DEUTSCHESÄRZTEBLATT
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Schwerbehinderte
len, Fürsorgestellen und Sozia- lämtern daraus ein Vorwurf zu machen. Wenn der Personen- kreis der Behinderten in den letzten Jahren ständig ausge- weitet wurde, so ist darin kein Mißbrauch des Gesetzes zu se- hen, sondern eine Ausschöp- fung der "Möglichkeiten" (so Dr.
Vilmar).
Die massenhafte Anerkennung als Behinderter hat nach Über- zeugung von Prof. Dr. Hans-Joa- chim Bochnik, Direktor der Psychiatrischen Universitätskli- nik, Frankfurt, eine "Anspruchs- haltung erzeugt und das Be- wußtsein, leidend und behindert zu sein, in der Bevölkerung ver- stärkt". Aus wissenschaftlich- medizinischer Sicht entspräche allzuoft die Einstufung in den Status des Schwerbehinderten nicht den tatsächlichen Bedürf- nissen, vielmehr werde eine be- queme "Rentner-Mentalität" ge- fördert und geradezu provoziert. Die wissenschaftlichen Gremien der Bundesärztekammer und der AWMF hatten bei der Ent- wicklung neuer Eingliederungs- und Zuordnungskriterien zu- nächst versucht, aus dem Aus- land Erfahrungen zu sammeln und praktikable "Anleihen" auf- zunehmen. So wurden die von der Weltgesundheitsorganisa- tion (WHO) herausgegebenen Anleitungen und Definitionen ebenso durchmustert wie die Definition und Behinderungska- tegorien, die dem Behinderten- recht in Großbritannien zugrun- de liegen, zu Rate gezogen ("disability and handicaps"). Da- nach wird der Grad der Behinde- rung nach der tatsächlichen Lei- stungseinschränkung bemes- sen.
ln jedem Falle sollte das neue Behindertenrecht auch auf die Arbeitsmarktchancen, die Ar- beitsplatzsicherung, das Kündi- gungsrecht und einen behinder- tengerecht gestalteten Arbeits- platz ausgerichtet werden. Prof.
Dr. Hans Kuhlendahl, Präsident
EinVolkvon Behinderten?
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes, Wiesbaden, waren Ende 1981 (neuere statistische An- gaben liegen noch nicht vor) rund 6, 7 Prozent der Wohnbevölkerung als Schwerbehinderte im Sinne des , ,Schwerbehindertengesetzes" von 1974 amtlich anerkannt. Ende 1981 lagen bei den zuständigen Ämtern insgesamt 8,56 Millionen Anträge auf den begehrten amtlichen Behin- derungsausweis vor. Am gleichen Stichtag waren 6,1 Millionen Aner- kennungen bereits ausgesprochen.
Daß die Flut von Anerkennungsan- trägen und tatsächlichen Anerken- nungsverfahren von Bundesland zu Bundesland zum Teil erheblich ab- weicht, läßt sich aus den Statistiken zweier Bundesländer ablesen (wor- über Prof. Dr. Karl Friedrich Schle- gel, der Direktor der Orthopädi- schen Universitätsklinik Essen, während der Pressekonferenz in Bann berichtete):
~ ln Bayern sind 9,2 Prozent der Wohnbevölkerung als behindert an- erkannt, darunter 6,8 Prozent als Schwerbehinderte.
~ ln Nordrhein-Westfalen gelten fast 11 Prozent der Wohnbevölke- rung als "schwerbehindert". Im März 1981 (letzte statistische Anga- ben) waren in Nordrhein-Westfalen bereits 1 ,65 Millionen Bürger amt- lich als schwerbehindert anerkannt.
Dies bedeutet: Jeder 16. Bürger an Rhein und Ruhr (rund 14 Millionen Einwohner) ist amtlich als , ,schwer- behindert" registriert. HG
der AWMF, Düsseldorf, betonte, keinesfalls dürften das Behin- dertenrecht und das Arbeits- recht so ausgestaltet werden, daß Gesunde und weniger Be- hinderte gerade den Schwer- und Schwerstbehinderten Kon- kurrenz um den Arbeitsplatz ma- chen. Der Düsseldorfer Wissen- schaftler erinnerte an die beson- dere Problematik der psychi- schen und neurologischen Lei- den, für diese Patienten seien die Barrieren besonders hoch.
Auf die Notwendigkeit einer in- dividuellen Prüfung mit Rück- sicht auf die persönliche und 1334 (20) Heft 17 vom 27. April 1984 81. Jahrgang Ausgabe A
berufliche Situation wies zudem Prof. Dr. Hanns-Peter Wolff, der Vorsitzende des Wissenschaft- lichen Bei rat es der Bu ndesärz- tekammer, München, hin. Es wurde der Vorschlag gemacht, bei einer Feldstudie im Zuge von rund 3000 Anerkennungs- verfahren, etwa in Berlin, verläß- liche Daten für eine sachliche Bewertung jedes Antrages zu gewinnen.
Die Ärzteschaft legt Wert darauf, daß ihre Vorschläge, durch wis- senschaftliche Erkenntnisse fundiert und durch die tägliche Praxis erhärtet, als wissen- schaftliche Beratung der Politik verstanden und im Gesetzge~
bu ngsverfah ren berücksichtigt werden. Die Empfehlungen und Warnungen des Thesenpapiers im einzelnen:
~ Vor Anerkennung als Schwerbehinderter sollte stets geprüft werden, ob Krankenbe- handlung oder Rehabilitation die Behinderung abwenden, ab- mildern oder beheben können.
Die Anerkennung sollte nur
·möglich sein, wenn solche Be- mühungen binnen eines Jahres Erfolg versprechen.
~ Um Leicht- und Nichtbehin- derte von Schwerbehinderten besser abzugrenzen und das Ausmaß der Behinderung zu be- urteilen - unabhängig vom ge- gebenenfalls vorliegenden pro- zentualen Grad der "Minderung der Erwerbsfähigkeit" sollten vier Punkte beachtet werden: 1. Als nicht behindert soll künf- tig auch derjenige gelten, der trotz eines Gesundheitsscha- dens bei den üblichen Anforde- rungen des täglichen Lebens, insbesondere auch im Beruf, in seiner Belastungs-, Leistungs- oder Erlebnisfähigkeit im Ver- gleich zu Nichtgeschädigten praktisch nicht beeinträchtigt ist.
2. Leichtbehindert sollte im Sin- ne des Gesetzes derjenige gel-