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Archiv "Leitbilder und Vorbilder: Wunsch nach Orientierung" (27.01.2006)

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ie gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen führen zu immer neuen Herausfor- derungen und verursachen mitunter eine große Verunsicherung. Die Reformen im Gesundheitswesen und auf dem Arbeits- markt, die Erweiterung der Europäi- schen Union und die Globalisierung sind wichtige Beispiele. Die entstehende Überforderung weckt den Wunsch nach Orientierung und Sicherheit. Werte sol- len das Vakuum füllen, das durch kom- plexe Entwicklungen entstanden ist.

Auch die Medizin unterliegt einem Wandel: Die Rahmenbedingungen für die ärztliche Tätigkeit haben sich stark verändert. Gleiches gilt für den gesell- schaftlichen Status von Ärztinnen und Ärzten und ihr Rollenverständnis.

Nicht nur ein permanenter medizinisch- fachlicher Lernprozess, sondern auch eine ständige Selbstreflexion ist not- wendig.Auch innerhalb der Ärzteschaft gibt es mittlerweile eine Diskussion über Leitbilder und Vorbilder.

Leit- und Vorbilder dienen der Orien- tierung. Der Begriff „Vorbild“ ist dabei immer an einen Menschen gebunden, der Impulse zur Nachahmung liefert.

Das Lernen am Beispiel gehört zu den primären und zentralen Lernerfahrun- gen. Entscheidend dabei ist, dass eine Vorbildfunktion nur vorgelebt werden kann und sich nicht theoretisch vermit- teln lässt. Albert Schweitzer ist für viele Ärzte ein großes Vorbild – als Mensch und als Mediziner. Für den Bereich des ärztlichen Handelns hat er zeitlos gülti- ge Sätze formuliert, die vor dem Hinter- grund seines Lebensweges eine beson- dere Prägnanz gewinnen: „Das denk- notwendige Prinzip des Sittlichen be- deutet aber nicht nur Ordnung und Ver- tiefung der geltenden Anschauung von Gut und Böse, sondern auch ihre Erwei- terung. Wahrhaft ethisch ist der Mensch (und der Arzt) nur, wenn er der Nöti- gung gehorcht, allem Leben, dem er bei- stehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgendetwas Lebendigem Schaden zu

tun. Er fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme verdient, und auch nicht, ob und inwie- weit es noch empfindungsfähig ist. Das Leben als solches ist ihm heilig.“ (5)

„Leitbilder“ hingegen sind Kodifizie- rungen einer Interessengruppe, die über Strukturen, Ziele und Mittel Auskunft geben. Leitbilder haben eine orientie- rende, kommunikative Funktion inner- halb der Gruppe und gegenüber Außen- stehenden. Ein Leitbild bezieht sich auf eine Grundhaltung und ist eine Art Leitlinie: Sie kann ein Geländer sein, erspart aber nicht das eigene Gehen.

Die Gefahr von Leitbildern liegt dar- in, dass sie ideologisch überdehnt wer- den können. Das „richtige“ Bild davon, wie ein „guter“ Arzt sein soll, wird bei- spielsweise zum Maßstab erhoben und somit normativ für alle folgenden Leit- bild-Debatten. Wer sich aber einem Bild verpflichtet, wird zugleich sein Ge- gen- oder Feindbild identifizieren und damit schnell zum Ideologen. Das in der Bibel verankerte Bilderverbot beweist damit seinen tieferen Sinn (Exodus 20,4), denn es besteht die Gefahr, den Andersartigen nach der eigenen Sicht- weise korrigieren zu wollen (2). So ge- sehen ist die Orientierung an Bildern sehr problematisch, das Lernen von Vorbildern jedoch gleichzeitig wichtig und notwendig.

Primum nihil nocere

Als Kernstück des ärztlichen Selbstver- ständnisses und der medizinischen Ethik gilt der hippokratische Eid. Das Anliegen dabei ist, das ärztliche Han- deln auf eine rationale Grundlage zu stellen. Dem Patienten wird eine gewis- se Rechtssicherheit in dem Vertragsver- hältnis mit dem Arzt vermittelt. Dar- über hinaus nennt der Eid den Grund- satz, primär das Wohl des Kranken im Blick zu haben, verbunden mit der Ver- pflichtung, die Situation des Patienten nicht auszunutzen: „Ärztliche Verord- nungen werde ich zum Nutzen der Kranken anwenden; vor Schaden und Unrecht werde ich sie bewahren.“ Das T H E M E N D E R Z E I T

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A168 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 4⏐⏐27. Januar 2006

Leitbilder und Vorbilder

Wunsch nach Orientierung

Komplexe Sachverhalte lassen den Ruf nach Entlastung durch Leitbilder und Leitlinien laut werden. Aber nicht das gesamte ärztliche Handeln ist standardisierbar.

Eckhard Nagel, Arne Manzeschke

Was macht einen „guten“ Arzt aus? –

Albert Schweitzer ist für viele Ärzte ein Vorbild.

Foto:dpa

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Grundprinzip „primum nihil nocere“

hat hier seinen Ursprung und findet sich in vergleichbarer Form im Genfer Ärz- te-Gelöbnis von 1948: „Die Gesundheit des Patienten wird meine erste Sorge sein.“ Die Forderung, im Interesse und zum Wohle des Kranken zu handeln, ist bis heute ein Leitbild und eine Zielvor- stellung ärztlicher Berufsausübung. Die- ses Leitbild hat zahlreiche geschichtliche Wurzeln, von denen die hippokratische Tradition nur eine darstellt. Eine weitere wichtige Strömung im Prinzip des Wohl- wollens hat ihren Ursprung in der Hin- wendung zum leidenden Menschen.

Dieser Gedanke findet sich insbesonde- re in der christlichen Tradition wieder.

Der Kranke ist kein Vertragspartner, den es sachgemäß und höflich zu be- handeln gilt, sondern er wird als leiden- der Mitmensch gesehen. Sich dem Pati- enten zuzuwenden ist für Christen ein Gebot Gottes und die Einladung zum Leben in der Nachfolge Jesu.

Die Debatte über Leitbilder ist facet- tenreich und hängt direkt mit dem ärzt- lichen Rollenverständnis zusammen.

Arztsein beinhaltet – wie jeder Beruf – mehrere Rollen: die Professionsrolle des Arztes beziehungsweise der Ärztin;

das, was man auch als ärztliches Ethos beschreiben könnte und was im Rah- men der Berufsbiografie als Auffassung von der eigenen Praxis und als innere Haltung gewachsen ist. Zweitens die Organisationsrolle, die an den Arzt be- ziehungsweise an die Ärztin noch ein- mal spezifische, von der Organisation vorgegebene Anforderungen stellt (zum Beispiel als Klinikdirektor, Medi- zincontroller, als ehrenamtlich Tätiger in einer Fachgesellschaft oder als Funk- tionär einer Standesorganisation). Drit- tens ist ein Arzt immer auch Privat- mensch, lebt alleine oder in einer Bezie- hung oder Familie, raucht, trinkt (oder auch nicht), hat Hobbys, Eigenarten, persönliche Stärken und Grenzen. Es gibt viele Eigenschaften, die diese Pri- vatrolle ausmachen und nicht ohne Ein- fluss auf die individuelle Ausgestaltung der anderen Rollen sind. Wichtig ist, al- le Rollen möglichst authentisch in das ärztliche Handeln zu integrieren. Ei- nerseits ist eine Abspaltung von Aspek- ten zu vermeiden, andererseits ist eine klare Trennung zwischen den verschie- denen Sphären nötig. Bei diesem Pro-

zess handelt es sich um ein lebenslanges Exerzitium, bei dem Leitbilder und Vorbilder hilfreich sind.

Die Rolle des Arztes in der Bezie- hung zum Patienten spielt sich aber nicht nur auf der Ebene eines individuellen Verhältnisses ab, in dem es um Therapie und Heilung geht. Die Arzt-Patienten- Beziehung wird zunehmend durch eine gesellschaftliche Einbettung beeinflusst.

Die Stärkung der Patientenautonomie in einem Klima der Demokratisierung von Machtverhältnissen und damit ver- bunden die Forderung nach einem Wis- senstransfer vom Experten zum Laien ist dabei nur ein Gesichtspunkt (3). Das Arzt-Patienten-Verhältnis wird in der Wissensgesellschaft immer prekärer:

„Unter anderem wird die für viele so- ziale Verhältnisse, etwa das Ingenieurs-, Gesundheits-, Erziehungs- und Bera- tungswesen, nicht unwichtige Differenz zwischen Laien und Experten nicht ein- geebnet, wie man vielfach vermutet, son- dern auf eine neue Ebene gehoben, auf der es schwerer fällt, etwa technische, ökonomische und juristische Fragen aus- einander zu halten und unabhängig von- einander zu bearbeiten.“ (1)

Grenzen von Standards

Die Anforderungen an den Experten, somit auch an den Arzt, werden immer komplexer, durch die Differenzierung und Spezialisierung im eigenen Fachge- biet, aber auch durch die zunehmende interdisziplinäre Bearbeitung von Pro- blemen. Man kann sich als medizini- scher Experte nicht mehr in seine fach- lichen Grenzen zurückziehen, sondern muss auch andere Aspekte, zum Bei- spiel ökonomische und ethische, in Überlegungen einbeziehen. Wegen der permanent steigenden Kompetenzan- forderungen sind Entlastungen not- wendig, etwa in Form von Routinen, Standards, Leitlinien und Codes of Conduct. Solche hilfreichen Werkzeuge können für die meisten Aufgaben Ent- scheidungen strukturieren und verein- heitlichen. Ihr unmittelbarer Gewinn liegt darin, dass sie dem Einzelnen hel- fen, die Fülle von Informationen auf ein überschaubares Maß zu reduzieren.

Zugleich darf der Arzt jedoch nie die Individualität des Falles vergessen. Mag

man vieles verallgemeinern können, das Spezifische darf nicht übersehen werden.

Die Hinwendung zum einzelnen Patien- ten steht in der Verantwortung des Arz- tes.Wie eine Betreuung im konkreten Fall aussieht, ergibt sich in der individuellen und persönlichen Situation. Gute Vorbil- der können dabei helfen, die Hinwen- dung zum Patienten so professionell und empathisch wie möglich zu gestalten.

Leitbilder und Leitlinien stellen eine An- leitung zum Handeln dar und bewirken eine Entlastung. Leitlinien sind dabei sehr viel stärker auf einzelne Handlungs- schritte ausgerichtet als ein Leitbild.

Doch wer die ärztliche Tätigkeit komplett standardisieren will, verkennt das Spezifi- sche im Arzt-Patienten-Verhältnis.

Leitlinien und Leitbilder sind wichtig, aber nicht alles: Rudolf Pichlmayr hat kurz vor seinem Tod das Ethos des Arz- tes im Kontext seiner jeweiligen Gesell- schaft betrachtet und darauf hingewie- sen, dass gute Leitlinien nicht ausschlie- ßen, dass Menschen barbarisch handeln und sich zugleich im Einklang mit ihren Kodizes wissen (4). Trotz der Reichs- gesundheitsrichtlinie von 1931 haben Ärzte während der Zeit des National- sozialismus unvorstellbare Gräueltaten in der Medizin begangen. Die Opfer wurden kurzerhand von den kodifizier- ten Standards ausgenommen. Leitlinien sind zwar wichtig, aber sie sind nur in dem Maß hilfreich, wie die Gesell- schaft über ihre angemessene Ausle- gung wacht. Das verlangt von jedem Einzelnen, die gegebenen Leitlinien oder Leitbilder professionell zu füllen.

T H E M E N D E R Z E I T

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A170 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 4⏐⏐27. Januar 2006

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2006; 103(3): A 168–170

Anschrift der Verfasser:

Prof. Dr. med. Dr. phil. Eckhard Nagel Geschäftsführender Direktor am Institut

für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth

Leiter des Chirurgischen Zentrums am Klinikum Augsburg

Prieserstraße 2, 95444 Bayreuth Dr. theol. Arne Manzeschke Theologe und Pfarrer

Leiter des Bereichs Ethik und Anthropologie am Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften Prieserstraße 2, 95444 Bayreuth

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit0406 abrufbar ist.

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T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 4⏐⏐27. Januar 2006 AA1

Literatur

1. Baecker D: Niklas Luhmann in der Gesellschaft der Computer. Merkur, 2001; 627, 55: 597–609.

2. Hentig von H: Bildung. Ein Essay. Darmstadt: Wissen- schaftliche Buchgesellschaft 1997.

3. Manzeschke A: Das Menschenbild in der Wissenschaft.

In: Nuissl E (Hrsg.): Wenn Wissenschaft mehr als Wis- sen schafft. Ein Kongress fragt nach „Bildung durch Wissenschaft“. Bonn: Lemmens 2002: 82–89.

4. Pichlmayr R: Ethik und Medizin 1947 bis 1997. Auftrag für die Zukunft. Dt Ges f Chirurgie – Mitteilungen 1998; 2: 99–103.

5. Schweitzer A: Kulturphilosophie. Kultur und Ethik, Band 2. München: C. H. Beck 1923: 331.

Literaturverzeichnis Heft 4/2006, zu:

Leitbilder und Vorbilder

Wunsch nach Orientierung

Komplexe Sachverhalte lassen den Ruf nach Entlastung durch Leitbilder und Leitlinien laut werden. Aber nicht das gesamte ärztliche Handeln ist standardisierbar.

Arne Manzeschke, Eckhard Nagel

Referenzen

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