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Archiv "Praktisches Jahr in Namibia: Wenn Kinder an banalen Dingen sterben" (12.09.2003)

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S T A T U S

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 3712. September 2003 AA2399

N

achdem ich Namibia bei meiner letzten Famulatur ein wenig kennen gelernt hatte, entschied ich mich, auch mein Praktisches Jahr (PJ) in Namibia zu verbringen. Das wunderschöne Land, die viel- fältigen Menschen und ihre Lebensart hatten mich in ihren Bann gezogen – und ich wollte mehr davon. Damals hatte ich in einer Privatpraxis famuliert, für das PJ sollte es ein staatli- ches Krankenhaus werden.

Die Medizin teilt sich in Na- mibia in zwei große Sektoren – den staatlichen und den priva- ten. Die diagnostischen und therapeutischen Möglichkei- ten im staatlichen Sektor sind auf das Notwendigste be- grenzt. Im privaten Bereich ist alles möglich, was es in Europa auch gibt. Dies kann sich aber nur leisten, wer eine gute Krankenversicherung hat.

Das Windhoek State Hospi- tal ist das einzige Krankenhaus der Tertiärversorgung in Nami- bia. Dort sind fast alle Fachge- biete vertreten, und es werden Patienten aus dem ganzen Land für weitergehende Dia- gnostik und Therapie überwie- sen,wenn die Ärzte vor Ort mit ihren Möglichkeiten am Ende sind. Es gibt ein CT-Gerät, bes- ser ausgerüstete Operations- säle, Ergo- und Sprachthera- peuten und eine strahlenthera- peutische Abteilung. Mehr- mals im Jahr kommen Herz- und Thorax-, Neuro- und pla- stische Chirurgen aus Südafri- ka,um Patienten zu behandeln.

Die Abteilung für Kinderheil- kunde besteht aus sechs Stationen.

Eine Station für unter Zweijähri- ge, eine für die Zwei- bis Zwölf- jährigen mit je et- wa 30 Betten, zwei Frühgeborenen-

stationen und eine Gastrounit mit je etwa 15 Betten. Zudem gibt es noch eine interdiszi- plinäre Station.

Der Tag fängt um 7.30 Uhr mit einer Frühbesprechung und Fortbildung an. Es werden die Aufnahmen der letzten Nacht vorgestellt und bespro- chen. Im Anschluss findet im-

mer eine Fortbildung statt. Es werden entweder aktuelle Er- kenntnisse aus medizinischen Fachzeitschriften vorgestellt, oder es wird ein bestimmtes Krankheitsbild durchgespro- chen. Zu jeder Zeit kann die Frühbesprechung in eine Prü- fung übergehen.

Einmal die Wo- che kommen die Radiologen in die Bespre- chung, und es werden beson- ders aussage- kräftige Rönt- genbilder vor- gestellt. Die At- mosphäre ist locker, sprachli- che Probleme werden mit viel Humor und auch Verständnis genommen.Englisch ist in dem internationalen Team für fast alle eine Fremdsprache. Die meisten Ärzte in Namibia sind Ausländer aus anderen afrika- nischen Ländern, Kuba und Osteuropa. So lerne ich jeden

Morgen nicht nur viel Medizin, sondern auch etwas über ande- re Länder und Sitten.

Spätestens um 9 Uhr fängt die Visite an. Das Team einer Station besteht aus einem In- tern (entspricht in etwa einem AiP), einem Medical Officer (entspricht einem Assistenz- arzt) und, wenn die beiden Glück haben, auch noch einem Studenten. Die Visite teilt man sich. Nicht jeder Arzt sieht je- des Kind, aber jedes Kind wird von einem der Ärzte gesehen.

Problematische Fälle werden diskutiert. Ein- oder zweimal in der Woche kommt der Con- sultant (Oberarzt) zur Visite.

Im Anschluss an die Visite werden Procedures (Zugänge, Lumbalpunktionen und Ähn- liches) gemacht, Überweisun- gen und Entlassungsberichte geschrieben.

Jeder Patient hat einen Pass, in dem sämtliche Kranken- hausbesuche, sei es ambulant oder stationär, eingetragen

werden. So hat man in der Re- gel eine komplette Kranken- geschichte vor sich – auch, wenn man den Patienten zum ersten Mal sieht.

Nach der Stationsarbeit ruft das paediatric outpatient de- partment(POPD): eine Mi- schung aus Ambulanz und Kinderarztpraxis. Ziel ist es, die immer volle Bank mit war- tenden Patienten bis 17 Uhr leer zu bekommen, denn dann beginnt der Bereitschafts- dienst. Er wird von den Interns übernommen, unterstützt von einem Medical Officer.

Ich werde direkt am ersten Tag ins kalte Wasser geworfen.

Die Ärzte sagen: „Hey, du bist in deinem letzten Jahr, nimm dir eine Akte und mach Visite.

Wenn du Fragen hast, frag.“

Ich befürchte, die armen Kin- der alle umzubringen. Aber es funktioniert, und das jeden Tag besser und schneller. Ich wach- se täglich mehr ins Team, und die Erwartungen, die an mich gestellt werden, steigen. An diese Art von Verantwortung und Selbstständigkeit muss ich mich zunächst noch gewöh- nen. Nicht, dass der Eindruck entsteht, Studenten könnten in Namibia aus Ermangelung kompetenter Ärzte schalten und walten, wie sie wollen: Die angehenden Ärzte werden ständig beobachtet, gefordert und geprüft, um sicherzuge- hen, dass das Fachwissen und die Selbsteinschätzung es ver- antwortbar machen, sie selbst- ständig arbeiten zu lassen.

Neben den typischen Kin- derkrankheiten gehören HIV/

Aids, Marasmus, Kwashiokor und Tuberkulose zu den häufigsten Krankheitsbildern.

Über die hohe Prävalenz von HIV/Aids von annähernd 30 Prozent in der Bevölkerung war ich mir vorher im Klaren, aber von den Unterernäh- rungsproblemen hatte ich bei meinen früheren Aufenthalten nichts bemerkt. Dementspre- chend geschockt bin ich, dass jeden Tag mehrere Kinder we- gen Unterernährung aufge- nommen werden müssen. Ich muss auch akzeptieren, dass die Kinder hier an solch „ba- nalen“ Dingen wie Pneumonie oder Gastroenteritis sterben.

Praktisches Jahr in Namibia

Wenn Kinder an banalen Dingen

sterben

Wer im Windhoek State Hospital praktiziert hat, betrachtet die Medizin mit anderen Augen.

Die Ärzte sagen:

„Hey, du bist in deinem letzten Jahr,

nimm dir eine Akte und mach Visite.

Wenn du Fragen hast, frag.“

Foto:Kerstin Seggewiß

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S T A T U S

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A2400 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 3712. September 2003

Während meiner Zeit im Windhoek State Hospital gibt es einen größeren Masernaus- bruch in der Stadt. Es ist vom epidemiologischen Stand- punkt aus interessant zu sehen, wie die Kinder zunächst nur aus einem Stadtteil kommen.

Nach und nach werden es aber immer mehr, und es ist schlimm zu erkennen, dass die meisten Kinder zwar gegen Masern geimpft sind, trotzdem aber keine Immunität aufbau- en, weil sie HIV-positiv sind.

Besonders beeindruckend ist die Behandlung der unter- ernährten Kinder. Mit ihnen zu arbeiten ist extrem. Wenn die Kinder durchkommen, kann man förmlich sehen, wie sie jeden Tag ein Stück weiter ins Leben zurückkehren. Als großen Meilenstein auf dem Weg dorthin hat einer unserer Consultants den „Cookie- Test“ definiert. Man bietet dem Kind immer wieder einen Keks an. Von dem Tag an, an dem das Kind den Keks an- nimmt, ist es auf dem Weg der Besserung. Das Gefühl, wenn einem morgens zum Dienstan- tritt eines dieser bei Aufnahme mehr tot als lebendigen Kin- der das erste Mal lachend und schreiend auf dem Flur entge- gengelaufen kommt, ist unbe- schreiblich. Aber da ist auch die andere Seite der Medaille.

Viele Kinder schaffen es nicht.

Und: Für jedes Kind, das es schafft, kommt der Tag, an dem es entlassen wird und der Arzt es in die Umgebung zurück- schicken muss, in der es fast verhungert wäre.

Ich lerne auch die schweren Entscheidungen über Leben und Tod kennen, die sich dar- aus ergeben, dass die Ressour- cen knapp sind und nicht jeder eine maximale Therapie be- kommen kann: Einmal im Mo- nat kommt ein Herz- und Thoraxchirurg aus Kapstadt.

Er schaut sich die Kinder mit Herzvitien an, um zu entschei- den, ob sie für eine Operation infrage kommen oder nicht. In Namibia selbst können sie nicht operiert werden. Sie wer- den dafür nach Kapstadt ge- bracht, und dementsprechend streng sind die Kriterien, um

für eine Operation infrage zu kommen. Auf meiner Station liegt ein zehnjähriger Junge mit einem kombinierten Klap- penvitium und großem Links- Rechts-Shunt. Er hätte die Operation dringend nötig ge- habt, aber es wird entschieden, dass seine Prognose mittler- weile zu schlecht ist – selbst mit Operation. Die 100 000 Nami- bia-Dollar (rund 10 000 Euro)

seien in einem jüngeren Kind besser investiert, da es die größere Wahrscheinlichkeit auf eine normale Lebenser- wartung hat, und so kommt für ihn die Operation nicht infra- ge. Er wird mit Digitalis und Lasix im Gepäck ohne Follow- up-Termin nach Hause ge- schickt.

Eine andere Sache, an die man sich gewöhnen muss, ist die Handhabung von HIV/

Aids. Ich höre bereits in den ersten Tagen auf, mir darüber Gedanken zu machen, was möglich wäre, wenn diese Kin- der in Europa behandelt wür-

den. Ich kann es nicht ändern, und die Wut über diese Unge- rechtigkeit macht mich ver- rückt. Ich muss mich damit trö- sten, dass hier das getan wird, was möglich ist. Was an Thera- pie in anderen Teilen der Welt machbar wäre, verdränge ich.

Ungefähr 75 Prozent der Kinder, die im Krankenhaus behandelt werden, sei es sta- tionär oder im POPD, sind

Aids-krank und bekommen keine Therapie. Die Infektio- nen werden behandelt. Die Kinder bekommen Vitamine, Eisen, Folsäure und eine Bac- trim-Prophylaxe für PCP. So sieht die Aids-Therapie aus.

Keines der Kinder wird wie- derbelebt, sollte es nötig wer- den. Man gewöhnt sich da- ran, dass morgens Kinder auf der Station fehlen, weil sie während der Nacht gestorben sind.

Sehr eindrucksvoll ist für mich die Frühgeborenenstati- on. Es stimmt mich nachdenk- lich, zu sehen, was für gute Er-

gebnisse mit dem doch relativ spärlichen technischen Equip- ment erzielt werden können.

Die Ärzte bekommen auch sehr kleine Frühchen gut durch, obwohl jeder deutsche Neonatologe die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde, wenn er sehen würde, was den Ärzten in Namibia zur Verfügung steht oder, besser gesagt, nicht. Natürlich gibt es Inkubatoren und auch Beatmungsgerä- te, aber dann hört es auch schon auf. Man findet nicht ein klei- nes bisschen Mensch in einem riesigen Gerätepark. Es wird früh mit Kangaroo- care begonnen. Die Mütter sind von An- fang an ein essenziel- ler Bestandteil der Versorgung ihrer Kinder und halten fast den ganzen Tag die Stellung, auch wenn es Wochen dau- ert. Die Schwestern im Windhoek State Hospital kümmern sich fast ausschließlich um das Medizinische.

Die Medizin in Afrika hat mich sehr beeindruckt und ge- prägt. Wie viel von dem, was wir in Deutschland meinen zu brauchen, ist wirklich notwen- dig? Ich habe gelernt, Patien- ten gründlich körperlich zu un- tersuchen und eine vernünfti- ge Anamnese zu erheben. Ich achte jetzt auch auf die kleinen Dinge und Zeichen, von denen mir in der Uni erzählt wurde, dass sie im Zeitalter von CT und MRT nicht mehr von Be- deutung sind. Ich habe gelernt, mir Gedanken darüber zu machen welche weitergehen- den Untersuchungen ich auf- grund der Anamnese und Un- tersuchung brauche, um die endgültige Diagnose zu stel- len, und welche Informationen ich mir verspreche, die einen Test rechtfertigen. Ich habe ge- lernt zu improvisieren und knappe Ressourcen effizient zu nutzen – und vor allem zu- erst mein Hirn zu benutzen und zu überlegen, was ist wahr- scheinlich. Kerstin Seggewiß Auch wenn es den Ärzten im Windhoek State Hospital gelingt, ein Kind vor dem

Hungertod zu bewahren: Es kommt der Tag, an dem es „nach Hause“ geschickt werden muss – zum Beispiel nach Katutura, dem Elendsviertel der Stadt.

Foto:caro/Trappe

Doc + Doctrix haben sich im letz- ten Heft nach Grönland verab- schiedet – und damit auch von den

Lesern des Deutschen Ärzteblattes. Die Comic-Serie ist, wie von vorn- herein geplant, damit nach gut zwei Jahren ausgelaufen. Sie hat vie- le Leserinnen und Leser erfreut, viele aber auch verstört und geär- gert. In anderer Form wird die Redaktion demnächst die Comictradi-

tion fortsetzen.

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