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Möglichkeiten und Hürden der Sozialen Arbeit im Umgang und bei der Unterstützung von Jugendlichen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung

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Academic year: 2021

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Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung

Bachelorarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades

Bachelor of Arts

„Möglichkeiten und Hürden der Sozialen Arbeit im Umgang und bei der

Unterstützung von Jugendlichen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung“

vorgelegt von:

Henriette Assmann

x

urn:nbn:de:gbv:519-thesis2020-0446-6

Erstprüfer*in: Dipl. Soz. Pädn. Kristine Waack

Zweitprüfer*in: Dr. Matilde Heredia

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung ... 1

1. Was versteht man unter einer Persönlichkeitsstörung? ... 2

1.1 Arten von Persönlichkeitsstörungen ... 4

1.1.1 Charakteristika von Persönlichkeitsstörungen ... 5

1.1.2 Klassifikation und Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen ... 6

1.2. Begriffsbestimmung der Borderline-Persönlichkeitsstörung ... 7

1.2.1 Symptomatik der Borderline-Persönlichkeitsstörung im Kindes- und Jugendalter .. 7

1.2.2 Ursachen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung ... 8

1.3 Diagnostik im Jugendalter ... 10 1.3.1 Kriterien... 10 1.3.2 Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung ... 11 1.4. Problembereiche ... 12 1.4.1 Emotionsregulation ... 13 1.4.2 Selbstverletzendes Verhalten ... 14

1.4.3 Selbstbild und Beziehungsaufbau ... 14

1.5 Therapeutische Ansätze ... 15

1.5.1 Dialektisch-behaviorale Therapie... 16

1.5.2 Unterschiede der DBT bei Jugendlichen ... 17

2. Trauma ... 18

2.1 Begriffsbestimmung ... 20

2.2 Klassifikation... 20

2.3 Symptomatik ... 22

2.4 Ursachen Traumatischer Folgestörungen ... 23

2.4.1 Misshandlung ... 23

2.4.2 Körperliche Misshandlung ... 23

(3)

2.4.4 Vernachlässigung ... 25

2.5 psychologische Auswirkungen nach einer Traumatisierung ... 26

2.5.1 Veränderungen der Selbstwahrnehmung... 27

2.5.2 Veränderungen des Denkens, Fühlens und Handelns ... 27

3. Zusammenhang von Traumafolgestörungen und einer Borderline-Persönlichkeitsstörung ... 28

4. Handlungsfelder der Sozialen Arbeit im Umgang mit Borderline-kranken Jugendlichen ... 32

4.1 ambulante Versorgung ... 33

4.2 Soziale Gruppen ... 34

4.3 Unterstützungsformen der Kinder- und Jugendhilfe ... 36

5. Hürden von Soziale Arbeit im Umgang mit Borderline-betroffenen Jugendlichen………...….38

6. Fazit ... 40

7. Quellen ... 43

(4)

Einleitung

Der Methodenbereich der Sozialen Arbeit nimmt einen immer bedeutenderen Stellenwert in der Arbeit mit psychisch kranken Jugendlichen ein. Durch andere stigmatisiert, fühlen sich

Betroffene oft anders und unnormal. Früher wurden psychisch kranke Jugendliche in Kliniken oder Psychiatrien untergebracht – „zu anstrengend, aus der Norm tanzend, nicht gruppenfähig“, war meist die Aussage, um sich nicht um eine adäquate Hilfe für sie kümmern zu müssen. Immer mehr Jugendlichen wird die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung zugeschrieben, wobei das Wort „Persönlichkeitsstörung“ auch noch heute -leider- bei vielen Menschen Unsicherheit auslöst, bedingt durch fehlendes Wissen.

Jedoch beschreibt eine Persönlichkeitsstörung keine abnormale Verhaltensweise, für die sich Betroffene bewusst entscheiden, vielmehr ist hier die Rede von einer Krankheit, für die sie nichts können und Unterstützung beim Verständnis der Ursachen dieser Krankheit und dem

persönlichen Umgang damit benötigen. Eine Borderline-Persönlichkeitsstörung entsteht nicht einfach aus dem Nichts. Hierbei handelt es sich um Verhaltensänderungen und -formen, die sich Betroffene über Jahre angeeignet haben, um mit sich selbst, ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt besser zurechtkommen zu können.

Aber wie kann eine fachgerechte Unterstützung und Betreuung von Borderline-gestörten Jugendlichen gelingen? Welche Hürden und Grenzen gibt es in der Arbeit mit erkrankten Jugendlichen?

Zu meiner Fragestellung habe ich formuliert, da ich auf der einen Seite das Themenfeld der psychischen Erkrankungen sehr spannend finde und auf der anderen Seite immer das Gefühl hatte, nicht genug darüber im Studium gelernt zu haben.

Ich habe mich bewusst für das Thema Borderline-Persönlichkeitsstörung entschieden, da ich mit diesem Störungsbild tagtäglich in meiner Arbeitsstelle - in der stationären Jugendhilfe - zu tun habe.

Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich daher mit dem Themenkomplex der

Persönlichkeitsstörungen. Dazu gehört unter anderem die Begriffsbestimmung der Borderline-Persönlichkeitsstörung, ihre Symptomatik, ihre Ursachenforschung sowie die Diagnostik und das Therapieverfahren.

Im Anschluss soll über die einzelnen Problembereiche berichtet werden, die Jugendliche im Laufe ihrer Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickeln. Um erörtern zu können, inwiefern ein vorgehendes Trauma mit dieser psychischen Erkrankung zusammenhängt, werde ich auf den Begriff des Traumas eingehen sowie dessen Symptomatik und Ursachenklärung. Danach werden

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die psychischen Auswirkungen eines Traumas (auf den Betroffenen) näher beleuchtet und mit denen der Borderline-Persönlichkeitsstörung verglichen.

Es folgt eine Diskussion über den Zusammenhang beider Störungsbilder.

Im Anschluss werden drei Handlungsfelder/Unterstützungsformen der Sozialen Arbeit

vorgestellt und erklärt, durch welche Maßnahmen die Jugendlichen am besten unterstützt werden können.

Zuletzt erfolgt ein Überblick über die Hürden von Soziale Arbeit, die im Umgang mit Jugendlichen, die an der Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, vorhanden sind. Dabei

werden die einzelnen Symptome und Problembereiche der Betroffenen noch einmal in Bezug auf die Möglichkeiten und Hindernisse der Sozialen Arbeit gesetzt.

1. Was versteht man unter einer Persönlichkeitsstörung?

Menschen, bei denen eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wird, werden oft automatisch auch als „krank“ und „aus der Norm tanzend“, bezeichnet. Aber was gilt eigentlich als „normal, abnormal oder krankhaft“?

Menschen die unter Persönlichkeitsstörungen leiden, zeigen erste Anzeichen von Auffälligkeiten bereits im frühen Kindesalter, die sich bis ins Erwachsenenalter weiter ausprägen (können). Früher ging man davon aus, dass Persönlichkeitsstörungen ein Resultat dessen waren, dass es schon im frühen Kindesalter zu tiefgehenden Störungen der Persönlichkeit kam. Das hätte aber bedeutet, dass die gesamte Persönlichkeit eines solchen Menschen krankhaft gestört sei. Heute zeigt sich, dass es sich „um Störungen der Beziehung, der Interaktion, nicht eine Störung der Persönlichkeit“ handelt (Sachse, 2006:12). Sachse sagt damit also, dass jede Form der Persönlichkeitsstörung mehr oder weniger die Art und Weise darstellt, wie der Betroffene auf Beziehungen, seine Umwelt und seine engen Bezugspersonen in bestimmten

Interaktionsprozessen reagiert (resultierend aus vergangenen Erfahrungen).

Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung leiden oft unter einer Bindungsstörung innerhalb ihres Bezugssystem, welches im Regelfall – zumindest anfangs - durch Mutter oder Vater

verkörpert wird.Spricht man von Bindung im entwicklungspsychologischen Kontext, meint man „eine lang andauernde, gefühlsbetonte Beziehung zu einem bestimmten Menschen […], von der wir Schutz und Unterstützung erwarten“ (Schleiffer, 2001:31). Ist diese Bindungsperson nicht aktiv da, um auf die Bedürfnisse des Babys/Kindes einzugehen, hat das fatale Folgen auf das zukünftige Verhalten des Kindes. Das Kind wird durch negative, abweisende und

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Erwartungsstrukturen“ entwickelt (Schleiffer, 2001:42). Im ungünstigsten Fall können sich diese Strukturen im Zusammenwirken mit anderen Faktoren negativ auf die psychische Entwicklung des Kindes auswirken.

Solche Erwartungsstrukturen stellen in hohem Maße eine Anpassungsreaktion des Kindes auf das Verhalten seiner direkten Umwelt dar. Bekam ein Kind beispielsweise in der Vergangenheit oft zu hören, dass es gerade niemanden interessiert, was es zu sagen habe, wirkt sich dies auf seine spätere Interaktionsfähigkeit mit anderen aus. Befindet sich der/die Betroffene z.B. Jahre später in einem Gespräch mit seinem Gegenüber, welche*r an sein Telefon geht, da er/sie einen wichtigen Anruf erwartet, verursacht er/sie genau dieses Gefühl (des*r Betroffenen) von

Desinteresse und „du bist mir eigentlich egal“. Der Betroffene kann die Situation nicht objektiv betrachten, sondern fühlt sich subjektiv abgelehnt, wodurch mit einem emotional-geladenen Gefühlsausbruch zu rechnen ist.

Solche Erwartungsstrukturen sind also grundlegend subjektiv und individuell geprägt. Auch die Einteilung der Welt in Gut und Böse ist für den Betroffenen ganz einfach. Durch diese

innerpsychologischen Maßstäbe ist es den Betroffenen quasi unmöglich mit anderen auf Augenhöhe zu interagieren und angemessen zu kommunizieren (vgl. ebd.:192f.). Folgendes Beispiel1soll das oben genannte noch einmal veranschaulichen:

Ein Kind bekommt schon im jungen Alter von seinen Eltern gesagt, dass es nervt und nicht stören soll. Es wird des Elternzimmers verwiesen und bekommt die Anweisung, mit sich selbst zu spielen. Ihm wird nicht zugehört, wenn es seinen Eltern etwas erzählen möchte.

Diese Erfahrung der emotionalen Zurückweisung kann sich auf seine späteren Beziehungsmuster übertragen:

I. das Kind wird immer denken, es würde nerven, wenn es sich bei seinem sozialen Umfeld meldet;

II. das Kind wird immer denken, niemand würde sich für es interessieren, sofern man sich über kurze Zeit nicht meldet;

III. das Kind wird nicht über seine tiefen Ängste und Probleme sprechen, da es der Meinung ist, es interessiert niemanden;

IV. das Kind wird immer denken, es sei nicht wichtig genug oder gar, dass es keine Zuneigung verdient hätte.

So kann es nicht nur zu einem gestörten Selbstbild des Betroffenen kommen, sondern auch zur unbewussten Übernahme solcher im Kindesalter erworbenen Beziehungs- und Verhaltensmuster,

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die sich wiederum auf die eigenen Beziehungen im späteren Alter übertragen (vgl. Sachse, 2006:13ff.).

Für das Kind im obigen Beispiel würde das bedeuten, dass es Jahre später akzeptiert hat, nicht geliebt und schlecht behandelt zu werden.

Es handelt sich hierbei schlichtweg über „kostenintensive, dysfunktionale Lösungen […], die zu hoch problematischen Interaktionsverhalten“ mit ihren Beziehungspartnern führen (ebd.:13). Mit dem Modell der doppelten Handlungsregulation sieht Sachse einen Versuch, den wirklichen Entstehungskern, der zu einer Persönlichkeitsstörung führt, erklären zu können.

Persönlichkeitsstörungen sind Störungen, die das Denken, Handeln, Fühlen des Betroffenen sowie das Interagieren mit anderen, stark beeinflussen. Nach Sachses Auffassung, entstehen solche Störungen erst, wenn bestimmte Beziehungsmotive wie beispielsweise: das Streben nach Akzeptanz und Würdigung der eigenen Person, vertrauensvolle und konstante Beziehungen sowie Selbstbestimmung und Selbständigkeit verletzt bzw. missachtet wurden (vgl. 2006:28f.). Man kann also sagen, dass Menschen die unter einer Persönlichkeitsstörung leiden, ihre eigenen Strategien entwickelt haben, um in immer wiederkehrenden Situationen „klar zu kommen“. Diese bewältigen sie immer aus ähnlichen Gründen und durch ähnliche Verhaltensmuster (Abbrechen von Beziehungen, gleiche Art und Weise Konflikte auszutragen, Selbstverletzung etc.). Diese Verhaltensmuster dienen später bei den Klassifikationssystemen dazu,

herauszufinden, ob bei jemandem eine Störung vorliegt oder nicht.

Denn niemand wird mit einer Persönlichkeitsstörung geboren, sondern durch (traumatische) Erfahrungen seines sozialen Umfeldes dahingehend geformt (vgl. Schütt, 2019:15f.).

Noch heute werden bei psychischen Krankheiten in unserer Gesellschaft nicht die Ursachen hinterfragt, sondern es erfolgt oft eine Stigmatisierung des Erkrankten.

Aber nach welchen Kriterien wird schlussendlich entschieden, ob jemand ein Störungsbild in seiner Persönlichkeit aufweist? Ich möchte mich im nächsten Abschnitt näher mit den Arten sowie Merkmalen von Persönlichkeitsstörungen beschäftigen.

1.1 Arten von Persönlichkeitsstörungen

Um eine Persönlichkeitsstörung diagnostizieren zu können, bedarf es bestimmter

Klassifikationssysteme wie zum Beispiel die Typologien der ICD (International Classification of Mental Diseases) und des DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders).

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Persönlichkeitsstörungen lassen sich in 7 Hauptgruppen gliedern: x dissoziale; x schizoide; x emotional-Instabile; x zwanghafte; x histrionische; x narzisstische, sowie

x abhängige und ängstliche Persönlichkeitsstörung (vgl. Sendera, 2019:8ff.).

1.1.1 Charakteristika von Persönlichkeitsstörungen

Im Folgenden möchte ich kurz auf die Merkmale der einzelnen Störungen eingehen: Persönlichkeitsstörungs-Typen Signifikante Merkmale

A (paranoide und schizoide Persönlichkeitsstörung)

- gefühlsarm/-kalt; exzentrisch; - aggressives Verhalten bei (subjektiv)

wahrgenommener Kritik oder

Kränkung durch andere; streitsüchtig - verspüren von Angst und Wut - (akuter) Verfolgungswahn B (narzisstische, histrionische, dissoziale,

emotional-instabile Persönlichkeitsstörungen)

- impulsives Handeln

- instabiles Verhalten bezüglich des eigenen Lebenssinns, der

Selbstwahrnehmung, Selbstmordgedanken - unkontrollierte

Stimmungsschwankungen

- hohe Selbstzweifel, kritikunfähig - gestörtes Sozialverhalten

C (passiv-aggressive, ängstliche, abhängigen Persönlichkeitsstörungen)

- Neigung zu Hypochondrie und Fehleinschätzung eigener Probleme - dauerhaftes Gefühl der Anspannung - starke Verlust- und Trennungsängste - Kontrollzwang über Tagesabläufe

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1.1.2 Klassifikation und Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen

Diagnosen durch die oben genannten Klassifikationssysteme zu stellen, ist problematisch, da es keine wirklich festgelegten Kriterien gibt, ab welchem Zeitpunkt die Stärke einer

Merkmalsausprägung als eine psychische Störung definiert wird (vgl. Sachse, 2006:23). Man spricht daher von sogenannten Prototypen (Persönlichkeitstyp), denen in den jeweiligen Clustern (siehe Tabelle) bestimmte Merkmale von Persönlichkeitsstörungen zugeschrieben werden. Hierbei stellt ein Prototyp eine besondere Ausprägung einer Persönlichkeitsstörung dar. Um eine Diagnose feststellen zu können, müssen mehrere Merkmale einer

Persönlichkeitsausprägung in der Klassifizierung zutreffen (vgl. Bronisch, 2012:374). Es soll daher das eigentliche Ziel sein, die Persönlichkeitsmerkmale zu identifizieren, die zu einer erschwerten Lebensweise für den Betroffenen führen. Schafft der/die Betroffene es, sich seiner immer wiederholenden Verhaltensweisen bewusst zu werden, kann es ihm – zusammen mit der zu diagnostizierenden Person– durch systematisches Vorgehen gelingen, die Ursachen für seine Verhaltensweisen zu erkennen und zu hinterfragen. Denn nur durch die Einsicht, dass er/sie selbst Teil ihres Problems sind, können sie dahingehend unterstützt werden, sich diesem nicht mehr ratlos und abwehrend, sondern problemlösend entgegenzustellen.

Aufgabe der diagnostizierenden Person ist es also, mit Hilfe der ICD und DSM- Tabellen einen Überblick über die störenden Verhaltensweisen des Betroffenen zu bekommen, sein Problem zu erkennen und zwingend Therapieansätze zu formulieren (vgl. Sachse, 2006:25f.). Im

Klassifikationssystem der ICD-10 werden vor allem störende Persönlichkeitsmerkmale

festgehalten, die als „lang anhaltend, tief verwurzelnd und unflexibel“ gelten (Schütt, 2019:16). Diese anhaltenden Verhaltensmuster beeinträchtigen den Betroffenen in jeglichen Lebenslagen-, -situationen und -umständen, da sie nicht nur zu einem subjektivem Schmerzempfinden

beitragen, sondern auch zu einer sozialen Dysfunktion (vgl. ebd.).

Das Klassifikationssystem der ICD zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass vorab konkrete Merkmale erfüllt sein müssen, um eine Persönlichkeitsstörung zu haben. Erst wenn diese „erwiesen“ sind, lassen sich andere Unterklassen erkennen, die auf eine bestimmte Neigung (dissozial, histrionisch, emotional-instabil etc.) der Persönlichkeit schließen lassen. Für die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung würde das z.B. bedeuten, dass sich zwei Typen klassifizieren lassen: den emotional-instabilen und den Borderline-Typus (vgl. Natho, 2002: 158ff.). Beide unterscheiden sich nur minimal voneinander, weisen aber trotzdem signifikante Merkmale auf, die es sinnvoll erscheinen lassen in zwei Persönlichkeitstypen zu unterscheiden.

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Das DSM-System wiederum unterteilt nicht in verschiedene „Untertypen“ einer Störung, sondern gibt einen Kriterienkatalog vor, indem mindestens 5 von 8 Merkmale erfüllt werden müssen, um an einer Bordliner-Persönlichkeitsstörung zu leiden (vgl. Natho, 2002:161f.). Um die Diagnose Persönlichkeitsstörung letztendlich stellen zu können, bedarf es neben dem Kriterienkatalog eine genaue Analyse der Verhaltensweisen durch diagnostische Verfahren. Ich möchte mich im nächsten Kapitel näher auf die emotional-instabile (Borderline)

Persönlichkeitsstörung fokussieren und einen - neben der Begriffsbestimmung - Überblick über die Symptomatik, Diagnostik und Therapieverfahren geben.

1.2. Begriffsbestimmung der Borderline-Persönlichkeitsstörung

Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung handelt es sich um eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, welche ihre Wurzeln in der Psychoanalyse und Psychopathologie hat (vgl. Sendera, A/Sendera, M., 2016:9). Diese ist durch große einschneidende negative

Bindungserfahrungen sowie langanhaltende Verhaltensmuster geprägt und führt langfristig dazu, dass sich die Betroffenen selbst hassen und oft selbst verletzen. Das Krankheitsbild definiert sich neben des großen Selbsthass auch durch eine Dysfunktion in der sozialen Interaktionsfähigkeit mit anderen. Durch die radikalen Verhaltensweisen, welche stark von dem durchschnittlichen Verhaltensniveau abweichen, kommt es zu fehlerhaftem Wahrnehmen der eigenen Emotionen, des Denkens und des Handelns sowie der Beziehungsgestaltung zu anderen, die durch häufige Konflikte gekennzeichnet ist (vgl. Prölß/Schnell/Koch, 2019:105). Die

Borderline-Persönlichkeitsstörung ist eine der Störungen, die bereits im Kindesalter, spätestens im

Jugendalter erste Anzeichen erkennen lässt. Hierbei wäre noch einmal festzuhalten, dass es sich bei den Persönlichkeitsstörungen nicht um Eigenschaften des Menschen handelt, die er auf Grund seines Temperaments oder Charakters „zeigt“. Vielmehr geht es um Störungen seines innerpsychischen Systems (durch frühere traumatisierende Erfahrungen) und der draus resultierenden Dysfunktion seines Sozialverhaltens (vgl. Natho, 2002:158).

1

.2.1 Symptomatik der Borderline-Persönlichkeitsstörung im Kindes- und

Jugendalter

Lange Zeit wurde davon abgesehen, Jugendliche mit einem psychischen Störungsbild zu diagnostizieren. Das geht zum einen auf die hohe Remissionsrate mit zunehmendem Erwachsenenalter zurück, welche bei Patienten im Alter von 18-35 Jahren bei 88% liegt (Streeck-Fischer, 2011:179). Zum anderen war man sich lange unsicher, ob bzw. inwiefern Persönlichkeitsstörungen mit der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben im Jugendalter zusammenhängen würden. So heißt es nach Baierl, dass „mindestens 60% der Kinder und

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Jugendlichen in Jugendhilfeeinrichtungen erfüllen die ICD-10 Kriterien für mindestens eine psychische Störung“ (Baierl, 2016:22).

Jugendliche, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erkrankt sind, äußern im Grunde dieselben Symptome, wie Erwachsene.

Folgende Merkmale lassen bei Jugendlichen auf eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung schließen:

x Angst verlassen zu werden und Angst allein gelassen zu sein (vgl. Hofmann, 2002:28) x abweichendes Verhalten: Betroffene springen oft zwischen Entwicklungsniveaus hin und

her, dass sich zum einen durch altersgemäßes Verhalten, zum anderen durch abruptes „Kleindkind“-Verhalten äußert. Des weiteren können sie zwischen verschiedenen Ich-Zuständen wechseln (liebes/aggressives Kind, wütend/depressiv,

euphorisch/emotionslos);

x Verleugnung: es folgen Verzerrungen der Realität um sich selbst zu schützen (Schönrednerei);

x Regulationsstörungen: Betroffene können nicht mit ihren Emotionen umgehen bzw. diese richtig deuten, was oft impulsive Wutausbrüche sowie Suizidandrohungen zur Folge hat (vgl. Streeck-Fischer, 2011:179f.);

x selbstverletzendes Verhalten: zur Stress- und Anspannungsregulierung fügen sich ca. 80% (In-Albon/Schmid, 2019:698) der Betroffenen selbst schwere Verletzungen zu, um etwas spüren zu können (hierbei geht es um keinen Suizidversuch, sondern um die Regulierung der Anspannung im ganzen Körper);

x Schwierigkeiten im Schul- und Lernbereich: Betroffene verfügen über eine sehr geringe Aufmerksamkeitsspanne. Sie können sich nur sehr schwer über einen bestimmten Zeitraum konzentrieren und mental anwesend sein. Situationen in denen ihr Wissen abverlangt wird bzw. sie mit Informationen überschüttet werden,

erschöpfen sie körperlich sehr, sodass ein längeres Gespräch unmöglich scheint (vgl. Streeck-Fischer, 2011:180)

1.2.2 Ursachen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung

Vieles lässt in der Ursachenforschung zur Entstehung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung darauf deuten, dass es sich hierbei um eine Bindungsstörung im frühen Säuglings-/ Kindesalter handelt, welche nicht nur eine (spätere) gestörte Beziehungsgestaltung mit sich bringt, sondern sich auf die Persönlichkeitsentwicklung des Betroffenen auswirkt.

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Da Säuglinge nur schreien und ihre Bedürfnisse nicht verbal in Worten ausdrücken können, ist es in diesem frühen Alter sehr wichtig, durch physischen Kontakt (Körper- und Augenkontakt, Lächeln, Berühren der Hände etc.) dem Kind zu zeigen, dass man es hört und auf seine

Bedürfnisse eingeht (auch wenn man nicht weiß, was konkret der Säugling braucht). Geht in dem Fall die Mutter diesem biologischen Auftrag nicht nach, kann es zu einer „traumatisierenden Disharmonie der Mutter-Kind-Interaktion“ kommen, wodurch Säuglinge bereits ab dem 6. Monat eine „komplexe Furcht“ empfinden können (Hofmann, 2002:29f.). Ab diesem Monat lernen Säuglinge zu krabbeln und können dem Bedürfnis nach Nähe - zu ihren Bezugspersonen - selbst nachgehen. Man spricht hier von der „eigentlichen“

Bindungsentwicklung, da der Säugling von nun an auf seine inneren Reize selbst physisch reagieren kann (vgl. ebd.:196).

Kommt es zur Ablehnung oder Zurückweisung des Grundbedürfnisses nach Nähe, kann sich aus Furcht reale Trennungsangst entwickeln (vgl. ebd.:30).

Die Trennungsangst entsteht dann, wenn sich das Kind nicht auf die Reaktion seiner

Bezugsperson(en) verlassen kann. Reagiert die Bezugsperson beispielsweise nur bei Weinen oder Schreien des Kindes, so wird es zukünftig vor allem diese Emotionen zeigen, um

Zuneigung zu bekommen. Das Unterdrücken und Verstärken bestimmter Emotionen sind in dem Fall der verzweifelte Versuch auf sich aufmerksam zu machen.

Säuglinge sind bereits ab dem 3. Monat in der Lage, Zusammenhänge zwischen ihrem Verhalten und der Reaktion der Bezugsperson(en) zu erkennen (vgl. ebd.:196ff.). Durch das physische

Klammern an die Bezugsperson(en) versucht das Kind ein Verlassen werden (auch bei

tatsächlicher Trennung; z.B.: morgens in der Kita) zu vermeiden. Reagiert die Bezugsperson auch hier wieder mit Ablehnung oder Zurückweisung, können diese Bindungserfahrungen äußerst prägend und traumatisierend für das Kind sein (vgl. ebd.:199).

Die Angst vor dem Verlassen-werden, ist eine phantasierte Erwartungsangst und erst ab dem 10. Lebensmonat möglich. Mit phantasiert meint man hier das Schaffen eines inneren Bildes

(Symbols) als Reaktion auf einen Reiz (vgl. ebd.:29f.). Das bedeutet, dass das Kind gewisse Handlungen seines Gegenübers voraussetzt und immer „mit dem schlimmsten rechnet“. Im Fall der Borderline-Persönlichkeitsstörung gilt das vor allem wenn Betroffene sich in festen

Beziehungen befinden, sie gehen von Anfang davon aus, dass sie verlassen werden, ohne dass „zwingend traumatische Erlebnisse im Sinne eines realen Traumas“ aufgetreten sein müssen (Hofmann, 2002:29).

Kam es in frühen Kindheitsjahren nicht dazu, dass auf grundlegende Affekte (Wut, Trauer, Schmerz etc.) angemessen reagiert und eingegangen wurde, kann dies zur Störung der

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Emotionsregulation führen, die Ursache hierfür liegt in „schweren Disharmonien in der Interaktion von Bezugspersonen und Kind“ (ebd.:29f.).

Haben Kinder und Jugendliche also bereits in sehr jungen Wochen/Monaten/Jahren

Trennungsängste entwickelt, scheint eine adäquate Bindungs- und Identitätsentwicklung in den Folgejahren fast unmöglich.

Das zentrale Verhaltensmerkmal der Boderline-Persönlichkeitsstörung ist die Angst vor „Einsamkeit, Schutzlosigkeit, Bedrohung, Verlassenheit, Vernachlässigung und Missachtung […] diese Angst entwickelt sich ungerichtet, diffus“ (ebd.:32). Diese wird als Borderline-Angst bezeichnet (vgl. Dulz und Schneider, 1997 zit. nach Hofmann, 2002:32). Diese Angst kann im frühen Kindesalter beginnen und sich bis ins Jugendalter manifestieren. Durch die

Interaktionsprobleme mit den Bezugspersonen, sind betroffene Jugendliche nicht in der Lage adäquat Lösungen auf Entwicklungsaufgaben zu finden und ihre Identität zu entwickeln. Die Folge sind die Borderline-typischen Verhaltensweisen (vgl. Zimmermann und Becker-Stoll, zit. nach Hofmann 2002:213f.). Darüber hinaus sieht Natho auch sexuellen Missbrauch sowie traumatisierende Familienverhältnisse und untypische Familienkonstellationen als Grund für die Erkrankung an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Unter untypischen

Familienkonstellationen versteht man hier eine falsche Rollenzuweisung für das Kind. Handelt es sich beim Vater z.B. um einen Suchtkranken, der des öfteren von Zuhause verschwindet, kann es dazu kommen, dass die Mutter das Kind als Partnerersatz annimmt. Zu Zeiten der

Abwesenheit des Vaters erfährt das Kind durch die Mutter unglaublich viel Zuneigung und Liebe, was sich mit der väterlichen Rückkehr aber wieder schlagartig ändert.

Das Kind wird auch hier wieder zurückgestoßen (vgl. Natho, 2002:166, 170ff.).

1.3 Diagnostik im Jugendalter

1.3.1 Kriterien

Die Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen erfolgt auf der Grundlage der Kriterien der ICD-10 und des DSM-IV-Systems. Die unten aufgeführte Tabelle soll die relevanten Merkmale der beiden zuvor genannten Systeme für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung verdeutlichen. Bei den Kriterien des DSM-IV-System müssen mindestens 5 Merkmale nachweisbar sein, um eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostizieren zu können (vgl. Natho, 2002:162). Um im ICD-10 System in Untergruppen differenzieren zu können, müssen vorab signifikante Merkmale einer Persönlichkeitsstörung wie: Impulsivität, Regulationsstörung bezüglich des Handelns/der Emotionen/ des Denkens/ der Beziehungsgestaltung und der Wahrnehmung festgestellt werden. Erst dann kann eine Neigung zu einem bestimmten Typus bestimmt werden.

(14)

ICD-10 DSM-IV „emotional-instabil“:

- impulsives Handeln ohne Rücksicht auf mögliche Konsequenzen

- häufig wechselnde (instabile) Gemütszustände

- starke unvorhersehbare Wutausbrüche - Kritik von anderen führt zu

gewalttätigem Handeln

- tiefgreifende, aber instabile Beziehung - impulsives Sexualverhalten

- Substanzmittelmissbrauch - starke Stimmungsschwankungen - unkontrollierte Wutausbrüche - Identitätsstörung

- chronisches Gefühl der Leere - Angst verlassen zu werden - Suizidandrohungen und

selbstverletzendes Verhalten „Borderline-Typus“:

- gestörte Selbstwahrnehmung

- chronisches Gefühl der inneren Leere - das Führen von toxischen

Beziehungen, um nicht allein zu sein - Angst verlassen zu werden

- Suizidandrohungen und

selbstverletzendes Verhalten als Folge von emotionalen Krisen

(vgl. Natho, 2002:159ff.)

1.3.2 Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung

Für das Diagnoseverfahren bei Jugendlichen werden neben der eigenen Einschätzung ihrer Symptome auch das familiäre Umfeld miteinbezogen. Dabei steht die Chronologie der störungsspezifischen Persönlichkeitsmerkmale im Vordergrund, um herauszufinden wie

ausgeprägt und langandauernd diese sind. Um ein ausgeprägtes Merkmal handelt es sich dann,

wenn die Merkmalsausprägung seit mindestens 1 bis 2 Jahren besteht (vgl. Fleischhaker/Schulz, 2010:30).

Für die Diagnosestellung der Borderline-Persönlichkeitsstörung werden im Allgemeinen mit - Selbstbeurteilungsverfahren

- Checklisten und

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Bei dem Selbstbeurteilungsverfahren geht es um die Einschätzung der Borderline-typischen Empfindungsweisen des Betroffenen (welche er selbst benennen soll).

Hierbei handelt es sich um eine „Borderline-Symptom-Liste“, wo die Betroffenen sich anhand eines Fragebogens selbst einschätzen sollen. Dabei sind die Fragebögen so konzipiert, dass sich die betroffenen Jugendlichen zum einen an ihre Symptome (z.B. Angst vor dem Alleinsein, Selbstzweifel und Hilflosigkeit), zum anderen an 11 ihrer Verhaltensweisen

(Substanzmittelgebrauch, selbstverletzendes Verhalten, Suizidandrohung etc.) aus der vorherigen Woche erinnern sollen, um diese einer entsprechenden Häufigkeit zuzuordnen. Die Zuordnung erfolgt auf einer fünfstufigen Skala. Es ist allerdings zu beachten, dass diese

Selbstbeurteilungsverfahren nur den Betroffenen dazu dienen sollen, ihre Verhaltensweisen einordnen bzw. benennen zu können. Es wird auf Grundlage dieser Fragebögen keine Diagnose auf Borderline-Persönlichkeitsstörung gestellt, allerdings hilft es den Betroffenen dabei, dass subjektive Erleben ihrer Emotionen festzuhalten (vgl. Herpertz-Dahlmann/Simons, 2011:175). Bei der Diagnosestellung einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung liegt das

Hauptaugenmerk (in Deutschland) auf dem Instrument der Interviewverfahren, wie dem „IPDE=International Personality Disorder Examination“ oder dem „SKID-II = Strukturierten Klinischen Interview für DSM-IV“. Die IPDE orientiert sich an den Kriterien der ICD-10 und des DSM-IV und ist ein Verfahren, welches bis zu 90 Minuten dauern kann. Hierbei handelt es sich um ein Interview, welches in den ersten Schritten Informationen zur Lebens- und

Krankengeschichte des Betroffenen sammelt. Danach werden die einzelnen Persönlichkeitsstörungen strukturiert erfragt (vgl. ebd.:174).

Das SKID-II – Verfahren richtet sich ausschließlich an die Kriterien des DSM-IV. Im ersten Schritt muss der Betroffene ebenfalls einen „Screening-Fragebogen“ ausfüllen, der die

unterschiedlichen Merkmale aller Persönlichkeitsstörungen aufweist. Danach findet ebenfalls ein (weniger strukturiertes) Interview statt, welches aber zeitlich abgekürzt werden kann, indem nur Fragen auf diejenigen Bereiche formuliert werden, die vorab im ausgefüllten Fragebogen besonders hervorstachen.

Gerade deshalb kann die SKID-II-Methode effektiver als die der IBDE sein, da Menschen, welche an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, eine sehr schwache

Konzentrationsfähigkeit aufweisen (vgl. ebd.).

1.4. Problembereiche

Es gibt verschiedene Verhaltensweisen, die als typisch für das klinische Bild der Borderline-Persönlichkeitsstörung gelten. Häufig sind diese durch Impulsivität, selbstverletzendes

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von chronischer Leere gekennzeichnet. Um Betroffene mit einer

Borderline-Persönlichkeitsstörung therapeutisch unterstützen können, muss mit ihnen zusammen erarbeitet werden, welche Problembereiche sich durch ihre Verhaltensweisen in den letzten Jahren

entwickelt haben. Um die tatsächlichen Auswirkungen besser verstehen zu können, soll im Folgenden auf die verschiedenen Problembereiche eingegangen werden, die Borderline-Betroffene zunehmend in ihrer Lebensqualität ein- bzw. beschränken.

1.4.1 Emotionsregulation

Die mangelnde Fähigkeit ihre Emotionen zu regulieren, zählt mit zu dem Kernproblem einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Betroffene können innerhalb weniger Stunden eine Achterbahn von Gefühlen durchleben. So sind sie erst euphorisch, gefolgt von wütend und unglaublich traurig. Dieses Wechselbad der Gefühle lässt sie oft aus der Realität abdriften. So kommt es vor allem zu Wahrnehmungsverzerrungen, wenn der/die Betroffene viele Emotionen auf einmal spürt und diese im Umkehrschluss versucht, zu unterdrücken. Die Symptomatik der ständigen Angst verlassen zu werden, überträgt sich in jegliche Lebensbereiche der Betroffenen (vgl. Sendera, A./Sendera,M., 2007:11f.).

Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen2:

Ein Mädchen (Kira) lebt in einer heterogenen therapeutischen Wohngruppe, wo sie sich ein Zimmer mit einem anderen Mädchen (Lena) (welche keine Borderline-Persönlichkeitsstörung hat) teilt. Sie verstehen sich beide sehr gut miteinander. Durch den Auszug einer Jugendlichen und den Einzug zweier Jungen muss das Zimmer der Mädchen allerdings aufgelöst werden, da Neulinge nicht sofort ein Einzelzimmer bekommen und ein Zimmer auch nicht zweigeschlechtlich besetzt sein darf. Das bedeutet, dass die zwei Mädchen jeweils in ein Einzelzimmer, die Jungen in das Doppelzimmer ziehen. Lena freut sich sehr darüber, denn - obwohl sie Kira sehr mag- vermisst sie ihre Privatsphäre. Kira hingegen würdigt dies als Ablehnung gegen ihre Person, welches das Gefühl des Verlassen-werdens „aktiviert“. Obwohl Lena versucht Kira zu erklären, warum sie sich über das Einzelzimmer freut, kann Kira mit der Reaktion von Lena überhaupt nicht umgehen. Kira verletzt sich daraufhin selbst.

Betroffene mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung befinden sich in ihrem eigenen Teufelskreis von Gefühlen. Häufig unterdrücken sie Gefühle wie Scham, Trauer, Schuld und Angst. Tritt der Moment dieser „Emotionsüberflutung“ ein, kann der/die Betroffene ein „Gefühl der inneren Leere verspüren […] und den Körper als fremd empfinden“ (Sendera,A./Sendera,M.,

(17)

2007:12). Durch das Unterdrücken dieser Gefühle befinden sie sich nahezu durchgehend in einer langanhaltenden Krise, welche sie durch selbstverletzendes Verhalten und Drogen- sowie

Alkoholkonsum versuchen zu kompensieren.

Ihre abwehrenden Verhaltensmuster lindern meist kurzfristig ihren emotionalen Schmerz, rufen aber zwangsläufig die nächste emotionale Krise hervor (vgl. ebd.:13f.)

1.4.2 Selbstverletzendes Verhalten

Selbstverletzendes Verhalten ist bei Jugendlichen mit einer BPS impulsiv und nicht

vorhersehbar. Sie verletzen sich selbst mit tiefen und langen Schnitten z.B. an Armen, Bauch und Oberschenkeln (vgl. Sachsse, 2011:391). Dieses Verhalten dient dem Abbau ihres inneren Spannungszustandes, der entsteht, wenn sie negative Gefühle zu stark spüren. Wenn sich die Betroffenen in diesem Anspannungszustand befinden, können sie sich nur durch

selbstverletzendes Verhalten „befreien“. Durch die tiefen Schnitte, welche sie sich selbst zuführen, kriegen sie ein Gefühl der Realität und des „Aufatmens“ zurück (vgl. Stiglmayr, 2011:386).

Vor allem wenn die sogenannte Borderline-Angst ausgelöst wird, verspüren betroffene Jugendlichen den Drang sich selbst zu verletzen, um dieser für sie nicht aushaltbaren emotionalen Belastungssituation entfliehen zu können. Man könnte das selbstverletzende Verhalten in dem Kontext fast als ein Ritual bezeichnen, dem die Jugendlichen sinnlich nachgehen.

Die Auslöser für solche Situationen können minimal und für außenstehende nicht nachvollziehbar erscheinen. Oft sind es Momente in denen Betroffene ein Gefühl von

Ablehnung, Enttäuschung, möglicher Trennung/Verlust/Bedrohung und des eigenen Versagens verspüren, ohne das dieses wirklich real vorhanden ist (= phantasierte Erwartungsangst) (vgl. Hofmann, 2002:57). Darüber hinaus wird selbstverletzendes Verhalten aber auch als Bestrafung gegen einen selbst und zum Abbau von Schuldgefühlen eingesetzt (vgl. Sendera, A./Sendera, M., 2007:16).

1.4.3 Selbstbild und Beziehungsaufbau

Borderline-Betroffene haben kein Vertrauen in ihre eigene Gefühlswelt, weshalb es häufig zur Verleugnung eigener Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen kommt. Sie sind durchaus in der Lage, anderen Menschen bei der Bewältigung von solchen interpersonalen Problemen zu helfen, sich selbst stehen sie dabei allerdings im Weg. Allgemein kann man sagen, dass Betroffene dazu neigen, an sich selbst zu hohe Erwartungen zu setzen, die sie nicht erfüllen können. Das mehr oder weniger unvermeidbare Versagen führt zu großem Scham- und Hassgefühl, sowie

(18)

dadurch geprägt, dass sie sich als Mensch wahrnehmen, der außerstande ist, seine Fehler und Makel zu korrigieren.

Betroffene, die unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, haben das Bedürfnis nach bedingungsloser Liebe und emotionaler Sicherheit, geprägt durch immer wiederkehrende Konflikte und Misstrauen. Das erschwert nicht nur den Betroffenen, Beziehungen aufzubauen, sondern auch den jeweiligen Partnern durch das ständige emotionale Hin- und Her selbst nicht „verrückt zu werden“. Borderline-Betroffene machen sich von ihren Partnern emotional abhängig. Sie sehen ihren Partner nicht nur als Lösung (und auch Grund) für ihre emotionale Instabilität, vielmehr erwarten sie auch, dass diese*r aktiv zur Bewältigung ihrer intrapersonalen Probleme beiträgt (vgl. Sendera, M./Sendera, A., 2007:17ff.).

Zusammenfassend kann man sagen, dass Borderline-Betroffene jegliche Emotionen um ein Vielfaches mehr spüren als „nicht erkrankte“. Durch die ständig wechselnden und

fehlinterpretierten Emotionen entsteht bei den Betroffenen Unsicherheit des eigenen Selbstbildes; der damit verbundenen persönlichen Ziele sowie der sexuellen Orientierung. Häufig ist es ihnen nicht möglich genau einzuordnen, was sie gerade empfinden, weshalb sich soziale Beziehungen eher schwierig für sie gestalten. In Partnerschaften kann es dazu kommen, dass sich Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung an ihre Partner klammern, um zu verhindern, verlassen zu werden. Schnell können sie aber auch ein Gefühl von Enge

empfinden, was sie ihre Partner zurückweisen lässt. Darauffolgende impulsive Wutausbrüche können sich nicht nur gegen ihre Mitmenschen, sondern vor allem gegen sie selbst richten. (vgl. Prölß/Schnell/Koch, 2019:108ff.).

1.5 Therapeutische Ansätze

Klienten die an einer BPS leiden, weisen eine Interaktionsstörung innerhalb ihrer

Beziehungsgestaltung auf. Aufgabe des Therapeuten bzw. der pädagogisch unterstützenden Person ist es, die Beziehung so zu gestalten, dass nicht nur auf die Bedürfnisse und Wünsche bezüglich der Beziehungsgestaltung eingegangen wird, sondern diese auch der Störung angepasst wird umso Defizite aufzudecken. Dabei muss die Beziehung aber einem

professionellen Rahmen und Handeln unterlegen sein. Man spricht hierbei vom komplementären

Handeln, da auf die Bedürfnisse des Klienten (im professionellen und therapeutisch vertretbaren

Rahmen) eingegangen werden. Der Klient fühlt sich verstanden und gut aufgehoben, was zu einer soliden Vertrauensbasis führt, welche für den weiteren Behandlungsverlauf unbedingt benötigt wird (vgl. Sachse, 2006:55).

(19)

Beim komplementären Handeln muss der Therapeut stets authentisch und empathisch sein (und arbeiten). Tut er dies nicht, kann es dazu führen, dass er unglaubwürdig wirkt und der/die Klient*in das Vertrauen verliert. Vor allem Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung merken sehr schnell, ob es ihr Gegenüber „ernst“ meint, wenn er/sie lobt oder auf positive Fähigkeiten hinweist. Hat der Betroffene das Gefühl, der Therapeut würde ihm/ihr etwas vormachen, hat das negative Auswirkungen auf ihre Beziehung und die Therapie würde ihren Nutzen verlieren (vgl. ebd.:55f.).

Die Schwierigkeit einer erfolgreichen Therapie besteht darin, dass die Klienten sehr lange Zeit brauchen, um zu realisieren, dass sie „Teil ihres Problems“ sind (Sachse, 2006:23). Deshalb ist wichtig, dass professionelle Helfer*innen ihre Klienten darin unterstützen, ihr Problem verstehen zu lernen, damit eine „Behebung“ des Störungsbildes erfolgen kann (vgl. ebd.:24).

Im Folgenden möchte ich nun kurz die „gängigste“ Therapiemethode aufzeigen, die die Basis der Arbeit mit Jugendlichen, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, bildet.

1.5.1 Dialektisch-behaviorale Therapie

Der Ansatz der Dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) wurde von der Psychologin Marsha Linehan während der 80er Jahre konzeptionell entwickelt. Das Konzept besteht aus

verschiedenen therapeutischen Elementen wie: Teile der Verhaltenstherapie, Gestalttherapie (Kunsttherapie), der Hypnotherapie sowie meditative Ansätze aus dem Zen-Buddhismus (Achtsamkeitsübungen) (vgl. Bohus/Höschel, 2006:255). Durch den vielfältigen Einsatz unterschiedlichster Therapieansätze bezeichnet ihre Begründerin, Linehan, die DBT als eine „Werkstatt“. Die Behandlungsstrategien für Betroffene mit einer

Borderline-Persönlichkeitsstörung werden – unter ihren doch individuellen Störungsbildern - ständig aus neuen Blickwinkeln betrachtet und somit auch immer wieder dem Störungsbild angepasst. Die DBT findet ihren Einsatz im stationären sowie im ambulanten therapeutischen Setting (vgl. Sendera, A./Sendera, M., 2007:74). Im Vordergrund dieses therapeutischen Ansatzes steht die Bindungsarbeit sowie das konsequente Auseinandersetzen und Bearbeiten dysfunktionaler Verhaltensweisen des Betroffenen. Der Beziehungsaufbau zwischen Therapeut*in und

Patient*in ist die Grundlage für eine positive Entwicklung ihres Verhaltens. Ebenso wichtig ist jedoch das Aufzeigen klarer Grenzen und das Herbeiführen von „Konsequenzen“ bezüglich selbstverletzenden Verhaltens, wenn der Patient die vorab mit dem Therapeuten getroffenen Vereinbarungen für eigene Krisensituationen nicht eingehalten hat (vgl. Bohus, 2011:622f.). Die Behandlungsmethode der DBT unterteilt sich in der ambulanten Therapieform in 4 Module:

(20)

- Telefonberatung,

- Skills-Training in der Gruppe, - Supervision.

Die Einzeltherapie erstreckt sich über einen Zeitraum von 1 bis 3 Jahren mit wöchentlich 1 bis 2 Behandlungsstunden. Während der Einzelstunden unterstützt der Therapeut im Rahmen seiner professionellen Möglichkeiten den Patienten dabei, Lösungsstrategien für akute Krisen zu finden und Motivation für deren Umsetzung zu geben (vgl. Bohus, 2011:620). Bevor die Therapie „richtig“ beginnen kann, muss eine Zustimmung zur Behandlung, ebenso wie eine ausführliche Diagnostik und Informationsvermittlung typischer Problembereiche, die Bestimmung

gemeinsamer Therapieziele, ein Behandlungs- sowie Non-Suizid-Vertrag sowie eine Analyse zu den vorherigen Therapieabbrüchen und Suizidversuchen erfolgen. Der Non-Suizid-Vertrag wird für die Dauer der Einzeltherapie, in der Regel auf 1 Jahr, festgelegt. Er beinhaltet, dass der Betroffene -während der Therapie- zum einen keinen Suizidversuch durchführen wird, zum anderen dass er in Krisensituationen auf die Telefonberatung zurückgreift und seinen

Therapeuten anruft, um Schlimmeres zu verhindern (vgl. Sendera, A./Sendera, M., 2007:89f.; Bohus, 2011:620).

Parallel zur Einzeltherapie nimmt der/die Borderline-Betroffene an einer sogenannten Skills-Trainings-Gruppe (Fertigkeitentrainingsgruppe) teil. Die Gruppe wird auf eine Dauer von mindestens 12 Monaten (mit Tendenz zur Verlängerung) besucht (vgl. Sendera, A/Sendera, M., 2007:104). Ziel ist es, Fertigkeiten hinsichtlich der eigenen Achtsamkeit, der Stresstoleranz, des Umgangs mit Gefühlen sowie zwischenmenschlichen Fertigkeiten und Selbstwert neu zu

erlernen oder bereits (unbewusste) bestehende zu vertiefen (vgl. Bohus, 2011:632). Sie sollen im Gruppentraining erlernen, wie sie diese „Skills“ auch unter psychischen Belastungszuständen aktivieren können, um somit auf dysfunktionale Verhaltensweisen zu verzichten. Zwischen Therapeut*in und Skills-Trainer*in erfolgt ein kontinuierlicher Austausch (Supervision), um unter den im Gruppentraining besprochenen/erlernten Fertigkeiten diejenigen auszuwählen, die zur individuellen Verbesserung des Störungsbildes des jeweiligen Patienten passen (vgl. ebd.:633).

1.5.2 Unterschiede der DBT bei Jugendlichen

Die Schwierigkeit beim Therapieprozess mit Jugendlichen liegt darin, dass sie oft nicht aus eigenen Stücken einen Therapeuten aufsuchen, sondern durch ihre Eltern oder andere Institutionen (Jugendamt) mehr oder weniger dazu gezwungen werden. Zwei Komponenten erschweren den Zugang zu Jugendlichen besonders: 1. Menschen, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, fällt es generell sehr schwer, Vertrauen zu anderen herzustellen

(21)

und 2. betroffene Jugendliche tun sich sehr schwer damit, mit Erwachsenen über ihre Probleme und Ängste zu sprechen. Da Jugendliche sich in festen Systemen, wie ihren Peergroups oder Familien befinden, muss das soziale Umfeld ebenfalls (anders als im Erwachsenenbereich) mit in den Therapieprozess eingebunden werden (vgl. Kaess/Brunner/Resch, 2011:778).

Darüber hinaus wurde das Therapiekonzept in folgenden Punkten angepasst/überarbeitet: - eine 16-20wöchige, anstatt einer 1-3jährigen Behandlungsdauer;

- die Eltern sind Teil der Skills-Gruppen, um den Lerneffekt zu verstärken, Fertigkeiten zu Hause aufrechtzuerhalten und einen möglichst positiven Effekt auf das dysfunktionale Familiensystem zu haben;

- zusätzliche Verankerung des Programmpunktes im Skills-Training: „Modul: Walking the Middle Path”, welcher sich auf familiäre Dilemmata bezieht;

- Einbezug der Eltern in die Einzeltherapie, da oft Probleme innerhalb der Familie die Ursache für die Problembereiche der Jugendlichen sind;

- Reduzierung der zu vermittelnden Fertigkeiten, um trotz der verkürzten Therapiezeit Erfolge haben zu können;

- vereinfachte Formulierungen (vgl. Fleischhaker/Schulz, 2010:66f.).

Das soziale Umfeld soll Jugendliche mit einer BPS nicht nur bestärken und motivieren, sondern vielmehr auch sicherstellen, dass die erlernten Fertigkeiten in den Alltag übertragen werden. Heute geht man davon aus, dass das Zusammenwirken unterschiedlicher Risikofaktoren dazu führen kann, dass Kinder/Jugendliche an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erkranken. Dazu zählen vor allem traumatische Erfahrungen aus Kindheitsjahren. Im nächsten Kapitel möchte ich die Definition und Ursachen eines Traumas näher untersuchen um somit einen

möglichen Zusammenhang zwischen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und einem Trauma erkennen zu können.

2. Trauma

Lange Zeit wurde davon abgesehen, traumatische Erfahrungen in den Zusammenhang mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zu bringen. Studien zufolge geben Borderline-Betroffene zunehmend an, Traumatisierungen in frühester Kindheit in Form von sexuellem Missbrauch erfahren zu haben. Die Prävalenzrate von solchen traumatischen Erlebnissen beläuft sich hierbei auf 50 – 80% (Sack/Sachsse/Dulz, 2011:197).

Handelt es sich um mehrfache Wiederholungen solcher traumatischen Erfahrungen, kann der Betroffene an einen Punkt der psychischen Überforderung kommen, da er nicht mehr adäquat auf das Geschehene reagieren und damit umgehen kann.

(22)

Kommt es zu solch einer Überforderung der psychischen Schutzfaktoren3, spricht man von einer

Posttraumatischen-Belastungsstörung, welche eine verzögerte Reaktion auf das traumatische

Ereignis darstellt (vgl. Höwler, 2016:273).

Die Posttraumatische Belastungsstörung gilt als psychisches Störungsbild und wird mit ihren Symptomen und Kriterien in dem DSM-VI klar definiert. Betrachtet man die Kriterien der ICD 10, die deutlich allgemeiner gehalten sind als die Diagnostik nach DSM IV, so spricht man hierbei von einer Belastungsreaktion, aus der sich nach einem weiteren Zeitablauf (insgesamt max. 6 Monate) und einer Manifestierung der Symptomatik eine Posttraumatische

Belastungsstörung entwickeln kann (vgl. Steil, 2006: 379).

Rund 20,4% der Frauen erkranken nach einer schweren Traumatisierung an einer PTBS, die Quote der Männer liegt nur bei 8,2% (Kessler et al. 1995 zit. nach Steil, 2006:382).

In vielen Büchern stößt man zusätzlich auf die Begrifflichkeit der „Komplexen

Posttraumatischen-Belastungsstörung“. Sie wurde erstmals im Jahr 1976 durch die

amerikanische Traumaforscherin Herman definiert, welche versuchte eine Systematisierung der Folgen von Traumatisierung durch sexuellen und körperlichen Missbrauch sowie

Vernachlässigung aufzustellen (Herman 1992a, zit. nach Sack/Sachsse/Dulz, 2011:199). Die Posttraumatische Belastungsstörung und die Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung werden in vielen Büchern auch als Traumafolgestörungen bezeichnet. Bei der Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung zeigen sich verstärkt Merkmale, die der einer Borderline-Persönlichkeitsstörung ähneln.

Betroffene mit einer Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln ebenfalls eine gestörte Affektregulation und weisen große Defizite in ihrer sozialen Interaktion auf, wobei die Symptomatik eine so große Intensität annehmen kann, dass sie diese in allen Lebensbereichen behindert (vgl. Sack/Sachsse/Dulz, 2011:200). Beide Störungsbilder, also Posttraumatische - und Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung, können sich innerhalb von 6 Monaten (nach dem traumatischen Ereignis) entwickeln.

In den Diagnosekriterien der ICD-10 und DSM-IV wurde ebenfalls die Akute Belastungsstörung mit aufgenommen. Diese wird aber mehr als ein „Schockzustand“ und kurzweilige Phase

gesehen. Sie kann ebenfalls Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen hervorrufen, scheint aber kein dauerhaftes Störungsbild zu sein (vgl. Steil, 2006:379), weshalb ich mich im Folgenden ausschließlich auf die Posttraumatische Belastungsstörung beziehen werde.

3 Unter psychischen Schutzfaktoren versteht man individuelle Strategien, die ein Betroffener für sich entwickelt und anwendet, um das Auftreten von Störungen beim Vorliegen von Belastungen zu mindern. Dazu zählen vor allem Vermeidungs- und Unterdrückungsstrategien (vgl. Bengel/Lyssenko, 2016, Internetquelle).

(23)

Da ich am Ende dieses Kapitels untersuchen möchte, inwiefern Traumafolgestörungen und eine Borderline-Persönlichkeitsstörung zusammenhängen (können), verwende ich im Folgenden die Begrifflichkeiten: Trauma, Traumatisierung und traumatische Erfahrungen. Von dem Vertiefen des Störungsbildes der Posttraumatischen-Belastungsstörung soll vorerst abgesehen werden.

2.1 Begriffsbestimmung

Trauma bedeutet im Griechischen: „Verletzung, Wunde“ oder im übertragenen Sinne: „Niederlage, seelische Verletzung“ (Arnim/Müller-Braunschweig/Joraschky, 2006:401). Der Begriff des „Traumas“ stellt nach Baierl „keine feste Einheit, die immer gleich bleibt“ dar (Baierl, 2016:22). Er favorisiert daher den Begriff der Traumatisierung, da dieser

„Prozesshaftigkeit und Dynamik beinhaltet“. Er sieht die Traumatisierung als einen

langanhaltenden Prozess, der psychische Verhaltensveränderungen hervorrufen kann (ebd.). Als Trauma wird im medizinisch-psychiatrischen Kontext das auslösende Ereignis verstanden, das zu einer späteren Störung (Traumatisierung) führen kann (vgl. Remschmidt et al, 2001:197f. zit. nach Jegodtka/Luitjens, 2016:54).

Steil hingegen definiert den Begriff der Traumatisierung als eine Folge von erlebten Situationen, in der man direkt oder indirekt von psychischer wie körperlicher Gefahr betroffen war und wiederholt wiedererlebt.

Dabei kann es sich auch um Naturkatastrophen, Unfälle, sowie Akte non-sexueller Gewalt handeln (2006:378). Betrachten wir eine Traumatisierung im Kontext der psychischen Störungsbildern, definiert sie sich als eine Situation, in der „die normalen

Bewältigungsmöglichkeiten Flucht und Kampf nicht erfolgreich genutzt werden können“ (Schmid/Fegert/Kölch, 2013:260). Solche interpersonellen Traumatisierungen liegen oft Situationen von sexueller Misshandlung oder frühkindlicher Vernachlässigung zu Grunde, die für den Betroffenen emotional belastend. Hierbei waren die Betroffenen der Situation meist schutzlos ausgesetzt und konnten nichts gegen das Geschehen tun (vgl. ebd.).

2.2 Klassifikation

Man unterteilt Traumatisierungen in zwei Typen:

x Typ-I: bei dem es sich ausschließlich um ein einzelnes traumatisches Erlebnis handelt. Bei dem Typ-I gibt es allerdings keine weiteren Faktoren, die zu einer großen

psychischen Belastung führen (geführt haben).

(24)

x Typ-II: hierbei handelt es sich um eine interpersonelle Traumatisierung, die wiederholend stattfindet.

Bsp: sexueller Missbrauch, Gewaltverbrechen, Vernachlässigung (Schmid/Fegert/Kölch,

2013:260)

Das System der ICD-10 und DSM-IV unterscheidet die Definition von Traumatisierung wie folgt:

ICD-10 DSM-IV

„belastendenes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher

Bedrohung/katastrophenartigen Ausmaßes, welches bei fast jedem eine tiefe Verstörung hervorrufen würde.“

„Ereignis, das schwere körperliche

Verletzung, tatsächlichen oder möglichen Tod oder eine Bedrohung der physischen Integrität der eigenen Person beinhaltet; verbunden mit einer subjektiven Reaktion von intensiver Furcht, Hilflosigkeit und Entsetzen.“

(Steil, 2006:379) Vor allem Kinder und Jugendliche, die vermehrt unter Traumatisierungen des Typs-II leiden, weisen einzelne (bis alle) Kriterien der in der ICD-10 und DSM-IV definierten

Posttraumatischen Belastungsstörung auf.

Diejenigen, die „nur“ ein Trauma des Typ-I aufweisen, erkranken meist an keinem bleibenden psychischen Störungsbild. Allerdings gibt es auch hier vereinzelt Fälle, die im Laufe der Zeit das Vollbild der Posttraumatischen Belastungsstörung entwickeln. Statistisch gesehen, leiden rund 25% der Menschen, die eine schwere Traumatisierung erfahren haben, unter einer

Posttraumatischen-Belastungsstörung (Schmid/Fegert/Kölch 2013:261).

Die Kriterien der ICD-10 werden schon seit langer Zeit kritisch betrachtet. Als problematisch wird die doch sehr allgemein gehaltene Definition einer Traumatisierung gesehen. Zum einen aus dem einfachen Grund, dass eine traumatische Erfahrung rein subjektiv wahrgenommen wird, sie kann also gar nicht bei „jedem eine tiefgreifende Verzweiflung hervorrufen“ (Dreßing, 2016:272). Zum anderen gibt die ICD-10 einen zeitlichen Maßstab von 6 Monaten vor, in dem sich Symptome einer Traumatisierung zeigen müssen, um von einer Posttraumatischen

Belastungsstörung sprechen zu können. Da das Empfinden und Verarbeiten eines Traumas ebenfalls rein subjektiv verläuft, können sich Merkmale auch erst viel später entwickeln. Bei dem DSM-IV steht zwar ebenso die subjektive Wahrnehmung und Verarbeitung im

Vordergrund, jedoch wird hierbei eine Unterteilung in 5 verschiedene Cluster vorgenommen, die u.a. Anlass und Ursache der Traumatisierung konkret definiert. Anders als bei der ICD-10

(25)

werden im DSM-IV bestimmte Symptome, wie Intrusion, Vermeidung, negative emotionale Veränderungen sowie ein erhöhtes Arousal genannt. Innerhalb dieser Kategorien müssen jeweils mindestens 2 Symptome erfüllt sein. Das DSM-IV System stellt dabei auch auf eine zeitliche Begrenzung ab und unterstreicht die Tatsache, dass Symptome zwar direkt nach dem Ereignis eintreten können, aber erst ab dem 6. Monat vollständig ausgeprägt sind (vgl. Dreßing,

2016:273).

2.3 Symptomatik

Betroffene, die unter Traumafolgestörungen leiden, können die verschiedensten Merkmale aufweisen, die sie psychisch, physisch sowie im Umgang mit ihrer Umwelt, beinträchtigen. Baierl und Frey sehen die folgenden Symptome als besonders hervorstechend (vgl. 2016:25): 1. Sie leiden unter Kontrollverlusten: durch sogenannte „Trigger“ (=Reize) können Betroffene in den verschiedensten Situationen durch verschiedenartigste Reize an ihre traumatischen

Erfahrungen erinnert werden, welche sie abrupt in eine Art Schockzustand versetzen. Solche unvorhersehbaren Erinnerungsstücke werden Flashbacks genannt. Wenn ein Trauma fortlaufend und wiederholt durchlebt wird, wird es als Intrusion bezeichnet. Die Betroffenen haben dabei keinerlei Kontrolle über die Reize, die sie an ihr Trauma zurückerinnern und können deshalb auch nicht präventiv agieren, um solche Schockzustände zu verhindern. Das Ziel der Betroffenen ist es hierbei -zusammen mit ihrem Therapeuten/Fachkraft- eine Bewältigungsstrategie zu

entwickeln, die es ihnen ermöglicht, solche Reize „durchzustehen“.

2. Betroffene leiden ebenfalls an einer Störung von affektiven Reaktionen. Das bedeutet, dass sie mit ihren Emotionen nicht umgehen bzw. sie gar nicht regulieren/unterscheiden können. Sie sind dadurch sehr schnell gereizt, ungeduldig, aggressiv und erleben unkontrollierbare Wutausbrüche. Durch ihre Stimmungsschwankungen neigen sie zu risikoreichem Verhalten.

3. So gut wie alle Menschen, die mit Folgestörungen eines schweren Traumas zu kämpfen haben, leiden an einer sogenannten Hypervigilanz. Betroffene befinden sich dann in einem Zustand der anhaltenden Wachsamkeit und Alarmbereitschaft. Oft leiden sie dadurch auch an Schlafstörungen, Albträumen und Konzentrationsmangel.

4. Des Weiteren weisen sie Mängel in der sozialen Interaktionsfähigkeit auf, weshalb sie sich oft von anderen isolieren. Sie verspüren sehr häufig negative Gefühle wie: Furcht und Panik,

(Bedrücktheit bis) Depression, Misstrauen gegenüber anderen, Scham und Schuld und emotionale Taubheit. Darüber hinaus können sie auch „kalt“, emotionslos und gleichgültig anderen gegenüber wirken. Treten solche Gefühle auf, versuchen sie diese um jeden Preis zu unterdrücken.

(26)

5. Neben selbstverletzendem Verhalten zeigen sie auch Suizidgedanken, da sie das Vergangene nicht verarbeiten und nicht immer „wieder erleben“ wollen. Ebenfalls kann es zu somatischen körperlichen Beschwerden kommen.

2.4 Ursachen Traumatischer Folgestörungen

Vor allem Kinder und Jugendliche sind häufiger von einer Posttraumischen Belastungsstörung betroffen. Aber wie ist das möglich?

Primär liegt es daran, dass es zunehmend zu Gewalt und Vernachlässigung innerhalb des Familiensystems kommt. Folglich kommt es bei betroffenen Kindern und Jugendlichen zu Entwicklungsstörungen. Sie haben Schwierigkeiten sich in ihren sozialen Rollen zurecht zu finden, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen sowie Beziehungen einzugehen und zu führen. Man unterscheidet bei Gewalt zwischen aktiver (körperliche/sexuelle, seelische) und passiver (Vernachlässigung) (vgl. Thyen, 2009:312). Traumatisierungen im Kindes- und Jugendalter sind durch Risikofaktoren geprägt, die die Chance erhöhen von Gewalt oder

Vernachlässigung betroffen zu sein. Dazu zählt vor allem die fehlende Bindung zwischen Eltern und Kind, einer eigenen psychische Erkrankung oder Gewalterfahrung der Elternteile,

Partnerschaftskonflikte, Suchtprobleme, sowie der Mangel von emotionalen und sozialen Kompetenzen (vgl. Herrmann et al, 2008:193ff.). Im Folgenden möchte ich die Ursachen einer Traumafolgestörung durch die unterschiedlichen Misshandlungsformen näher erläutern.

2.4.1 Misshandlung

Unter Kindesmisshandlung versteht man „eine nicht zufällige (bewusste oder unbewusste), gewaltsame körperliche und /oder seelische Schädigung von Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene“, welche wiederholt stattfindet und zu einer Bedrohung sowie Beeinträchtigung des Kindeswohles führt (Thyen, 2009:312).

Vor allem werden Kindesmisshandlungen durch die dem Kind nahestehenden Systeme (Familienangehörige, Institutionen wie Schule, Jugendhilfeeinrichtungen und Kindergarten) vorgenommen. (vgl. ebd.).

2.4.2 Körperliche Misshandlung

Körperliche Misshandlung äußert sich vor allem durch das Zufügen von Verletzungen wie Schlägen, Verbrennungen, Tritten, Stich- und Schnittverletzungen sowie sonstigen

Einwirkungen, durch die das Kind/der Jugendliche Hämatome, Narben sowie physische Schäden erleidet. (vgl. ebd.:317).

(27)

Statistiken aus den USA belegen, dass vor allem Kinder im Alter von 0-4 Jahren das höchste Risiko aufweisen durch körperliche oder seelische Misshandlungen zu sterben. Jährlich gibt es 1 Million bestätigte Fälle, bei denen ca. 60% vernachlässigt, 20% körperlich sowie 10% sexuell misshandelt werden (Thyen, 2009:312). Die Dunkelziffer des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen ist vermutlich deutlich höher. Die Gründe hierfür liegen sicherlich zum einen, in der Vertuschung durch Angehörige des Opfers oder aber darin, dass die Betroffenen erst viele Jahre nach der Tat über den Missbrauch sprechen können.

Die weltweiten Prävalenzraten belegen, dass ca. 10-15% der Frauen und 5-10% der Männer in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurden (ebd.:313).

Im Bereich der körperlichen Misshandlung kann ebenfalls keine eindeutige Aussage hinsichtlich des prozentualen Vorkommnisses von körperlicher Misshandlung – an Kindern und

Jugendlichen- getroffen werden. Das liegt zum einen daran, dass es bei körperlichen

Misshandlungen keine wirkliche Definition für den Schweregrad der Verletzungen (körperlich wie seelisch) gibt, zum anderen gibt es keine einheitliche Definition für einen gewaltfreien Erziehungsstil.

So kann allein - durch Praxis-Erfahrungen von behandelnden Ärzten- die Vermutung aufgestellt werden, dass die Mehrheit der Eltern eine milde Form des physischen Erziehungsstils anwendet (Ohrfeigen, Klaps auf den Po etc.). Hingegen sollen ca. 10-15% der Eltern „häufiger schwere körperliche Bestrafungen“ an ihren Kindern vornehmen. Dies ist eine körperliche Misshandlung (Thyen, 2009:313f.).

2.4.3 Seelische Misshandlung

Unter seelischer Misshandlung versteht man „Haltungen und Aktionen, die zu einer schweren Beeinträchtigung einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind führen und dessen geistig-seelische Entwicklung erheblich behindern.“ (Bathke/Bücken/Fliegenbaum, 2019:10).

Das Schwierige an der Feststellung einer seelischen Misshandlung ist, dass die Folgen diese Art der Kindeswohlgefährdung erst Jahre später sichtbar werden. Der/die Betroffene kann neben somatischen Auffälligkeiten auch an Schlafstörungen, Entwicklungsstörungen sowie

Verhaltensauffälligkeiten leiden (vgl. Spitzer/Grabe, 2013 zit. nach Bathke/Bücken/Fiegenbaum, 2019:11). Es gibt aufgrund der erschwerten Nachweisbarkeit keine Statistiken, die Fallzahlen von seelischer Misshandlung aufführen.

Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik zeigen, dass es im Jahr 2019 rund 4.100 bestätigte Fälle von Kindesmisshandlung (körperliche und seelische).

(28)

Darunter befanden sich 2.333 Jungen und 1.767 Mädchen, wovon insgesamt 3.322 der Betroffenen mit dem Tatverdächtigen verwandt und 105 von ihnen mit dem Tatverdächtigen befreundet/bekannt waren (Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes, Internetquelle).

Bathke, Bücken und Fiegenbaum (2019:10ff.) verweisen auf Kindler (Kap.4-1:2006), welcher 5 Kriterien aufführt, die auf eine seelische Misshandlung schließen lassen. Diese erachte ich als äußerst logisch und sinnvoll:

- „feindselige Ablehnung (z.B. das ständige Kritisieren oder Demütigen des Kindes); - Ausnutzen und Korrumpieren (z.B. Kind wird zu einem selbstzerstörerischen oder

strafbaren Verhalten angehalten oder gezwungen […]);

- Terrorisieren (z.B. Kind wird durch ständige Drohung in einem Zustand der Angst gehalten);

- Isolieren (z.B. Kind wird in ausgeprägter Form von altersentsprechenden sozialen Kontakten ferngehalten);

- Verweigerung emotionaler Responsivität (z.B Signale des Kindes und seine Bedürfnisse nach emotionaler Zuwendung werden anhaltend und in ausgeprägter Form übersehen und nicht beantwortet)“.

2.4.4 Vernachlässigung

Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie definiert Vernachlässigung wie folgt:

„Vernachlässigung bezeichnet alle Arten der Unterlassung notwendiger Sorge. Bei der

Vernachlässigung erhalten die Kinder oder Jugendlichen die für ihr Überleben und Wohlergehen erforderlichen Maßnahmen nicht oder nicht ausreichend, das sind insbesondere Ernährung, Bekleidung, Körperpflege, medizinische Versorgung, ungestörter Schlaf, altersgemäße emotionale Zuwendung, Schutz und Aufsicht durch Eltern oder Bezugsperson, Betreuung.“ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, Internetquelle).

Vor allem Kinder im Alter von 0-4 Jahren, die Opfer von Vernachlässigung werden, sind häufiger von lebensbedrohlichen und bleibenden Schäden betroffen, als durch körperliche Gewalt. (vgl. Bathke/Bücken/Fiegenbaum, 2019:12).

(29)

Man unterscheidet bei der Vernachlässigung zwischen

- Körperlicher Vernachlässigung (Ernährung, mangelnde Körperpflege/medizinische Versorgung, fehlende Pflege bei Krankheit, Drogen-und Alkohol- sowie

Nikotinmissbrauch während der Schwangerschaft, keine angemessene Kleidung); - Emotionaler Vernachlässigung (Liebesentzug, fehlende emotionale Zuneigung/ Respekt/

Bindung/ Kommunikation/ Wahrnehmung von Ängsten und psychischer Belastung des Kindes);

- Sozialer Vernachlässigung (kein Aufzeigen von Grenzen und Gefahren, mangelnder Schutz, verletzende Aufsichtspflicht, keine Unterstützung hinsichtlich des Ausbaus von Sozialkompetenzen und Selbstständigkeit) (vgl. Thyen, 2009:324f.).

Kinder und Jugendliche die von ihren Eltern körperlich, sozial sowie emotional vernachlässigt werden, leiden später unter großen Entwicklungsstörungen (nicht altersentsprechendes

Verhalten) und bleibenden kognitiven Schäden. Sie weisen zunehmend einen höheren

Suchtmittelmissbrauch, Sprachfunktionsstörungen sowie Lernschwierigkeiten (durch fehlenden Schulbesuch) auf.

Die Dysfunktion der Eltern-Kind-Beziehung bedingt, dass Kinder und Jugendliche durch das Fehlverhalten ihrer Eltern, ein falsches Selbstbild entwickeln. Ihre Loyalität ihren Eltern gegenüber bringt sie dazu, dieses Verhalten zu verleugnen (vgl. Thyen, 2009:316).

Neben den Entwicklungsstörungen kommt es bei betroffenen Kindern und Jugendlichen auch zu einer Veränderung der Persönlichkeit. Ob eine (Komplexe) Posttraumatische Belastungsstörung aber zwingend eine Persönlichkeitsstörung mit sich zieht, möchte ich im Folgenden näher untersuchen.

2.5 psychologische Auswirkungen nach einer Traumatisierung

Jeder der ein traumatisches Ereignis in der Vergangenheit durchlebt hat, hat mit späteren Veränderungen seiner Psyche und seiner Gefühlswelt zu kämpfen. Die Wahrnehmung ist durch große Furcht und Angst vor Gefahren geprägt, Beziehungen lassen sich auf Grund des

Misstrauens schwer bis gar nicht führen. Durch Misstrauen und Angst ziehen sich Betroffene sehr zurück und isolieren sich. Aber auch das Vertrauen zu einem selbst wird stark angezweifelt. Inwiefern traumatische Ereignisse zu einer Bewusstseinsveränderung und damit zu einer

(30)

2.5.1 Veränderungen der Selbstwahrnehmung

Besonders Kinder und Jugendliche geben sich oft selbst die Schuld dafür, was ihnen zugestoßen ist. Dabei spielt es keine Rolle ob sie die Tat/Situation verhindert hätten können oder nicht. Sie denken primär, dass das was ihnen zugestoßen ist, einem „Sinn“ zugrunde liegt. Vor allem Mädchen und junge Frauen, die sexuell misshandelt wurden, sind der Meinung, dass sie durch ihr Aussehen oder ihr Handeln selbst daran schuld seien. Ihr „Weiterleben“ ist geprägt durch Vorwürfe, die sie sich selber machen. Sie sind förmlich auf der Suche, Argumente dafür zu finden, warum genau ihnen diese Misshandlung wiederfahren ist. Zu dem kommt, dass vor allem Kinder und Jugendliche sich selbst als Ursache dafür sehen, warum ihre Eltern/Bezugspersonen sie misshandelt haben. Sie sind außer Stande sich einzugestehen, dass ihre

Eltern/Bezugspersonen aus freien Stücken gehandelt haben. Sie verleugnen die offensichtliche Tatsache, um ihre Vorstellung einer bestehenden fürsorglichen Beziehung (zu ihren

Eltern/Bezugspersonen) aufrecht zu erhalten (vgl. Baierl, 2016:30f.). Kommt es aber doch dazu, dass sie sich eingestehen können, nicht selbst an den Misshandlungen schuld zu sein, sind sie (noch Jahre später) meist unfähig, eine Vertrauensbasis zu anderen Menschen herzustellen. Sie verfolgt ständig der Gedanke, dass ihnen so etwas noch einmal zustoßen könnte, wieder durch Personen, denen sie ihr Vertrauen geschenkt haben. Die Folge davon ist, ein ambivalentes Verhalten, welches durch das Bedürfnis nach Nähe und dem Wegstoßen anderer Menschen geprägt ist. Ein Beziehungsaufbau auf professioneller sowie privater Ebene gestaltet sich durchaus schwierig. Betroffene neigen vor allem bei einer sehr gut laufenden Beziehung dazu, sich fehlerhaft zu verhalten um für sie Sicherheit durch einen aushaltbaren Abstand zu

bekommen. Sie testen ihre Beziehungspartner mehr oder weniger mit solchem Fehlverhalten, um zu schauen, ob ihnen droht verlassen zu werden oder ihre Beziehung wahrhaftig ist (vgl. Baierl 2016:32f.).

2.5.2 Veränderungen des Denkens, Fühlens und Handelns

Betroffene haben nach einem traumatischen Ereignis nicht nur mit Furcht, Angst und Panik zu kämpfen, sondern auch mit negativen Gefühlen wie Wut, Hass und Selbstzweifel. Sie stellen alle bereits bestehenden oder neuen Beziehungen in Frage und können nur sehr schwer Vertrauen zu ihrem Gegenüber aufbauen.

Neue Beziehungspartner werden so oft - durch Unterdrückung und Übertragung - zur

Zielscheibe ihrer Emotionen. Vielen der Betroffenen fällt es schwer - auf Grund ihrer bisherigen Erfahrungen – zwischen positiven und negativen Gefühlen zu unterscheiden. Kinder haben beispielsweise immer das Bedürfnis nach Nähe und Zuneigung. Geben Eltern ihnen allerdings das Gefühl, dass es total unnormal wäre, solche Bedürfnisse zu verspüren, beginnt das Kind sich

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