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Armut und Ungleichheit in Deutschland

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Academic year: 2022

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Walter Hanesch/Peter Krause/Gerhard Bäcker/Michael Maschke/Birgit Otto

Armut und Ungleichheit in Deutschland

Mit der vorliegenden Studie wird der erste nationale Armutsbericht für das vereinte Deutsch- land, der 1994 veröffentlicht wurde, aktualisiert und fortgeschrieben. Der Bericht, der Anfang November als Taschenbuch im Rowohlt Verlag erscheint, umfaßt vier thematische Schwer- punkte:

(1) Die Analyse von Einkommensarmut und Einkommensungleichheit in Deutschland, (2) Die Analyse der Einkommenslage ausgewählter Armutsgruppen,

(3) Die Analyse von Armut und Armutspolitik in den EU-Mitgliedsstaaten,

(4) Die Analyse von Strategien zur Bekämpfung der Armut in deutschen Sozialstaatsmo- dell.

Im Folgenden möchte ich einige Befunde zu den einzelnen Schwerpunkten vorstellen:

(1) Die Ergebnisse zur Einkommensarmut und Einkommensverteilung basieren auf Auswer- tungen des Sozio-oekonomischen Panels, einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage, die sehr zeitnahe Daten zu Personen und Haushalten liefert. Erstmals werden Ergebnisse für den Zeitraum 1985 bis 1998 präsentiert.

1998 lebten im gesamten Bundesgebiet 9,1 % der Bevölkerung oder rund jeder elfte Bun- desbürger in Einkommensarmut. Dabei lag die Quote der Einkommensarmen im alten Bundesgebiet mit 8,7 % etwas niedriger und in den neuen Bundesländern mit 10,7 % et- was höher als der Bundesdurchschnitt. Als einkommensarm gelten dabei Bürger, die mit ihrem Einkommen unter der Armutsschwelle von 50% des durchschnittlich verfügbaren bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkommens liegen. Ausgehend von dem im Verfassungs- recht verankerten sozialstaatlichen Gebot, daß dem Bürger nicht nur das zum Überleben Unerläßliche, sondern eine Teilhabe an der gesellschaftlichen Normalität gewährleistet

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sein soll, wurde ein solcher relativer Armutsstandard zugrunde gelegt, bei dem die Ein- kommenslage in Relation zum durchschnittlichen Lebensstandard betrachtet wird.

Im alten Bundesgebiet ist der Anteil der Einkommensarmen im Zeitraum 1985 bis 1998 trotz beträchtlicher Schwankungen relativ konstant geblieben. Während die Armutsquote in der zweiten Hälfte der 80er zurückging, nahm sie in der ersten Hälfte der 90er wieder zu und stagniert seitdem auf etwas niedrigerem Niveau. In den neuen Bundesländern lie- gen die Armutsquoten – gemessen am gesamtdeutschen Durchschnitt – etwas höher als im alten Bundesgebiet, da zwar die Ungleichheit geringer ausfällt, aber immer noch eine Ein- kommenslücke gegenüber dem Westen besteht. In Ost wie in West ist Armut dabei in der Regel kein Dauerzustand, da die meisten der Betroffenen eher kurzzeitig mit Armut kon- frontiert sind. Auch die Gesamtverteilung der bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkommen ist im alten Bundesgebiet in diesem Zeitraum relativ konstant geblieben, während sich die Verteilung in den neuen Bundesländern allmählich der höheren Ungleichheit im alten Bundesgebiet angenähert hat.

Durch staatliche Abgaben und Transferleistungen wird zwar die Armutsquote um zwei Drittel vermindert; insofern trägt die staatliche Umverteilung entscheidend dazu bei, die Zahl der Armen zu begrenzen, ohne jedoch die Armut in vollem Umfang zu beseitigen.

Auch das letzte Netz der Sozialhilfe bietet keinen wirksamen Schutz, Einkommensarmut zu vermeiden, wozu nicht zuletzt eine hohe Quote der Nichtinanspruchnahme beiträgt.

(2) Die Analyse der Einkommenslage ausgewählter Armutsgruppen im zweiten Berichts- schwerpunkt konzentrierte sich auf folgende Gruppen: Erwerbstätige und ihre Angehöri- gen, Arbeitslose und Angehörige, Familien mit Kindern, Menschen mit Behinderungen sowie deutsche und ausländische Migranten. Mit diesen Gruppen sollte ein breites Spek- trum unterschiedlicher Problemlagen einbezogen werden.

(a) In der Bundesrepublik existiert das Problem der Armut trotz Erwerbstätigkeit in er- heblich größerem Umfang, als dies vielfach unterstellt wird. So liegt die Armuts- quote der Personen, die in Erwerbstätigenhaushalten leben, nur geringfügig unter der allgemeinen Armutsquote. Einkommensarmut ist also nicht allein ein Problem von Nicht-erwerbstätigenhaushalten. Dabei hängt das Armutsrisiko stark von der Höhe des individuellen Verdienstes ebenso wie von der Erwerbskonstellation im Haushalt ab. Probleme entstehen vor allem dann, wenn in Paar-Haushalten mit minderjährigen Kindern nur ein Partner erwerbstätig ist und sein Arbeitseinkommen niedrig liegt.

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(b) Arbeitslose und ihre Angehörigen gehören zu den Gruppen, bei denen die Armuts- betroffenheit am größten ist. So liegt die Armutsquote in Arbeitslosenhaushalten mehr als dreimal so hoch wie für die Gesamtbevölkerung, zudem zeigt die Armuts- quote eine steigende Tendenz, weist also eine deutlich ungünstigeren zeitlichen Ver- lauf als die allgemeine Armutsquote auf. Die soziale Absicherung bei Arbeitslosig- keit reicht bei vielen Haushalten nicht aus, um einen Abstieg in der Einkommenspo- sition bis unter die Armutsgrenze zu verhindern. Die Gefährdung ist vor allem dann groß, wenn die Arbeitslosigkeit länger andauert und in Arbeitslosenhaushalten kein Partner am Erwerbsleben beteiligt ist. Unsere Analysen lassen daher keineswegs den Schluß zu, daß es Arbeitslosen in der Bundesrepublik „zu gut“ geht.

(c) Unsere Untersuchungen bestätigen die These, dass die Armut in der Bundesrepublik vor allem eine Armut von Familienhaushalten ist. Mehrere Kinder zu versorgen, wird deshalb zu einem Einkommensproblem, weil der Einkommensbedarf steigt, aber we- gen der Kindererziehung eine Vollzeiterwerbstätigkeit beider Elternteile nur schwer möglich ist. Durch den bestehenden Kinderlastenausgleich werden diese zusätzlichen Lasten für Haushalte mit Niedrigeinkommen nicht ausreichend kompensiert. Vor be- sonderen Schwierigkeiten, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung miteinander zu vereinbaren, stehen dabei Alleinerziehende. Ihre Armutsquote liegt etwa dreimal so hoch wie für die Gesamtbevölkerung.

(d) Bei behinderten Menschen ist im Allgemeinen keine überdurchschnittliche Betrof- fenheit von Einkommensarmut festzustellen. Dies hängt damit zusammen, daß bei den meisten behinderten Menschen die Behinderung erst einsetzt, nachdem sie aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Ein hohes Armutsrisiko tragen dagegen Per- sonen, die vor dem Eintritt in das Berufsleben behindert werden. Gerade für sie er- weist sich die Einkommensabsicherung unzureichend, da das System der sozialen Si- cherung auf Erwerbsarbeit ausgerichtet ist. Stellt man in Rechnung, daß Behinderun- gen vielfach mit finanziellen Aufwendungen verbunden sind, die im Regelfall von den betroffenen Haushalten getragen werden müssen, ist auch für diese Gruppe eine überdurchschnittliche Armutsbetroffenheit festzustellen.

(e) Sowohl ausländische als auch deutsche Migranten sind in überdurchschnittlichem Umfang von Einkommensarmut betroffen: Die Armutsquoten der Ausländer wie auch der Spätaussiedler liegen zwei bis dreimal höher als die Quote der Gesamtbe- völkerung. Besonders hohe Risiken haben türkische Migranten, aber auch die Grup-

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pe der Asylbewerber und Flüchtlinge. Migranten sind aber nicht nur in stärkerem Maße arm, sondern sie verbleiben auch häufiger und länger in Armut.

(3) Ein dritter Schwerpunkt des Berichts befasst sich mit Armut und Armutspolitik in Europa.

Vor dem Hintergrund von Globalisierung und europäischer Integration kann auch das Armutsproblem nicht nur im nationalen Kontext betrachtet werden. Dazu haben wir ein- mal auf der Basis des Europäischen Haushaltspanels (ECHP) die Einkommensungleich- heit und Einkommensarmut in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union untersucht.

Zum anderen gibt der Bericht einen Überblick über die Politik der Armutsbekämpfung in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.

Im europäischen Vergleich zeigt sich, dass sowohl die südeuropäischen als auch die an- gelsächsischen Länder durch besonders hohe Armutsquoten vor dem Hintergrund einer starken Ungleichheit der Einkommensverteilung gekennzeichnet sind. Umgekehrt weisen die skandinavischen und – mit Abstichen – auch die kontinentaleuropäischen Länder nied- rige Werte zu Einkommensarmut und Einkommensungleichheit auf. Im europäischen Vergleich bewegen sich in der Bundesrepublik die Höhe der Armutsquote wie das Risiko, in Armut zu verbleiben, im mittleren Bereich.

(4) Als vierter Schwerpunkt untersucht der Bericht die gegenwärtigen arbeits- und sozialpo- litischen Rahmenbedingungen und ihrem Beitrag zur Verminderung oder auch Erzeugung von Armut. Zwar signalisiert die relativ konstante Armuts- und Niedrigeinkommensquote keine gravierenden Veränderungstendenzen in den Einkommensrisiken der Bevölkerung der Bundesrepublik. Dies darf jedoch kein Anlass zur Entwarnung sein. Zum einen ist der Umfang der Einkommensarmut in Deutschland auf einem Niveau, das – insbesondere im Vergleich zu den skandinavischen Ländern - keineswegs als gering anzusehen ist. Es be- steht somit ein Nachholbedarf, was die Verringerung der Armutsbetroffenheit in der Bun- desrepublik angeht. Zum anderen sind im Bericht eine Reihe von Problemkonstellationen und Problemgruppen identifiziert worden, bei denen die Armutsbetroffenheit wesentlich höher lag und im Untersuchungszeitraum z.T. sogar weiter angestiegen ist. Schließlich muss vorerst offen bleiben, inwieweit sich diese Entwicklung auch künftig fortsetzt. Wird doch in den letzten Jahren intensiv über einen Umbau des deutschen Sozialstaatsmodells

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diskutiert, deren Umsetzung zur Folge haben könnte, dass künftig die Armutsprävention durch sozialstaatliche Interventionen an Bedeutung verliert.

Betrachtet man die praktizierte Politik etwa in den Handlungsfeldern der Arbeits- und So- zialpolitik, ist der Stellenwert der Politik gegen Armut in der Bundesrepublik nach wie vor eher begrenzt. Ausgehend vom Problem der Einkommensarmut sind vor allem der Ausbau der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik, die armutsfeste Ausgestaltung der Einkommenssicherung beim Einkommensausfall sowie eine konzeptionelle Neudefinition der Ausgleichsleistungen für besondere „Lasten“ gefordert.

(a) Um den strukturellen Ursachen der vor allem arbeitsmarktbedingten Verar- mungsrisiken entgegenzuwirken, bedarf es - vor dem Hintergrund einer offen- siven und an der Schaffung von Arbeitsplätzen im ersten Arbeitsmarkt orien- tierten Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik - neuer Arbeitszeitmodelle wie auch gezielter Qualifizierung- und Beschäftigungsangebote für arbeitsmarkt- politische „Problemgruppen“.

(b) Weitere Maßnahmen reichen von der Schließung der Lücken im System der So- zialversicherung über eine stärker bedarfsorientierte Ausgestaltung steuerfi- nanzierter Transfers für besondere Bedarfslagen bis zu einer Neugestaltung der Sozialhilfe in Richtung einer bedarfsorientierten Grundsicherung.

(c) Zur Überwindung „kinderbedingter Armut“ ist die Schaffung eines kinderori- entierten Familienleistungsausgleichs und die Verbesserung der Rahmenbedin- gungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hervorzuheben.

(d) Eine Verbesserung der Einkommenslage von Migranten kann am ehesten durch die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt wie durch den ungeteilten Zu- gang zu sozialen Rechten und Leistungen realisiert werden.

(e) Auch für Menschen mit Behinderungen ist die Teilhabe am Arbeitsmarkt von entscheidender Bedeutung. Darüber hinaus sollte aber auch jenen Menschen, die nicht in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden können, ein Lohn gezahlt werden, der eine eigenständige Existenzsicherung ermöglicht. Besonders zu fördern sind Familien mit behinderten Kindern.

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Die Übersicht zur Politik gegen arbeitsmarktbedingte Armut in den Mitgliedsländern der Europäischen Union hat gezeigt, dass in den betrachteten Ländern eine erhebliche Band- breite an Lösungsmustern im Hinblick auf die Einkommenssicherung bei Arbeitslosigkeit wie auch in Bezug auf die (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt existiert. Vor al- lem das Konzept des „aktivierenden Sozialstaats“ bestimmt die Politik in diesem Feld der Armutspolitik sehr nachhaltig. Es wird daher in der Bundesrepublik in den kommenden Jahren darauf ankommen, das Konzept der „Aktivierung“ im Sinne echter Reintegrati- onshilfen in Arbeit und Gesellschaft zu akzentuieren.

Keineswegs muss das Konzept des europäischen Wohlfahrtsstaats, wie es bisher in den skandinavischen und kontinentaleuropäischen Ländern realisiert war, über den Haufen geworfen und durch das angelsächsische Modell des liberalen Sozialstaats ersetzt werden.

Die Erfahrungen in Ländern wie Dänemark und den Niederlanden haben gezeigt, dass ei- ne konsequente Politik zur Überwindung der Beschäftigungskrise nicht in Widerspruch treten muss zum Gebot einer Teilhabe an der gesellschaftlichen Normalität für all Bürger.

Insofern muss die Forderung nach einer bedarfsgerechten Politik gegen Armut keines- wegs darauf hinaus laufen, beim Eintreten allgemeiner Lebensrisiken das Ziel der Le- bensstandardsicherung durch das Ziel der Armutsvermeidung abzulösen und zu ersetzen.

Die Forderung nach einer bedarfsgerechten Armutspolitik bedeutet also nicht die Be- schränkung des Sozialstaats auf Armutsvermeidung sondern die systematische Ergänzung der Lebensstandsicherung durch eine wirksame Armutsbekämpfung durch den Auf- und Ausbau bedarfsbezogener, einkommensabhängiger Transfers und Hilfen.

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Zu den Autoren:

Gerhard Bäcker, geb. 1947, Dipl. Volkswirt, Dr. rer. pol., Professor für Sozialpolitik am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Niederrhein, Abteilung Mönchengladbach.

Walter Hanesch, geb. 1947, Dipl. Volkswirt und Dipl. Handelslehrer, Dr. rer. pol., Professor für Sozialpolitik und Sozialverwaltung am Fachbereich Sozialpädagogik der Fachhochschule Darmstadt.

Peter Krause, geb. 1956, Dipl. Soziologe, Dr. rer. soc., Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Projektgruppe „Sozioökonomisches Panel“ am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin.

Michael Maschke, geb. 1971, Diplom Pädagoge und cand. öc., Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Armut und Ungleichheit in Deutschland der Hans Böckler Stiftung, Frankfurt.

Birgit Otto, geb. 1973, Diplom Soziologin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Projekt- gruppe „Sozioökonomisches Panel“ am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin.

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