Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 111|
Heft 49|
5. Dezember 2014 A 2149Eine schreckliche Situation
Im kurdischen Teil des Iraks, rund um die Stadt Dohuk, leben derzeit
geschätzte 630 000 Menschen, die sich vor den Angriffen des Islamischen Staates retten konnten. Die Situation in den Flüchtlingslagern ist prekär, die Behörden sind durch den Flüchtlingsstrom überfordert.
Unter welchen Bedingungen leben die Flüchtlinge, die vor dem Terror des Isla- mischen Staates (IS) geflohen sind?
Angelika Claußen: Die Situation in den Camps ist schrecklich. Die meisten Zelte sind nicht winterfest, es ist keine warme Kleidung vorhan- den und bald wird es dort sehr kalt.
Zudem sind die hygienischen Ver- hältnisse miserabel. Die UNHCR- Norm besagt, dass für 68 Personen eine Toilette bereitgestellt werden muss. Ich finde das unzumutbar. Die Frauen haben berichtet, dass sie gar nicht auf die Toilette gehen, weil sie von Männern bedrängt werden. Es gibt bisher noch keine Schulen. Die kurdische Regionalregierung ver- sucht viel für die Flüchtlinge zu un- ternehmen, aber die Behörden sind aufgrund der Masse an Flüchtlin- gen überfordert. Während anfangs viele Flüchtlinge unter Brücken oder in baufälligen Häusern Schutz ge- sucht haben, sind inzwischen nach offiziellen Zahlen 90 Prozent der 630 000 Flüchtlinge, die nach Do- huk geflohen sind, in Flüchtlings- camps untergekommen.
Was haben Sie über das Leid der Flüchtlinge erfahren?
Claußen: Ich habe eine Gynäkolo- gin kennengelernt, die momentan ein Projekt für „Rückkehrerinnen“ star- tet. Damit sind die Frauen gemeint, die von der IS-Miliz entführt worden sind und von ihren Familien zurück- gekauft wurden. Die Entführten wur- den meist von ihren Nachbarn verra- ten. Viele Menschen haben mit dem IS kooperiert. Die IS-Milizionäre trennen dann Männer und Frauen.
Die Frauen werden nach Alter und
Aussehen sortiert, als Sexsklavinnen missbraucht oder gezwungen als Hausdienerinnen zu arbeiten. Ich ha- be mit einer Frau gesprochen, deren beide Töchter nach Mossul ver- schleppt und von dort weiterver- kauft wurden. Ihr Ehemann und ihr Sohn sind noch in IS-Gefangen- schaft. Zehn ihrer Familienangehö- rigen sind direkt beim Überfall des IS gestorben. Sie selbst ist in einer arabischen Familie gelandet. Nach einiger Zeit hat man ihr ein Telefon gegeben, damit sie ihre Familie an- ruft, um ein Lösegeld auszuhan- deln. Mich hat besonders die Mittä- terschaft der Nachbarn schockiert.
Nach der Rückkehr muss mit psy- chischen Erkrankungen, mit den verschiedenen Formen der post- traumatischen Störungen gerechnet werden: posttraumatische Belas- tungsstörungen, schwere Depres- sionen, Suizidalität. Nach dem Überleben, wenn etwas Ruhe ein-
gekehrt ist, realisieren Betroffene erst das ganze Ausmaß der Verluste ihrer geliebten Angehörigen.
Wie ist es um die psychologische Betreuung der Flüchtlinge bestellt?
Claußen: Ich habe ein psychologi- sches Behandlungszentrum der Ji - yan-Stiftung besucht, das sehr gut ausgestattet war. Dort werden mo- natlich 200 Menschen behandelt.
Doch da in der Gegend 630 000 Flüchtlinge leben, sind die Kapazi- täten viel zu klein. Dieses Behand- lungszentrum organisiert mobile Sprechstunden in den Flüchtlingsla- gern. Zur Behandlung der Hundert- tausenden Flüchtlinge müssten neue Zentren eingerichtet und das Perso- nal aufgestockt werden.
Außerdem habe ich die psycho- logische Fakultät in Dohuk und ein psychiatrisches Krankenhaus be- sucht. Es wird dort dringend mehr Personal benötigt. Es wäre hilf- reich, wenn deutsche Universitäten mit den dortigen Fakultäten Part- nerschaften eingingen, um die psy- chotherapeutische Ausbildung des Personals zu unterstützen.
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Das Interview führte Philipp Ollenschläger.
Spenden:
Verband Kurdischer Ärzte in Deutschland e.V.
Stichwort: Spende für Flüchtlinge in Kurdistan Deutsche Apotheker und Ärztebank IBAN: DE 39 3006 0601 0008 7790 23 Konto Nr: 0008779023
BIC: DAAEDEDDXXX BLZ: 30060601
Jiyan Foundation (ehemalig: Kirkuk Center for Torture Victims)
Kirkuk Center for Torture Victims Bank für Sozialwirtschaft Berlin IBAN: DE14 1002 0500 0003 1396 01 BIC/SWIFT: BFSWDE33BER
INTERVIEW
mit Dr. med. Angelika Claußen, Mitglied der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW
Angelika Claußen ist Ärztin für Psy- chiatrie und Psycho- therapie, Mitglied der ärztlichen Frie- densorganisation IPPNW und hat im Oktober mit zwei jesidischen Freun- dinnen Flüchtlings- camps im Nordirak besucht.
Foto: IPPNW