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5 Jeder Mensch ist gleich, manche sind gleicher?

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Polizeidokumentation Gießen 2006 · 35 www.polizeidoku-giessen.de.vu

Der Ablauf

Roland Schmidt aus Hirzenhain hat schon einige Auseinanderset-zungen mit der Justiz hinter sich, denn er ist nicht unterwürfig gegen-über den als höhere moralische Instanz auftretenden Richterinnenund Richtern. Für die RechtsbeugerInnen der Gießener Justiz be-deutet das die verschärfte Form gerichteter Rechtssprechung. Der fol-gende Fall ist nicht besonders bedeutsam, aber exemplarisch.In einer Auseinandersetzung zwischen Roland Schmidt und demSPD-Anwalt Rudolf Hartmann überschütten sich beide mit Beschimp-fungen. Der SPD-Anwalt bezeichnet Roland Schmidt als „Faulenzer,der sich auf Kosten anderer voll fressen würde“. Juristisches Niveauhat das wohl nicht. Roland Schmidt ist aber auch nicht zimperlich undschimpft über den Anwalt: „Rufmörder“. Beide erstatten Anzeigewegen Beleidigung. Die Staatsanwaltschaft Gießen ermittelt undkommt zu einem bemerkenswerten Ergebnis. Zwar ist der Fall eigent-lich ein klassisches Aufschaukeln, bei dem beide Seiten ordentlichhinlangen in verbaler Form, aber die Staatsanwaltschaft scheint wich-tiger zu finden, dass hier ein Eliteangehöriger und ein eher am so-zialen Rand der Gesellschaft stehender Mensch streiten. Und so fälltsie bemerkenswerte Beschlüsse:

1. Die Beleidigungsanzeige gegen Roland Schmidt wird zu einer An-klage gemacht und sogar ein Strafbefehl erlassen, d.h. RolandSchmidt wird (vor)verurteilt ohne Verfahren: 60 (!) Tagessätze soll erzahlen oder wahlweise zwei Monate ins Gefängnis. Eine bemerkens-wert hohe Strafe. Mit Anklageerhebung bejaht die Staatsanwaltschaftauch das öffentliche Interesse an dem Fall. Offenbar war hier entschei-dend, dass ein Mensch aus der Masse der Unterprivilegierten einenEliteangehörigen beleidigt. Steht der Fall so herum, ist „öffentliches“Interesse an der Strafverfolgung gegeben, denn „öffentlich“ ist im Juri-stendenken gleichbedeutend mit „staatliches“ Interesse. Das wird imAlltag ständig sichtbar daran, was geschieht, wenn ein Polizist belei-digt wird (sofort Verfahren und Verurteilung) und wenn PolizistInnen ihrOpfer beleidigen. Das passiert oft bei einer Polizeimaßnahme gleichmehrfach, Anklagen gibt es aber nie.

2. Ganz anders bewertet die Staatsanwaltschaft Gießen dagegen die umgekehrte Klage. Sie stellt fest, dass ein öffentliches Interesse nicht gegeben ist. Es ist zwar derselbe Vorgang, der bei der andersherum gerichteten Beleidigung zu Anklage und Strafbefehl führte, doch ge- richtete Justiz funktioniert halt so, dass das rauskommt, was raus- kommen soll − und das ist der Schutz der Eliten und die Durchset- zung derer Interessen. Die Beleidigungsanzeige von Roland Schmidt gegen den SPD-Anwalt wird abgewiesen.

Der weitere Gang vollzieht sich vor dem Amtsgericht Büdingen. Das ist nicht Gießen, wie mensch dann immerhin merkt. Denn das Offen- sichtliche wird dort wenigstens erkannt. Das Verfahren wird eingestellt, weil sonst beide verurteilt werden müssten. In Büdingen arbeitet manch Kopf noch an der Sache, in Gießener Justizstuben geschieht das nicht. Gleichheit vor dem Recht ist in Gießener Repressions- behörden ein Fremdwort.

Fallbeispiel Hirzenhain: Jeder Mensch ist gleich, manche sind gleicher? 5

Buchvorstellung:

Umfassend, präzise - und bedrückend: So ließe sich das Buch in wenigenWorten umschreiben. Akribisch haben die Autoren viele Fälle der hessi-schen Gerichte in der Nazi-Zeit ausgewertet. Statistiken und juristischeBewertungen füllen das Buch. Nicht nur die vielen grausamen Einzelur-teile sind prägend, sondern auch und vor allem die Systematik, die inter-essengeleitete Justiz als willige Vollstreckung der Interessen herrschenderEliten. Angst macht zudem der bruchlose Übergang: Es gar nicht nötig,die Justiz im Übergang von der Weimarer Republik in den Nazi-Terror-Staat umzukrempeln. Die Staatsanwälte und Richter machten freiwilligbis begeistert mit. Das ist nicht allein mit einer Sympathie für den Fa-schismus zu erklären, sondern auch mit einer grundsätzlichen Unterwer-fung, mit der Selbstdefinition als willige Vollstrecker. Nicht nur hier lassensich Fragen auch an die heutige Justiz stellen. Beklemmend sind ebensoetliche Ausführungen, die den Verdacht nahelegen, dass dieses willigeVollstreckertum auch heute ausgeprägt ist − auch wenn die heutigenMachthaberInnen (zum Glück) nicht die gleichen Ziele verfolgen wie dieNazis. Wo aber von den RichterInnen moderner Zeit menschenver-achtende Urteile verlangt werden (Abschiebungen, Isolationshaft, Siche-rungsverwahrung, lange Haftstrafen usw.), fackeln sie ebenfalls nichtlange. Form, Wolfgang/Schiller, TheoPolitische NS-Justiz in Hessen(2005, N.G.Elwert Verlag in Marburg, 1230 S. in 2 Bänden, 50 Euro)

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36 · Polizeidokumentation Gießen 2006 www.polizeidoku-giessen.de.vu

Politikerin prügelt − und nichts passiert

Angela Gülle war Kandidatin der Grünen zur Oberbürgermeisterwahl2003 in Gießen. In der hitzigen Endphase des Wahlkampf schlug sieeinem Politaktivisten ins Gesicht − mitten im Seltersweg (FußgängerIn-nenzone)und vor Dutzenden BeobachterInnen. Die Brille des Ge-schlagenen flog (vor Gericht festgestellt) sechs Meter weit und ging zuBruch. Das ist Körperverletzung und Sachbeschädigung. Da es öf-fentlich geschah, Teil des Wahlkampfes und die Täterin eine bekanntePolitikerin war, zudem auch die Presse berichtete, dürfte das öffent-liche Interesse nachgewiesen sein. Doch: Was macht die Polizei unddie Staatsanwaltschaft? Erstere nimmt zunächst den Geschlagenenfest und nicht die Schlägerin. Dann überredet der Gießener Staats-schutzbeamte KOK Holger Schmidt die Grüne, Anzeige wegen Kör-perverletzung gegen den Geschlagenen zu stellen (so berichtete esGülle selbst in ihrer Zeuginnenaussage im Prozess gegen den Ge-schlagenen am 15.12.2003). Was machte die Staatsanwaltschaft? Sieklagte tatsächlich den Geschlagenen an, nicht die Schlägerin − undzwar wegen Beleidigung, Sachbeschädigung und Körperverletzung.Das öffentliche Interesse wurde bejaht. Gleichzeitig stellte sie das Ver-fahren gegen die Grünen-Politikerin ein. Grund: Kein öffentliches Inter-esse. Wenn also eine Eliteangehörige einen Menschen vom sozialenRand der Gesellschaft schlägt, gibt es kein öffentliches Interesse aneiner strafrechtlichen Verfolgung − selbst dann, wenn es in der Öffent-lichkeit breit bekannt war. Gleichzeitig aber gibt es öffentliches Inter-esse, wenn auch nur der Verdacht aufkommt, der Geschlagene könnedie Schlägerin vorher beleidigt haben. Die Staatsanwaltschaft erhobAnklage. Was machten die Gerichte? Sie verurteilten den Geschla-genen in allen Instanzen − und das mit einer bemerkenswerten Be-gründung. Er muss die Politikerin beleidigt haben, sonst hätte eskeinen Grund für diese gegeben, zuzuschlagen. So einfach ist das inder gerichteten Justiz. Rundherum verhielten sich auch andere dem-entsprechend: Der CDU-Bürgermeister Heinz-Peter Haumann eiltezur Schlägerin Gülle und umarmte sie direkt nach dem Schlag. GrüneParteigenossInnen, u.a. der Ex-Linke Heinrich Brinkmann, klatschtenin Stammtischmanier laut Beifall. Die Zeitungen bejubelten die Schlä-gerin und attackierten den Geschlagenen.

Mehr Informationen:

ê Damaliger Bericht auf Indymedia zu dem Vorfall: ê Mehr zudem in der Polizeidokumentation 2004 ê Bericht vom Prozess am 15.12.2003 (www.projektwerkstatt.de/ê Az. der Ermittlung gegen Angela Gülle 501 Js 14736/04; Az. deswww.de.indymedia.org/2003/08/60237.shtml(siehe www.polizeidoku-giessen.de.vu).antirepression/prozesse/haupt_1instanz.html) und vom entspre-chenden Tag der Berufungsverhandlung (www.projektwerkstatt.de/antirepression/prozesse/berufung2005_tag9.html).Verfahrens gegen die Privatperson: 501 Js 19696/03.

Weitere Fallbeispiele

der Bevorzugung von Eliteangehörigen

Buchvorstellung:

Eine Collage von Zeitdokumenten,Kommentaren, Schilderungen und poli-tischen Analysen − ohne vorgefertigte Meinung zur Person vonUlrike Meinhof und zu den Verhältnissen in Deutschland, in denenMeinhof lebte, agierte, die sie kritisierte und an denen sie sich ra-dikalisierte. Der Autor, selbst im Sog der Terrorismushysterie Endeder 70er Jahre erfasst, schildert in zum Teil beklemmender Nähezu den Geschehnissen die kalte Brutalität der Begegnung zwi-schen Mensch und unpersönlicher Macht, die jede Hoffnung aufBefreiung und Emanzipation nehmen kann. Besonders die Schil-derungen der Handlungen staatlicher Apparate − von gewalt-förmigen Polizeieinsätzen bis zur kalten Unmenschlichkeit der Ge-richtssäle − belegt, wie ein autoritärer Staat den Hass und dieVerzweifelung einerseits produziert, andererseits aber auchbraucht, um sein Gewaltmonopol und dessen exzessive Anwen-dung zu legitimieren. Ulrike Meinhof hat in ihrem Handeln das niedurchschaut und so − verzweifelt und entschlossen − ein Spielmit aufgezogen, dessen Spielregeln von der anderen Seite be-stimmt und gekonnt benutzt werden. Peter BrücknerUlrike Meinhof und die deut-schen Verhältnisse(2006, Wagenbach in Berlin, 207S., 11,90 Euro)

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