egen 70 000 Ärzte, von denen jeder 30 Patienten am Tag hat, dagegen ein Gesetz zu ma- chen, das ist außerordentlich schwie- rig.“ Zu dieser Einsicht kam Bundes- kanzler Konrad Adenauer gegenüber der CDU/CSU-Fraktion Ende Sep- tember 1960 – gut zwei Jahre nach- dem die Bundesregierung mit den Vorarbeiten begonnen hatte, die so- ziale Krankenversicherung zu refor- mieren.
Das geplante „Krankenversiche- rungs-Neuregelungsgesetz“ war das bis dahin wohl umstrittenste sozialpo- litische Reformwerk in der Geschich- te der Bundesrepublik Deutschland.
Seit das Kabinett den Gesetzentwurf im November 1959 gebilligt und dem Bundesrat als Regierungsentwurf zu- geleitet hatte, trugen Parteien, Ge- werkschaften und Ärzte den Streit
um die Reform mit aller Schärfe in der Öffentlichkeit aus. Er bestimmte die Schlagzeilen der Ärztlichen Mit- teilungen, die in nahezu jeder Aus- gabe über die neuesten Debatten be- richteten. „Das Kassenarztrecht soll zerschlagen werden“, erboste sich etwa der Erste Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. med. Friedrich Voges, auf der Vertreterversammlung der KBV Ende November 1959 in Köln.
Das Kabinett, allen voran Bun- desarbeitsminister Theodor Blank, wollte das Machtgefüge in der ge- meinsamen Selbstverwaltung aus Kas- senärztlichen Vereinigungen und Kran- kenkassen zugunsten der Kassen ver- schieben. Die Verhandlungsposition der Krankenkassen sollte gestärkt, die der KVen geschwächt werden – die Gesamtvergütung der Kassenärz-
te durfte nicht mehr ungebremst stei- gen, die Kosten im Gesundheitswesen mußten gedämpft werden.
Die niedergelassenen Ärzte, so sah es der Gesetzentwurf vor, sollten nach einer staatlich verordneten Gruppengebührenordnung vergütet werden, die die Bundesregierung durch eine Rechtsverordnung festset- zen wollte. Zwar sollten Ärzte und Krankenkassen über die Höhe der Gebühren Verträge schließen. Im Falle einer Nichteinigung wäre je- doch kein Schiedsverfahren eingelei- tet worden, sondern der Bundesar- beitsminister selbst hätte die Wertbe- stimmung angeordnet.
Zugleich wollte man die Versi- cherten zur Kasse bitten. Nach den Vorstellungen von Theodor Blank sollten sie bei einem Arztbesuch eine Inanspruchnahmegebühr von 1,50 DM zahlen. Und die sollten die Kas- senärztlichen Vereinigungen oder die Ärzte direkt „einziehen“. Ein folgen- schwerer Fehler. Nicht nur die Ärzte, sondern auch die SPD und die Ge- werkschaften machten gegen das Ge- setzesvorhaben mobil.
Organisierter Widerstand in Aktionsgemeinschaften
Im Dezember 1959 gründeten die Ärzte in verschiedenen Bundeslän- dern Aktionsgemeinschaften, um die
„existentielle Bedrohung des ärzt- lichen Standes abzuwehren“. In Ham- burg hieß sie „Schicksalsgemeinschaft deutscher Ärzte“, in Niedersachsen
„Kampfbund niedersächsischer Ärz- te“. Am 20. Januar 1960 gingen die regionalen Zusammenschlüsse in der 52 Beilage zum Deutschen Ärzteblatt Heft 21/1999
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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT IM DEUTSCHEN ÄRZTE-VERLAG
Krankenversicherungsreform 1958–1961
Konrad Adenauer gibt dem Druck der Ärzte nach
Die Politik wollte die Position der Ärzte schwächen und die der Krankenkassen stärken. Der geschlossene Protest der Ärzte und nicht zuletzt die Kontakte zum Bundeskanzler haben dies verhindert.
G
Während der Mittagspause: Am 17. August 1960 empfing Bundeskanzler Konrad Adenauer in Bonn die Standesvertreter der Ärzte zu einer mehrstündigen Ausspra- che. Von links: Dr. Friedrich Voges, Dr. Konrad Adenauer, Dr. Ernst Fromm, Dr. Kaspar Roos und Dr. Siegfried Häußler. Dr. Rolf Berensmann schoß das Erinnerungsfoto.
„Aktionsgemeinschaft der deutschen Ärzte“ auf. Es gelte jetzt, heißt es in einem Aufruf in den Ärztlichen Mitteilungen, der Öffentlichkeit und den für die Entscheidung über diesen Gesetzentwurf zuständigen Abgeord- neten klar vor Augen zu führen, daß der Entwurf schwere Gefahren für die Gesundheit der Versicherten herauf- beschwört, den sozialen Frieden in der Bundesrepublik bedroht und die Frei- heit der ärztlichen Berufsausübung in Frage stellt. Woche für Woche wurden die Ärzte in den Ärztlichen Mitteilun- gen aufgefordert, der Aktionsgemein- schaft beizutreten.
Gipfel des Protestes:
Außerordentlicher Ärztetag
Der Höhepunkt des Protestes war der Außerordentliche Deutsche Ärztetag am 10. Februar 1960 in der Frankfurter Paulskirche.
Der vorliegende Gesetz- entwurf, empörten sich die Ärzte, erschwere und gefährde die ärztliche Versorgung und büro- kratisiere das Verhältnis zwischen Arzt und Pati- ent. Er mindere die Rechtsstellung der Kas- senärzte und der KVen, beseitige die Vertrags- freiheit zwischen Ärzten und Krankenkassen und ersetze sie durch ein behördliches Lenkungs- system. Das Honorar und damit die berufliche Existenz der Kassenärz- te, heißt es weiter, wer- de letztlich ministerieller und politischer Entschei- dung unterworfen. Den geplanten Aufbau ei- nes Beratungsärztlichen
Dienstes mit weitgehenden Kontroll- befugnissen empfand man ebenso als Kampfansage wie die im Gesetz vor- gesehenen ambulanten Behandlungs- zentren der Krankenkassen.
Die Ärzte leisteten nahezu ge- schlossen Widerstand. Den beiden Spitzenorganisationen, KBV und Bun- desärztekammer (BÄK), schloß sich auch der Marburger Bund an. Der angestellte Arzt im Krankenhaus be-
urteilte die politische Lage noch aus der Perspektive der niedergelassenen Ärzte, zu denen er früher oder später auch gehören würde. Die Haltung des Hartmannbundes indes war zwie- spältig. Langfristig wollte er die öffentlich-rechtliche Vertretung der Kassenärzte schwächen. Auf der Ver- treterversammlung Ende April 1960 zeigte sich der Vorsitzende der KBV, Dr. Voges, ratlos. Es werde ihm im- mer unverständlich bleiben, sagte er, warum der Hartmannbund den Weg des Protestes nicht mitgegangen sei.
Statt dessen habe er die Aktivitäten
„gebremst, gebremst, gebremst“.
Der Widerstand der Ärzte setzte der CDU-Parteispitze zu – 1961 stan- den die nächsten Bundestagswahlen an. Eine Bundestagsabgeordnete, die zugleich Ärztin war, vermittelte ihren Kollegen den Kontakt zum Bundes- kanzler. Und der traf sich 1960 gleich dreimal mit den Standesvertretern.
Am 4. Februar empfing er den Präsi- denten der BÄK, Dr. med. Ernst Fromm, und den Vorsitzenden der KBV, Dr. med. Friedrich Voges, zu ei- ner mehrstündigen Aussprache. Das entscheidende Gespräch fand wohl am 17. August in Bonn statt. Neben Adenauer, Fromm und Voges nah- men daran auch teil: Arbeitsminister Theodor Blank, der Erste Vorsitzen- de des Marburger Bundes, Dr. med.
Rolf Berensmann, der Erste Vorsit- zende des Verbandes der niedergelas- senen Ärzte Deutschlands, Dr. med.
Kaspar Roos, und der Erste Vorsit- zende des Hartmannbundes, Dr. med.
Siegfried Häußler.
Scharfe Kritik an
Interessenpolitik der Ärzte
Über die Verhandlungsergebnisse berichteten die Ärztlichen Mitteilun- gen nicht. Die Teilnehmer hätten ver- einbart, erklärte die Pressestelle der Deutschen Ärzteschaft, außer der Tat- sache des Gesprächs und seines Ver- handlungsgegenstandes keine Sachin- formationen herauszugeben. Das Er- gebnis: Konrad Adenauer versagte seinem Arbeitsminister die Unterstüt- zung, die Reform durchzusetzen. Die parlamentarischen Beratungen wur- den 1961 eingestellt – das Gesetzesvor- haben war gescheitert, und die Stellung der Ärz- te in der Krankenversi- cherung blieb weitgehend unverändert.
Die Medien reagier- ten überaus kritisch. Sie werteten das Gerangel um die Reform als exem- plarisch für den wachsen- den Einfluß der Inter- essenverbände auf die Politik. Die Kölnische Rundschau kommentier- te das so: „Ist es denn nicht beschämend, daß ein einzelner Stand mit einigen hundertausend Mark freiwilliger Spen- den in der Lage war, pro- pagandistisch die Atmo- sphäre für jede vernünf- tige Neuregelung der Krankenversicherung so zu vergiften, daß die Aus- wirkungen einer in der Methodik gera- dezu verantwortungslos anmutenden Aufklärung zwangsläufig auch die Ab- geordneten des Parlaments beein- drucken mußten?“
Die Ärzte empfanden die Vor- würfe als arztfeindlich und diffamie- rend. Eines hatten sie indes erreicht:
Ihre Standesorganisationen hatten sich als Machtfaktor im politischen System etabliert. Dr. Sabine Glöser 54 Beilage zum Deutschen Ärzteblatt Heft 21/1999
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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT IM DEUTSCHEN ÄRZTE-VERLAG
„Da sehen Sie es, Doktor, so krank war der Mann gar nicht!“ Auch mit Karikaturen protestierten die Ärzte 1960 in den Ärztlichen Mitteilungen gegen das Reformvorha- ben der Regierung.