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Archiv "Nobelpreis für Physiologie und Medizin: Inneres „GPS-System“ entschlüsselt" (10.10.2014)

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10. Oktober 2014

NOBELPREIS FÜR PHYSIOLOGIE UND MEDIZIN

Inneres „GPS-System“ entschlüsselt

Die räumliche Orientierung und Erinnerung erfordert ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Formen von Neuronen: Der Nobelpreis ehrt drei Neurobiologen.

W

ie kommen wir von A nach B? Wie orientieren wir uns in einer komplexen räumlichen Umge- bung – zum Beispiel in den zahlrei- chen Gängen und Etagen eines Kran- kenhauses? Und warum können wir bei einem erneuten Besuch zielgenau einen Untersuchungsraum oder ein Patientenzimmer ansteuern?

Mit diesen für den Alltag des Menschen fundamentalen Fragen haben sich drei Neurowissenschaft- ler zeit ihres Lebens befasst und im Gehirn spezielle Nervenzellen ent- deckt, die für die räumliche Orien- tierung und ihre Zusammenarbeit zuständig sind. Dafür wurden sie mit dem Nobelpreis für Physiologie und Medizin ausgezeichnet.

Es sind Prof. John O’Keefe, der bis zu seiner Pensionierung am Uni- versity College of London gearbeitet hat, und das norwegische Professo- ren-Ehepaar May-Britt und Edvard

Moser, beide an der Universität Trondheim. „Die drei Preisträger ermöglichen uns eine Vorstellung davon, wie der Mensch seine aktu- elle Position im Raum einordnet und sich zu einem anvisierten Ziel hin orientiert“, begründete das No- belpreiskommitee seine Entschei- dung am 6. Oktober. Die Aus - zeichnung ist insgesamt mit circa 870 000 Euro dotiert.

Elektrische Aktivitäten

O’Keefe hatte in den 70er Jahren bei Ratten den Hippocampus als wichtiges Zentrum der Informati- onsverarbeitung für räumliche Ori- entierung und Erinnerung identifi- ziert. Zu bestimmten Orten, an de- nen sich die Ratten befanden, ge- hörten die elektrischen Aktivitäten bestimmter Gruppen von Neuro- nen, die er Platz- oder Ortszellen nannte: andere Orte, andere Neuro-

ne. Die Neurone feuerten, während die Tiere frei herumliefen, jeweils nur an einer einzigen Stelle der ex- perimentellen Arena, ihrem soge- nannten Ortsfeld. Fügte man die Ortsfelder der einzelnen Zellen zu- sammen, bedeckten sie den gesam- ten Boden des Experimentierfeldes.

Im Hippocampus wird also zu je- der Zeit in irgendeiner Ortszelle ein

„Hier“-Signal gesendet. Sind die Ortsfelder der einzelnen Zellen be- kannt, lässt sich die Route al- lein mit diesen Signalen rekonstru- ieren. „Diese Forschungserkennt- nisse sind eine wesentliche biologi- sche Grundlage dafür, dass Men- schen eine innere Landkarte mit Zielführung entwickeln können – vergleichbar einem „global positio- ning system“ (GPS), wie es das No- belpreiskomitee formulierte.

Doch ein inneres Navigations- system erfordert höhere kognitive Hirnverarbeitungsfunktionen: Mo- dellrechnungen ließen vermuten, dass äußere und innere Raumkon- zepte miteinander verbunden wer- den. Die Rauminformationen aus dem Hippocampus werden zumin- dest teilweise auch in einer dem Hippocampus vorgeschalteten Re- gion des Schläfenlappens verarbei- tet, dem entorhinalen Cortex.

Mehr als drei Jahrzehnte nach den wegweisenden Entdeckungen von O’Keefe haben May-Britt und Ed- vard Moser die sogenannten Ko - ordinatenzellen, auch Rasterzellen (grid cells) genannt, entdeckt. Sie ar- beiten abhängig von der Bewegung eines Individuums durch seine Um- gebung (Science 2004; 305: 1258–63;

Science 2006; 312: 758–62). Die Rasterzellen behielten den Experi- menten der Mosers zufolge ihr Ent- ladungsmuster auch dann bei, wenn die Tiere sich in völliger Dunkelheit im Versuchsraum bewegten. Da das Rastermuster auch unabhängig von äußeren Sinnesreizen immer wieder Computergrafik

des Kopfes. Der hell markierte Be- reich zeigt den Hip- pocampus, einge- bunden in das Ler- nen und die Bildung

von Erinnerungen.

Foto: SPL/Agentur Focus

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10. Oktober 2014 in gleicher Form in Erscheinung trat,

wurde vermutet, es könnte sich um ein im Gehirn fest verankertes Koor- dinatensystem handeln. Das Koordi- natennetz, das durch diese Zellen ge- bildet wird, setzt sich aus gleichseiti- gen Dreiecken zusammen.

Die Entdeckung der Rasterzellen mit ihren einzigartigen Eigenschaf- ten wurde in der Zeitschrift „Sci- ence“ als wichtigste neurobiologi- sche Entdeckung der letzten Jahr- zehnte bezeichnet.

Schon der Psychologe Edward Tolman hatte Mitte des 20. Jahrhun- derts die These aufgestellt, im Ge- hirn von Säugetieren gebe es vorge- formte neuronale Netzwerke, die mentale Planungsprozesse und vor allem die Navigation im Raum un- terstützten. Dafür prägte er den Be- griff „kognitive Karten“.

May-Britt und Edvard Moser identifizierten weitere Zelltypen des entorhinalen Cortex, die jeweils für das Erkennen der Richtung der Be- wegung oder das Erkennen der phy- sikalischen Begrenzung der Umge- bung spezialisiert sind. In Zusam- menarbeit mit anderen Zellen des entorhinalen Cortex, die die Rich- tung des Kopfes und die Grenzen des Raums erkennen, bilden sie Schaltkreise mit den Ortszellen des Hippocampus (Science 2005; 436:

801–5). Neuere Arbeiten befassen sich mit der Frage, wie Raster- mit Ortszellen interagieren.

Entorhinaler Cortex

Mit moderner Bildgebung oder bei neurochirurgischen Eingriffen an Patienten wurde nachgewiesen, dass Orts- und Rasterzellen auch beim Menschen existieren. Bei Alzhei- mer-Patienten sind Hippocampus und entorhinaler Cortex schon in frühen Stadien geschädigt, so dass sie die Orientierung verlieren. Die ersten Nervenzellschädigungen wur- den bei Alzheimer-Patienten im la- teralen entorhinalen Cortex gefun- den, von dort breiten sie sich in jene Regionen aus, die in die räumliche Orientierung involviert sind. Diese Fähigkeit ist bei Alzheimer-Kran- ken typischerweise reduziert.

Für Prof. Dr. med. Hannah Mo- nyer, Leiterin der Abteilung Klini- sche Neurobiologie des Universi-

tätsklinikums Heidelberg, gibt es gute Evidenz dafür, dass die Raster- zellen im Gehirn von Alzheimer- Patienten in ihrer Funktion gestört sind.

Nach Einschätzung von Monyer haben die drei Wissenschaftler mit ihren Arbeiten die Grundlagen ge- legt, das räumliche Gedächtnis zu erforschen. „Sie haben gezeigt, wie man räumliches Gedächtnis erler- nen kann. Was jetzt noch fehlt, sind Informationen darüber, wie das Er- lernte dann auch im Gehirn gespei- chert wird.“ Dafür seien Verhal- tensexperimente erforderlich.

Suche nach Dirigentenzellen Monyer kennt die Nobellaureaten von vielen Kongressen und ei- nem gemeinsamen EU-Projekt, dem 15 Arbeitsgruppen angeschlossen sind. Sie gehen der Frage nach, wie Tausende von Gehirnzellen koordi- niert werden, um gleichzeitig agie- ren zu können. Sie suchen nach sogenannten Dirigentenzellen, die den nachgeschalteten Zellen ihren Einsatz geben. Teilmerkmale eines Wahrnehmungsobjektes könnten zu einem sinnvollen Ganzen „gebun- den“ werden, indem Nervenzellen, die diese Merkmale erkennen, ihre Aktivität synchronisieren, so Mo- nyer. Temporale Aspekte neurona- ler Aktivität spielten eine wichtige Rolle nicht nur bei dem Entstehen von Repräsentationen der Außen- welt, sondern auch bei anderen ko- gnitiven Leistungen, wie zum Bei- spiel Gedächtnis, Lernen und Auf- merksamkeit. „Zudem wollen wir prüfen, was im Detail geschieht, wenn man die Dirigentenzellen teil- weise oder komplett ausschaltet“, ergänzte Monyer im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt.

Die diesjährigen Medizin-Nobel- preisträger hatten überhaupt nicht mit der Auszeichnung gerechnet, wird der Sekretär des Komitees Gö- ran K. Hansson zitiert. „Ich bin schockiert, aber das ist großartig“, habe May-Britt Moser bei seinem Telefonanruf gesagt, berichtete Hansson. Auch O’Keefe sei voll- kommen überrascht gewesen – und

„sehr, sehr glücklich“.

Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze Dr. med. Vera Zylka-Menhorn John O’Keefe wurde

1939 in New York City geboren. Er hat sowohl die britische als auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft.

Nach der Promotion in Kanada ging er ans University College Lon- don. 1987 wurde er dort zum Professor für kognitive Hirnforschung ernannt. O’Keefe ist Direktor des Sainsbury Wellcome Centre for Neural Circuits. 2008 erhielt er unter an- derem den Gruber-Preis für Neurowissenschaften und den European Neuroscience Journal Award, 2013 wurde er mit dem Louisa-Gross-Horwitz-Preis ausgezeichnet. O’Keefe entwickelte ein theoretisches Modell der Gedächtnisfunktion des Hippocampus, das er experimentell an Nagetieren und Menschen überprüfte. 1978 erschien ein einflussreiches Buch dazu von ihm und Lynn Nadel. Er befasste sich auch mit den bei der Alzheimer-Krankheit typischen Defizi- ten im Hippocampus.

Die Norwegerin May-Britt Moser wurde 1963 in Fosnavåg geboren. Gemeinsam mit ihrem späteren Mann Edvard Moser studierte sie an der Universi- tät Oslo Medizin. Über die Stationen University of Edinburgh und University College London kam sie 1996 zurück nach Norwegen an die University of Science

Edvard Moser wurde 1962 in Ålesund geboren.

Gemeinsam mit seiner Frau absolvierte er mehrere Gastaufenthalte im Labor von John O’Keefe am University College London. 1996 wechselte das Paar nach Trondheim. 1998 wurde Moser Professor an der Universität in Trondheim. Derzeit leitet er das Kavli Institute for Systems Neuroscience in Trondheim.

Das Forscher-Ehepaar ist fasziniert von den Vor- gängen des Lebens. „Es ist, wie in uns selbst hinein- zuschauen. Es ist unheimlich und faszinierend zu- gleich. Und man hört nie auf, darüber zu staunen, wie clever dieses System funktioniert.“

Foto: UCL Foto: dpa

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