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Die Faszination von Kunst aus der Anstalt im 20. und 21. Jahrhundert

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Academic year: 2022

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Gastbeitrag von Thomas Röske

Die Faszination von Kunst aus der Anstalt im 20. und 21. Jahrhundert Nachdem seit dem späten 19. Jahr-

hundert in Europa und Nordamerika verschiedene andere Randzonen der Kunst ästhetisch entdeckt worden waren - so genannte Stammeskunst aus Afrika und Ozeanien, Prähisto- rische Kunst, Kinderzeichnungen, Volkskunst und Naive Kunst -, nahm man Werke aus dem «inne- ren Afrika» der Gesellschafit in den Blick, solche, die in psychiatrischen Anstalten entstanden waren. Die Kunst der dort auf Dauer verwahr- ten gesellschaftlichen Außenseiter fasziniert seitdem mehr und mehr Menschen, wobei sich Stufen der Wertschätzung ausmachen lassen.

Der Kunsthistoriker und Mediziner Hans Prinzhom (1886-1933) war wichtiger Pionier auf diesem Neu- land, indem er nicht nur 1919-1921 als Assistenzarzt an der Heidelber- ger Psychiatrischen Universitätskli- nik eine einzigartige Sammlung von Anstaltswerken aus dem gesamten deutschsprachigen Raum zusam- mentrug, sondem 1922 auch eine herausragende Studie über das Ge- biet vorlegte, « Bildnerei der Geis- teskranken». Das Buch wirkte durch sein Eintreten für die Ästhetik der Anstaltswerke, noch mehr aber

durch seine reiche Illustrierung. Auf teils farbigen Abbildungen im Text und auf Tafeln zeigte es allein 170 Werke des Heidelberger Fundus und machte damit das Gebiet fur eine größere Öffentlichkeit zum ersten Mal sichtbar. In einer Zeit, da viele den Glauben an eine Vemunftkultur verloren hatten, die zum Wahnsinn des Ersten Weltkriegs geführt hatte, wurde das Buch als Wegweiser zu einem Neuanfang verstanden. Viele Expressionisten sahen mit Prinzhom in den Werken den Niederschlag ei- ner vorbildlichen Unmittelbarkeit und Authentizität des Ausdrucks.

Für die Surrealisten in Paris wur- de es zur «Bilder-Bibel», die Ihnen bildnerische Verfahrensweisen für ihre Absicht zeigte, den «Betrach- ter in einen Irrgarten ohne Ende»

(Prinzhorn) zu führen.

Ähnlich wie Prinzhom nach dem Ersten Weltkrieg für die «Bildnerei der Geisteskranken» trat der fran- zösische Künstler Jean Dubuffet (1901-1985) nach dem Desaster des Zweiten mit Emphase für das ein, was er fortan «Art brut» nann- te: inhaltlich und formal originelle, zumeist gegenständliche Kunst von Laien, die sich nicht am aktuellen

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Originalveröffentlichung in: Jahresbericht / Sophie Blocher Haus, Obdachlosenhaus Baselland, Frenkendorf, 19.2011 (2012), S. 15-17

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Kunstbetrieb orientieren. Er be- hauptete, dass diese Gegenbeispiele zur etablierten «kulturellen Kunst»

überall am Rande der Gesellschaft entstehen könnten und dass es «ge- nauso wenig eine Kunst der Geistes- kranken wie eine der Knie- oder Ma- genkranken» gäbe. Trotzdem suchte er von Anfang an «Art brut» immer wieder in psychiatrischen Anstalten, und seine eigene Sammlung (heute ein eigenes Museum in Lausanne) enthält zum größten Teil Werke von Psychiatrie-Erfahrenen. Dubuffets Anstoß wurde von vielen Künstlem aufgegriffen, allen voran von den Mitgliedern der länderübergreifen- den Gruppe CoBrA. Langsam wur- de «Art brut» vom Kunstbetrieb als eigene Kunst-Gattung anerkannt.

Aber erst die Wortschöpfung «Out- sider Art» 1972, ursprünglich als Übersetzung des französischen Begriffs ins Englische gedacht, markiert das Eintreten der Kunst von Anstaltsinsassen in den Kunst- markt, der von Anfang an vor al- lem ein anglo-amerikanischer war.

Bald erweiterte sich die Bedeutung des Begriffs, und als umbrella term umfasst er heute nicht nur Art brut, sondem auch Werke von ethnischen Minderheiten und zeitgenössische Volkskunst. In den USA wurzelt die Begeisterung für Kunst von Laien

in einer langen Tradition, die bis zu dem Limners, umherziehenden Lai- en-Porträtisten im 18. Jahrhundert, zurückreicht. Dadurch hat sie eine deutliche nationalistische Lärbung.

Anfang der 1970er Jahre wurde der Enthusiasmus ftir farbenfrohe künst- lerische Individualwelten zudem sicherlich von Erfahrungen mit Be- wusstseinserweiterung durch Medi- tation, Musik, Drogen und Psycho- therapie angefacht. Bald wuchs die Zahl der spezialisierten Galerien, eigene Zeitschrifiten, Messen und Auktionen folgten. In den USA und wenigen europäischen Ländem öflf- neten Museen für Sammlungen von Art brut oder Outsider Art.

Die jüngste Stufe der Wertschätzung künstlerischer Werke von Psychia- trie-Erfahrenen wird markiert von dem seit 2000 wachsenden Inter- esse an Outsider Art bei Sammlern von Gegenwartskunst sowie bei entsprechenden Galerien und Mu- seen. Einige große Häuser wie das Musee d’art modeme Lille metro- pole in Villeneuve d’Ascq haben ei- gene Ausstellungsbereiche für diese Kunstform eingerichtet, populäre Ausstellungshäuser wie die Schirn- Kunsthalle in Frankfurt am Main veranstalten Überblicksschauen zum Thema. Wird dadurch das Besonde- re der ursprünglich als Gegenkunst 16

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etablierten Werke nivelliert? Oder wird damit auf ästhetischer Ebene ein Trend zur zunehmenden Integ- ration von Minderheiten deutlich, vielleicht sogar im Sinne einer ge- sellschaftlichen Avantgarde? Das muss sich in den nächsten Jahren erweisen.

Thomas Röske ist Leiter der Sammlung Prinzhom der Psychiatrischen Universitäts- klinik Heidelberg. Er hat Kunstgeschich- te, Musikwissenschafit und Psychologie in Hamburg studiert und mit einer Arbeit über Hans Prinzhom promoviert. Seine For- schungsschwerpunkte sind: Deutsche und englische Kunst und Kunsttheorie um 1800, Deutsche Kunst der Klassischen Modeme, Psychologische Aspekte von Kunst, Kunst und Aussenseiter-Erfahrung, Kunst und Psy- chiatrie, Outsider Art.

<Die Spinne>, Andreas Horni

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