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Jan Assmann Schöpfung und Herrschaft

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Academic year: 2022

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Schöpfung und Herrschaft

Die altägyptische Sakralmonarchie1

Die altägyptische Monarchie ist durch vier Besonderheiten gekennzeichnet.2 Ers- tens handelt es sich hier um den ersten großen Flächenstaat der Geschichte, der also keine Vorbilder vor sich hatte, an denen er sich hätte orientieren können.

Zweitens ist die dahinterstehende Staatsidee, ganz im Sinne von Stefan Breuers Theorie des „charismatischen Staats“,3 ebenso als eine religiöse wie als eine politi- sche Idee zu verstehen. Die Staatsgründung kommt einer Religionsstiftung gleich.

Drittens wird aber gerade dies: Gründung und Stiftung, kategorisch ausgeschlos- sen, indem der Staat in der Kosmogonie verankert wird. Die Herrschaft ist so alt wie die Welt, die Könige erben sie von den Göttern und die Götter übernehmen sie von dem einen Ursprungs- und Schöpfergott, aus dem alles hervorging. Die Kosmogonie ist zugleich eine Kratogonie, Weltentstehung heißt Staatsentstehung.

Viertens wird dadurch jede Staatskrise als kosmische Krise wahrgenommen. Die ägyptische Monarchie garantiert den Fortbestand der Welt und der König ist ein Heilskönig, der Störungen abwendet oder nach Krisen das Land und die Welt wieder in den Heilszustand zurückführt. Mit der ägyptischen Staatsidee verbindet sich daher ein gewisser Messianismus, der in Krisenzeiten beschworen wird.4

Durch diese kosmologische Verankerung und religiöse Dimension der ägypti- schen Staatsidee war es den Ägyptern möglich, durch alle Krisen hindurch an ihr

1 Der Beitrag gibt meinen Vortrag auf dem Kolloquium am Historischen Kolleg wieder; der Vor- tragsstil wurde beibehalten. Es wurden nur einige grundlegende Anmerkungen ergänzt.

2 Für die Einzelheiten verweise ich auf meine Studien: Jan Assmann: Politik und Religion. Alt- ägyptische und Biblische Ausprägungen eines aktuellen Problems. In: Jan Assmann/Harald Strohm (Hg.): Herrscherkult und Heilserwartung. München 2010, S. 83–105; ders.: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa. München 2000. Die neueste und umfassendste Behandlung des ägyptischen Sakralkönigtums findet sich in Nadja Stefanie Brauns kommentierter Edition des Berliner Papyrus 3055; Nadja Stefanie Braun: Pharao und Priester – Sakrale Affirmation von Herrschaft durch Kultvollzug. Das Tägliche Kultbildritual im Neuen Reich und der Dritten Zwischenzeit (= Philippika, Marburger altertumskundliche Ab- handlungen, Bd. 23). Wiesbaden 2013.

3 Stefan Breuer: Der charismatische Staat. Ursprünge und Frühformen staatlicher Herrschaft.

Darmstadt 2014.

4 Jan Zandee: Le Messie. Conceptions de la royauté dans les religions du Proche-Orient ancien.

In: Revue de l’Histoire des Religions 180 (1971), S. 3–28.

DOI 10.1515/9783110463859-002

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festzuhalten und immer wieder zu ihr zurückzukehren, sogar in den Zeiten der griechischen und römischen Fremdherrschaft, als sie mehr theatralischen als poli- tischen Charakter annahm. Die pharaonische Monarchie galt niemals als eine, und sei es die beste, unter mehreren möglichen Staatsformen, sondern als die eine, na- türliche Weltordnung, die alles andere als heilloses Chaos ausschloss.

Für alle Epochen der pharaonischen Geschichte, bis hin zu den makedonischen Königen und römischen Kaisern, die diese Rolle gern übernahmen, galt, dass der König ein Gott auf Erden ist. In der formativen Phase des ägyptischen Staats, von 3200 bis 2700 v. Chr., trug der König den Götternamen Horus als einzigen Titel.

Auf den Denkmälern dieser Zeit erscheinen die ersten Könige vorzugsweise in Tiergestalt, als Stier, Löwe und Falke, worin sich die unwiderstehliche Gewalt ih- rer herrscherlichen Handlungen des Zerstörens, Vernichtens und Bestrafens aus- drückt.5 Diese Könige tragen auch fast sämtlich Tiernamen aggressiven Inhalts wie zum Beispiel „Skorpion“, „Schlange“, „Schlimmer Wels“ und „Stier“.

Diese frühen Denkmäler – zumeist zeremonielle Schminkpaletten – stellen die Staatsgründung als Vereinigung von Ober- und Unterägypten dar, und zwar im Zeichen gewaltsamer Unterwerfung. Auf der Palette des Königs Nar-mer („schlim- mer Wels“) ist auf der Vorderseite oben der König im Ornat des unterägyptischen Königs in feierlicher Prozession dargestellt, wie er die vollstreckte Hinrichtung von zehn enthaupteten Häuptlingen offenbar besiegter unterägyptischer Siedlun- gen oder Stämme besichtigt, unten, wie er in Stiergestalt eine feindliche Siedlung zerstört. Das Mittelfeld stellt die Vereinigung der beiden Landesteile in der Form zweier Fabeltiere dar, die mit ihren langen Hälsen die Vertiefung für die Schminke einrahmen. Auf der Rückseite erscheint der König mit der Krone des oberägypti- schen Königs beim Erschlagen eines Feindes und in Gestalt eines Falken, der ein Landstück mit dem Zahlzeichen für 6000, also 6000 Gefangene eines besiegten Landes, gefesselt hält (Abb. 1).6 Die hier gefundene Bildformel für die unwider- stehliche Gewalt des ägyptischen Königs über alle denkbaren Feinde des In- und Auslandes bleibt übrigens bis zum Ende der pharaonischen Geschichte in Ge- brauch.

Horus, der Gott, dessen Namen der König als Titel trägt, den er also verkör- pert, ist der Stadtgott von Hierakonpolis, der vorgeschichtlichen Stadt, von der der Prozess der Reichseinigung und Staatsbildung ausging. Horus ist ein Falke und daher einerseits mit Himmel, Luft und Höhe, andererseits mit der Schnellig- keit und Aggressivität des Raubvogels assoziiert. Der Name bedeutet „der Ferne, der Hohe“, abgeleitet vom Verbum h.rj „fern, hoch sein“, worin der Gedanke der alles überragenden Erhabenheit des Königs sehr deutlich zum Ausdruck kommt.

Horus kann kein Himmelsgott sein, wie bisher immer angenommen, denn der Himmel ist im Ägyptischen immer weiblich, sodass als seine Personifikation nur eine weibliche Gottheit in Betracht kommt. Der ursprüngliche Horus ist vielmehr

5 Henri Asselberghs: Chaos en beheersing. Documenten uit aeneolithisch Egypte. Leiden 1961.

6 Schminkpalette des Königs Narmer, nach: Jan Assmann: Ägypten – eine Sinngeschichte. Mün- chen 1996, S. 39.

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ein Sonnengott und bildet ein Paar mit der Himmelsgöttin Hathor, deren Name

„Haus des Horus“ bedeutet. Hathor ist die Stadtgöttin von Dendera und damit eines anderen wichtigen vorgeschichtlichen Zentrums. Während der gesamten dreieinhalbtausendjährigen Geschichte der pharaonischen Kultur bleibt der Son- nengott der Inbegriff der ägyptischen Staats- und Herrschaftsidee. Pharao ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Sonnenkönig. Die geflügelte Sonnenscheibe, das Symbol des Horus von Hierakonpolis, fungiert bis zuletzt als eine Art Staatswap- pen des pharaonischen Ägypten und seiner griechischen und römischen Erben.

Der höchste Gott dieser Staatsreligion ist aber im Alten Reich nicht der lebende, sondern der tote König. Vom König nahm man an, dass er, ein Gott auf Erden, nach dem Tode zum Himmel auffliegt und sich mit dem Sonnengott, seinem himmlischen Vater, vereinigt. Dieser Glaube findet in der Bauform der Pyramide seinen Ausdruck. Die Pyramide symbolisiert – und bewirkt dadurch nach dem Glauben der Menschen – mit ihrer genauen Ausrichtung nach den Himmelsrich- tungen und ihrer Betonung der vertikalen Achse den Himmelsaufstieg des toten Königs und seine Eingliederung sowohl in den Sonnenlauf als auch in die Zirkum- polarsterne am nächtlichen Nordhimmel, die als einzige während der Nacht nicht untergehen. Die Pyramide hält auf diese Weise Himmel und Erde, Jenseits und Diesseits zusammen, und genau das ist es, worum es in der ägyptischen Religion Abbildung 1: Die Nar-mer-Palette; um 3000 v. Chr., Museum Kairo

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von allem Anfang an und vor allen Dingen geht. Der tote König ist der Garant dieses Zusammenhangs, daher ist er „der Große“ oder geradezu „der größte“ Gott – der ägyptische Ausdruck lässt beide Übersetzungen zu – und alle kulturellen und insbesondere baulichen Anstrengungen des Landes gelten seiner Verehrung.7

Die klassische Konzeption von Staat und Königtum, die sich mit der 5. Dynas- tie um 2500 v. Chr. – also im Anschluss an die eigentliche „Pyramidenzeit“ – end- gültig durchsetzte, ersetzt die geschichtliche Vorstellung der Horus-Könige mit ihrer Betonung von Gründung, Stiftung, Unterwerfung und Vereinigung durch die Idee der kosmogonischen Verankerung des Staates. Ihren kanonischen Aus- druck findet sie in der Lehre von Heliopolis, der Stadt, die zwar nie politische Hauptstadt, aber immer das wichtigste religiöse Zentrum, die heilige Stadt war.

Die Kosmogonie von Heliopolis stellt die Stadien der Weltentstehung als einen Stammbaum mit vier Generationen dar und lässt den Ur- und Schöpfergott Atum („das All“) sich zugleich (a) in die Welt entfalten und (b) die Welt erschaffen. Pa- rallel zu diesem komplementär gedachten, zugleich transitiven und intransitiven Prozess der Welt-Entstehung lässt sie – und das ist entscheidend – die Herrschaft entstehen und von einer Götter-Generation auf die andere übergehen, bis schließ- lich in der vierten Generation nach Atum-Re Horus die Herrschaft erbt, der sich als Gott des geschichtlichen Königtums in jedem regierenden Pharao verkörpert.

Nach ägyptischer Vorstellung ist die Welt nicht aus dem Nichts, sondern aus Gott entstanden. Dieser Ur-Gott heißt Atum. Atum ist die Verkörperung der Präexistenz. Der Name bedeutet zugleich „das All“ und „das Nicht“ im Sinne von „noch nicht“ oder „nicht mehr“.8 Der Übergang von der Präexistenz in die Existenz wird als Selbstentstehung des Urgottes gedeutet. Der Gott der präexis- tenten Einheit, Atum, verfestigt sich zur der Gestalt des Sonnengottes Re und taucht zum ersten Mal über dem Urwasser auf. Dieser erste Sonnenaufgang wird als ein Akt primordialer Selbstentstehung und zugleich als erste Schöpfungstat verstanden: als Erschaffung des Lichts. Indem der Gott entsteht, wird er zugleich auch schon nach außen tätig und setzt zwei neue Wesen, Schu und Tefnut, Luft und Feuer aus sich heraus. Schu und Tefnut oder Luft und Feuer bringen den Erdgott Geb und die Himmelsgöttin Nut hervor. Auf die Entstehung des Lichts in der Form des ersten Sonnenaufgangs folgt die Entstehung des kosmischen Raumes, der im Licht sichtbar wird. Die vierte Generation wird durch die Kinder von Geb und Nut gebildet: Osiris, Isis, Seth, Nephthys, Horus. Dieses Stadium verbindet sich mit der Vorstellung einer Gründung der kulturellen Insti- tutionen. Jetzt entstehen Zeit und Geschichte. Daher gehört zu dieser Genera- tion auch Horus hinzu, der als Sohn von Isis und Osiris eigentlich die fünfte Generation bildet.9 Der Mythos spricht aber von fünf Kindern der Nut und er- zählt, dass Isis und Osiris sich schon im Mutterleib vereint hätten, sodass Nut

7 Vgl. Jan Assmann: Tod und Jenseits im Alten Ägypten. München 22003.

8 Susanne Bickel: La cosmogonie égyptienne. Avant le nouvel empire. Fribourg 1994, S. 33 f.

9 Zu diesem Gott vgl. Annie Forgeau: Horus, fils d’Isis. La jeunesse d’un dieu (= BdE, Bd. 150).

Kairo 2010.

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auch deren Kind Horus zur Welt brachte. Der Sinn dieser Überlieferung ist ver- mutlich, dass in dieser Fünfheit eine zeitliche Dynamik angelegt ist, die sich in der endlosen Kette der Horusverkörperungen in Gestalt der Könige als Ge- schichte entfaltet.

Die Kosmogonie von Heliopolis handelt also nicht nur von der Entstehung der Welt, sondern zugleich von der Entstehung der Herrschaft, die nach ägyptischer Vorstellung so alt wie die Welt ist. Daher lässt sich die Kosmogonie auch als eine

„Kratogonie“ lesen, die erzählt, wie die Herrschaft vom Urgott auf die aus ihm entstandenen Götter übergeht. Zuerst übt der als Sonne erschienene Urgott selbst die Herrschaft über die aus ihm entstandene Welt aus, dann geht sie auf den Luft- gott Schu, von diesem auf den Erdgott Geb und von diesem auf Osiris, den Herrn der Unterwelt über. Sie beschreibt also eine Abwärtsbewegung, vom Himmel über Luft und Erde bis zur Unterwelt. Mit Horus kehrt die Herrschaft dann auf die Erde zurück, aber sie wird insofern „konstellativ“, als Horus sie in engster Verbindung mit den anderen Göttern, vor allem seinem Vater Osiris ausübt. Fer- ner geht mit Horus die Herrschaft von Mythos in Geschichte über, denn Horus verkörpert sich in jedem geschichtlichen König. Die pharaonische Herrschaft le- gitimiert sich also als Schöpfungsherrschaft, die der König als Nachfolger und Stellvertreter des Ur- und Sonnengottes auf Erden ausübt.10 Die Königsherrschaft ist nichts anderes als die Fortsetzung der Kosmogonie unter den Bedingungen der entstandenen und als solche der unausgesetzten Inganghaltung bedürftigen Welt.

Nach ägyptischer Vorstellung ist die Herrschaft zugleich mit der Schöpfung in die Welt gekommen und hängt mit der Schöpfung ganz eng zusammen. Man kann diesen Gedankengang folgendermaßen zusammenfassen: Alles, die Welt mit Göt- tern, Menschen und Tieren, Himmel und Erde, Land und Meer, ist aus einem Gott entstanden, der als einziges Wesen aus sich selbst entstanden ist. Was aber aus etwas entstanden ist, bleibt von seinem Ursprung abhängig. Die aus der Sonne entstandene Welt ist von der Sonne abhängig. Das lässt sich auch von uns nach- vollziehen. Diese Abhängigkeit nun deuten die Ägypter als Herrschaft. In der Abhängigkeit alles aus der Sonne Entstandenen drückt sich die Herrschaft aus, die die Sonne über die Welt ausübt. Wie ist es aber nun zu dieser Dynamik gekom- men, kraft derer die Herrschaft vom Sonnengott auf andere Götter und schließ- lich auf die Dynastien der menschlichen Könige übergeht? Davon erzählt der Mythos von der Himmelskuh, der von der Trennung von Himmel und Erde han- delt.11

Am Anfang hat der Schöpfer- und Sonnengott die Herrschaft selbst ausgeübt;

damals lebten Götter und Menschen gemeinschaftlich zusammen. Dann aber, in Folge einer Empörung der Menschen, hat der Gott den Himmel hoch über die Erde erhoben und sich mit den anderen Göttern dorthin zurückgezogen. Damit entstand der Sonnenlauf, die Umkreisung der Erde durch die Sonne in Form einer

10 Vgl. hierzu Assmann: Politik (wie Anm. 2).

11 Erik Hornung: Der ägyptische Mythos von der Himmelskuh. Eine Ätiologie des Unvollkom- menen (= Orbis Biblicus et Orientalis, Bd. 46). Fribourg u. a. 1982.

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Barkenfahrt, und mit ihm die Zeit. So kommt es dazu, dass auch die Götter altern und die Herrschaft vom Vater auf den Sohn übergeht. Der zum Himmel entrück- te und gealterte Sonnengott Re hat daher seinen Sohn, den Luftgott Schu, zum Nachfolger eingesetzt mit der Aufgabe, zugleich mit der Trennung auch die Ver- bindung zwischen Himmel und Erde aufrechtzuerhalten, wozu der Luftgott ja glänzend qualifiziert ist. Von Schu ging die Herrschaft auf dessen Sohn, den Erd- gott Geb über. Damit wurde sie territorial. Aus der Erde wurde das Land mit sei- nen Tempeln und Städten. Aber auch Gebs Herrschaft dauerte nicht ewig; auch er zog sich in die Göttersphäre zurück und übergab die Herrschaft seinem Sohn Osiris. Osiris aber ist der erste Gott in dieser Genealogie, der einen Bruder und damit einen Rivalen und Feind hat. Das ist der Gott Seth. Damit wurde die Herr- schaft in einem engeren – zum Beispiel von Carl Schmitt vorgeschlagenen Sinne12 – politisch, das heißt, sie musste sich gegen einen Feind durchsetzen. Seth erschlug seinen Bruder Osiris, zerriss seinen Leichnam, verstreute die Glieder über ganz Ägypten und wollte die Herrschaft an sich reißen. Das wusste aber Isis, die Schwester und Ehefrau des Osiris zu verhindern. Sie sammelte die Glieder des Erschlagenen wieder ein und verstand sie mit ihren Klagen und Zaubersprüchen soweit wiederzubeleben, dass sie von ihm noch einen Sohn, Horus, empfangen konnte, der dann den Thron bestieg. Von Horus ging dann die Herrschaft von den Göttern auf die menschlichen Könige über.

Die Herrschaft ist also nach ägyptischer Vorstellung so alt wie die Welt, der Staat aber geht auf die Trennung von Himmel und Erde zurück, die durch ihn kompensiert werden soll. Der Staat ist eine Institution, die in verschiedenen Me- dien symbolischer Vergegenwärtigung die Verbindung zwischen Göttern und Menschen aufrechterhalten soll. Die Mitte dieses Systems bildet der Opferkult.

Für den Zeitraum der Riten und Feste werden die Götter auf Erden noch einmal gegenwärtig und die Trennung zwischen Himmel und Erde ist aufgehoben. Dann wohnen die Götter ihren Kultbildern ein, und die Priester, in Stellvertretung des allein zum Umgang mit den Göttern berufenen Königs, können selbst eine Göt- terrolle verkörpern und ihnen im Rahmen der heiligen Handlung auf gleicher Ebene gegenübertreten. Dieser Opferkult bildet die Mitte und Hauptaufgabe des ägyptischen Staats, immer wieder heißt es: Die Könige sind auf Erden eingesetzt, um die Altäre der Götter mit Opfergaben auszustatten. Diese Opfer waren in ers- ter Linie ein rein symbolisches Medium der Kommunikation. Die Ägypter wuss- ten genau und betonten mehrfach, dass die Götter diese Opfer nicht wirklich brauchten; sie brauchten sie als Medium und Zeichen des Zusammenhangs, in dem sie auch unter den Bedingungen der Trennung ihr segensreiches Wirken ent- falten konnten. Zerrisse dieser Zusammenhang, dann würden die Götter in ihrer himmlischen Ferne zwar weiterleben, auf Erden würden aber sowohl Fruchtbar-

12 Carl Schmitt definiert den Begriff des Politischen bekanntlich über die „Letztunterscheidung“

von Freund und Feind; Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vor- wort und drei Corollarien. Berlin 1979. So wenig man sich im allgemeinen Sinne dieser Definiti- on des Politischen anschließen möchte, so gut passt sie auf den Osiris-Mythos.

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keit als auch Gerechtigkeit erlöschen. Der ägyptische Staat war also ein vornehm- lich geistliches Institut und in dieser Hinsicht eher eine Kirche. Ich meine, unbe- schadet der Trennung von Staat und Kirche, wie sie unserem Begriff von Kirche im strengen Sinne zugrunde liegt, kann man den ägyptischen Staat als ein primär geistliches Institut zur Herstellung und Aufrechterhaltung einer Verbindung mit dem Göttlichen und in diesem allgemeinen Sinne als eine Art Kirche betrachten.13 Der ägyptische Staat und die christliche Kirche verstehen sich beide als Institutio- nen, die unter den Bedingungen der Abwesenheit eine Verbindung aufrechterhal- ten. Die Kirche beruht auf der Voraussetzung der Christus-Ferne, die sie zugleich kompensiert, nach dem Prinzip: „Kirche gibt es nur unter der Voraussetzung, dass das Kommen Christi nicht unmittelbar bevorsteht.“14 So wie die Kirche ver- schwindet mit der Wiederkehr Christi, verschwindet der pharaonische Staat, wenn der Sonnengott die Trennung von Himmel und Erde wieder aufhebt und die Welt in ihren Urzustand zurückkehrt.

Ein kanonischer, in vielen Tempelinschriften und anderen Quellen verbreiteter Text handelt von den Aufgaben des Königs als Sohn, Statthalter und Hohepriester des Sonnengottes. Er bezieht sich auf die Anbetung der Sonne am Morgen und betont das magische Wissen des Königs, das ihn ermächtigt, den Lauf der Sonne mit seinen Gebeten zu unterstützen.

Der König

betet den Sonnengott an in der Morgenfrühe

bei seinem Herauskommen, wenn er seine ,Kugel öffnet‘, wenn er auffliegt zum Himmel als Skarabäus

– er tritt ein in den Mund,

er kommt heraus aus den Schenkeln bei seiner Geburt des Osthimmels.

Sein Vater Osiris hebt ihn empor,

die Arme (der Luftgötter) Huh und Hauhet empfangen ihn.

Er lässt sich nieder in der Morgenbarke.

Der König kennt

diese geheime Rede, die die ,östlichen Seelen‘ sprechen, wenn sie Jubelmusik machen für den Sonnengott bei seinem Aufgang, seinem Erscheinen im Horizont

13 Nicht der einzige, aber wohl der wichtigste Unterschied freilich bestand darin, das ihm kein weltlicher Staat gegenüberstand, so wie dem frühen Christentum das römische Reich, sondern dass dessen Funktionen vom pharaonischen Staat ebenfalls wahrgenommen werden mussten.

Nachdem das Christentum aber zur Staatsreligion geworden war, kam es vor allem dort, wo der König sich auch als geistliches Oberhaupt verstand, wie etwa in Byzanz und in Frankreich, zu

„ägyptenartigen“ Formen von Sakralkönigtum und politischer Theologie. Umgekehrt hatte sich der klassisch-ägyptische Staatsgedanke unter den Bedingungen der persischen, griechischen und römischen Fremdherrschaft immer mehr in die Tempel zurückgezogen und gewissermaßen „ver- kirchlicht“. Der Opferkult, ursprünglich die Hauptaufgabe des Staates, wurde nun als ein heiliges Spiel unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit hinter hohen Tempelmauern vollzogen.

Der entscheidende Vergleichspunkt zwischen dem ägyptischen Staatsgedanken und dem paulini- schen Konzept der Kirche besteht in der Verknüpfung der Motive von Abwesenheit, Mittlertum und Institution.

14 Erik Peterson: Theologische Traktate. München 1951, S. 412 f.

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und wenn sie ihm die Türflügel öffnen an den Toren des östlichen Horizonts,

damit er zu Schiff dahinfahren kann auf den Wegen des Himmels.

Er kennt ihr Aussehen und ihre Verkörperungen, ihre Wohnsitze im Gottesland.

Er kennt ihre Standorte

wenn der Sonnengott den Weganfang beschreitet.

Er kennt jene Rede, die die Schiffsmannschaften sprechen, wenn sie die Barke des Horizontischen ziehen.

Er kennt das Geborenwerden des Re und seine Verwandlung in der Flut.

Er kennt jenes geheime Tor, durch das der Große Gott herauskommt, er kennt den, der in der Morgenbarke ist,

und das große Bild in der Nachtbarke.

Er kennt seine Landeplätze am Horizont und deine Steuergeräte in der Himmelsgöttin.

Soweit geht es um die Mysterien des Sonnenlaufs, in die der König eingeweiht ist.

Die folgende Strophe handelt aber grundsätzlicher von seiner Rolle auf Erden:

Re (der Schöpfer- und Sonnengott) hat den König eingesetzt auf der Erde der Lebenden für immer und ewig,

um den Menschen Recht zu sprechen und die Götter zufriedenzustellen, um die Ma’at zu verwirklichen und das Chaos zu vertreiben.

Er gibt den Göttern Gottesopfer und den Toten Totenopfer.15

Der König soll als Sohn und Statthalter das Werk der Schöpfung und Weltingang- haltung, das der Sonnengott durch seine Barkenfahrt in Himmel und Unterwelt ausübt, auf Erden fortführen, indem er die Ma’at verwirklicht und das Chaos ver- treibt. Ma’at ist ein komplexer Begriff und beinhaltet soviel wie Wahrheit, Ge- rechtigkeit, Ordnung und Harmonie, im Gegensatz zu Isfet, was entsprechend Lüge, Unrecht, Chaos und Zwietracht bedeutet.16 Was es heißt, Ma’at auf Erden durchzusetzen, macht der vorhergehende Vers klar: den Menschen Recht zu spre- chen und die Götter und Toten mit Opfern zu versorgen. Kult und Gerechtigkeit sind die Hauptaufgaben des ägyptischen Königs und damit des ägyptischen Staats, der als eine Kirche für die kultische Verbindung zur Götterwelt und als eine Rechtsinstitution für gerechte Verhältnisse in der Menschenwelt zu sorgen hat.

Jeder König ist als Verkörperung des Gottes Horus an die dynastische Kette angeschlossen, an deren Beginn als erster König der Sonnengott steht, aus dem alles hervorging. Zugleich ist aber jeder König auch unmittelbar an den Sonnen- gott angeschlossen, und zwar in der Beziehung einer Sohnschaft, in die er mit

15 Siehe zu diesem Text: Jan Assmann: Der König als Sonnenpriester. Ein kosmographischer Be- gleittext zur kultischen Sonnenhymnik in thebanischen Tempeln und Gräbern (= Abhandlungen des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo, Bd. 7). Glückstadt 1970; ders.: Sonnenhymnen in Thebanischen Gräbern. Mainz 1983, S. 48 f.; ders.: Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten. München 1990, S. 205–212; Maria C. Betrò: I testi solari del portale di Pascerien- taisu (BN 2). Pisa 1989.

16 Vgl. Assmann: Ma’at (wie Anm. 15).

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dem Ritual der Krönung und Thronbesteigung einsteigt. Genau wie Jesus, der nach der Darstellung des Matthäus-Evangeliums sowohl über Joseph den Zim- mermann an das Haus Davids angeschlossen ist als auch unmittelbar vom Heili- gen Geist in Maria gezeugt wurde, gilt auch der ägyptische König sowohl als Sohn seines Vorgängers als auch als unmittelbar vom höchsten Gott Amun-Re im Leib seiner Mutter gezeugt.

Davon erzählt ein Mythos, der sich auf den Übergang von der 4. zur 5. Dynas- tie bezieht, also von der Zeit der großen Pyramidenerbauer bis zu der Zeit, in der sich die Kosmogonie von Heliopolis als Staatsmythos durchsetzte. Überliefert ist er in einem Literaturwerk, das vermutlich im 17. Jahrhundert v. Chr. abgefasst wurde (Papyrus Westcar).17 Dieser Geschichte zufolge hat der Sonnengott mit der Frau seines Priesters Drillinge erzeugt, die nacheinander als die ersten Könige der 5. Dynastie den ägyptischen Thron bestiegen. In der Tat zeichnet sich diese Dy- nastie durch eine besondere pietas gegenüber dem Sonnengott aus. Sie errichteten sich viel kleinere Pyramiden, dafür aber große Sonnenheiligtümer, die sie ihrem Totenkult anschlossen. Der König galt nun nicht mehr als Verkörperung, sondern als Sohn des Sonnengottes. Der Unterschied ist in der ägyptischen Welt nicht ganz so groß, wie er uns vielleicht erscheint, denn auch der Sohn gilt in gewissem Sinne als eine Verkörperung des Vaters. jnk pw, „das bin ich“, sagt der Vater, um das Kind als seinen Sohn anzunehmen, das erst durch diesen Akt der Anerken- nung zum wirklichen Sohn wird.18 Vater und Sohn stehen sich in der ägyptischen Welt denkbar nah, wir bewegen uns hier in der Gegenwelt des Freud’schen Ödi- puskomplexes. Dennoch gibt es einen gewichtigen Unterschied (an dem sich dann unter ganz anderen Bedingungen Jahrtausende später die frühe Christologie abge- arbeitet hat): In seiner Verkörperung geht ein Gott auf, in seinem Sohn tritt er ihm gegenüber und bildet eine „Konstellation“.

Eine andere Fassung, die zuerst im 15. Jahrhundert v. Chr. im Totentempel der Königin Hatschepsut und im Luxortempel Amenophis’ III. belegt ist, vergegen- wärtigt den Mythos in der Form einer Bildergeschichte.19 Dieser Szenenzyklus ge- hört in den Kontext der Krönung. Die Idee dabei ist offenbar, dass der Kronprinz im Ritual der Krönung zusammen mit den Kronen und anderen Insignien eine neue Biographie empfängt, die ihn aus der Verbindung des Höchsten Gottes mit seiner leiblichen Mutter hervorgehen lässt. Mit dieser neuen Biographie wird der neugekrönte König zum Gottessohn und Gott und damit denkbar weit nicht nur über seine Untertanen, sondern auch über seine Herkunftsfamilie herausgehoben.

17 Textausgabe: Aylward M. Blackman: The Story of King Kheops and the Magicians. London 1988. Übersetzung z. B. Emma Brunner-Traut: Altägyptische Märchen. München 81989, S. 43–55;

Verena Lepper: Untersuchungen zu Papyrus Westcar. Eine philologische und literaturwissen- schaftliche (Neu-)Analyse (= Ägyptologische Abhandlungen, Bd. 70). Wiesbaden 2008.

18 Vgl. pLeiden I 350 IV, 9–11, nach Jan Assmann: Ägyptische Hymnen und Gebete (ÄHG). Fri- bourg 1999, Nr. 137: „Seine Mutter gab es nicht, ihm einen Namen zu machen, / nicht seinen Va- ter, der ihn erzeugte und spräche: ,Das bin ich!‘“.

19 Hellmut Brunner: Die Geburt des Gottkönigs. Wiesbaden 1960; Jan Assmann: Die Zeugung des Sohnes. In: ders. (Hg): Ägyptische Geheimnisse. München 2004, S. 59–98.

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Der Mythos beginnt damit, dass der Gott Amun der Göttergesellschaft seinen Plan verkündet, einen neuen König zu zeugen, über den er vier Verheißungen ausspricht: Er, Amun, wird sein Schutz sein und die Weltherrschaft in seine Hän- de legen; der neue König wird den Göttern Tempel bauen und die Opfer vermeh- ren; Fülle und Fruchtbarkeit werden in seiner Zeit herrschen; wer den König ver- ehrt, soll leben, wer ihn verflucht, soll sterben.20 Daraufhin holt Amun bei Thoth, seinem schriftkundigen Wesir, Erkundigungen über eine sterbliche Frau ein, die sein Wohlgefallen gefunden hat. Er erfährt, dass es sich um die Königin handelt und lässt sich von Thoth zu ihr führen. Der Königin erscheint Amun in Gestalt ihres Gatten (Thutmosis I.), gibt sich ihr aber dann in seiner wahren Gestalt zu erkennen und wohnt ihr bei. Nach Zeugung und Empfängnis beauftragt Amun den Menschenbildner Chnum, das Kind und seinen Ka nach dem Ebenbilde sei- nes göttlichen Vaters, das heißt „eines Leibes mit ihm“ zu formen. Chnum führt den Auftrag aus, im Beisein der Geburtsgöttin Heket. Als nächstes folgt die Szene der Verkündigung, in der Thoth der Königin ihre künftige Mutterschaft kund- tut.21 In der folgenden Szene wird die Königin, deren Schwangerschaft im Bilde zart angedeutet ist, von Heket und Chnum zum Geburtsbett geführt. Die Geburt wird in der 9. Szene dargestellt. Die weiteren Szenen handeln von der Säugung, Anerkennung, Aufzucht und Beschneidung des Kindes und enden mit der Prä- sentation des neuen Königs durch Amun vor der Göttergemeinschaft.

Jeder König verdankt seine Existenz und seine Würde also einer göttlichen In- tervention. Der höchste Gott hat ihn in die Welt gesetzt, damit den Göttern Altäre errichtet und den Menschen Recht gesprochen werde. Der ägyptischen Königs- und Staatsidee ist also ein messianisches Element inhärent. Jeder König gilt als ein Heilsbringer, der die Welt in jenen Zustand der Wahrheit, Gerechtigkeit, Ord- nung und Harmonie zurückführt, den das Wort Ma’at bezeichnet. Jeder König kann von sich sagen, dass es ohne ihn auf Erden keine Ma’at, sondern nur Isfet gäbe, das heißt, dass den Menschen kein Recht gesprochen und den Göttern keine Opfer dargebracht würden. Die Starken würden die Schwachen erschlagen und die Götter würden sich von den Menschen abwenden. Jede Thronbesteigung ist daher eine Heilswende.22

Nun ist aber der Mangel, den der König beheben soll, eine rein theoretische Größe, Kant würde sagen, eine „transzendentale Konstruktion“ in der Art von Thomas Hobbes’ Konstruktion des Naturzustands als bellum omnium contra

20 Kurt Sethe: Urkunden der 18. Dynastie. Abteilung IV, Bd. 1, Heft 1–4: Historisch-biographi- sche Urkunden. Leipzig 1906, S. 217, vgl. auch S. 257, S. 260. In Luxor beginnt der Zyklus mit einer ganz anderen Szene, die sonst nie vorkommt: Hathor umarmt die Königin. Überhaupt spielt Hathor in der Luxor-Fassung eine auffallende Rolle. In den Szenen VI und VIII ersetzt sie die Geburtsgöttin Heket.

21 Sehr präzise Brunner: Geburt (wie Anm. 19), S. 81: „Also nicht die Geburt eines Kindes verkün- det Thoth der Königin – das hat ja bereits Amun selbst getan und dabei sogar den Namen des Kin- des genannt – sondern die Zufriedenheit des Gottes, die sich in diesbezüglichen Titeln ausdrückt.“

22 Zandee: Messie (wie Anm. 4); Erik Hornung: Geschichte als Fest. Zwei Vorträge zum Ge- schichtsbild der frühen Menschheit. Darmstadt 1966.

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omnes. De facto übernimmt jeder König von seinem Vorgänger den geordneten Staat und setzt die Ma’at darin nicht ein, sondern nur fort. Die Heilswende, die sich mit jeder Thronbesteigung verbindet, ist eine mythische Fiktion.

Hier gilt es aber einen Unterschied zu beachten, der mir sehr wichtig erscheint.

Ich möchte ihn den Unterschied zwischen der „kleinen“ und der „großen“ Heils- wende nennen. Unter der „kleinen“ Heilswende verstehe ich die Heilswende als Fiktion im eben beschriebenen Sinne, die nun einmal zur ägyptischen Konzeption des Königtums gehört. Das Unheil, das dabei vorausgesetzt wird, also die Isfet, die jeder König vertreiben muss, um an ihre Stelle Ma’at zu setzen, ist hier nur eine theoretische Konstruktion. Es gibt aber auch Erzählungen, die von realen Unheilszuständen, schweren geschichtlichen Krisen und Leidenszeiten handeln und von gottgesandten Königen, die ihnen ein Ende gesetzt haben. Das nenne ich die „große“ Heilswende. Erzählungen, die auf die Semantik der „großen“ Heils- wende zurückgreifen, gibt es sowohl im Bereich der schönen Literatur als auch im Bereich der Königsinschriften, also der politischen Repräsentation beziehungs- weise Propaganda. Hier geht es dann nicht mehr um den allgemeinen Mythos des Königtums, sondern um einen bestimmten König, dessen geschichtliches Wirken in ein messianisches Licht gestellt wird. Bei der „großen“ Heilswende haben wir es mit der Semantik des Bruchs, der Diskontinuität zu tun, auf die man in Ägyp- ten nur selten zurückgreift, denn viel wichtiger ist hier die Semantik der Kontinu- ität. Leidenszeiten und Katastrophen passen schlecht in die kulturelle Semantik einer Gesellschaft, die im Zeichen einer realisierten Utopie lebte, unter der Herr- schaft gottgezeugter und gottgesandter Könige, die den Himmel auf Erden garan- tierten. Es sind vor allen drei Typen von Krisen, in denen man auf die Semantik der „großen“ Heilswende zurückgreift: der Zerfall der staatlichen Einheit in regi- onale Einheiten, Fremdherrschaft und der Fall eines schlechten Königs, der seine Rolle als Heilsbringer verfehlt.

Der erste König, der auf die Semantik der großen Heilswende zurückgegriffen hat, scheint Amenemhet I. zu sein, der im Jahre 1991 v. Chr. als erster König der 12. Dynastie den Thron bestieg. Ein unter dem Titel „Die Prophezeiung des Ne- ferti“ bekanntes Literaturwerk stellt ihn als den Heilskönig dar, der die Heilszeit des Mittleren Reichs heraufführte.23 Ein Weiser namens Neferti sei unter König Snofru, dem ersten König der 4. Dynastie um 2650 v. Chr. aufgetreten und habe den Untergang des Alten Reichs sowie die darauf folgende Unheilszeit gesell- schaftlicher Unordnung geweissagt, der dann schließlich ein Heilskönig namens Ameni ein Ende setzen würde. Ameni ist die Kurzform für Amenemhet, und es ist gar kein Zweifel, dass wir es hier mit einem vaticinium ex eventu zu tun haben, das den ersten König der 12. Dynastie als den Überwinder der Krise nach dem Untergang des Alten Reichs und diese wiederum als schwere Leidenszeit darstellt.

Die unheilvolle Zukunft wird in der Stilform der Chaosbeschreibung als „ver- kehrte Welt“ geschildert. Drei Dimensionen von Ordnung und Zusammenhang

23 Georges Posener: Littérature et politique dans l’Egypte de la XIIe dynastie. Paris 1956, S. 156 f.; Wolfgang Helck: Die Prophezeiung des Neferti. Wiesbaden 1992.

(12)

werden in den Chaosbeschreibungen im Zustand der Auflösung oder Inversion dargestellt: die kosmische Ordnung, die soziale Gerechtigkeit und die zwischen- menschliche Liebe. Die Sonne strahlt nicht mehr, die Schatten der Sonnenuhr sind nicht mehr zu erkennen. Der Nil trocknet aus, und die Winde verkehren sich.

„Was geschaffen ist, ist zerstört. Re kann mit der Schöpfung von vorn anfangen.“24 Da die pharaonische Monarchie in der Schöpfung verankert ist, geht mit ihrem Zerfall auch die Schöpfung zugrunde, und es herrscht das Chaos.

Die sozialen Ordnungen werden sich verkehren:

Ich zeige dir das Land in schwerer Krankheit.

Der Schwache ist jetzt stark, man grüßt den, der sonst grüßte.

Ich zeige dir das Unterste zuoberst,

was auf dem Rücken lag, hat jetzt den Bauch unten.

Man wird auf dem Friedhof leben.

Der Bettler wird Schätze aufhäufen.

Die Geringen werden Brot essen, die Dienstboten werden erhoben sein.25

Die engsten zwischenmenschlichen Bindungen zerreißen:

Ich zeige dir den Sohn als Gegner, den Bruder als Feind, einen Menschen, der seinen Vater tötet.26

Aber zuletzt wird der Heilskönig prophezeit, der das Land in den Zustand der Ma’at zurückführt:

Ein König wird kommen aus dem Süden, Ameni, gerechtfertigt, mit Namen, der Sohn einer Frau aus Ta-Seti, ein Kind von Hierakonpolis.

Er wird die weiße Krone ergreifen und die rote Krone aufsetzen,

er wird die beiden ‚Mächtigen‘ vereinen und die beiden Herren zufriedenstellen mit dem was sie wünschen.

Der ‚Feldumkreiser‘ ist in seiner Faust und das Ruder in Bewegung.

Freuet euch, ihr Menschen seiner Zeit!

Der Sohn eines Mannes wird seinen Namen machen für immer und ewig.

Die Böses planen und auf Umsturz sinnen

deren Sprüche sollen zuschanden werden aus Furcht vor ihm.

Die Asiaten werden durch sein Gemetzel fallen und die Libyer durch seine Flamme,

die Feinde durch seinen Zorn und die Rebellen durch seine Gewalt.

Der Uräus an seiner Stirn befriedet ihm die Aufrührer.

[…]Dann wird Maat auf ihren Platz zurückkehren, während Isfet vertrieben ist.27

24 Helck: Prophezeiung (wie Anm. 23), IV c, S. 21 f.

25 Ebd., XII a–f, S. 48–50.

26 Ebd., IX f, S. 37 f.

27 Ebd., XIII a–XIV h, XV e, S. 51–60.

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Dieser und eine Reihe anderer Texte des Mittleren Reichs28 konstruieren die „Ers- te Zwischenzeit“ als eine unheilvolle Vergangenheit, gegenüber der das Mittlere Reich die entscheidende Heilswende bedeutet. Das Medium dieses Vergangen- heitsbezugs ist aber nicht die Geschichtsschreibung, sondern die Klage oder

„Chaosbeschreibung“.29 Die Chaosbeschreibungen kultivieren ein umfassendes Gefährdungsbewusstsein und Schutzbedürfnis, vor dessen Hintergrund sich der Pharao des Mittleren Reichs als Heilsbringer und „Guter Hirte“ präsentiert.

In der 19. und 20. Dynastie, der Ramessidenzeit, stiegen diese Texte dann in den Rang von Schulklassikern auf, die jeder Schüler auswendig zu lernen und aus dem Gedächtnis perikopenweise niederzuschreiben hatte, um seine Handschrift und Sprachkenntnis zu üben und sich eine klassische Bildung zu erwerben. Damit ver- ankerte sich dieser Mythos fest im kulturellen Gedächtnis Ägyptens und wurde zu einem kulturellen Schema, in dessen Licht sich weitere Krisen deuten und überwinden ließen.

So stellt sich die Königin Hatschepsut in ihren von einem besonderen messiani- schen Sendungsbewusstsein getragenen Inschriften als die Überwinderin der Kri- se dar, die dem Mittleren Reich ein Ende setzte und als die „Zweite Zwischenzeit“

bezeichnet wird. Diese Krise steht nicht im Zeichen des Zerfalls, sondern in dem der Fremdherrschaft. Eine Gruppe im Delta siedelnder Kanaanäer hatte für 110 Jahre den Rest des Landes unterworfen und als die 15. Dynastie den ägypti- schen Thron bestiegen, bis sie dann von den thebanischen Herrschern besiegt und vertrieben wurde. Das lag bei der Thronbesteigung der Hatschepsut zwar schon ca. 80 Jahre zurück, aber sie war es, die auf die Semantik der „großen“ Heilswen- de zurückgriff und sich als gottgesandter Heilskönig inszenierte, wohl auch um ihren besonderen Legitimationsbedarf als weiblicher Pharao zu kompensieren. In einer Tempelinschrift präsentiert sie sich als der prophezeite Heilskönig, der die Eindringlinge vertrieben und die pharaonische Monarchie wiederhergestellt hat:

Ich habe befestigt, was verfallen war, und habe aufgerichtet, was zergliedert war,

vorher, als die Asiaten im Nordland, in Avaris waren,

streunende Horden waren unter ihnen, die das Geschaffene zerstörten.

Sie herrschten aber ohne den Sonnengott, und er handelte nicht

durch einen Gottesbefehl bis hin zu meiner Majestät, während ich dagegen dauere auf dem Thron des Re,

nachdem ich prophezeit worden war für eine kommende Epoche als eine geborene Erobererin (‚sie entsteht und sie erobert‘).

28 Vgl. z. B. Alan H. Gardiner: The Admonitions of an Egyptian Sage from a Hieratic Papyrus in Leiden (Pap. Leiden 344 recto). Leipzig 1909; Richard B. Parkinson: The Text of Khakheperres- eneb. New Readings of EA 5645, and an Unpublished Ostracon. In: JEA 83 (1997), S. 55–68.

29 Vgl. hierzu David Frankfurter: Elijah in Upper Egypt. Apocalypse of Elijan and Early Egyp- tian Christianity. Minneapolis 1993, hier bes. Kap. 7: „Chaosbeschreibung“: The Literary and Ideological Background of the Apocalypse of Elijah, S. 159–194, und Kap. 8: Vaticinia Sine Eventibus: The Use of Egyptian Chaosbeschreibung Tradition in the Apocalypse of Elijah, S. 195–238.

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Ich bin gekommen als Einziger Horus und speie Feuer gegen meine Feinde.

Ich habe den Abscheu der Götter entfernt, und das Land hat ihre Fußspuren vertilgt.

Das war eine Weisung des Vaters der Väter, die erging zu seiner, des Re, Zeit.30

Auf die Topik der großen Heilswende greift dann Tutanchamun nach dem Ende der Amarnazeit zurück und verwendet dafür dieselbe Metapher der „schweren Krankheit“, die auch Neferti gebraucht hatte. Hier bestand die Krise nicht in dem Zerfall der Monarchie oder in der Fremdherrschaft, sondern in dem singulären Fall eines Königs, der seine Aufgabe vollkommen verfehlt und sich an den Göttern in der schlimmsten Weise versündigt hatte. Anstatt Altäre zu bauen und die Götter mit Opfern zu versorgen, hatte er die traditionellen Kulte abgeschafft, die Tempel geschlossen, die Priester entlassen und als einzige Religion einen neuartigen Son- nenkult eingeführt. Als Tutanchamun die alte Religion restituierte, errichtete er eine Stele, auf der er die Situation im Stil einer Chaosbeschreibung schildert:

Die Tempel der Götter standen verlassen von Elephantine bis zu den Sümpfen des Deltas.

[…] waren im Begriff, auseinanderzufallen, ihre Heiligtümer waren im Begriff, zu verfallen, sie waren Schutthügel geworden,

bewachsen mit Disteln.

Ihre Kapellen waren, als seien sie nie gewesen, ihre Tempelanlagen waren ein Fußweg.

Das Land war von schwerer Krankheit (znj-mnt) befallen, die Götter hatten diesem Land den Rücken gekehrt.

Wenn man Soldaten nach Syrien schickte, um die Grenzen Ägyptens zu erweitern, dann hatten sie keinen Erfolg.

Wenn man einen Gott anrief, um ihn um etwas zu bitten, dann kam er nicht.

wenn man eine Göttin anbetete, ebenso, dann kam sie nicht.

Ihre Herzen waren schwach geworden in ihren Leibern, denn ‚sie‘ hatten das Geschaffene zerstört.31

Es ist aber dann vor allem Sethos I., der sich Jahrzehnte später als der eigentliche Erneuerer präsentiert. Er greift den Begriff der „Wiedergeburt“ auf, den Amenem- het I. als einen seiner Namen geführt hatte. Sethos I. ist derjenige König, der sich nach dem monotheistischen Umsturz des Echnaton an ein großes Tempelbau- und Erneuerungswerk macht, der die zerstörten Bilder und Inschriften restau- riert, der den verleugneten Gottheiten neue Tempel baut und die verlorenen Ge- biete in Vorderasien wiedererobert. Er fühlt sich als Liquidator der Amarnazeit,

30 Alan H. Gardiner: Davies’s Copy of the Great Speos Artemidos Inscription. In: Journal of Egyptian Archeology 32 (1946), S. 43–56, plate VI (Übersetzung J.A.).

31 Wolfgang Helck: Urkunden der 18. Dynastie. Abteilung IV, Heft 22: Inschriften der Könige von Amenophis III. bis Haremhab und ihrer Zeitgenossen. Berlin 1958, S. 2027.

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so wie Amenemhet und Ahmose sich als Liquidatoren der „Ersten“ bzw. „Zwei- ten Zwischenzeit“ fühlen.

Die Rhetorik der Heilswende findet sich dann noch sehr ausgeprägt bei den ersten Königen der 20. Dynastie, Sethnacht, Ramses III. und Ramses IV., die of- fenbar auf die vorausgegangene Wende von der 19. zur 20. Dynastie als eine be- sonders schwere Krise zurückblicken. Der „historische Abschnitt“ des Großen Papyrus Harris, der unter Ramses IV. geschrieben wurde und der diese Krise aus der Sicht Ramses’ III. schildert, ist eines der ganz wenigen Beispiele für eine zu- sammenhängende Darstellung eines Stücks Vergangenheit:

Das Land Ägypten war ,hinausgeworfen‘, jedermann war seine eigene Richtschnur.

Sie hatten viele Jahre keine Führer,

bis dann später das Land Ägypten aus Lokalmagnaten und Bürgermeistern bestand und einer den anderen umbrachte an Großen und Geringen.

Dann folgte eine Zeit aus ,leeren Jahren‘, als Ir-su, der Asiat als Oberhaupt bei ihnen war, nachdem er sich das ganze Land unterworfen hatte.

Jeder plünderte seinen Nachbarn aus,

und die Götter behandelten sie nicht besser als die Menschen, sodass niemand Opfer darbrachte in ihren Heiligtümern.

Aber die Götter wendeten sich wieder in Gnade um, um das Land wieder in seinen normalen Zustand zu bringen entsprechend seiner eigentlichen Verfassung,

und sie setzten ihren Sohn ein, der aus ihrem Leibe hervorkam (nämlich Sethnacht, den Grün- der der 20. Dynastie).32

Als Beispiel für die Rhetorik der „Heilswende“ zitiere ich ein „Lied auf die Thron- besteigung Ramses’ IV.“, das mit den Versen beginnt:

O schöner Tag! Himmel und Erde sind in Freuden, du bist der gute Herr Ägyptens!

Die geflohen waren sind heimgekehrt in ihre Städte, die sich versteckt hatten sind herausgekommen;

die hungerten sind satt und froh, die dürsteten sind trunken;

die nackt waren sind in feines Leinen gekleidet, die schmutzig waren strahlen.

Die in Gefangenschaft waren sind freigelassen, die gefesselt waren freuen sich;

die Streitenden in diesem Lande, sie sind zu Friedfertigen geworden.

Ein hoher Nil ist aus seinem Quelloch getreten, um die Herzen des Volkes zu erfrischen.33

32 pHarris I 75, 2–7; siehe Claudia Maderna-Sieben: Der historische Abschnitt des Papyrus Har- ris I. In: Göttinger Miszellen 123 (1991), S. 57–90. Zu den Unruhen im Zusammenhang der Wen- de von der 19. zur 20. Dynastie siehe auch die Elephantine-Stele des Sethnacht und dazu Stephan J. Seidlmeyer: Epigraphische Bemerkungen zur Stele des Sethnachte aus Elephantine. In: Heike Guksch/Daniel Polz (Hg.): Stationen. Beiträge zur Kulturgeschichte Ägyptens. Rainer Stadel- mann gewidmet. Mainz 1998, S. 384–386.

33 ÄHG 241.

(16)

Die Bedeutung dieser Rhetorik der Heilswende zeigt sich auch an ihrer enormen Langlebigkeit. Aus ptolemäischer Zeit ist ein Literaturwerk in demotischer Schrift und Sprache erhalten, das von einem Schreiber zur Zeit des Königs Bokchoris (24. Dynastie, Ende 8. Jahrhundert v. Chr.) berichtet. Erst findet er ein Buch mit der Beschreibung zukünftiger Ereignisse, dann offenbart ihm ein „Lamm“34 die Wahrheit dieser Voraussagen. Es handelt sich um eine Chaosbeschreibung klassi- schen Stils:

[…] Und es wird geschehen zu der nämlichen Zeit, dass der reiche Mann ein armer Mann sein wird.

[…] Kein Mensch wird die Wahrheit sagen […]

[…] indem sie die weiße Krone aus Ägypten entfernen. Wenn man sie sucht, wird man sie nicht finden […]

Zahlreiche Abscheulichkeiten werden in Ägypten geschehen.

Die Vögel des Himmels und [die Fische des Meeres] werden ihr Blut und ihr Fleisch essen, und die klugen Menschen werden (ihre Kinder) ins Wasser werfen.

[…]Wehe über Ägypten! [Es weint] wegen des Fluches, der zahlreich in ihm sein wird.

Es weint Helioplis, weil der Osten zu […]35 geworden ist, Es weint Bubastis. Es weint Nilupolis,

weil man die Straßen von Bebennytos zu einem Weingarten macht

und weil der Landepflock von Mendes zu einem Bündel von Palmblättern und Perseazweigen geworden ist.

Es weinen die großen Priester von Upoke.

Es weint Memphis, die Stadt des Apis.

Es weint Theben, die Stadt des Amun.

Es weint Letopolis, die Stadt des Schu.

Furcht empfängt Leiden.

Das Lamm vollendete alle Verfluchungen über sie.

Da sagte Psinyris zu ihm:

Wann wird dies geschehen, ohne dass wir es vorher gesehen haben?

Da sagte es (das Lamm) zu ihm:

Wenn ich ein Uräus am Haupte Pharaos bin, werden sie (die Ereignisse) geschehen.

Aber nach der Vollendung von 900 Jahren werde ich über Ägypten herrschen, und es wird geschehen, dass der Meder, der sein Gesicht nach Ägypten gewandt hat, sich wieder entfernen wird nach den Fremdländern und nach seinen äußeren Orten.

Das Unrecht wird zugrunde gehen. Das Gesetz und das Gericht werden wieder in Ägypten entstehen.

Man wird Vergeltung an ihnen üben wegen der Kapellen der Götter von Ägypten und an Niniveh, dem Gau des Assyrers.

Und es wird ferner geschehen, dass die Ägypter ins Land Syrien ziehen

und über seine Gaue herrschen und die Kapellen der Götter von Ägypten finden.

Wegen des Glücks, das Ägypten geschehen wird, kann man nicht sprechen.

Dem, der Gott verhasst ist, wird es schlecht ergehen,

und der, der Gott wohlgefällig ist, wird Gott wiederum wohlgefällig sein, wenn man ihn be- gräbt.

Die Unfruchtbare wird jubeln, und die ein Kind hat wird sich freuen wegen der guten Dinge, die Ägypten geschehen werden.

34 Vgl. László Kákosy: Prophecies of Ram-Gods. In: ActaOrHung 19 (1966) 3, S. 341–358, hier:

S. 344 f., S. 355 f.

35 Lücke im Text.

(17)

Die kleine Zahl der Menschen, die in Ägypten sein wird, wird sagen:

Wären doch mein Vater und mein Großvater hier in der guten Zeit, die kommen wird.36 In diesem Text werden aus dem Rückblick der Ptolemäerzeit die assyrischen Er- oberungen und Zerstörungen Ägyptens sowie die Perserzeit als Leidenszeit dar- gestellt und auf nicht weniger als 900 Jahre beziffert, was natürlich stark übertrie- ben ist (die assyrischen Eroberungen fallen ins erste Drittel des 7. Jahrhun- derts v. Chr., die Perserzeit erstreckt sich von 525 bis 404 v. Chr. und 341 bis 332 v. Chr.). Wenn mehrere ptolemäische Herrscher in offiziellen Inschriften be- tonen, dass sie die verschleppten Götterbilder nach Ägypten zurückgebracht ha- ben, nehmen sie ganz offensichtlich auf solche im Volk kursierenden Überliefe- rungen Bezug und inszenieren ihre Herrschaft als die verheißene Heilszeit.37

Die Regierungszeit des verheißenen Heilskönigs wird übrigens auf 55 Jahre beziffert. Psammetich I., der der Assyrerzeit ein Ende setzte, hat in der Tat 55 Jahre regiert. So scheint sich der Text zumindest in seiner ursprünglichen Fas- sung auf die Zeit Psammetichs I. zu beziehen.38 Dieselbe Zahl begegnet auch in einer anderen, in griechischer Sprache erhaltenen politischen Prophetie, dem

„Töp fer ora kel“.39

Diesmal spielt die Szene unter einem König Amenophis, in dem man Ameno- phis III. zu sehen hat. Der König besucht Hermupolis und trifft dort einen Töp- fer, dessen Töpferscheibe zerstört und dessen Produktion beschlagnahmt wurde.

Der Töpfer deutet sein Unglück als Vorzeichen künftigen Unheils. Eine Zeit wird

36 Karl-Theodor Zauzich: Das Lamm des Bokchoris. In: Papyrus Erzherzog Rainer. Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.

Wien 1983, S. 165–174; ders.: Art. Lamm des Bokchoris. In: LÄ, Bd. 3 (1980), S. 912 f.; Donald B. Redford: Pharaonic King-Lists, Annals and Day-Books. A Contribution to the Study of the Egyptian Sense of History. Mississauga 1986, S. 286 f.

37 Heinz-Josef Thissen: Studien zum Raphiadekret. Meisenheim am Glan 1966.

38 Dies ist die These von Robert Meyer; vgl. Robert Meyer: Die eschatologische Wende des poli- tischen Messianismus im Ägypten der Spätzeit. In: Saeculum 48 (1997), S. 177–212.

39 Ludwig Koenen: Die Prophezeiungen des Töpfers. In: ZPE 2 (1968), S. 178–209; ders.: The Prophecies of a Potter. A Prophecy of World Renewal Becomes an Apocalypse. In: Deborah Hobson Samuel (Hg.): Proceedings of the Twelfth International Congress of Papyrology (= American Studies in Papyrology, Bd. 7). Toronto 1970, S. 249–254. Frankfurter: Elijah (wie Anm. 29) deutet diese Prophezeiungen im Sinne der klassischen Chaosbeschreibungen als vatici- nia sine eventibus und verweist auf weitere Orakeltexte ähnlichen Inhalts aus Ägypten: vgl.

160 n. 3 (PSI 982); n. 5 (PSI 760); pCairo 31222; p.Oxy. 2554; pStanford G93bv; pTebt Tait 13;

Wiener Mond-Omina Papyrus. Robert Meyer hat in seiner Dissertation darauf aufmerksam ge- macht, dass Psammetich I. 55 Jahre regiert hat und den Ursprung dieser Prophezeiungen in seiner Regierungszeit sehen wollen; Robert Meyer: Vom königsgeleiteten zum gottgeleiteten Menschen.

Heidelberg 1994. Es würde sich dann um eine propagandistische ex-eventu-Prophezeiung in der Art des Neferti handeln. Noch einmal hätte eine Dynastie in deutlichem Rückgriff auf den klas- sischen und zu dieser Zeit zweifellos bekannten Text ihre Thronbesteigung als Beendigung des Chaos dargestellt und zu diesem Zweck die Erinnerung an das vorangegangene Unheil in der Form einer Prophezeiung wachgehalten. Erstaunlicher ist aber dann die Rezeptionsgeschichte dieser Prophezeiung, die im Laufe der Jahrhunderte, angereichert durch neue Erfahrungen mit Persern und Griechen, von politischer Propaganda in eine echte messianische Heilserwartung umschlägt.

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kommen, da die „Gürtelträger“ über Ägypten herrschen werden. Sie verehren den Typhon (= Seth) und zerstören die ägyptischen Tempel. Aus dem Land ver- schwinden Gesetz und Ordnung. Krieg wird zwischen Geschwistern und Eheleu- ten herrschen, und die Menschen werden sich gegenseitig umbringen. Wie schon in der 2000 Jahre älteren Prophezeiung des Neferti wird die Natur in das allge- meine Elend einbezogen:

Der Nil wird niedrig sein, die Erde unfruchtbar,

die Sonne wird sich verfinstern, weil sie das Unheil in Ägypten nicht sehen will.

Die Winde werden Schäden auf der Erde anrichten.

Später jedoch werden die Gürtelträger „wie Herbstlaub abfallen vom Baum Ägyptens“ und die Götterbilder zurückkehren:

Dann wird Ägypten mächtig sein wenn für eine Periode von 55 Jahren

ein wohltätiger König von der Sonne kommen wird, den die große Göttin Isis einsetzt.40

Das Land wird gedeihen, die Überschwemmungen werden hoch sein, Sommer und Winter kommen im richtigen Rhythmus, die Winde wehen milde, und die Sonne wird leuchten, das Unrecht sichtbar machen und die Übeltäter der Gerech- tigkeit überantworten.

Die erstaunliche Stabilität und Resilienz der pharaonischen Monarchie, die sich über dreieinhalb Jahrtausende in ihren Grundzügen nahezu unverändert erhalten und sich nach Zusammenbrüchen immer wieder restituiert hat, verdankt sich zwei Prinzipien: der kosmogonischen Verankerung, die sie als Teil der Weltordnung und damit als Natur erscheinen ließ, und der messianischen Perspektive, die jeden König als gottgesandten Gottessohn verstand und sich in Zeiten schwerer Krisen und Katastrophen zu einem apokalyptischen Messianismus steigern konnte.

Abstract

The Pharaonic monarchy can be characterized by four distinctive features: (a) an- cient Egypt is the first big territorial state in human history, having no earlier models before it to follow, (b) it can be interpreted as much in terms of a religion as in terms of a state, the communication with the divine world being the most prominent task of the king, (c) the state is held to be as old as the world and the king just continues the rule that the creator (the sun god) exerted over his cre- ation, acting as an avatar of the god Horus, who belongs to the fourth divine generation after the sun-god Re, and (d) each political crisis is experienced as a cosmic crisis, since the main task of the king consists in maintaining cosmic order.

This connection lends Pharaoh the messianic traits of a saviour king who rescues the world in restoring order in Egypt.

40 pRainer (G 19813) 38–41 = pOxyrhynchus 2332, 63–67 ed. Koenen (1968), S. 180.

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