammengehören.

Ich bin jedoch zuversichtlich, dass viele unter Ihnen nicht zu den Furchtsamen oder Bequemen gehören und deshalb nicht in den Chor einer allzu weitgehenden Staatsgläubigkeit mit einstimmen, sondern vielmehr ihre Stimme für Freiheit und für Eigenverantwortung erheben. Das Menschenbild des Grundgesetzes haben Sie dabei auf Ihrer Seite; leider nicht immer die Stichwortgeber und Wortführer der öffentlichen Meinung.

Dieser – wahrlich nicht parteipolitisch zu verstehende – Ruf nach einer wieder stärker liberalen Ausrichtung von Staat und Gesellschaft wendet sich gegen im Ausgangspunkt höchst unterschiedliche, im Ziel der zunehmenden Verstaatlichung, Verrechtlichung, Reglementierung und Bürokratisierung aber übereinstimmende Tendenzen. Die eine ist z.B. getragen von der extrem präventiv-polizeilichen Si- cherheitsvorsorge, eine andere von der paternalistischen Bestrebung eines staat- lichen Schutzes des Einzelnen, insbesondere auch vor sich selbst, in Bereichen wie der Gesundheit, des Konsums und der sozialen Rundumversorgung.

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Schluss

Ich komme zum Schluss. Die Freiheit ist nicht der einzige Grundwert der Verfas- sung – sie ist aber ihr Ausgangspunkt und hat entscheidende Bedeutung für den Inhalt und das Gefüge aller anderen Verfassungswerte. Als grundlegendes Prinzip betrifft die Freiheit nicht nur das direkte Verhältnis des Einzelnen zum Staat, son- dern auch das mehrpolige Verhältnis des Staates zu einer Vielzahl von privaten Personen und Organisationen mit unterschiedlichen Interessenlagen, insbesondere wenn es um den staatlichen Schutz vor nicht staatlichen Gefährdern der Freiheit geht. Schließlich lässt sich der Freiheit ein Kriterium für die Erforderlichkeit oder die Entbehrlichkeit von Vorschriften entnehmen.

Die staatliche Steuerung all dieser Faktoren wird durch die Internationalität des heutigen Rechts- und Wirtschaftslebens zunehmend komplizierter. Auch in Bereichen, die supranational geregelt werden, behält der Staat aber seine Schutz- pflicht für die Gewährleistung einer freiheitlichen Gesellschaft. Alle staatlichen Organe sind deshalb aufgerufen, die supranationale Entwicklung aufmerksam und kritisch im Hinblick auf die Freiheit vor staatlicher und privater Macht zu beob- achten und gegebenenfalls ihre Einflussmöglichkeiten im Sinne der Freiheit zu nutzen. Auch insoweit ist die Freiheit der „Sinn des Staates“.

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32 Rede zur Freiheit in Nürnberg

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