402 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 22|
31. Mai 2013M E D I Z I N
DISKUSSION
Positive Suchtanamnese
Den Autoren ist für ihre gründliche Darstellung der alarmierenden Entwicklung der Opiatverordnungen (1) zu danken. Psychologi- sche Aspekte spielen bei chronischem Nicht-Tumor-Schmerzen (CNTS) eine herausragende Rolle, weshalb die in der heutigen technisierten Medizin übliche Eskalation in Diagnostik und Thera- pie häufig nicht zu einer Besserung, sondern zu einer weiteren Ver- schlechterung führt.
Die Wahrscheinlichkeit, dass es bei Patienten mit völlig leerer Suchtanamnese unter Opiatanalgesie zu einer de-novo-Suchterkran- kung kommt, ist äußerst gering. Wenn in der Literatur dennoch im- mer wieder relativ hohe Prävalenzraten von Suchtproblemen bei Opiatanalgesiepatienten berichtet werden – die Autoren einer aktu- ellen Übersichtsarbeit schätzen, dass „opioid use disorders“ bei bis zu einem Drittel der Patienten auftreten (2) – so deutet dies darauf hin, dass die Medikamente häufig Personen mit positiver Sucht - anamnese verordnet werden. Dass diese Patienten zu Dosissteige- rungen neigen, die dann gravierende Nebenwirkungen bis hin zu do- sisabhängigen Todesfällen zur Folge haben, überrascht nicht (3). Die amerikanischen und kanadischen Leitlinien setzen sich mit dieser Problematik auseinander und empfehlen entsprechende Screening- instrumente (4).
Die längerfristige Wirksamkeit von Opiatanalgetika bei CNTS ist nicht belegt, die optimistische Annahme einer weitgehenden Harm- losigkeit dieser Medikamente hält näherer Überprüfung nicht stand, was auch für die Suchtgefährdung zutrifft, und schließlich kommt der Verordnungsanstieg nicht in erster Linie den Krebspatienten zu- gute. Diese ernüchternde Bilanz gilt es zur Kenntnis zu nehmen.
DOI: 10.3238/arztebl.2013.0402a LITERATUR
1. Schubert I, Ihle P, Sabatowski R: Increase in opiate pre scription in Germany between 2000 and 2010—a study based on insurance data. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(4):
45–51.
2. Juurlink DN, Dhalla IA: Dependence and addiction during chronic opioid therapy. J Med Toxicol 2012; 8: 393–9.
3. Wolter DK: Suchtgefahr und andere Risiken von (Opiat-) Analgetika – unterschätzt oder übertrieben? Psychotherapie im Alter 2012; 9: 197–212.
4. Kahan M, Wilson L, Mailis-Gagnon A, Srivastava A; National Opioid Use Guideline Group: Canadian guideline for safe and effective use of opioids for chronic noncancer pain: clinical summary for family physicians. Part 2: special populations. Can Fam Physician 2011; 57: 1269–76, e419–28.
Dr. med. Dirk K. Wolter
Specialeansvarlig overlæge Gerontopsykiatrisk enhed Haderslev, Dänemark
dirk.wolter@rsyd.dk
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Schlusswort
Wir danken Herrn Dr. Wolter für seinen Leserbrief. Allerdings sind wir nicht davon überzeugt, dass die Wahrscheinlichkeit eine de- novo-Suchterkrankung bei leerer Suchtanamnese zu entwickeln äußerst gering ist. Gerade vor dem Hintergrund der schnell-freiset- zenden Opioide wird in der Literatur immer häufiger über die Entwicklung von Medikamentenfehlgebrauch bis hin zur Opioid - abhängigkeit berichtet, auch bei Patienten mit scheinbar leerer Sucht anamnese (1). Ob Screeninginstrumente hier die Lösung des Problems darstellen, muss bezweifelt werden. Besonderen Anlass zur Sorge gibt eine retrospektive Analyse von fünf Studien, in denen buccales Fentanyl zur Behandlung von Durchbruchschmerzen bei Nicht-Tumorschmerzpatienten verabreicht wurde (2). Fokus der Datenanalyse war es, die Häufigkeit von sogenanntem „aberrant drug-related behavior“ zu ermitteln. „Aberrant behavior“ als Indi - kator eines Kontrollverlusts beziehungsweise von Missbrauch und Abhängigkeit wurde unter anderem definiert als unerlaubtes Weiter- reichen der verschriebenen Opioide an Dritte, Rezeptfälschungen sowie wiederholte unautorisierte Dosissteigerungen. Obwohl Pa- tienten mit einer Substanzmissbrauchsanamnese von diesen Studien ausgeschlossen waren, entwickelten 11 % der eingeschlossenen und hoch-selektionierten Patienten Verhaltensweisen, die als „aberrant drug behavior“ klassifiziert wurden.
Dies führt zurück zu der prinzipiellen Frage nach Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, eine Opioidbehandlung zu erhalten.
Turk und Okifuji zeigten, dass nur das nonverbale Schmerzverhal- ten und nicht die objektivierbaren Faktoren, wie beispielsweise Schmerzintensität oder körperliche Befunde, die Wahrscheinlichkeit ein Opioid zu erhalten, beeinflusste (3).
Vor dem Hintergrund steigender Opioidverordnungszahlen und der Intensivierung der Behandlung vor allem bei Nicht-Tumor- schmerzpatienten, sollten wir uns dieser Zusammenhänge und potenziellen Gefahren bewusst sein (4). DOI: 10.3238/arztebl.2013.0402b
LITERATUR
1. Scharnagel R, Kaiser U, Schütze A, Heineck R, Gossrau G, Sabatowski R: Chronic non- cancer-related pain: Long-term treatment with rapid-release and short-acting opioids in the context of misuse and dependency. Schmerz 2013; 27: 7–19.
2. Passik SD, Messina J, Golsorkhi A, Fang X: Aberrant drug-related behavior oberserved during clinical studies involving patients taking chronic ppioid therapy for persistent pain and Fentanyl buccal tablet for breakthrough pain. J Pain Symptom Manage 2011; 41: 116–25.
3. Turk DC, Okifuji A: What factors affect physicians' decisions to prescribe opioids for chronic noncancer pain patients? Clin J Pain 1997; 13: 330–6.
4. Schubert I, Ihle P, Sabatowski R: Increase in opiate pre scription in Germany between 2000 and 2010—a study based on insurance data. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(4):
45–51.
Für die Verfasser
Prof. Dr. med. Rainer Sabatowski UniversitätsSchmerzCentrum Universitätsklinikum „Carl Gustav Carus“
Technische Universität Dresden Rainer.sabatowski@uniklinikum-dresden.de
Interessenkonflikt
Prof. Sabatowski nahm Beratertätigkeiten wahr für Cephalon und Janssen-
Cilag. Er erhielt Honorare für die Vorbereitung von wissenschaftlichen Fortbildungsveranstaltun- gen von MSD und Grünenthal. Für die Durchführung von klinischen Auftragsstudien erhielt das UniversitätsSchmerzCentrum Honorare von Grünenthal, Astellas und Allergan.
zu dem Beitrag
Zunahme der Opioidverordnungen in Deutschland zwischen 2000 und 2010:
Eine Studie auf der Basis von Krankenkassendaten
von Dr. rer. soc. Ingrid Schubert, Peter Ihle, Prof. Dr. med. Rainer Sabatowski in Heft 4/2013