KUSCHITISTIK 1972
Von Hans-Jübgen Sasse, München
I.
Die Frühgeschichte der kuschitischen Sprachforschung ist mit den Namen
einer stattlichen Anzahl großer und fleißiger Gelehrter verbunden. Männern
wie Leo Reinisch, Mabtino Mabio Mobeno und Enbico Cebulli, um nur
drei von ihnen zu nennen, verdanken wir sowohl eine Fülle von deskriptivem
Material dieser Sprachen, als auch die ersten komparativen und klassifikato¬
rischen Versuche. Das Schicksal wollte es, daß ein Teil dieser Arbeiten doch
nicht zu befriedigenden Ergebnissen führte : der Zufall ließ manche wesent¬
lichen missing links unentdeckt ; allzu oft mußte mit unsauber aufgezeich¬
netem Material gearbeitet werden, aus dem nur sehr allgemeine Schlüsse
gezogen werden konnten; schließlich verschleierten auch vorgefaßte Theo¬
rien manchmal den Blick für wirklich vorhandene Zusammenhänge.
Der methodische Aufstieg in der Kuschitistik begann nach dem Zweiten
Weltkrieg. Zum ersten Mal lag den Materialanalysen eine Grammatiktheorie
zugrunde, die Exaktheit und Adäquatheit der Beschreibung forderte.
Durch bessere Definition grammatischer Kategorien konnte in manchen
Fällen Klarheit geschaffen werden, wo vorher Chaos herrschte. Die neuen
Auffassungen über deskriptive Sprachwissenschaft förderten auch das Be¬
streben, diese Sprachen aus ihrem eigenen System verstehen zu lernen, ohne
sie in das Kategorienschema anderer, schon bekannter Systeme zu pressen*.
Einer der wichtigsten und folgenschwersten Fortschritte war z. B. die Er¬
kenntnis, daß fast alle kuschitischen Sprachen über ein Tonsystem verfügen,
das in der Morphologie eine wesentliche Rolle spielt.
Kurioserweise begann jedoch mit dem methodischen Aufstieg ein Abstieg
in der Anzahl der an der Erforschung des Kuschitischen beteiligten Wissen¬
schaftler und im Umfang ihrer Leistungen. Feank Palmee, der vor zwei
Jahren den letzten zusammenfassenden Bericht über das Kuschitisehe
1 Exzellente Beispiel hierfür sind die Arbeiten F.R. Palmers über Bilin („The
Verb in Bilin", BSOAS 19 (1957), 131-159, „The Noun in Bilin", BSOAS 21
(1958), 376-391 u. a.), B. W. Andrzbjewskis über Somali und Galla („Accentual Patterns in Verbal Forms in the Isaaq Dialect of Somali", BSOAS 18 (1956), 103-
129, The Declension of Somali Nouns, London 1964, „The Categories of Number in
Noun Forms in the Borana Dialect of Galla", Africa 30 (1960), 62-75 u. a.), nicht
zuletzt auch Robert Hbtzbons ausgezeichnete Monographie The Verbal System
of Southern Agaw, California and Los Angeles, Univ. of California Press 1969.
schrieb*, stellt mit Bedauern fest: ,, Unfortunately, it would appear that in
recent years the work on Cushitic is actually decreasing in volume. The
entries in the Bibliographie Linguistique for 1965 are fewer than they have
been for many years."
Bedauerhcherweise hat auch seit dem Erscheinen von Palmees For¬
schungsbericht das Interesse an Arbeiten über kuschitisehe Sprachen in
keiner Weise zugenommen. Die Veröffentlichungen der letzten zwei bis drei
Jahre sind kaum der Rede wert. Sie stehen fast alle in Zusammenhang mit
dem zwischen 1968 und 1970 durchgeführten Language Survey of Ethiopia^,
und ein Teil von ihnen, wie z.B. Maevin Bendees diverse Arbeiten zm
lexikostatistischen Klassifikation äthiopischer Sprachen*, Feegusons Arti¬
kel über den äthiopischen Sprachbund*, R. W. Cowlbys Kunfil-Material*,
bringen keinen echten Fortschritt'.
Es ist hier nicht der Ort, die Gründe für die Stagnation der Kuschitistik im
einzelnen zu analysieren, zumal viele davon nicht auf diesen Bereich be¬
schränkt sind, sondern allgemeine Trends der Linguistik reflektieren, wie
z.B. das mangelnde Interesse an sprachlicher Dokumentation und eine
gewisse Art von Leichtfertigkeit im Umgang mit linguistischen Daten. Wir
2 „Cushitic" . Current Trends in Linguistica 6: Linguistics in South West Asia
and North Africa, The Hague 1971, 571-585.
' Der Language Survey of Ethiopia war ein Teil des Ford-Foundation-Pro-
gramms „Survey of Language Use and Language Teaching in Eastern Africa".
* Neben einer Reihe kleinerer Artikel ist hauptsächlich zu neimen „The
languages of Ethiopia", AL 13 (1971), Number 5; vgl. dazu meine Bemerkungen
in ZDMG 123.
5 Journal of Ethiopian Studies 8 (1970), 67-80.
« Journal of Ethiopian Studies 9 (1971), 99-106.
' Von sowjetischen Publikationen sind noch erwähnenswert A. K. Zolkov-
SKijs Aufsätze „O glubinnom i poverchnostnom sintaksise {na materiale jazyka
somali)", Moskau, Izvestija Akademü Nauk SSSR XXIX/5, 1970, 427-39 und
„Vyraieni v jazyke somali gruppy zna6enij svjazannych s ideej stepeni" in Pro¬
blemy afrikanskogo jazykoznanija, Moskau (,, Nauka") 1972, 217-39, die viel¬
versprechende Ansätze zu einer Neubearbeitung der Somali-Syntax auf der Basis
neuer Syntax- und Semantiktheorien zeigt wie schon seine früheren Arbeiten
,,Posledovatel'nosti predglagol'nych öastic v jazyke somali" in Jazyki Afriki, Mos¬
kau (,, Nauka") 1966 und „K leksikograjiSeskomu opisaniju somalijskich suSöestvi- tel'nych" in Narody Azii i Afriki, 1967, Nr. 1, 93-102. Kürzlich erschien auch ein
neuer Aufsatz A. B. Doloopol'skijs mit dem Titel „Materialy no sravnitel'no-
istoriSeskoj fonetike kuSitskich jazykov: veVarnyj zvonkij v anlaute" in Problemy a,frikanskogo jazykoznanija, Moskau (,, Nauka") 1972, 197-216. Eine Zusammen¬
fassung von IDolgopol'skijs Rekonstruktion des kuschitischen Konsonanten¬
inventars in Buchform ist für 1973 geplant (A. B. Dolgopol'skij: Sravnitel'no- istoriöeskaja jonetika ku^itskich jazykov: konsonantizm. Moskau (,, Nauka") 1973).
In Krakau (Polen) beschäftigt sich zur Zeit auch A. Zaborski mit vergleichender Kuschitistik.
620 Hans-Jükgbn Sasse
wollen vielmehr versuchen, einige Punkte aufzuzeigen, an denen eine neue
Kuschitistik ansetzen könnte.
Der inadäquate Beschreibungszustand der kuschitischen Sprachen führte
zu einer ganz absurden Situation, die sich vor allem in der seit vielen Jahren
anhaltenden Diskussion über die Klassifikation der kuschitischen Sprachen
niederschlägt. Der GBEENBERGschen Einteilung*, die in den USA als das
Non-plus-ultra gilt oder lange Zeit galt, haben die Engländer eine Klassifika¬
tion entgegengesetzt, die in wesentlichen Punkten genau umgekehrt ist®.
Beide beruhen methodisch auf der Überbewertung und Pressung einiger
weniger Kriterien und materialmäßig oft auf einem Dutzend Wörtern*".
Doch liegen die Divergenzen noch tiefer als nur in der verschiedenen
Beurteilung der sprachlichen Stellung einzelner Einheiten. Man ist sich ja
noch nicht einmal ganz sicher, was für eine Art von Verwandtschaft die als
,, kuschitisch" bezeichneten Sprachen untereinander verbindet. Die Möglich¬
keit der ,, linguistic affirüty" im Sinne eines Sprachbundes ist in letzter Zeit
wieder erwogen worden - zumindest in der Diskussion -, weil man ein
gemeinsames Grund Vokabular, regelmäßige Lautentsprechungen und einen
überzeugend großen Satz von übereinstimmenden morphologischen Ele¬
menten nicht finden kann**. Die relative Rekonstruierbarkeit, die die Mit¬
glieder einer genetisch verwandten Sprachfamihe untereinander in Bezie¬
hung setzt, wird vermißt. Man wird aber, wenn man von einer sauberen
komparativen Methode ausgeht, diese Rekonstruierbarkeit überall da ent¬
decken können, wo phonetisch exakt aufgezeichnete Daten zur Verfügung
stehen, die selbst zunächst in einem synchronen Relationssystem stehen,
d. h. in einer adäquaten vollständigen Sprachbeschreibung. Es gibt ein
,,Protokuschitisch", man muß nm den richtigen Weg einschlagen, um es zu
finden. Wortschatzvergleichc aufgrund äußerlicher Ähnlichkeiten haben bis¬
her zu sehr mageren Ergebnissen geführt. Was für eine Beweiskraft haben
selbst überzeugende Korrespondenzen wie Saho kare = Galla sarer* , Hund',
wenn rücht wenigstens ein Versuch gemacht wird, ihren Hintergrund zu
beschreiben ? In was für einem Verhältnis steht jedes einzelne Saho-Segment
zu dem entsprechenden Galla-Segment ?
Der Streit um die Klassifikation der kuschitischen Sprachen hat von
' Zuletzt in The Languages of Africa, Bloomington 1966, 49.
' Tucker, A. N. und M. A. Bbyan, Linguistic Analyses: the Non-Bantu
Languages of North-Eastern Africa (Handhoolc of African Languages), Oxford
University Press 1966 and Tucker, A. N., „Fringe Cushitic: an Experiment in
Typological Comparison", BSOAS 30 (1967), 655-680.
*" Manchmal werden sogar bloße Namen tradiert, die entweder nicht existente
oder schon unter einem anderen Namen klassifizierte Sprachen bezeichnen, so
z. B. im Falle von ,,Kayla" und ,,Gardula" bei Greenberg.
** Explizit z. B. auch bei B. W. Andrzejewski „The Position of Galla in the
Cushitic Language Group", JSS 9 (1964), 135-138.
diesen eigentlichen Grundproblemen abgeführt. Es ist freihch nicht zu
erwarten, daß jemand emen Überblick darüber gewinnt, was das ,, Wesen"
des Kuschitischen ausmacht (d. h. welche die Merkmale sind oder sein
müssen, die das Etikett ,, Kuschitisch" für eine gegebene Sprache rechtferti¬
gen), wenn ein und dieselbe fast nur dem Namen nach bekannte Sprache mit
Nachdruck von dem einen Forscher als ,, orthodox", von dem anderen als
,,nichtkuschitische isolierte Einheit" propagiert wird. Bei der derzeitigen
Materiallage sind detaillierte Klassifikationen überhaupt verfrüht. Für das
Vorgehen bei der Etabherung genetischer Klassifikationen gibt es einen
natürlichen Plan, der von Dell H. Hymes treffend als bestehend aus drei
Stadien (,, hypothesis", ,, proof", „establishment") beschrieben wurde**. Eine
Klassifikation, die das Establishment voraussetzt, ist logischerweise ein Ding
der Unmöglichkeit zu einer Zeit, in der die Forschung noch mit der Hypo-
tJiesis beschäftigt ist.
Wollen wir ein vernünftiges Programm zur Erforschung des Kuschitischen
aufbauen, so müßten wir uns zuerst dieser Bürde entledigen. Dabei kann uns
nur ein gänzlich neuer Anfang helfen, an dessen Spitze moderne exakte
Beschreibungen aller Sprachen stehen müssen, insbesondere leider auch
derjenigen, die schon durch größere Mengen älteren Materials belegt sind.
Vergleicht man Andbzejewskis Somali und Galla mit dem seiner Vor¬
gänger, wird einem klar, wie wenig wir vor Akdbzejewski über diese beiden
Sprachen wußten.
Der nächste Schritt ist dann eine moderne Technik für die vergleichende
Kuschitistik, die von gesunden methodischen Voraussetzungen ausgeht.
Dazu wäre eine Zusammenarbeit mit anderen komparativen Disziplinen, die
schon relativ gute Ergebnisse gezeitigt haben (nicht mu? in Afrika (Bantu¬
istik!), sondern auch Indogermanistik, Amerikanistik usw.) äußerst wün¬
schenswert*^. Sie würde uns zum Beispiel lehren, die Vergleichung von
einzelsprachhchem Material ohne Berücksichtigung von genetisch zusam-
*2 Dell H. Hymes, „Oenetic Classification: Retrospect and Prospect", AL 1,2 (1959), 50-66.
*' Solche multilaterale Zusammenarbeit ist umgekehrt für die Konstruktion
einer empirisch fundierten Theorie der historischen Linguistik, die wiederum
dem Einzelfach zugute kommt, unabdingbare Voraussetzung. Nach einer Perio¬
de relativen Stillstands ist ja in den letzten Jahren die historische Linguistik
wieder stark in den Interessenkreis der allgemeinen Theorie gerückt. Davon
zeugen viele Arbeiten über generative Phonologie und Werke wie Lehmann,
W.P. und Y. Malkiel, eds., Directions for Historical Linguistics, Austin 1968,
King, R. D., Historical Linguistics and Generative Grammar, Englewood Cliffs
1969, Stockwell, R. P. und R. K. S. Macaulay, eds, Linguistic Change and
Generative Theory, Bloomington: Indiana University Press 1972 u. a.
Die Autoren beziehen ihre Erfahrungen meist aus der Indogermanistik und
Amerikanistik ; Erfahrungen der Afrikanistik könnten vielleicht manche Hypo¬
these zurückweisen oder modifizieren.
622 Hans-Jübgen Sasse
mengehörigen kleineren Einheiten endhch aufzugeben. Niemand bildet sich
ein, Aufschlüsse über die Verwandtschaftsverhältnisse des Indogermani¬
schen zu erhalten, wenn er die Oberpfälzer Mundart mit dem Kurdischen
vergleicht. Aufs Kuschitisehe projiziert heißt das : bevor Formen aus Bilin,
Somali und Wolamo nebeneinandergestellt werden können, müssen Einhei¬
ten von enger verwandten Sprachen ermittelt werden, von denen die drei
jeweils nur Mitglieder sind. Unsere Aufgabe besteht also zuerst in der
Etablierung kleinerer Gruppen, deren genetische Verwandtschaft in sich klar
und einwandfrei beschreibbar ist**.
II.
Wir wollen nun im zweiten Teil einige Versuche in dieser Richtung
betrachten, die meiner Meinung nach einen ersten echten Fortschritt in der
komparativen Kuschitistik darstellen. Es handelt sich eimnal um die Ab¬
trennung des sog, ,,Westkuschitischen" vom Kuschitischen überhaupt, zmn
zweiten um die Etablierung einer sog. Makro-Somali-Qruppe (bzw. ,,Soma-
loide" Gruppe) und einer Makro-Oromo-Oruppe (bzw. ,,Oromoide" Gruppe).
Beide Ideen gehen auf den amerikanischen Ethnologen und Kuschitisten
Harold C. Fleming zurück, kursierten seit einigen Jahren als Lehr¬
meinungen** und sind nun noch einmal in dem Abschlußbericht des schon
erwähnten Language Survey oj Ethiopia nachzulesen**.
Die Abtrennung des Westkuschitischen bahnte sich schon seit Jahrzehn¬
ten an. Bereits Moeeno zieht einen deutlichen Strich zwischen „anijati"-
und ,,to/we"-Sprachen*'. Zu den ersteren gehören Beja, Agaw und Ost-
kuschitisch, zu den letzteren Ometo, Kaffa, Janjero und Oimirra. Tuckee und
Beyan lösen den gesamten Komplex der bisher als Kuschitisch klassifizier¬
ten Sprachen in „Orthodox Cushitic" (Andbzejewskis Terminus: ,,Core
Cushitic"), ,, Partially Cushitic" und ,, Languages unth little or no claim to be Cushitic" auf**. Partially Cushitic ist Moreno/Greenbergs ,,Westkuschitisch",
d. h. die ta/ne-Sprachen. Der Ausdruck ,, Partially Cushitic" ist an sich
unschön. Er impliziert die sehr zweifelhafte Konzeption der Mischsprache.
** Die Grundlage dieser Verwandtsohaftsbeschreibung büdet die Aufstellung
von Kognaten-Reihen, aufgrund derer die regelmäßigen Lautkorrespondenzen
ermittelt werden, ähnlich wie es Guthbie für das Bantu und Wick R. Milleb für
das Uto-Aztekische (Uto-Aztecan Cognate Sets, UCPL (1967) 48) getan haben.
** ,, Makro-Somali" und ,,Makro-Oromo" wurden zum ersten Mal formuliert in
„Baiso and Bendille: Somali Outliers", RSEt 20 (1964), 35-96.
" Bendeb, M. L. und J. D. Bowen, R. L. Coopeb, C. A. Febguson, u. a.,
Language in Ethiopia. Oxford University Press, forthcoming.
*' M. M. Mobeno, Manuale di Sidamo, Rom 1940.
18 Vgl. Fn. 9
Natürlich ist eine Sprache immer nur „teilweise" mit einer anderen genetisch
verwandt, weil, um einen Ausdruck David Dalbys'* zu gebrauchen, der
,,eore of retention" ständig abnimmt.
Fleming bricht nun mit der alten Tradition, die ,,ta/ne"-Sprachen über¬
haupt als kuschitisch zu bezeichnen. Er stellt die ganze Gruppe unter dem
Namen „Omotisch" neben das Kuschitisehe, scheint aber noch der Meirmng
zu sein, daß das ,, Proto-Omotische" mit dem ,,Proto-Kuschitischen" gene¬
tisch verwandt ist*". Das Ganze hat zunächst den Vorteil, daß unter ,, Ku¬
schitisch" nur noch im Sinne Tuckers und Bbyans ,, orthodoxe" Sprachen
erscheinen, d. h. Sprachen, deren Pronominalsystem und Verbalsystem ein
bestimmtes Pattern zugrunde liegt.
Erhebliche Wortschatzdivergenzen sprechen ebenfalls für eine absolute
Trennung von ,, Kuschitisch" und ,, Omotisch". Es gibt omotische Sprachen,
deren Grundwortschatz nicht eine einzige Übereinstimmung zu gewissen
kuschitischen Sprachen zeigt. In der Morphologie finden wir so wenig
Anklänge, daß man sich fast wundert, warum diese Sprachen überhaupt
jemals für mit dem Somali, Beja oder Agaw verwandt gehalten wurden. Daß
omotische und kusclütische Sprachen einen Subjektskasus auf -i haben, ist
kein schlüssiger Beweis für genetische Verwandtschaft. Auch die nie als
kuschitisch klassifizierten Didinga und Murle haben eine dem Kuschitischen
ähnliche Kasusstruktur, einschließhch Subjektskasus auf -i. Die frappante¬
sten morphologischen Übereinstimmungen finden sich vielleicht bei den
abgeleiteten Verbalstämmen (Kausativ, Intensiv, Passiv/Reflexiv), beson¬
ders zwischen Ometo und Ostkuschitisch, aber hier ist zuerst einmal zu
prüfen, ob diese Bildungen im Omotischen ursprünglich sind. Selbst wenn ja,
ist immer noch eine Entlehnung Proto-Omotisch aus Kuschitisch nicht
auszuschließen .
Das Wichtigste scheint mir aber folgendes zu sein : Von den Merkmalen,
die das Kuschitisehe mit einer größeren semitohamitischen (afroasiatischen)
Sprachfamilie verbinden, und zu denen alle kuschitischen Sprachen sozu¬
sagen ,,wie ehi Mann'' stehen, ist im Omotischen kaum etwas zu spüren. Das
Omotische mag im Gesamthabitus kuschitoid aussehen, doch das ist zum
Teil noch nachweislich das Ergebnis von komplizierten vielleicht bilaterialen
Konvergenz Vorgängen. Ich möchte deshalb noch einen Schritt weiter gehen
als Fleming und das Omotische nicht nur vom Kuschitischen trennen,
sondern es vorläufig auch aus dem Betrachtungskreis des Semitohamitischen
" „A Referentiell Approach to the Classification of African Languages" , in
Chin-Wu Kim und Hebbebt Stahlke eds., Papers in African Linguistics,
Linguistic Research Inc., Edmonton 1971, 17-31.
2° „The Classification of West Cushitic within Hamito-Semitic" in D. F. McCall,
ed., Eastern African History, New York 1969, 3-27.
JJm- A
624 Hans-Jübgen Sasse
(Afroasiatischen) ausschließen, d. h. es bis auf weiteres als eine nicht¬
afroasiatische Gruppe deklarieren**.
Die zweite Neuerung, mit der wir uns hier beschäftigen wollen, wurde
durch die allmähliche Erschließung einer Reihe von Sprachen bewirkt, die in
dem Raum nördlich und südlich der Grenze zwischen Äthiopien und Kenya
gesprochen werden. Fleming selbst veröffentlichte zum ersten Mal Material
von zwei Sprachen, die lexikalisch - die eine davon auch lautlich - dem
Somali sehr nahe stehen, nämlich Baiso und Rendille^^. Leider wissen wir so
gut wie gar nichts über die Morphologie dieser beiden Sprachen, doch ist,
besonders im Falle des Rendille, der bloße Wortschatz schon überzeugend
genug und man darf auch für die Morphologie eine ähnlich enge Beziehung
zum Somali erwarten. Ebenfalls aufgrund eigenen Materials anderer Spra¬
chen derselben Gegend (Gidole, Konso, Gato u. a.), die eine ähnliche
Wortschaftzaffinität zum Galla aufweisen wie Baiso und Rendille zum
Somali, kommt Fleming zu dem Schluß, daß Somali und Galla nur Glieder
von zwei größeren Gruppen sind, die er Makro-Somali und Makro-Oromo
nennt. Eine Makro-Oromo-Gruppe wurde schon früher unter dem Namen
Galla-Konso u.ä. bes. von Cerulli in Erwägung gezogen; die Makro-
Somah-Gruppe ist eine Entdeckung Flemings.
Unsere Kenntnisse über die Makro-Oromo-Gruppe konnten durch neueste
Forschungen verdichtet werden. Von den Sprachen zwischen Qidole und
Konso hat der Amerikaner Paul Black inzwischen beträchtliches, haupt¬
sächhch lexikahsches Material zusammengetragen, auf dessen Veröffent¬
lichung wir vielleicht demnächst hoffen dürfen. Ich selbst konnte mir in
Südäthiopien einen Einblick in die morphologische Struktur des Gidole
verschaffen, das nicht nur lexikalisch, sondern auch grammatisch eng mit
dem Galla verwandt ist. Vgl. die folgenden Perfekt- und Optativ-Paradigmen des Verbs für , eintreten' :
2* Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, daß es sich hierbei um eine
Arbeitshypothese handelt. Natürlich ist der Nachweis der NichtVerwandtschaft
einer Sprache oder Gruppe mit einer anderen schlechterdings nicht möglich. Die
Annahme eines im Laufe der Zeit ständig abnehmenden Vorrats von ,, alten"
Elementen in einer Sprache führt logischerweise zu dem Schluß, daß ein Zeit¬
pimkt erreicht werden kann, in dem zwei Sprachen Sj und Sj, die Tochter¬
sprachen eines Froto-S sind, keine Elemente mehr besitzen, die auf eine gemein¬
same Quelle zurückgehen und aufgrund derer ihre Verwandtschaft bewiesen
werden könnte.
22 „Baiso and Bendille . . .", vgl. Fn. 15.
IS 2S 3SM
Gidole kal-e kal-te kal-e
Galla gal-e gal-te gal-«
3SF IP 2P 3P
Gidole kal-ti kal-n«2«
kal-ten«
kal-en«
Galla gal-te gal-ne23 gal-tan*
gal-an*
IS 2S SSM 3SF IP 2P SP
kal-on"
kal-t"
kal-u kal-t"
kal-n"2ä kal-ten' kal-eni
gal-"
gal-t"
gal-"
gal-t"
gal-n"*^
gal-tan" ^ gal-an" ~ {
j gal-tan' gal-ani
Das sog. Imperfekt ist durch eine periphrastische Konjugation ersetzt
worden. Formen, die wie Reste des alten einfachen Imperfekts aussehen,
sind aber bei manchen Verben als Subjunktiv belegt. Vgl. ferner das Präsens
des unregelmäßigen Verbs für ,wissen' :
Wie im Galla kann der Ton nach grammatischem Kontext varüeren.
Was das Lexikon betrifft, ergab ein Vergleich von 400 Einheiten mit den
entsprechenden Galla-Wörtern 117 regelmäßige Übereinstimmungen, zum
Teil bis ins kleinste Detail gehend, d. h. nicht nur Wurzclübereinstim-
mungen, sondern auch sekundäre Affixe usw. Der Vergleich Gidole-Galla
wirft Licht auf viele lautgeschichthche Probleme des Galla. Ein paar Bei¬
spiele folgen sogleich. Zum besseren Verständnis sei noch gesagt, daß das
Gidole alle stimmhaften Verschlußlaute in stimmlose imd k in h verschoben
hat.
Die schon lange vermutete Regel, daß altes *s im Galla grundsätzhch zu /f/
geworden ist, kann durch viele neue Etymologien gestützt werden z. B.
Gidole Galla
kaas* gaaf'' 'Horn'
soP* foo-n' 'Fleisch'
Gewöhnlich realisiert als kall', kall^, gall', gaU".
IS 2S SSM SSF IP 2P SP
up-tan«
up-an«
up-f*
up-ta up-*
up-t*
up-n*
(gal-a) (gal-fi) (gal-a) (gal-ti) (gal-n«-) (gal-tan') (gal-an»)
41 Or.-Tag 1973
626 Hans-Jüboen Sasse
Gidole Galla
hols- ulf* 'schwer'
(vgl. Som. 'ulus)
sin" funn-aan* 'Nase'
kaass-ad'- gaaf-ad'- 'fragen'
Durch das Gidole kann das Palatalisationsproblem im Galla einer Lösung
zugeführt werden. Wie man weiß, entspricht im Galla (und teilweise auch im
Somali) oft ein Palatal einem k oder g in anderen Sprachen. Schon Cerulli
hat an verschiedenen Stellen auf Korrespondenzen wie Galla simbir'^ (Bora¬
na simp' irre?) : Saho kimbiro .Vogel', Galla sareP: Saho kare ,Hund' usw.
hingewiesen**. Weitere Beispiele bringt Fleming (1964)** unter Heranzie¬
hung des Baiso und Rendille. Einige Schwierigkeiten bei der Annahme eines
kontextbedingten Lautwandels machte immer das folgende a im Somali und
Galla, da Palatalisation als Assimilationsprozeß normalerweise von einem
vorderen Vokal ausgeht. Wir finden aber nun sowohl im Baiso und Rendille
(Makro-Somah), als auch im Gidole (Makro-Oromo) an Stellen, wo das Galla
rmd Somali Palatalisation vor a zeigt, nur folgendes e, niemals a:
Gidole Galla
keltayf* jaldees* 'Pavian'
kel^ jal» 'unter'
kerPayt» jaars» 'alt'
hen« Jan' 'fünf'
Die Urformen sind '''geld-ayta, '•'gela, '•'ger? - (Gidole ""gerP-ayta, Galla
"••gerP-ita) und '•'kene.
Eine weitere wichtige Erkenntrüs ist, daß im Galla in der Umgebung
vorderer Vokale altes /l/ häufig dmch /j/ vertreten ist:
Gidole Galla
lee?» jiP» 'Mond'
ell(i)- ej- 'stehen'
ilt» Mecha ij» 'Auge'
(vermutl. aus ijs» <'''ihta)
leh« ja», japa, jah» 'sechs'
Das Gidole repräsentiert also, grob gesprochen, lauthch einen altertüm-
hchen Zustand des Galla. Dasselbe gilt natürlich für die aufs engste mit dem
Gidole verwandten Bussa, Gato, Konso usw., die Paul Black für so eng
" „II linguaggio degli Amar CoccM e quelle degli Arbore nella zona del lago Stefania", RSEt 2 (1942), 260-272 und anderswo.
2' „Baiso and Bendille . . .", 40.
miteinander verkettet hält, daß er von den "eight dialects, from Northern Gidole to Southern Konso" spricht**.
Die Gidole-Konso-Gruppe und das Galla konstituieren somit zwei Mitghe¬
der einer größeren dichtmaschigen ,, Makro-Oromo-Gruppe", so wie Fle-
MTNOs Baiso und Rendille eine größere Makro-Somali-Gruppe konstituieren.
Durch den Ansatz einer Makro-Somali- und einer Makro-Oromo-Gruppe
rücken die Hauptvertreter dieser Gruppen, Somali und Galla, deren Ver¬
wandtschaft vor allem lexikahsch bisher nur als sehr locker gelten konnte,
viel enger zusammen. Einerseits treten nun dm-ch die enorme Erweiterung
des Vergleichsmaterials manche Lautgesetze viel deutlicher an den Tag;
manch eine Etymologie wird plausibel, die bislang als phantastisch gegolten
haben mochte. Andererseits enthalten die neuentdeckten Vertreter der
Makro-Oromo-Gruppe Wörter, die eine Verbindung zur Somali-Gruppe her¬
stellen, im Galla selbst aber nicht mehr vorhanden sind. Umgekehrt gilt
dasselbe für die Somali-Gruppe.
Die Verkettung von Makro-Somali und Makro-Oromo verengt sich ferner
durch Sprachen bzw. Gruppen, die zu beiden engere Beziehungen aufweisen,
also gewissermaßen dazwischen zu stehen scheinen. Das scheint für einen
Teil der als Sanye und Boni bezeichneten Sprachen zu gelten. Eine solche
Sprache ist auch das Galah, von dem ich im Winter 1971/72 beträchthches
Material aufnehmen konnte. Im Lexikon geht diese Sprache vielfach eigene
Wege. Neubildungen, Lehnwörter aus nicht-kuschitischen Nachbarsprachen
sowie starker lautlicher Verfall machen einen Versuch, das Galab aufgrund
seines Wortschatzes zu einer der größeren Gruppen zu schlagen, zunichte.
Dort wo kuschitisehe Etymologien möglich sind, zeigt der Galab-Wortschatz
genauso viele spezielle Verbindungen zur Somali-Gruppe wie zmn Makro-
Oromo. Der Prozentsatz der Somali-Galab-Isoglossen ist allerdings etwas
höher als der der Oromo-Galab-Isoglossen, und ein Teil der letzteren mag auf
Dehnbeziehungen beruhen. In der Morphologie ist nämlich die Affinität zum
Somali in verschiedenen Punkten besonders deuthch.
Ein spezielles GenitivsufFix -iet (Nebenform -aut) an femininen Substanti¬
ven findet sich im gesamten kuschitischen Raum nur als Somah -eed (Neben¬
form -aad) wieder, und zwar an einer ähnhchen Klasse von Substantiven.
Mit einem dentalen Element erweiterte Verba bilden im Galab ihren
Imperativ Singular umegelmäßig auf -u unter Tilgung des dentalen Ele¬
ments. Die gleiche Unregelmäßigkeit ist nicht nm aus dem Somali, sondern
auch aus dem Rendille bekannt :
Galab öaan-öa 'ich schwimme'
öaan-ata 8an-u
'du schwimmst' 'schwimm!'
*' Persönliche Mitteilung, Addis Ababa, Oktober 1971.
628 Hans-Jübgen Sasse
Somali bar-ta
bar-ata bar-o
'ich lerne' 'du lernst' 'lerne!'
Rendille er-da
ir-ata
'ich gehe!' 'du gehst' 'geh!' ir-o
Galab -u: Somah/Rendille -o ist eine regelmäßige Lautentsprechung. Der
normale Imperativ lautet in allen drei Sprachen auf -o aus.
Die negativen Verbformen des Galab sind denen des Somali sehr ähnlich,
z. B. Galab ma-furiji = Somali ma-furin ,nicht geöffnet habend'
(unveränderlicher negativer Perfektstamm). Die anderen ostkuschitischen
Sprachen haben abweichende Bildungen.
Abgesehen vom Saho-Afar haben nur Somali und Galab eine kleine
Gruppe der altertümlichen Präfix-Verben bewahrt ; es sind sogar z. T. diesel¬
ben mit denselben Umegelmäßigkciten (Galab yimede ,er kommt' : Somali
yimqqddqq ; Galab yimi ,er kam' : Somali yimi, mit dem gleichen Verlust des
stimmhaften -d im Perfekt!).
Diese Beispiele müssen hier genügen. Es scheint so, als lehne sich das
Galab morphologisch stärker an Somali bzw. Makro-Somali an als an Makro-
Oromo. Auf jeden Fall gehört es eng zum gesamten Somali-Oromo-Komplex.
Detaillierte Üereinstimmungen in der morphologischen Struktur der
Saho-Aiar-Gruppe mit dem Somali-Oromo-Galab-Komplex rechtfertigen die
Zusammenfassung beider zu einer größeren ,, nuklearen Tiefland-Ostkuschi¬
tischen" Gruppe*', die eine geradezu ideale Basis für die erste Phase der
Rekonstruktion des Protokuschitischen abgibt. Wir haben hier eine große
Menge von eng verwandten Sprachen und Dialekten vor uns, deren Isoglos¬
sen sich vielfach überschneiden und die einen so großen gemeinsamen Kern
von Morphemen aufweisen, daß der Ansatz einer exakten und gewissenhaf¬
ten komparativen Arbeit durchaus vielversprechend ist.
2' Der Ausdruck ist übernommen von Mabvtn Bendeb, „The Languages of
Ethiopia" (s. Fn. 4).
IM SUAHELI
Von Johann Kael Tetjbnee, Beüssel
Während das arabische, persische und indische Wortgut im Suaheh
schon genauer durchforscht worden ist, gibt es noch lieine Bestandsauf¬
nahme der suahcHschen Entlehnungen aus anderen asiatischen Sprachen.
Aus dem Türkischen hat das Suaheli etwa 20 Wörter entlehnt, ge¬
wöhnlich wohl über das Oman-Arabische, das ja zur Zeit der Sultane die
Amtssprache auf Sansibar war. Einige türkische Heeresausdrücke wurden
in der deutschen Kolonialzeit Ostafrikas amthch in der Schutztruppe ein¬
geführt und haben bis heute überdauert.
1. bimbashi 5/6 (in der Schutztruppe) afrikanischer Unteroffiziersgrad,
vom türk. bimbasi (eig. Tausenderhaupt) 'Major'.
Im Arabischen und in den Balkansprachen gelten diese türkischen
Bezeichnungen amthch nur noch für türkische Dienstgrade. Für das
eigene Heer wurden sie durch Eigenwörter oder gemeineuropäische Be¬
zeichnungen ersetzt: arab. bikbäsi (lies bimbäB), heute rä'id; alban.
binbashi, heute major; serbokroat. blmbaSa, heute major; rumän. bim-
basa, heute maior; griech. \Lni\xiza.a\ (lies bimbasi), heute TaYfji^aTapxv)?-
2. bishaushi 5/6 'Feldwebel', von türk. basgavus [bas Haupt. favMS Unter¬
offizier) 'Feldwebel'. Entlehnt über das Arabische, wo in Jemen bis vor
kurzem der Oberfeldwebel bet säwus hieß; heute heißt der Feldwebel
im Arabischen wakil.
3. efendi, afendi, effendi 9/10 'gnädiger Herr, Euer Gnaden', Anrede an
Offiziere entsprechend dem engl. sir. Ahsante, effendil gleich engl.
thank you, sir. Wie arab. efendi, alban. efendi stammt das Suaheliwort
vom türk. efendi 'gnädiger Herr', das von griech. auOev-nr)? (lies aföendis) abgeleitet ist.
4. ombasha 5/6 (in der Schutztruppe und heute) 'Gefreiter', von türk.
onbasi (eig. Zehner-haupt) 'Gefreiter'. Arab, önbäsi ist heute ersetzt
durch mu§ähid, alban. onbash durch tetar.
5. shaushi 5/6 'Unteroffizier', von arab. SäwuS, MwiS, das in Ägypten einst
den Feldwebel und in Jemen den Unteroffizier bezeichnete. Zugrunde
liegt türk. gavus 'Unteroffizier', dessen Herleitung umstritten ist. Viel¬
leicht ist es eine Ableitung von türk. gav 'Ruf und bedeutete ursprüng-