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#05/2021. Zur Darstellung und Funktion geistiger und körperlicher Behinderung in Clemens J. Setz Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre 1

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DOI: 10.25364/16.05:2021.1.6

Die besondere Faszination und Irritation, die von Clemens J. Setz’ Büchern ausgeht, liegt unter anderem an ihrer radikalen Erkundung menschlicher Wahrnehmung. Man denke etwa an die Beschreibung von Synästhesie in Die Frequenzen. Konsequenterweise beschäftigt sich Setz immer wieder mit be- sonderen Ausprägungen, Erweiterungen oder Beschränkungen des Wahrneh- mungsspektrums, etwa auch dem „aurigen“ Gefühl vor einem epileptischen Grand-Mal-Anfall (vgl. Stunde, 11), und den damit zusammenhängenden Möglichkeiten des Ausdrucks und der Kommunikation. In seinem jüngsten Buch Die Bienen und das Unsichtbare1geht es unter anderem um die Geschichte der Gebärdensprachen und anderer Sprachsysteme für taube, taubblinde oder andere schwerbehinderte Menschen. Setz geht dabei auch auf sogenannte

„vegetativ[e]“ Menschen ein (Bienen, 59), denen man lange jegliches Bewusst- sein abgesprochen hat – oft fälschlicherweise mangels geeigneter Kommu- nikationsweisen. Diese extremen (aber keineswegs seltenen) Beispiele von

1 Mir ist sehr bewusst, dass der Begriff ‚Behinderung‘ in meinem Beitragstitel oder auch die Rede von ‚be- hinderten Menschen‘ als stigmatisierend oder diskriminierend empfunden werden kann. Falls sich Leser:in- nen von diesem Sprachgebrauch verletzt fühlen sollten, bitte ich im Voraus um Entschuldigung. Dass ich ihn dennoch verwende, möchte ich kurz begründen. Erstens hat mich bisher keiner der alternativ vorgeschlagenen, vermeintlich nichtdiskriminierenden Begriffe überzeugt. Das gilt auch für Wendungen aus medizinischen, therapeutischen oder bürokratischen Zusammenhängen, die in normalem Sprachgebrauch eher verunklarend oder sogar unangemessen euphemistisch sein können, ‚Menschen mit besonderen Bedürfnissen‘ etwa oder bei Kindern und Jugendlichen der Begriff ‚Entwicklungsstörung‘ oder ‚Kinder mit erhöhtem Förderbedarf‘.

Zum Zweiten wird genau dieses Sprachproblem im hier behandelten Roman thematisiert und ist somit selbst Gegenstand dieses Beitrags. Und drittens finde ich persönlich das Wort ‚Behinderung‘ ein sehr geeignetes Wort – etwa viel besser als das englische ‚disabled‘, das einen definitiven, unaufhebbaren Mangel ausdrückt.

Was einen Menschen an etwas hindert, kann – wie jedes Hindernis – zumindest als überwindbar imaginiert werden.

Richard Kämmerlings

Inklusion und Narration

Zur Darstellung und Funktion geistiger und körperlicher Behinderung in Clemens J. Setz’ Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre1

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Behinderungen stehen bei Setz, so meine These, für grundlegende Grenzen und Möglichkeiten zwischenmenschlicher Kommunikation. In drei Schritten lese ich im Folgenden den Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre von 2015 als erzählerische Erkundung einer Theorie des Bewusstseins.

1 Nonseq

Natalie Reinegger, die Hauptfigur des Romans, spielt gern ein Spiel. Sie nennt es „Nonseq“ (Stunde, 37), von dem lateinischen Ausdruck ‚non sequitur‘, deutsch: es folgt nicht, womit man etwa in der philosophischen Logik einen Fehlschluss bezeichnet. In Natalies Spiel ergeben sich beispielsweise Chat- Dialoge mit ihrem Exfreund Markus, bei denen die jeweiligen Nachrichten sich nicht logisch aufeinander beziehen oder inhaltlich korrespondieren. Es gibt noch eine Variante davon, die Natalie gern in geselliger Runde spielt:

„Auch das konnte man machen: einen Gedanken, den man still für sich gehabt hatte, fortführen, indem man ihn aussprach. Niemand konnte ihm folgen, also total non sequitur“ (Stunde, 44, Hervorhebung im Original).

Natalie ist eine 21-jährige Behindertenpädagogin, die zu Beginn des Ro- mans ihre erste Stelle in einem Heim für betreutes Wohnen antritt. Auf Nonseq ist sie während ihrer Ausbildung gekommen, in ihrer Arbeit mit Alzheimerpatienten. Aus einem Symptom, dem für Außenstehende zusam- menhanglosen Reden geistig verwirrter Menschen, hat sie einen Zeitvertreib gemacht und zugleich ein kreatives, künstlerisches Prinzip: In ihrer Freizeit geht Natalie gern „streunen“, wie sie das nennt, das heißt, sie bietet wahllos fremden Männern Oralverkehr an und schneidet das per Smartphone mit (vgl. Stunde, 33-47). Aus den Audiodateien erstellt sie später eine Montage, ein Nonseq-Kunstwerk.

Vom französischen Schriftsteller Lautréamont stammt die berühmte For- mel von einer Schönheit „wie die unvermutete Begegnung einer Nähma- schine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“2, die später von den Surrealisten als Kurzformel eines ästhetischen Grundprinzips aufgegriffen

2 Lautréamont: Die Gesänge des Maldoror. Aus dem Französischen von Ré Soupault. Reinbek b. H.: Rowohlt 2004, S. 223. [Im Original erstmals 1874]

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wurde.3 Auch die hatten eine Vorliebe für vermeintlich sinnfreie Zufallstexte oder -collagen, berühmt ist das Prinzip des ‚Cadavre exquis‘, das auch eine Variante des Nonseqs ist. Bekannt ist auch das als Gesellschaftsspiel, aber zum kreativen Prinzip erhoben hebelt es die Alltagslogik und die Rationalität aus.

Die Surrealisten wollten damit die gesellschaftlichen Überformungen durch- brechen und zu einer eigenen, tieferen Logik des Unbewussten vordringen.

Natalies Nonseq bedeutet hingegen die Unterstellung eines Zusammenhangs, der einer Interpretation unzugänglich ist, aber als ästhetisches Phänomen wahrgenommen werden kann.

In ihrer beruflichen Tätigkeit als Bezugsbetreuerin ist Natalie gezwungen, sich als Interpretin mit den Äußerungen und Handlungen ihrer Klienten auseinanderzusetzen. Nonseq ist ihr Alltag, man könnte auch sagen: die her- meneutische Herausforderung, scheinbar unlogischen oder unzusammenhän- genden Vorkommnissen und Sätzen Sinn abzugewinnen, sie zu verstehen. Das Verstehen von Fremdbewusstsein ist das zentrale Thema des Romans, dessen Titel Die Stunde zwischen Frau und Gitarre selbst ein Beispiel für Nonseq ist.

Dass Frauen identisch mit Gitarren seien, ist eine fundamentale Wahnvor- stellung ihres Klienten Alexander Dorm. Dorm, ein im Rollstuhl sitzender Mann, wurde als Stalker zunächst in die Psychiatrie eingewiesen und dann ins Wohnheim aufgenommen, weil er die Frau seines Stalkingopfers Christopher Hollberg mit seinen Beleidigungen und Nachstellungen in den Selbstmord getrieben hat.

Doch für Natalie ist nicht nur die Psyche des frauenhassenden Stalkers Dorm ein Nonseq-Gespräch, dessen Einzelteile sie verbinden muss wie ein Puzzle, zu dem die meisten Teile fehlen. Es geht um das ganze „Arrangement“, das sich im Heim mit Zustimmung der Betreuerinnen entwickeln hat: Holl- berg besucht seinen einstigen Peiniger einmal wöchentlich und erfüllt dem Stalker damit seinen glühendsten Wunsch (vgl. Stunde, 85-90). Der Psycho- thrillerplot von Frau und Gitarre dreht sich um Natalies Beschäftigung mit dieser abgründigen Konstellation. Denn das Motiv von Hollberg – ist es Rache,

3 Im Roman ist es Hollberg, der darauf anspielt: „Ist nur ein Zitat aus einem alten Buch. Vergiss es. Aber schon komisch, dass ich bei dem Bild von einer Nähmaschine und einem Regenschirm, die einander begegnen, immer an eine menschliche Form denken muss“ (Stunde, 695).

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Mitleid, gar heimliche Liebe, ein eigener psychischer Defekt? – ist für die Neu- ankommende mindestens ebenso unverständlich wie das Innere von Dorm.

Die konsequent personale Erzählstruktur des Romans sorgt dafür, dass Leser:innen den Wahrnehmungshorizont Natalies nicht überschreiten können und dadurch in ihrem Bewusstsein gefangen sind. Es gibt keine Außenpers- pektive, keinen Zugang zum Fremdbewusstsein. Der amerikanische Bewusst- seinsphilosoph Thomas Nagel hat dieses Problem in einem berühmten Auf- satztitel zugespitzt: What Is It Like to Be a Bat?4 Wir können nicht nur nicht wissen, wie es sich anfühlt, die Welt mit den Echo-Ohren einer Fledermaus wahrzunehmen, sondern schon die Sicht und das Bewusstsein meines Nach- barn oder meines Partners sind mir unzugänglich. Umso größer das Potential der Desillusionierung, die in Versuchen liegt, eine Transparenz des eigenen Inneren herzustellen, durch Konfessionen oder autobiografische Mitteilungen.5 Ihren Freund Markus hat Natalie verlassen, nachdem er ihr eine Erzählung geschrieben hat. „Sie hatte ihm erklärt, dass sie befreundet bleiben konnten, sie habe nichts gegen gelegentliches Chatten oder Telefonieren. Und er, was hatte er gesagt? Ich verstehe.“ (Stunde, 28, Hervorhebung im Original)

Wenn jemand in diesem Roman sagt, dass er etwas verstehe, ist damit eigentlich genau das Gegenteil gemeint. Das gilt erst recht für Nonseq-Spiele:

– Im Weinrauch atmet die Seele. Und überlebt. – Ich verstehe, nickte Tina.

Genau, und immer wenn man dieses Experiment machte, gab es sie, diese eine Person, die nickte und sagte, sie habe verstanden. Obwohl das per Definition, also von vornherein und absolut retromäßig, ausgeschlossen war. Natalie staunte jedes Mal. (Stunde, 44)

Was das Verhalten des Stalkingopfers Hollberg angeht, wird auf eine Frage Natalies während einer Teamsitzung so geantwortet:

4 Thomas Nagel: What Is It Like to Be a Bat? In: The Philosophical Review 83 (1974), H. 4, S. 435-450; bzw.

auf Deutsch: T. M.: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? In: Analytische Philosophie des Geistes. Hrsg. von Peter Bieri. Königstein: Hain 1981, S. 261-276.

5 Vgl. dazu auch: Manfred Schneider: Transparenztraum. Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche.

Berlin: Matthes & Seitz 2013.

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Selbstverständlich habe man ihn gefragt, weshalb er einen solchen Besuch wünsche. Hier seien sich alle seines unvorstellbaren Verlustes bewusst, auch die damit einhergehenden Gefühle könne man sich gut vorstellen, das heißt, man könne sich gut vorstellen, dass man sie sich selbstverständlich überhaupt nicht vorstellen könne. (Stunde, 94)

Wir wissen nie, ob wir den anderen wirklich verstehen. Selbst wenn wir die gleichen Begriffe verwenden, gibt es keine Möglichkeit zu überprüfen, ob auch tatsächlich das Gleiche gemeint ist. In der modernen Philosophie des Geistes wird das als ‚Qualia-Problem‘ diskutiert. In der Welt der professio- nellen Betreuung stellt es sich verschärft, weil ständig Verständnis auch für vermeintlich sinnlose Äußerungen rhetorisch simuliert wird.

Die Unmöglichkeit des Verstehens wird im Roman schließlich zum immer hochtouriger drehenden Motor der Handlung. Am Schluss wird der Roman zu einer beinahe bühnenreifen Comedy of Errors, allerdings mit tragischem Ausgang. Auch Natalie wird durch ihre Fixierung auf ihr Dreiecksverhältnis zu Dorm und Hollberg sozusagen ‚blind‘ für die anderen Menschen in ihrer engsten Umgebung.

Es gibt allerdings noch eine letzte Paradoxie: Das Gelingen des Romans dementiert zugleich die absolute Unmöglichkeit des Verstehens, insofern Natalies ganz spezifische Weise der Weltwahrnehmung transparent und nach- vollziehbar, sprich: verständlich wird. In der Literatur wird die Utopie des Verstehens momenthaft Realität.

2 Inklusion

Verständnis für die individuellen Bedürfnisse der betreuten Personen ist im Wohnheim oberstes Gesetz. Natürlich gibt es unter den Pädagoginnen einen äußerst korrekten und sensiblen Sprachgebrauch, man spricht von „Klien- ten“; die jeweiligen Bezugsbetreuerinnen haben ihre – intern so genann- ten – „Bezugis“, deren Unverschämtheiten und Verbalattacken sie ihrerseits ungerührt-professionell hinzunehmen haben. Einmal blickt Natalie auf ihre Ausbildung zurück:

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Klienten – so hatten sie es damals natürlich nicht genannt. Ihre Lehrerinnen waren alle etwas älter gewesen und verwendeten noch Ausdrücke wie Be- hinderte, Blinde, Gelähmte, Verunglückte. Sogar das Wort Patienten war damals einige Male gefallen. Finsterstes Mittelalter. (Stunde, 288)

Diesen aufgeklärten Sprachgebrauch lässt Setz aber mit dem Betreuungsall- tag kollidieren, was zur Satire sprachlicher Korrektheit wird. Ich zitiere ein Pausengespräch zwischen Natalie und ihrer Kollegin B.:

– Ich verstehe nicht, sagte B., warum man die Wörter nicht mehr sagen darf.

Neger, Zigeuner, Stalker, Medium. Wenn man nichts Abwertendes dabei denkt, ist es doch nicht schlimm, oder? Wie soll das Wort selbst wissen, was man sich dabei denkt? Es ist doch kein Wattebausch, den man mit sich selbst tränken kann. – Na ja, sagte Natalie, wahrscheinlich geht man ein- fach sicherheitshalber immer davon aus, dass es mit Grausamkeit getränkt ist. Dann kann nichts passieren. – Total behindert, sagte B. (Stunde, 101f.) Die eigentliche Brisanz dieser Passage überliest man schnell. Das ist nicht nur das N- oder das Z-Wort, sondern dass sie hier in einem Atemzug mit dem Wort „Stalker“ genannt werden, als handle es sich dabei per se ebenfalls um eine diskriminierte Gruppe, ja um Opfer.6 Während umgekehrt das wahre Opfer, nämlich Hollberg, zu einer Art Triebtäter wird. Gerade dies, die Täter- Opfer-Umkehrung, ist ein zentraler Twist des Romans, der bei Natalie ebenso wie bei den Leser:innen Unbehagen hervorruft.

Das wird auch in einer Stelle deutlich, in der die Kollegin B. Natalie von dem beim damaligen Selbstmord der Ehefrau entscheidenden Brief Dorms erzählt:

Dorm beschwor Hollberg darin, sich nicht mit solchen Gebilden abzu- geben, die Form sei falsch und auch die Verteilung des Gewichts, Frauen seien überhaupt nur hohle, unerträgliche Dinge, ein entsetzlicher Fehler der Evolution. Die gitarrenartige Form des weiblichen Körpers, die Fett- ansammlungen an Stellen, wo überhaupt kein Fett hingehörte. Und so

6 Vgl. auch die Teambesprechung über den politisch korrekten Ausdruck für „Stalker“, den die ‚Community‘

für ihre Zusammenkünfte eingeführt hat (vgl. Stunde, 86f.).

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weiter. – Gott, was für ein Sack, sagte Natalie. B. schaute sie an. – Okay, sagte Natalie. Ich bin im Dienst. Tut mir leid. Aber denken darf ich’s. – Er ist halt, wie er ist, sagte B. sanft. (Stunde, 171)

Die besondere Form narrativer Inklusion bei Clemens Setz besteht nun nicht etwa in der schlichten Tatsache, dass Menschen mit Behinderung bei ihm zentrale Rollen spielen, etwa im Sinne einer nach Herkunft oder Hautfarbe definierten Quotenregelung beim Film-Casting.

Bei Setz wird die Unterscheidung zwischen einer vermeintlichen Normalität und einer wie auch immer gearteten Abweichung systematisch aufgehoben.

Das beginnt bei der Hauptfigur. Natalie selbst ist Epileptikerin; ihre sexuellen Vorlieben sind weit von einer bürgerlichen Normalskala entfernt und ihre Ge- danken und Tagträume überschreiten immer wieder die Ekelgrenze, mehrfach wird sie von anderen Figuren als „verrückt“ bezeichnet. Auch missbraucht sie regelmäßig eigentlich für ihre Klienten bestimmte Medikamente wie Ent- spannungsmittel oder Psychopharmaka.

Im Rahmen der Figurenkonstellation allerdings ist sie gerade der Inbegriff von zupackender Menschlichkeit, Emotionalität und Rationalität. Hollberg ist ein Sadist, der seine absolute Macht über den hilflosen Dorm genießt und Natalie mit Psychoterror zu manipulieren versucht. Die Heimleiterin Astrid entpuppt sich hinter ihrem überengagierten Workaholismus als von religiösem Wahn befallen und als weiteres Opfer von Hollbergs Psychotricks: „Diese Frau war wahnsinnig. Aber meist merkte man es nicht. Sie funktionierte im Alltag.

Sie war nett zu vielen Menschen. Sie tat Gutes. Sie war aufopferungsvoll. Sie war religiös. Wunder und Stigmata.“ (Stunde, 761)

Clemens Setz variiert virtuos das alte Klischee, dass die Wärter in der Ir- renanstalt die wahren Verrückten sind, und dekonstruiert es zugleich, weil es frei nach Rilke hinter allen Stäben keine Welt mehr gibt, die Normalität nur ein soziales, pragmatisches, letztlich arbiträres Konstrukt ist. Um es in Natalies Worten zu sagen: „Gott, ich denke schon dieselbe idiotische Scheiße wie all diese Verrückten hier.“ (Stunde, 818) Nach einer von Dorms misogynen Hassreden heißt es: „Natalie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Er sprach so vernünftig, zumindest nach der Logik seiner Welt.“ (Stunde, 926, Hervor- hebung im Original)

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Ist damit jede Normalität, jedes Konzept von geistiger Gesundheit, jede Grenze zur Perversion obsolet? Die Stunde zwischen Frau und Gitarre ist ein Roman, der den Leser immer wieder mit Ekel, Amoralität, physischer und seelischer Grausamkeit konfrontiert und ihn dabei bewusst an die Grenze seiner eigenen Normalität führen will. Es wird ausgetestet, wie weit Tole- ranz, Verständnis, Liberalität, Selbstrelativierung reichen. Jeder Leser, jede Leserin wird an irgendeiner Stelle kapitulieren oder moralischen Einspruch erheben. Diese Ästhetik der Grausamkeit und des Schreckens kann man nur schwer literaturwissenschaftlich objektivieren.7 Für mich gehören vor allem die harmlos „Betreuerinnengespräche“ genannten Kapitel zu den krassesten, wenn hier die Kolleginnen ihren Berufserzählungen und Tagträumen freien Lauf lassen und im Teeküchenplauderton etwa über die Todesumstände ihrer Klienten reden (vgl. Stunde, 196-197 und 341-343).

3 Zaubersprüche

Die Stunde zwischen Frau und Gitarre ist ein Stalker-Roman. Das Verfolgen, Folgen und auch das (vermeintlich) logische Schlussfolgern sind zentrale Mo- tive. Im Kern steht die Obsession Dorms. Aber auch Natalie lässt Hollberg von einem Bekannten nachspionieren, verfolgt ihn selbst mehrfach und wird ihrer- seits Opfer eines Stalkers. Der erste Satz des Romans wird als Aufforderung zu einem Taxifahrer gesprochen: „Folgen Sie diesem Heißluftballon!“ (Stunde, 9), was aber nicht gelingt. Es war ohnehin eine Art Nonseq-Aktion.

Nonseq bedeutet, wie gesagt, dass aus einem Satz der nächste nicht logisch folgt. Es gibt aber Sätze oder ganze Geschichten, die selbst schwerwiegende Folgen in der Wirklichkeit haben. Damit sind nicht nur performative Sprech- akte gemeint. Christopher Hollberg ist ein Meister darin, mittels seiner Worte andere Menschen zu manipulieren. So ist es ihm gelungen, das seltsame Ar- rangement aufzubauen und den Beteiligten vollkommen normal erscheinen zu lassen. Hollberg spielt manchmal mit Dorm das böse Spiel, ihn wie einen

7 Vgl. dazu die Arbeiten von Karl Heinz Bohrer, erstmals in: K. H. B.: Ästhetik des Schreckens. Die pessimis- tische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München: Hanser 1978. Darin wird eine literaturgeschichtliche Traditionslinie aufgemacht, in die man Clemens J. Setz auch einordnen könnte.

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Roboter zu lenken. Zum Geburtstag schenkt er ihm einen Rennwagen mit Fernsteuerung.

Als Natalie einmal ein schwieriges Gespräch mit der Frau eines anderen Klienten führen muss und diese davon überzeugen will, ihren Mann nicht aus der Einrichtung zu nehmen, sucht sie nach einer Lösung, um das zu ver- hindern: „Ich kann sie umstimmen. Es gibt diesen einen Satz. Es gibt eine Silbenfolge, die dieses unerträgliche Weib seine Meinung ändern lässt. Sie existiert. Aber ich sehe sie nicht.“ (Stunde, 653)

Schließlich wendet sich Natalie an Hollberg und lässt sich von diesem coachen: „Aber, es ist so, dass Sie … manchmal das richtige Bild finden. Für die Menschen. Für eine Situation.“ (Stunde, 660) Und das gelingt dann auch.

In den vielen möglichen Wortkombinationen gibt es eine besondere, die wie ein Schlüssel, ein subliminaler Code das Gegenüber zu einer bestimmten Entscheidung zwingt. Natalies Exfreund Markus verweist in diesem Zu- sammenhang auf die „gängige Technik“ der „luminous details“, die man „in Workshops“ lernen könne (Stunde, 481). Interessanterweise greift Hollberg genau in diesem Zusammenhang auf Lautréamonts Formel zurück: „Bei unserem Telefongespräch, sagte Hollberg, da hab ich mir überlegt, dass du darin bestimmt sehr gut bist. In der Wahl der richtigen Kombination, meine ich. Fehlt nur noch der Operationstisch.“ (Stunde, 695)

Es liegt nahe, auch Dorms zwanghaften Vergleich zwischen Frau und Gi- tarre für ein solches Bild zu halten, eine Kombination, die die Frau Hollbergs damals in den Selbstmord trieb. Im Rahmen schwarzer Magie würde man von einem Zauberspruch oder einem Bann sprechen. Bezogen auf die Psychologie heißt das: Man muss einen Menschen nicht vollkommen verstehen, um ihn manipulieren zu können. Und in Bezug auf die Hermeneutik: Auch wenn man ein Buch nicht versteht, kann es einen verzaubern, im Guten wie im Bösen.

Aber Setz wäre nicht Setz, wenn er dem bösen Zauber kein Gegengift, kei- nen sprachmagischen Abwehrzauber mitgeben würde.8 Für Natalie ist es der Bruder Karl, der stets einen rettenden Satz parat hatte, das sogenannte „Kar- leske“ (vgl. Stunde, 654-656). Und die Mutter half ihr einst bei ihren Grand- Mal-Anfällen mit einem schwedischen Abzählreim, den Natalie wiederum

8 Auch die von Natalie nach dem Nonseq-Prinzip montierten Mitschnitte ihrer sexuellen Aktivitäten funk- tionieren für sie als „universell einsetzbares Schmerzmittel“ (Stunde, 37).

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an einen anderen Klienten weitergibt. Auch der Reim ergibt eigentlich gar keinen Sinn, doch dient auch das vermeintliche Nonseq zur Beruhigung, als Anker in der Wirklichkeit. Als sie am Schluss neben dem verletzten Frank liegt, denkt sie: „Was sollte sie ihm sagen? Sie hatte keine Ahnung. Aber das machte nichts, es würde schon kommen. Das Richtige. Das, was man jetzt sagen musste. Ich glaube an das Karleske im Menschen.“ (Stunde, 991) Man achte auf die 1. Person im letzten Satz, die erzählperspektivisch falsch ist.

Der Roman wird in der 3. Person erzählt, die Passage steht in erlebter Rede.

Wer also sagt den Satz „Ich glaube an das Karleske im Menschen“? Natalie jedenfalls nicht.

Über Karl heißt es: „Er lebte in der Sprache wie ein Fisch im Wasser“

(Stunde, 654), und über die karlesken Sätze: „Wer einmal einen karlesken Satz fand, vergaß ihn nie wieder. Den meisten Menschen begegnete in ihrem ganzen Leben nicht ein einziger.“ (Stunde, 657) So wird diese heilende Wir- kung der Sprache als ein utopisches Ziel angesprochen. Insofern die Literatur in der Lage ist, solche Sätze zu erzeugen, kann sie die unaufhebbare Grenze zwischen den Menschen momenthaft überwinden.

„Dann fliegt vor Einem geheimen Wort / Das ganze verkehrte Wesen fort“9 heißt es in Novalis’ Gedicht Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren aus dem Heinrich von Ofterdingen. In diesem Glauben an die weltverändernde, einheitsstiftende Kraft des Worts steht Clemens J. Setz in der Tradition ro- mantischer Ästhetik.10 Die Stunde zwischen Frau und Gitarre erzählt vom unausweichlichen, tragischen Missverstehen, von der manipulativen Macht der Sprache und zugleich von ihrer lebensrettenden, therapeutischen Kraft.

Clemens J. Setz schreibt böse Bücher, die das Böse zugleich bannen.

9 Novalis: Paralipomena zum „Heinrich von Ofterdingen“. In: N.: Schriften. Die Werke Friedrich von Har- denbergs. Bd. 1: Das dichterische Werk. Hrsg. von Paul Kluckhorn und Richard Samuel. 2., nach den Hand- schriften erg., erw. und verb. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer 1960, S. 335-348, hier S. 344.

10 Vgl. zum Überblick: Stefan Matuschek: Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der Romantik. Mün- chen: Beck 2021, S. 68-70.

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Verwendete Siglen:

Bienen = Clemens J. Setz: Die Bienen und das Unsichtbare. Berlin: Suhrkamp 2020.

Stunde = Clemens J. Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Roman. Berlin:

Suhrkamp 2015.

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