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Späte Erinnerung am »Westwall«. Das Museum »Hürtgenwald 1944 und im Frieden« – Eine Premiere in Westdeutschland

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Bernd Mütter

Späte Erinnerung am »Westwall«.

Das Museum »Hürtgenwald 1944 und im Frieden« – Eine Premiere in Westdeutschland

Das Problem:

Ein Museum der Niederlage 1944/45?

Erinnerungen auf Schlachtfeldern der Weltkriegsepoche sind in Deutschland, wenn man von Soldatenfriedhöfen absieht, eine seltene Ausnahme – ganz anders als in den Nachbarländern. Das hat zwei Gründe: Im Ersten Weltkrieg wurden alle großen Schlachten außerhalb Deutschlands geschlagen (z.B. Marne, Verdun, Somme, Flandern) mit der einzigen Ausnahme Ostpreußen (Tannenberg, Masu- rische Seen), im Zweiten Weltkrieg kam es erst in der Schlussphase seit Herbst 1944 zu erbitterten Kämpfen auf deutschem Boden, und zwar in der Nordeifel, am Nie- derrhein, auf den Seelower Höhen über dem Oderbruch sowie um und in Berlin.

Diese Schlachten verursachten ungeheuere Menschenverluste und Zerstörungen.

Sie wurden geschlagen, als der Krieg längst entschieden war und dienten keines- wegs der Verteidigung deutscher Interessen, sondern in einer militärisch bereits aussichtslosen Situation der Lebensverlängerung eines verbrecherischen poli- tischen Systems. Dass diese Schlachten nach der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 in Deutschland weitgehend verdrängt wurden1, ist leicht erklärlich – waren die hier gebrachten Opfer doch »sinnlos« im eigentlichen Wortsinn. Die in den betroffenen Regionen lebendige Erinnerung an die Schlachten in der Norman- die, bei Arnheim und in den Ardennen 1944 unterschied sich davon grundsätzlich:

Ging es hier doch um die letztlich erfolgreiche Befreiung von der Besatzungs- und Schreckensherrschaft des nationalsozialistischen Reiches. Die Gestaltung der Er- innerung vor Ort begann hier gleich nach Kriegsende2.

Auf diesem Hintergrund muss die Eröffnung des Museums »Hürtgenwald 1944 und im Frieden« am 30. Oktober 2001 durchaus als Ereignis bezeichnet werden.

Schon durch die Namensgebung unterscheidet es sich grundsätzlich von den Kriegs- und Befreiungsmuseen in der Normandie, in Oosterbeek und Groesbeek bei Arnheim und in Bastogne und Diekirch in den Ardennen, die alle mehr oder weniger – neben dem ausgebreiteten kriegstechnischen und kriegsgeschichtlichen Detail – durch das Bewusstsein geprägt sind, einer guten Sache gedient zu haben3. Davon aber konnte auf deutscher Seite keine Rede sein.

In Deutschland brauchte die komplizierte Verknüpfung von militärischer Nie- derlage und politischer Befreiung, wie sie Bundespräsident Richard von Weizsä- cker, der selbst noch Wehrmachtoffizier gewesen war, 1985 in seiner berühmten Rede zum vierzigsten Jahrestag der deutschen Kapitulation erstmals mit breiter Öffentlichkeitswirkung formulierte, sehr viel länger als die einfache Verbindung von Sieg und Befreiung in den westlichen Nachbarländern. Ganz unterschiedliche Entwicklungen wirkten hier zusammen:

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– Kalter Krieg und »Wirtschaftswunder« bewirkten in Westdeutschland eine schnelle Stabilisierung der Demokratie, wie die Weimarer Republik sie wäh- rend ihrer kurzen Lebensdauer nie erlebt hatte. Das Bekenntnis zu Menschen- rechten und Demokratie und die »Wiedergutmachung« waren aber Hauptvoraus- setzungen für die Wiedereingliederung Deutschlands in die Völkergemeinschaft nach den Verbrechen des Nationalsozialismus.

– Wiedervereinigung und Zusammenbruch von Ostblock und Sowjetunion be- endeten die Folgen der Niederlage von 1945 auf der national- und weltpoli- tischen Ebene. Die nun möglich werdende Integration Europas wies Deutsch- land wiederum eine Mittelstellung zu – diesmal in friedlicher Verständigung mit allen Nachbarn im Westen und Osten.

– Die Generation der – oft traumatisierten – Zeitgenossen von NS-Diktatur und Krieg wird immer älter und stirbt bald aus. Auch wer noch über eigene Kind- heitserinnerungen an die Schlussphase des Krieges verfügt, ist heute über sieb- zig Jahre alt. Der Tod der Zeitzeugen verändert die Weitergabe der historischen Erinnerung fundamental. Für den historisch interessierten Reisenden wird das besonders deutlich an der vor Ort gepflegten Erinnerung: Es ist ein großer Un- terschied, ob man die Schlachtfelder von 1944 im Westen als Veteran oder zu- mindest Zeitzeuge des damaligen Geschehens besucht oder als »Nachgebore- ner«, der sich ein historisches Bild verschaffen möchte.

– Am Ende des 20. Jahrhunderts hatte man in Deutschland allen Grund, den Weg aus der totalen Niederlage nach 1945 im Rückblick als Erfolgsgeschichte zu be- werten. Das löste bei den älteren Generationen Dankbarkeit und einen gewis- sen Stolz auf die eigene Lebensleistung aus, die schmerzlichen und sinnlosen Verluste an Menschenleben und materiellen Gütern in der Schlussphase des Krieges rückten in ein milderes Licht. Die jüngeren Generationen, die unter ganz anderen Lebens- und Erfahrungshorizonten aufgewachsen waren, hielten den Rückblick zunächst für überflüssig oder ideologisch bedenklich – die 1968 angestoßene »Abrechnung mit den Großvätern«, der »Historikerstreit« von 1986/87 und die »Wehrmachtsausstellung« wirkten hier nach4. Regional-, All- tags- und Opfergeschichte führten dann aber auch hier zunehmend zu der Er- kenntnis, dass die Kriegszerstörungen im Heimatraum und die massenhafte Vernichtung jungen Lebens unter dem Diktat von Befehl und Gehorsam auch zur heutigen kollektiven Erinnerung gehören sollten. Die wieder schwieriger werdende Lebenssituation junger Menschen heute erhöht bei den Nachdenk- lichen das Verständnis für die Lage der Altersgenossen von 19445.

Das Konzept des Museums

»Hürtgenwald 1944 und im Frieden«

1. Der heimat- und regionalgeschichtliche Rahmen

Aus alldem ergibt sich natürlich keineswegs automatisch eine zeitgemäße und heute verantwortbare Gestaltung der historischen Erinnerung an die Schlussphase des Krieges im Hürtgenwald. Wie begründen die Museumsmacher ihr Unternehmen?

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Da ist zunächst die Benennung des Museums »Hürtgenwald 1944 und im Frie- den« – im Unterschied zu den älteren Schlachtfeldmuseen jenseits der Grenze6. Dadurch wird einerseits die lokal- und regionalgeschichtliche Perspektive, ande- rerseits die örtliche Wiederaufbauarbeit ganz in den Vordergrund gestellt, die heute zu einem fast vollständigen Verschwinden der Kriegsspuren im Landschafts- bild geführt hat – wiederum im Gegensatz zu den bewusst erhaltenen Kriegs- spuren auf den Schlachtfeldern von Verdun, in Flandern und in der Normandie.

Die Fokussierung der Erinnerung auf das menschliche Leiden aller Beteiligten – deutsche und amerikanische Soldaten sowie die Zivilbevölkerung in den Dörfern – erlaubt die Sichtbarmachung der schrecklichen Heimatgeschichte vor Ort. Im Kontext des großen Krieges waren die einfachen Landser und Zivilisten lediglich sinnlose Opfer für eine verlorene und zugleich verbrecherische Sache. Erst die teil- weise Ausblendung des Gesamtkontextes erlaubt im Rückblick eine – zugegebe- nermaßen etwas künstlich-abstrahierende – Verschiebung der Deutungsperspek- tive von heute her. Ein solcher Umbau der öffentlichen Erinnerung und des kollektiven Gedächtnisses ist für ein Weltkriegsmuseum auf deutschem Boden ein durchaus origineller Ansatz. Er muss sich allerdings mit zwei Problempunkten auseinandersetzen:

– Durch die Schlacht im Hürtgenwald sind Dörfer wie Hürtgen, Vossenack und Schmidt weltbekannt geworden, infolge der Berichterstattung der amerika- nischen Presse und der amerikanischen Militärliteratur, die beispielsweise von einer »Battle of Schmidt« spricht. Für die heutige Erinnerungsgestaltung ist aber gerade dieser »Weltruhm« ein zwiespältiges »Erbe«, weil seine Heraus- streichung eine politisch und historisch korrekte und zukunftsfähige Erinne- rungsgestaltung unmöglich machen würde.

– Der Ansatz des Museums stellt eine innovatorische Leistung für eine zeitge- mäße Erinnerungsgestaltung fast siebzig Jahre nach den Ereignissen dar. Wie- weit dieser Ansatz in der konkreten Präsentation auch realisiert werden kann, ist eine ganz andere Frage.

2. Zielsetzungen

Diese Problemlage spiegelt sich auch in den öffentlichen Informationen zum Mu- seum. Drei Zielsetzungen werden dort hervorgehoben:

– Die Leiden der Soldaten und der Zivilisten in der Region – etwa 70 000 meist noch ganz junge Menschen starben – dürfen nicht in Vergessenheit geraten, schon um zu verdeutlichen, dass der inzwischen mehr als 65 Jahre anhaltende Frieden keine Selbstverständlichkeit ist: Die Verdrängung der Jahre 1933 bis 1945 in vielen Gemeindegeschichten bedeute gerade für die Gemeinde Hürt- genwald eine nicht akzeptable Verkürzung von historischer Wirklichkeit mit ihren bis heute nachhaltigen Folgen. Es geht letztlich darum, »durch mahnende Erinnerung auf die Bedeutung des Friedens hinzuweisen«.

– Bei der Dokumentation des Kampfgeschehens sollen die Berichte und Empfin- dungen der Zeitzeugen im Vordergrund stehen, nicht der »moralische Zeige- finger« und auch nicht die im Hürtgenwald gefundenen militärischen Expo- nate.

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– Es geht insbesondere um Folgerungen für unsere gegenwärtige Lebensgestal- tung, vor allem in trostlosen Lebenssituationen. »Unsere Mitbürger standen damals nach ihrer Rückkehr in ihre Heimat vor dem Nichts. Sie haben bewun- dernswert tapfer und unverdrossenen Mutes begonnen, die Schäden des Krieges zu beseitigen, wieder neu aufzubauen und die Landschaft neu zu ge- stalten, sodass sie sich heute so darbietet, als ob darüber nie eine vernichtende Schlacht gegangen wäre. Ihr Lebensmut ist auch das Motto der Ausstellung:

›Mitten in der Nacht beginnt der neue Tag‹7

Das ist im Ganzen eine tragfähige Konzeption für die bisher noch kaum in Angriff genommene Aufgabe einer musealen Kriegs- und Schlachterinnerung am Ort der Katastrophe in Deutschland. Mit der heroischen Stilisierung von Kampf, Sieg und Waffen, wie sie in den konventionellen Kriegsmuseen des westlichen Auslands deutlich mitschwingt, hat das wenig gemein – schon infolge des unterschiedlichen Kontextes von militärischer und moralischer Niederlage8. Auch der politischen Ver- einnahmung durch unwillkommene Unterstützung aus dem rechtsradikalen La- ger lässt sich nur so begegnen.

3. Die Objekte und ihre Präsentation9

Die Exponate des Museums sind zwangsläufig militärischer Herkunft, deutsche und amerikanische Fundstücke aus dem Hürtgenwald, Felduniformen, Jacken, Mäntel, Schuhe, Alltagsgegenstände wie Koch- und Essgeschirre, Tornister, Spa- ten, Lampen, Scherenfernrohre, Feldtelefone und Funkgeräte und zahlreiche Sor- ten von Waffen. Neben diesen Objekten gibt es einen Dokumentenbereich mit Zei- tungsartikeln, Landkarten, Ausweisen und Flugblättern der deutschen und amerikanischen Seite und Modellen des Westwalls und seiner Bunker sowie von Militärfahrzeugen. Manches erinnert zwangsläufig an konventionelle Schlachtfeld- museen, der aufmerksame Beobachter findet aber auch Spuren der weitergehenden Intentionen dieses Museums:

– die Inszenierung der Versorgung eines verwundeten Soldaten,

– das Bild »A Time for Healing« zeigt die humanitäre Zusammenarbeit zwischen deutschen und amerikanischen Ärzten während der Kämpfe im Hürtgenwald nahe der Mestrenger Mühle im Kalltal bei Simonskall. Das Bild, von deutschen und amerikanischen Veteranen einem Maler mit authentischen Angaben in Auf- trag gegeben, wurde 1996 in einer Feierstunde in Pennsylvania enthüllt und eine Kopie von amerikanischen Offizieren dem Geschichtsverein Hürtgenwald im Jahre 1997 überreicht,

– ein Feuerwehrwagen, der unmittelbar nach dem Krieg als einziges Fahrzeug zum Löschen der Waldbrände im Hürtgenwald eingesetzt wurde, die im Som- mer 1945 bei Munitionsexplosionen ausbrachen,

– Fotowände mit Straßenzügen verschiedener Gemeinden vor und nach der Zer- störung sowie heute nach dem Wiederaufbau,

– Fotos einer katholischen Jugendgruppe, die am Westwall entlang gewandert ist und festhielt, was ihr über den aktuellen Zustand der Bunker und der Höcker- linie und deren aktuelle Verwendung auffiel.

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4. Der »Pfad des Gedenkens«

Hierbei handelt es sich um einen etwa zehn Kilometer langen Wanderweg, der an Hinweisen und Relikten vorbeiführt, die an die »Allerseelenschlacht« um Vossen- ack erinnern, einen der erbittertsten Höhepunkte der Kämpfe im Hürtgenwald.

Der Weg führt vom Museum zur Kirche, in der sich Deutsche am Altar und Ame- rikaner am Portal in Nahkämpfen gegenüberstanden, über den Mestrengerweg he- rab zur Mestrenger Mühle am Kall-Bach – dies war eine Hauptrichtung des ame- rikanischen Angriffs auf Schmidt, der unter fürchterlichen Verlusten scheiterte.

Panzerketten im Erdreich und Schützenlöcher erinnern noch heute daran.

Die Mestrenger Mühle war, in mehrfachem Wechsel, ein deutscher oder ame- rikanischer Gefechtsstand und Verbandsplatz, wo auch die auf dem erwähnten Bild im Museum dargestellte Szene stattfand.

Der Pfad geht sodann nach Simonskall, von wo aus die Deutschen das Kall-Tal gegen die angreifende amerikanische Infanterie beherrschten. Man kann dort ei- nen Sanitätsbunker für 20 Verwundete und vier Sanitäter besichtigen. In der Nähe liegt ein gesprengter, aber gut erhaltener Gruppenunterstand, für eine Belegung mit 15 Soldaten. Der Bunker diente als Schutz vor Fliegerbomben und Artillerie- Beschuss sowie als Unterkunft. Gekämpft wurde außerhalb des Bunkers in Schüt- zenlöchern und Gräben.

Im »Haus des Gastes« befindet sich eine Dokumentation der deutschen 116. Pan- zerdivision (»Windhund-Division«), die im Hürtgenwald kämpfte.

Der Pfad führt sodann hinauf zum Soldatenfriedhof. Hier liegen ca. 2400 deut- sche Soldaten und 33 deutsche Kriegsgefangene, die Minen räumen mussten und dabei umkamen. Generalfeldmarschall Walter Model, der umstrittene Organisa- tor des erbitterten deutschen Widerstands, ist hier ebenfalls begraben. Daneben ist eine Gedenkstätte der Windhund-Division für alle im Hürtgenwald gefallenen Sol- daten der deutschen 116. Panzerdivision: Ein Soldat stützt seinen sterbenden Ka- meraden.

Der Rückweg zum Museum führt am Friedenskreuz des Geschichtsvereins vor- bei10.

5. Gedenken an die »Battle of Schmidt«

Im Unterschied zu Vossenack geht die Kriegserinnerung in dem ebenfalls hart um- kämpften und völlig zerstörten Dorf Schmidt von der katholischen Kirchenge- meinde St. Hubertus aus, wobei sich die Gewichte noch einmal zugunsten der Nachkriegsgeschichte verschieben. An die Kämpfe erinnert eine Fotodokumenta- tion im hinteren Teil der Kirche, in die durch ein Flugblatt und den alternativen Kirchenführer »Typisch St. Mokka« eingeführt wird11. Der Beiname »St. Mokka«

geht auf den in den Nachkriegsjahren lukrativen, gut organisierten Kaffeeschmug- gel der für den Wiederaufbau des total zerstörten Dorfes weitgehend auf sich al- lein gestellten Bevölkerung zurück. Der damalige Pfarrer Josef Bayer wusste sich durch Predigt und Gebet für die »Arbeiter« im Schmuggel einen Anteil zum Wie- deraufbau der ebenfalls zerstörten Pfarrkirche zu sichern.

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Die Kirchengemeinde nimmt sich den damaligen Lebenswillen zum Vorbild, um auf die heute drängenden Problemlagen (Energiekrise, fairer Handel mit den kaffeeproduzierenden Ländern, Erhaltung einer lebendigen Gemeinde vor Ort trotz Sparzwängen und expansiver Bürokratisierung) hinzuweisen und praktizier- bare Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen – ein origineller und nachahmenswerter Versuch, aus dem schweren und ambivalenten Kriegserbe für heute praktisch zu lernen.

Vor allem aber stellt die Kirchengemeinde den Zusammenhang von rassisti- schem Vernichtungskrieg, der 1944/45 auch zur völligen Zerstörung der Heimat führte, und dem heute wieder wachsenden Rechtsradikalismus Jugendlicher he- raus, der einen inzwischen fast sieben Jahrzehnte andauernden Frieden gefährdet.

Sie ist dem »Dürener Bündnis gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt«

beigetreten – ebenso wie der »Geschichtsverein Hürtgenwald« –, einem Zusam- menschluss von über 150 Gruppen unterschiedlicher weltanschaulicher und poli- tischer Orientierung gegen die wachsenden fremdenfeindlichen Aktivitäten im Kreis Düren, in dem Menschen aus 120 Nationen leben.

1999 wurde von deutschen und amerikanischen Veteranen ein gemeinsames kleines Versöhnungsdenkmal in der Nähe der Kirche mit einer zweisprachigen In- schrift errichtet.

Perspektiven der Kriegserinnerung vor Ort

1. Vorgeschichte und Rezeption des Museums

Trotz aller möglichen Kritik im Detail – die Erinnerung an den Krieg und ihre Ein- bindung in den lokal- und regionalgeschichtlichen Kontext im Hürtgenwald ist eine beachtenswerte Lösung für eine schwierige historisch-politische Vermittlungs- aufgabe am »authentischen Ort«, die nirgendwo sonst in Westdeutschland so um- fassend in Angriff genommen worden ist. Auch anderswo ist es im Winter 1944/45 an der Westgrenze des Reiches zu langen und harten Kämpfen gekommen, z.B.

am Niederrhein. Aber dort, im Raum Kleve, Goch, Wesel, ist eine konzeptionell gestaltete Erinnerung wie im Hürtgenwald nicht einmal in Ansätzen zu erken- nen12.

Vor diesem Hintergrund sind die Bemühungen im Hürtgenwald durchaus bei- spielhaft. Die komplizierte Vorgeschichte der erst im Jahre 2001 eröffneten Muse- umsdokumentation »Hürtgenwald 1944 und im Frieden« macht deutlich, wie viele Schwierigkeiten zu überwinden waren, die andernorts offenbar noch unüberwind- bar sind.

Der Privatmann »Koni Schall aus Winden bei Kreuzau begann in den Jahren 1959/60 mit dem Sammeln von Dokumenten, Flugblättern, Landkarten und Zeitungsberichten aus der Zeit von 1944/45. Später kamen mit Hilfe von Be- kannten und vom Kampfmittelräumdienst auch militärische Exponate aus Hürtgenwald hinzu. Anlässlich der Kreuzauer Kulturtage 1977 konnte er mit seiner damaligen Sammlung eine Ausstellung über die Schlacht im Hürtgen- wald durchführen. Sie fand so großen Anklang und Zustimmung, dass er be-

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schloss, ein bleibendes Museum einzurichten und zu eröffnen. Dieses Museum war in einer ehemaligen Scheune in Kleinhau untergebracht und bestand von 1984 bis zum Frühjahr 1992. Aus persönlichen Gründen [...] gab er die Ausstel- lung auf und verkaufte die Exponate an die Gemeinde Hürtgenwald [...] Im August 1994 stellte die Gemeinde diese Exponate einem neu gegründeten Mu- seumsverein für eine Ausstellung anlässlich des 50. Jahrestages der Allersee- lenschlacht von 1944 zur Verfügung. Kurz danach hatte die Dokumentation diese Aufgabe erfüllt und wurde geschlossen. Im Dezember 1995 beschloss der Gemeinderat von Hürtgenwald, die Exponate dem Geschichtsverein Hürtgen- wald für den Aufbau einer neuen, diesmal bleibenden Ausstellung zu überlas- sen [...] Mit großer Hilfe der Gemeinde wurden zwei Pavillons in der Ortsmitte von Vossenack [...] neu aufgebaut, in denen sich die Dokumentation ›Hürtgen- wald 1944 und im Frieden‹ nun befindet. Die offizielle Einweihung des neuen Hauses fand am 15. September 2001 in Gegenwart des Landrates Wolfgang Spelthahn und des Bürgermeisters Axel Buch (Hürtgenwald) statt [...] Das all- gemeine Echo auf diese Ausstellung ist bisher äußerst positiv [...] Es kamen deutsche und amerikanische Veteranen, die hier in Hürtgenwald im Jahre 1944 als Soldaten waren. Sie wollten nicht nur jene Zeit in ihrer Erinnerung wieder lebendig werden lassen, sondern es fanden auch viele freundschaftliche Tref- fen zwischen den ehemaligen Feinden statt. Viele Angehörige derer, die hier gefallen sind, suchen Hürtgenwald auf. Zahlreiche Gruppen von deutschen, amerikanischen und holländischen Soldaten besuchen fast regelmäßig die Aus- stellung wie auch das Umfeld, um im Rahmen des taktischen Unterrichtes vor- wiegend aus den damaligen Fehlern einer sinnlosen Strategie zu lernen13

2. Die Zukunft der Kriegserinnerung nach dem Generationenwechsel Entscheidend für die weitere Entwicklung der Museumsdokumentation wird sein, ob es nach dem Aussterben der Veteranen beider Seiten und der Zeitzeugen in der Nordeifel gelingen wird, die jüngeren nach Kriegsende geborenen Generationen anzusprechen. Das kann nur gelingen, wenn die Schlachtfelderinnerung in größe- ren Kontexten vernetzt wird – wegen des Museums allein werden nur wenige Be- sucher die Region aufsuchen. Das ist den Initiatoren auch deutlich bewusst, wie schon die offizielle Bezeichnung der Dokumentation demonstriert: »Hürtgenwald 1944 und im Frieden«. Der inzwischen fast siebzig Jahre andauernde Frieden – ge- radezu ein »Wunder« nach den Erfahrungen der vorangegangenen Weltkriegs- epoche – ist durch erfolgreichen Wiederaufbau und naturnahen Tourismus (Wäl- der, Berge, Stauseen, Tiere und Pflanzen im Nationalpark) gekennzeichnet. Die

»Natur« hat die kriegszerstörte Landschaft zurückerobert – bis hin zu seltenen Bio- topen in den verwitternden Westwallbunkern.

Dem interessierten Beobachter fallen aber noch zusätzliche Chancen auf, der Erinnerungsgestaltung eine Zukunft zu sichern. Der Hürtgenwald liegt nördlich der Rurtalsperren. An deren Südufer erhebt sich der riesige Komplex der ehema- ligen NS-Ordensburg Vogelsang14, die seit der Schließung des belgischen Truppen- übungsplatzes 2005 für die Öffentlichkeit wieder zugänglich ist und gegenwärtig museal und kommerziell erschlossen wird. Die Burg Vogelsang, erbaut in den Drei-

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ßigerjahren des 20. Jahrhunderts, ist geradezu eine steingewordene Verkörperung der NS-Ideologie mit ihrer einschüchternden Monumentalität und ihren plasti- schen Gestaltungen »arischen Herrenmenschentums«. Es ist genau diese Ideolo- gie, die auch zu den militärisch und politisch sinnlosen Kämpfen, Leiden, Opfern und Zerstörungen im Hürtgenwald und am Niederrhein geführt hat. Ein übergrei- fendes Konzept für die historische Erinnerung auf Burg Vogelsang und im Hürtgen- wald könnte diesen ideologischen Kontext noch deutlicher herausarbeiten und jede Vereinnahmung der Dokumentation in Vossenack durch rechtsradikale Grup- pen blockieren. Auch würde dadurch die auf einer ersten Ebene notwendige regio- nalgeschichtliche Abkoppelung der Kampfereignisse auf einer höheren Ebene wie- der durch ihre Einordnung in den verbrecherischen Gesamtzusammenhang des NS-Systems relativiert werden15.

In ähnlicher Weise könnte auch die Vernetzung mit den neuerlichen Bemü- hungen um die Inwertsetzung der alten Westwallbunker von Aachen bis in die Pfalz zu einem didaktisch sinnvollen Synergieeffekt führen16, zumal die Bunker im Hürt- genwald z.T. bereits in das Museum einbezogen sind (z.B. der Sanitätsbunker in Simonskall).

Insgesamt hat das Museum »Hürtgenwald 1944 und im Frieden« in Vossenack heute gerade wegen seiner schwierigen Ausgangslage Potenzial zu einem zu- kunftsfähigen Umgang mit Kriegserinnerung, das über die Möglichkeiten konven- tioneller Schlachtfeldmuseen weit hinausgeht. Das könnte attraktiv sein für die nachwachsenden Generationen, die über eigene Erinnerungen an die Kriegszeit nicht mehr verfügen. Das könnte auch die Infrastruktur einer Region fördern, die ganz maßgeblich vom Tourismus lebt und auf dem Hintergrund eines lange boo- menden Auslandstourismus in den letzten Jahrzehnten mancherlei herbe Rück- schläge hat einstecken müssen.

1 Dies gilt vor allem für die Gestaltung der kollektiven Erinnerung vor Ort (Gelände- spuren, Museen), nicht für Soldatenfriedhöfe und Dokumentationen des Krieges in regio- nalem kommunalem Rahmen. Die vorhandene amerikanische und deutsche Literatur zur Schlacht im Hürtgenwald ist umfassend aufgeführt bei Peter Többicke, Mili- tärgeschichtlicher Reiseführer Hürtgenwald, 3. Aufl., Hamburg [u.a.] 2008, S. 138–144.

Nützlich zur Einführung auch die DVD »You enter Germany: Der lange Krieg am West- wall« – Dokumentarfilm von Achim Konejung und Aribert Weis, Köln 2007.

2 Vgl. mit weiterführenden Literaturangaben Bernd Mütter, Somme 1916 und Normandie 1944 – Zwei Erinnerungslandschaften der Weltkriegsepoche zwischen Geschichte, Poli- tik und Tourismus. In: Militärgeschichtliche Zeitschrift, 68 (2009), S. 293–320; Thomas Thiemeyer, Zwischen Helden, Tätern und Opfern. Welchen Sinn deutsche, französische und englische Museen heute in den beiden Weltkriegen sehen. In: Geschichte und Gesell- schaft, 36 (2010), S. 462–491.

3 Vgl. die Selbstdarstellung der genannten Museen in den vor Ort angebotenen Führern und im Internet.

4 Siehe dazu: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987; Hartmut Voit, Erinnerungs- kultur und historisches Lernen. Überlegungen zur »Wehrmachtsausstellung« aus ge- schichtsdidaktischer Sicht. In: Geschichtskultur. Theorie – Empire – Pragmatik. Hrsg. von Bernd Mütter, Bernd Schönemann und Uwe Uffelmann, Weinheim 2000, S. 95–107.

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5 Vgl. dazu sehr differenziert und plausibel Alexander Berkel, Krieg vor der eigenen Haus- tür. Rheinübergang und Luftlandung am Niederrhein 1945, 2. Aufl., Wesel 2004, S. 326–332.

Die Sicht der einfachen Soldaten beider Seiten findet sich in dem Erlebnisbericht von Baptist Palm, Hürtgenwald, das Verdun des Zweiten Weltkriegs, (Privatdruck Hürtgen- wald-Vossenack 1984) und in dem Autobiografisches verarbeitenden Roman von Kurt Kaeres, Das verstummte Hurra. Hürtgenwald 1944/45, Bergisch-Gladbach 1985, 3. Aufl., Aachen 2004.

6 Zu den Schlachtfeldmuseen im westlichen Ausland (Sedan, Verdun, Somme, Ypern, Nor- mandie) vgl. Mütter, Somme (wie Anm. 2) sowie Bernd Mütter, HisTourismus. Ge- schichte in der Erwachsenenbildung und auf Reisen, 2 Bde, Oldenburg 2009, dort Bd 2, S. 317–321, 347–350, 377–387, 551–556, 559–565.

7 Vgl. die Homepage des Museums http://www.huertgenwald.de/hwmuseum.html, S. 1–10, dort S. 5 f. Es existiert auch ein bebilderter Prospekt. Vgl. auch Többicke, Militärge- schichtlicher Reiseführer Hürtgenwald (wie Anm. 1), S. 80, 88.

8 Dass allerdings Niederlagen auch in Siege umgedeutet werden können, zeigt eindrucks- voll Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865 – Frankreich 1871 – Deutschland 1918, Frankfurt a.M. 2003. Die französischen Denkmä- ler in Sedan sind von diesem Geist getragen, vgl. Mütter, HisTourismus (wie Anm. 6), Bd 2, S. 305 f., 319 f.

9 Homepage (wie Anm. 7), S. 7 f.

10 Ebd., S. 9 f., vgl. Többicke, Militärgeschichtlicher Reiseführer Hürtgenwald (wie Anm. 1), S. 69, 71; ebd., S. 66–75 zu weiteren heute noch sichtbaren Bunkern und Höckerlinien und S. 78–80 zu Soldatenfriedhöfen.

11 Typisch »Sankt Mokka«. Alternativer Kirchenführer. Hrsg. von der Katholische Kirchen- gemeinde St. Hubertus, 2. Aufl., Nideggen-Schmidt 2006. Der Text des Flugblatts ver- deutlicht die großen geschichtlichen Perspektiven der Zerstörung von Schmidt in ein- prägsamer Präzision.

12 Dies erklärt sich vielleicht aus der unmittelbaren Nähe des »Befreiungsmuseums« im niederländischen Groesbeek, bleibt aber gleichwohl unbefriedigend. Dabei ist die Lite- raturlage zur »Schlacht im Reichswald« und am Niederrhein ebenso gut wie die zum Hürtgenwald, vgl. die umfassende Zusammenstellung bei Berkel, Krieg (wie Anm. 5), S. 348–352.

13 Homepage (wie Anm. 7), S. 4 f.

14 Franz Albert Heinen, Vogelsang im Herzen des Nationalparks Eifel. Ein Begleitheft durch die ehemalige »NS-Ordensburg«, 4. Aufl., Düsseldorf 2010 (mit weiterführenden Litera- turhinweisen).

15 Vgl. dazu Bernd Mütter und Falk Pingel, Die Ideologie des Nationalsozialismus. Unter- richtsmodell und Arbeitsbuch für die Sekundarstufe II, 2. Aufl., Dortmund 1996 (mit weiterführenden Literaturangaben).

16 Siehe dazu Christina Threuter, Westwall. Bild und Mythos, Petersberg 2009 (S. 118–124 Übersicht und Kritik der bisherigen Westwall-Museen, S. 139–143 Auflistung der rele- vanten Literatur). Vgl. auch Walter Schmidt, Rückkehr zu den Drachenzähnen. In: Frank- furter Rundschau, 11.8.2001, S. M 19; Armin Käfer, Das Bollwerk ist Tropfsteinhöhle und Partykeller. In: Stuttgarter Zeitung, 22.1.2003, S. 3; Hans Joachim Neisser, Wanderweg mit Panzersperre. In: Rheinischer Merkur, 7.6.2007, S. 20.

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Veit Didczuneit und Jens Ebert

Schreiben im Krieg – Schreiben vom Krieg.

Feldpost im Zeitalter der Weltkriege

Vom 13. bis 15. September 2010 richtete das Museum für Kommunikation Berlin die erste internationale Konferenz in Deutschland zur Geschichte der Feldpost im Zeitalter der Weltkriege aus. Organisiert wurde sie von Veit Didczuneit, dem Lei- ter der Sammlungen, und dem Museumsmitarbeiter Thomas Jander. Die wissen- schaftliche Vorbereitung und Leitung lag in den Händen des freischaffenden Histo- rikers und Publizisten Jens Ebert (Berlin).

In der Fachwelt galt ein solches Symposium als überfällig, denn Feldpost er- freut sich in den medialen Diskursen zur Geschichte der Weltkriege eines zuneh- menden Interesses. Gerade in den vergangenen 10 Jahren sind zahlreiche Bücher mit Feldpost erschienen, die von Angehörigen, Freunden, historisch interessierten Laien und Familienforschern verantwortet wurden. Diese Art »graue Literatur«, private Veröffentlichungen, konkurriert mit wissenschaftlich orientierten und ba- sierten Editionen. Zwar gab es parallel immer wieder tiefgreifende und erhellende Analysen sowie Präsentationen neuen und unerwarteten Materials, doch in den letzten Jahren, so schien es, hielten die fachliche Diskussion und die wissenschaft- liche Analyse kaum Schritt mit der Welle der Veröffentlichungen. Das Interesse an der Tagung war dementsprechend äußerst groß. Die Verantwortlichen mussten im Vorfeld aus einer Vielzahl von Referatsangeboten auswählen. Schließlich stellten 47 Wissenschaftler und Publizisten aus 11 Ländern ihre Arbeiten zum Thema vor.

Um die Möglichkeit zur vertiefenden Diskussion zu geben, gab es neben den Ge- sprächsrunden der Panels zwei Roundtables, die von Kurt Pätzold (Berlin), Clemens Schwender (Potsdam) und Bernd Ulrich (Berlin) moderiert wurden.

Die Konferenz wurde vom Nestor der deutschen Feldpostforschung, Ortwin Buchbender (Bad Münstereifel), eröffnet. Er zeigte den langen Weg von den ersten privaten Feldpostsammlungen bis zur allgemeinen wissenschaftlichen Akzeptanz dieser einzigartigen Quelle auf. Die Publikationsgeschichte des von ihm 1982 mit herausgegebenen Bandes »Das andere Gesicht des Krieges« stellte er anschaulich als wichtiges Exemplar neuerer deutscher Wissenschaftsgeschichte dar. Bis heute gilt der Band als maßstabsetzendes Standardwerk.

Am Beginn der Konferenz stand die kritische Auseinandersetzung mit der Quelle Feldpost vor dem Hintergrund der Bilanzierung von 30 Jahren Feldpost- forschung in Deutschland. Elke Scherstjanoi (Berlin) sprach über Besonderheiten und Grenzen der wissenschaftlichen Nutzung von Feldpostbriefen und warnte da- vor, die attraktive Quelle zu überfordern. Dabei betonte sie das Problem der Re- präsentativität der Quellen, das in der Wissenschaft hinreichend kritisch gesehen, in der öffentlichen Kommunikation und Bildungsarbeit aber oft vernachlässigt wird. Hinsichtlich der Frage, was Feldpostbriefe als historische Quellen leisten können, forderte sie eine historisch-anthropologisch gewichtete Quellenkritik, die sich wieder stärker auf den Begriff der Erfahrung zurückbesinnt.

Gerhard Hirschfeld (Stuttgart) widmete sich in seinem Vortrag den Ego-Doku- menten (Feldpost) und der neuen Kulturgeschichte der Weltkriege im 20. Jahrhun- dert. Dabei erörterte er den mehr zitierten als kritisch reflektierten Paradigmen- wechsel in der Geschichtsschreibung bezüglich der beiden Weltkriege seit Mitte

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der 1980er Jahre. Er arbeitete heraus, dass sich mit der (Wieder-)Entdeckung des methodischen Ansatzes einer Alltagsgeschichte als »Geschichte von unten« das In- teresse der zumeist jüngeren Weltkriegsforscherinnen und -forscher dezidiert auf den »Krieg des kleinen Mannes« sowie das sogenannte Kriegserlebnis der »einfa- chen Leute« richtete. Entscheidend für die Beschäftigung mit Kriegsalltag, Menta- litäten und den Erlebnissen der Menschen (an der Front wie in der Heimat) war ein ständig sich erweiternder Umgang mit den Quellen: mit Tagebüchern und Erin- nerungen, mit Front- und Soldatenzeitungen, mit Bildern und Fotografien sowie vor allem mit den Kriegsbriefen.

Clemens Schwender (Potsdam) interpretierte Feldpost als Medium sozialer Kom- munikation, als fixierte Alltagskommunikation. Auf der Grundlage sozialwissen- schaftlicher, insbesondere evolutionspsychologischer Methodik, legte er dar, dass sich in den Briefen viele Hinweise auf Klatsch und Tratsch, Ratsuche und Rat- schläge, Verwandtschaftsbeziehungen, Freund- und Gegnerschaft sowie Kontakt- aufnahme mit Prominenten finden, die die Funktion der Feldpostbriefe als Orga- nisationsmittel des persönlichen sozialen Netzwerkes der Soldaten belegen.

Ingo Stader (Mannheim) schärfte den Blick für die öffentliche Präsenz von Feld- postbriefen im »Dritten Reich« vor dem Hintergrund seines Vergleichs zwischen Feldpost und heutigen Social Media. Die Öffentlichkeit der Feldpostbriefe schätzte er als Ausdruck einer gelebten »Volksgemeinschaft« ein. Das Mitteilungsbedürf- nis einerseits und die Anteilnahme am veröffentlichten »privaten Erleben« anderer- seits erinnerte ihn stark an heutige Kommunikationsformen, wie sie in sozialen Netzwerken und Blogs auftreten.

Martin Humburg (Detmold) stellte die Untersuchung des Spannungsfelds zwi- schen Schreiben und Schweigen in der Feldpost in den Mittelpunkt seines Vor- trags. Auf der Basis einer Inhaltsanalyse von deutschen Feldpostbriefen der Jahre 1941 bis 1944 aus der Sowjetunion entwickelte er weiterführende Forschungsfra- gen: Wie schafft es der Soldat, sich ein selbstwertstützendes Selbstbild zu erschrei- ben und damit selbstwertbedrohliche Erfahrungen auszugleichen? Wie schaffen es Feldpostbriefe, kompensatorisch eine Gegenwelt zu schaffen in einem Umfeld, das bestimmt ist durch Bedrohung, physische und psychische Belastungen aller Art und den Verlust der persönlichen Freiheit? Wie schafft es der Schreiber des Feldpostbriefs, in einer Zeit extrem divergierender Lebenserfahrungen gegenüber denen der Adressaten eine Kommunikation aufrecht zu erhalten? Welches Span- nungsfeld herrscht zwischen dem Bedürfnis der Mitteilung und dem Prozess des sich Verschließens und des zunehmenden Beschweigens von existentiellen Kriegs- erfahrungen?

Aribert Reimann (Oxford, GB) analysierte die sinnstiftenden Kategorien der Er- fahrungskonstitution innerhalb der Kriegsgesellschaften, die er aus den von ihm untersuchten Feldpostbriefen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs anstelle von all- tags- und sozialhistorischen Einblicken in ein »unmittelbares Kriegserlebnis« er- hob. Er betonte den Wert der Feldpostbriefe, die so einen Einblick in die lebens- weltlichen symbolischen Konstruktionsprozesse von Subjektivität und sozialer Kommunikation der Kriegsteilnehmer, die sich selbst als Objekte der historischen Situation wahrnehmen mussten und sich doch gleichzeitig zu sinnhaftem Spre- chen und Handeln aufgefordert fühlten, ermöglichen.

Andreas Jasper (Tübingen) widmete sich der Kriegserfahrung von Wehrmacht- soldaten an und hinter der Front sowie der Veränderung von Forschungsperspek- tiven seit der »konstruktivistischen Wende« der kulturgeschichtlich interessierten

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Forschung seit den 1990er Jahren. Ausgehend von den Forschungsergebnissen sei- ner Dissertation zeigte er den Zusammenhang von unterschiedlichen Lebenswelten und unterschiedlichen Kriegserfahrungen auf.

Das Museum für Kommunikation Berlin als Veranstalter der Feldpostkonfe- renz verfügt über die größte erschlossene Sammlung von deutschen Feldpostbrie- fen und baut diesen Bestand weiter aktiv aus. Veit Didczuneit (Berlin) stellte die um- fangreiche museale Sammlungs- und Präsentationsgeschichte sowohl von Feldpostbriefen und -karten als auch von institutionellen Feldpostobjekten seit Gründung des Museums 1872 als erstes Postmuseum der Welt bis zum Wandel zum Museum für Kommunikation vor. Die im Zusammenhang mit diesem Para- digmenwechsel erfolgte Deutungserweiterung von Feldpostbriefen als philatelis- tische Exponate, als institutionelle Illustrationsobjekte und als historische Quellen und Erinnerungszeugnisse vergrößerte den Stellenwert von Feldpost im Museum und führte dazu, dass die Feldpostbriefsammlung der von der Öffentlichkeit am meisten nachgefragte Museumsbestand ist.

Immer wieder war Feldpost, besonders im 20. Jahrhundert, ein bevorzugter Ge- genstand literarischer Be- und Verarbeitungen. Den dabei häufig zu konstatie- renden Diskurs »Realität« versus »Fiktion« beleuchtete Thomas Schneider (Osna- brück) am spannungsreichen Verhältnis zweier Schlüsseltexte der Kriegsliteratur.

Die Diskussion um Buch und Film »Im Westen nichts Neues« war eine der zentra- len kulturpolitischen Kontroversen der Weimarer Republik. Ein besonderes Merk- mal der Diskussion um den Text waren Rezensionen, die Remarques Text in zu- meist negativen Vergleich zu anderen, nach Meinung der Rezensenten »wahren«

literarischen Produkten zum Ersten Weltkrieg setzten. Philipp Witkops »Kriegs- briefe gefallener Studenten« zählt zu den am häufigsten zum Vergleich herange- zogenen Publikationen, wobei in der Mehrzahl der Fälle das Medium Feldpost ge- gen die Form des autobiografischen Berichtes ausgespielt wurde.

Dass es oft literarische Texte sind, die gesellschaftliche Tabus aufbrechen und gleichsam stellvertretend für gesellschaftlich notwendige Diskussionen stehen, stellte Denis Bousch (Paris) anhand der französischsprachigen Romane über zwangs- eingezogene Elsässer und Lothringer im Zweiten Weltkrieg dar. Die Geschichte dieser Zwangseingezogenen, in Frankreich »malgré-nous« genannt, erfährt seit dem Jahre 2000 ein neues Interesse in der Öffentlichkeit, was sich vor allem in histo- rischen Romanen niederschlägt, deren Autoren nicht zur Generation der Zeitzeu- gen gehören. In den Nachkriegsjahren erschienen hingegen ausschließlich Berichte ehemaliger Soldaten, in letztlich geringem Umfang. Bis in die 1980er Jahre wurde das Thema wenig angesprochen und blieb für die breite Öffentlichkeit in Frank- reich suspekt. Wichtige Informationen zum Thema stammten aus Feldpostbriefen.

Die Kommunikation darüber blieb mündliche Familiengeschichte und ging über die lokale Ebene nicht hinaus.

Die Langlebigkeit literarischer Mythen, die unter anderem aus den Erzählungen der Feldpostbriefe hervorgingen, am Beispiel der Schlacht um Stalingrad, war das Thema von Jens Ebert (Berlin). Von Anfang an wurde die Schlacht mit mythischen Begriffen verbunden. Zur Befestigung und Legitimierung dieser Mythen griff man oft und gern auf authentische Texte zurück, zumeist Feldpostbriefe. Einer der My- then ist der vom »Opfer von Stalingrad«, eng verbunden mit der Erzählung vom heroisch helfenden Arzt. Der erste größere und prägende Text über die Schlacht war der Roman »Stalingrad« von Theodor Plievier. Der Roman entstand nach der Auswertung zahlloser erbeuteter Feldpostbriefe, die dem Autor von der Roten Ar-

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mee zur Verfügung gestellt worden waren. Die Darstellung einer erfolgreichen Karriere eines Mediziners war dem Roman von Heinz G. Konsalik in »Der Arzt von Stalingrad« vorbehalten. Auch dieser Roman beruft sich auf authentische Quel- len, auf die Biografie und die Äußerungen des Arztes Otmar Kohler. Konsalik, wie Plievier, orientierte sich an den Bildern, die in Feldpostbriefen die Heimat erreich- ten, nur dass er sie ideologisch transformiert und in das Lager des Kriegsgegners projizierte. Verglichen wurden diese literarischen Mythen mit den 2008 erschie- nenen Feldpostbriefen des Regimentsarztes Horst Rocholl.

Siegfrid Hoefert (Waterloo, Kanada) referierte zur Funktion und Nutzung von Feldpostbriefen in literarischen Publikationen über den Zweiten Weltkrieg. Er stellte fest, dass Feldpostbriefe von Propagandaeinheiten der amerikanischen Armee häufig und bisweilen mit Erfolg genutzt wurden und in den Kriegstagebü- chern von Konstantin Simonow das Denken und die individuelle Verfasstheit von russischen Soldaten und Zivilisten belegen. In den von Hoefert untersuchten deut- schen Quellen werden Briefe herangezogen, um die Realität des Krieges vor Augen zu führen und damit verbundene Begebenheiten infrage zu stellen.

Helmut Peitsch (Potsdam) betonte, dass die besondere Stellung des »letzten Briefs« hingerichteter Widerstandskämpfer in der Nachkriegsöffentlichkeit der vier Besatzungszonen seit 1950 auf doppelte Weise aufgehoben wurde; zum einen durch die Anwendung des Begriffs auf Soldatenbriefe, zum anderen durch die Zu- sammenstellung von letzten Briefen einiger Widerstandskämpfer zusammen mit anderen Briefen innerhalb einer Anthologie, z.B. in Hans Wilhelm Bährs »Die Stimme des Menschen«.

Einer ganz speziellen Gruppe von Soldaten und ihrer Feldpost, den Deser- teuren, wandte sich Thomas Jander (Berlin) zu. Dass Verweigerer in der Wehrmacht schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben, scheint, berücksichtigt man Zensurpra- xis und Strafmaß, kaum vorstellbar. Und dennoch gibt es Spuren von Resistenz und Widerständigkeit deutscher Soldaten in ihren Briefen. Jander lotet aus, wie weit die verbale Verweigerung ging, wo ihre Grenzen lagen, wann und warum Kri- tik geäußert wurde. Denn um Kritik an der militärischen »Maschine« zu äußern, be- durfte es einiger Courage, umso mehr, wenn man die eigene Fahnenflucht dem Briefpapier anvertraute, das durch die Hände von Vorgesetzten und Feldpostprüf- stellen ging.

Peter Steinkamp (Freiburg) führte eine bisher noch völlig unbeachtete Quelle in die Beschäftigung mit Feldpostbriefen ein: Abschiedsbriefe von Angehörigen der Wehrmacht, die den Freitod wählten. Sie unterscheiden sich von herkömmlichen Feldpostbriefen allerdings in verschiedenen Punkten: Abschiedsbriefe stehen als solche häufig isoliert da, es gibt kaum chronologische Sammlungen von mehreren Briefen des gleichen Absenders. Zudem erwarten die Abschiedsbriefschreiber, an- ders als die meisten Verfasser von Feldpostbriefen, keine Antwort auf ihren Brief;

sie wollen eigentlich nur noch einmal gehört werden, sei es mit einer Erklärung für ihr Tun, sei es lediglich mit einem Gruß, der keinen Gegengruß mehr erwartet.

Auch haben diese Abschiedsbriefe häufiger als andere Feldpostbriefe zuweilen gar keinen konkreten Adressaten; es wird oft eine Gruppe von Adressaten angespro- chen (Angehörige, Kameraden, Vorgesetzte), zuweilen wird sogar nur ein anonymer Finder angesprochen. Ebenso wenig nehmen die Schreiber von Abschiedsbriefen noch irgendwelche Rücksichten auf Zensurvorschriften respektive Geheimhaltungs- pflichten.

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Noch unzureichend untersucht ist, in welchem Maße und mit welchen Inten- tionen Feldpost in Schulbüchern verwendet wird. Christian Heuer (Freiburg) wid- mete sich diesen »unentdeckten« Potenzialen für das historische Lernen. Kritisch merkte er an: Die Behandlung der Feldpostbriefe im Kontext von historischen Lern- prozessen bleibt zumeist auf einer rein illustrativen Verwendung bereits bekann- ter Inhalte stehen. Die Selbstthematisierung der »Zeitzeugen« oder »Augenzeu- gen« in den Feldpostbriefen wird im Schulbuch zum Ausgangspunkt der Suggestion von Authentizität und Faktizität. Gerade durch den expliziten Verweis auf die scheinbar verbürgte Echtheit der erinnerten Erlebnisse durch das »explizite Selbst«

generieren sich diese Manifestationen zur Quelle historischer Erkenntnis.

In der Konferenz wurde deutlich, dass der Zweite Weltkrieg hauptsächlich in Deutschland bei der Thematisierung der Kriegserfahrung im Vordergrund steht.

Bei unseren europäischen Nachbarn ist es zumeist der Erste Weltkrieg. Doch auch in Deutschland verschiebt sich das Interesse gegenwärtig partiell offenbar in Rich- tung Erster Weltkrieg.

Ein Beispiel dafür sind Gerhard Engels (Berlin) Untersuchungen zu Sozialdemo- kratischen Feldpost-Netzwerken im Ersten Weltkrieg. Engel ist der Herausgeber des Bandes »Rote in Feldgrau«, in dem er Feldpostkonvolute linkssozialdemokra- tischer Soldaten edierte und systematisierte und der in Vielem als Gegenentwurf zu dem Werk »Kriegsbriefe gefallener Studenten« gelesen werden kann.

Den bei Engel angesprochenen politisch-gesellschaftlichen Diskursen war auch Ralf Hoffrogge (Potsdam) in seinem Vortrag »Utopien am Abgrund. Der Briefwech- sel Werner Scholem – Gershom Scholem in den Jahren 1914–1919« sehr nahe. Er zeichnete die Ideenwelten der beiden Brüder nach, die durch die Grunderfahrung des Ersten Weltkriegs auf verschlungenen, sich berührenden Wegen beim einen zum Kommunismus und beim anderen zum Zionismus führte.

Ryan Zroka (San Diego, USA) wandte sich den Problemen der Moral und Moti- vation deutscher Soldaten bei Kriegsende zu, wie sie in den Kriegsbriefen häufig thematisiert wurden. Zroka geht der Frage nach, warum deutsche Soldaten diesen brutalen Krieg so lange mitmachten, ohne dass ihre individuelle Kriegsmüdigkeit in eine kollektive Aktion überging und ob womöglich gerade der enge Kontakt via Feldpost zu Familie und Bekannten in der Heimat sie davon abhielt.

Claudia Schlager (Friedrichshafen) beschäftigte sich in ihrem Referat mit der Frage, ob Feldpostbriefe geeignete Quellen zur vergleichenden Erforschung katho- lischer Religiosität in Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg seien. Da- bei revidierte sie die Vorannahme, dass Feldpostbriefe authentische Dokumente zum religiösen Diskurs und zur spezifischen Frömmigkeitspraxis im Schützengra- ben und in der Heimat sind.

Überaus anregend war der Beitrag von Klaus Latzel (Braunschweig), der sich einem der zentralen Begriffe beim Umgang mit der Kriegserfahrung zuwandte:

den Gefallenen. Latzel spürte der Relevanz und den Konnotationen des Begriffes seit seiner Verwendung in den militärischen Auseinandersetzungen der ver- gangenen 200 Jahre bis in die aktuellen »Kampfeinsätze« der Gegenwart nach, die nur zögerlich Kriege genannt werden und bei deren Thematisierung daher auch der Begriff des »Gefallenen« unterschiedlich verwendet wird. Während einst das

»Fallen« zur verklärenden Weichzeichnung des Kriegstodes diente, gilt seine Ver- wendung heute als Ausweis illusionslosen Realismus’ im öffentlichen Sprechen über die Auslandseinsätze der Bundeswehr, zweifellos ein deutlicher Indikator für den Wandel grundsätzlicher Einstellungen zu Krieg und Tod seit 1945.

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Einen Exkurs unternahm Rüdiger von Dehn (Wuppertal), der sich mit der Feld- post deutscher Auswanderer im Amerikanischen Bürgerkrieg 1861–1865 beschäf- tigte. In ihren Briefen wird deutlich, dass es die Kriegsteilnahme war, die sie letzt- lich zu amerikanischen Staatsbürgern machte und sie unabhängig von ihren politischen und weltanschaulichen Ansichten als Citizen Soldier in die Gesellschaft integrierte.

Hajo Diekmannshenke (Koblenz) referierte über »Feldpostbriefe als linguistischer Forschungsgegenstand« und hob hervor, dass Feldpost wie auch andere Formen von Alltagsschriftlichkeit (Postkarten, Tagebücher) in der Linguistik bislang we- nig Aufmerksamkeit erfahren haben. Er richtete den Blick auf die spezifischen Kommunikationsbedingungen und deren Auswirkungen auf den jeweiligen ein- zelnen Brief.

Astrid Irrgang (Berlin) stellte die Kriegsbriefe des 1922 in einer protestantisch- bildungsbürgerlichen Berliner Familie geborenen Peter Stölten vor, der an zentra- len Frontabschnitten kämpfte, zum Leutnant befördert und schließlich zum NS- Führungsoffizier ernannt wurde. Sie unterstrich, dass eine sich kontinuierlich über einen längeren Zeitraum erstreckende Quellenbasis, die exemplarische Untersuchun- gen erlaubt, Seltenheitswert hat und betonte die Bedeutung geschlossener Quel- lenkörper für die Analyse des Innenlebens der am Kriegsgeschehen beteiligten Menschen.

Thomas Vogel (Potsdam) präsentierte Erfahrungen mit dem schriftlichen Nach- lass des Hauptmanns Wilm Hosenfeld (1895–1952) und hinterfragte die Bedeu- tung von Feldpostbriefen für die historische Forschung zum Widerstand im »Drit- ten Reich«, nachdem Hosenfeld als Person der Zeitgeschichte gemeinhin in diesem Kontext wahrgenommen wird. Dabei wurden die Grenzen des Mediums, dann aber auch sein gerade im vorliegenden Fall nachweislicher Quellenwert sichtbar gemacht.

Es ist ein Verdienst der Konferenz, Wissenschaftler verschiedener Länder mit ihrem Blick auf die eigene Geschichte und der des »Feindes« zusammengebracht und damit eine über das Nationale hinausgehende Perspektive befördert zu ha- ben.Kerstin von Lingen (Heidelberg) beschäftigte sich mit dem Italien-Bild der Feld- post, das einzigartig im Zweiten Weltkrieg, ein Bild vom Verbündeten und Geg- ner lieferte. Soldatenaufzeichnungen können Aufschluss darüber geben, wie viel von der NS-Propaganda (zuerst von den Freundschaftsbeteuerungen und später von der Rede vom »verräterischen Italiener«) angesichts der Realität geglaubt wurde bzw. welche Gegenperspektive sich etablieren konnte.

Marco Mondini (Padua, Italien) gab einen Überblick zur Archivsituation italieni- scher Feldpost des Ersten Weltkriegs und widmete sich der Konstruktion eines kriegerisch-heldenhaften Männerbildes in diesen Briefen. Er berichtete, wie sehr der Kontakt zwischen Front und Heimat im Italien des Ersten Weltkriegs durch den Analphabetismus erschwert und dadurch auch der Inhalt des Mitgeteilten re- duziert wurde. Zudem erschwerten die ideologischen »Grabenkämpfe« in Italien über Jahrzehnte die Analyse der Feldpost. Die nur rudimentär überlieferte Feld- post der Volksmassen bot Freiraum für widersprüchliche Interpretationen. Der Er- ste Weltkrieg brachte jedoch einen unbeabsichtigten zivilisatorischen Effekt: die Reduzierung der Analphabetenrate.

Ganz anders dagegen die Kriegserfahrungen, die die Angehörigen der spani- schen »Blauen Division« von der deutschen Ostfront übermittelten, wie Xosé Nunez

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(Santiago de Compostela, Spanien) berichtete. Die schriftlichen Mitteilungen radika- ler Falangisten, oft mit akademischer Ausbildung, waren prägend für den spani- schen Faschismus. Für viele Kämpfer handelte es sich in Russland nicht um einen

»europäischen Kreuzzug«, sondern bloß um eine Fortsetzung des Spanischen Bür- gerkrieges. Jedoch war der Krieg, von dem sie erzählten, völlig anders.

Die Frage, welche Strategien sich einzelne Menschen zurechtlegten, um ihre Si- tuation im Zweiten Weltkrieg zu meistern, beschäftigte Angela Schwarz (Siegen).

Britische Soldaten waren Bürger eines angegriffenen Landes. Bei ihnen stand zu- nächst das Moment der Verteidigung und des Widerstandes im Vordergrund, spä- ter das der endgültigen Niederwerfung des Aggressors. Wie britische Feldpostbriefe zeigen, gelang es so manchem Soldaten gerade durch das »Herunterschreiben«

von ein paar Briefseiten, schwierige Momente leichter zu bewältigen.

Sebastian Haak (Erfurt) fragte in seinem Beitrag über die »Wahrnehmungen des Tötens und Sterbens in den Briefen US-amerikanischer Soldaten im Zweiten Welt- krieg«, inwieweit sich Feldbriefe zur Analyse von Emotionen eignen, ist doch die Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung von Krieg an die Wiedergabe starker Gefühle gekoppelt.

Snezhana Dimitrova (Blagoevgrad, Bulgarien) erläuterte anhand der Überliefe- rungssituation von bulgarischen Feldpostbriefen, insbesondere aus dem Ersten Weltkrieg, die Schwierigkeit, Kriegserlebnisse der Gesellschaft zu vermitteln.

Rik Opsommer (Gent, Belgien) kritisierte die weitverbreitete Vernachlässigung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Feldpostkarten des Ersten Weltkriegs.

Er zeigte die Forschungsmöglichkeiten und Beschränkungen eines Alltagsmediums anhand deutscher Feldpostkarten aus Westflandern auf.

Tatjana Voronina (St. Petersburg, Russland) verortete den Platz der Quelle Feld- post innerhalb der russischen Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg und ver- deutlichte, dass die Briefe zum gewöhnlichen Sujet des russischen Erinnerungska- nons als Symbole der Epoche gehören und dass die Ästhetik der Präsentation in der sowjetischen Zeit wurzelt.

Einem in der Feldpostforschung bislang nur wenig beachteten Aspekt, dem sich gerade deswegen die Konferenz besonders annehmen wollte, stellt die Erfah- rung von Frauen an den Fronten des Krieges dar. Judy Barrett Litoff (Rhode Island, USA), die die größte Sammlung von Frauen-Feldpost in den USA angelegt hat, widmete sich den Briefen Rita Pilkeys, die ab 1944 Direktorin des amerikanischen Roten Kreuzes in der chinesischen Provinz Yunnan war. Ihre Briefe zeigen, wie sich Frauen im Laufe des Krieges schnell und selbstbewusst ihren Platz in der Kriegsgesellschaft »eroberten«.

Ein analoges Thema auf deutscher Seite thematisierten Julia Paulus (Münster) und Marion Röwekamp (Cambridge, USA) in ihren Untersuchungen zu Anette Schücking, einer Soldatenheimschwester an der Ostfront. Hier handelt es sich um autobiografische Darstellungen in Briefform, die unter verschiedenen Aspekten gelesen werden können: Im Kontext ihres Einsatzes an der Front erscheinen die Inhalte der Briefe zuweilen als »Befreiungsakt« von engen geschlechtsspezifischen Rollenvorgaben, in denen die Rotkreuzschwestern als »Abenteurerinnen« stilisiert werden. Daneben lassen sich die Briefe auch als Texte der erstmaligen Begegnung mit dem ›Fremden‹ lesen.

Helen Steele (Swansea, Großbritannien) betrachtete »Feldpost and Frauenalltag in Wien 1943–1945« und betonte die Bedeutung der Feldpost für die Frauen und wie viel man heute über deren Alltag und ihre Überlebensstrategien daraus erfah-

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ren kann. Ihr Beispiel ist Lilly S., die täglich an ihren Mann schrieb und die das Schreiben als Höhepunkt ihres Tages ansah.

Sabine Grenz (Berlin) wandte sich der Quellengattung Brieftagebücher zu, die im Zweiten Weltkrieg in erster Linie von Frauen verfasst wurden. Aus den oft von großer Intimität geprägten Tagebüchern arbeitete sie die verschiedenen Beziehungs- ebenen und die den Gemeinschaftsbegriffen zugrunde liegenden Geschlechterkon- struktionen heraus.

Christa Ehrmann-Hämmerle (Wien, Österreich) gab ausgehend von der kritischen Einschätzung, dass Feldpostbriefe ohne Augenmerk auf die Kategorie Geschlecht nicht adäquat ausgewertet werden können, einen Überblick über Forschungen zur Feldpost aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Sie plädierte für eine »Front« und »Heimatfront« gleichermaßen integrierende historische Feldpost- forschung und stellte darüber hinaus einige Überlegungen an, wie die auf Feld- post basierende Analyse von (Liebes-)Beziehungen zwischen – kriegsbedingt häu- fig über mehrere Jahre getrennten – Männern und Frauen konzeptualisiert sein könnte.

Frank Werner (Auetal) erläuterte die geschlechtsspezifischen Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944, indem er in Feldpostbriefen der ausgesprochen evidenten Kategorie soldatischer Selbstidentifikation nachspürte. Er legte dar, dass sich Feldpostbriefe in besonderer Weise zur Untersuchung von Männlichkeit eig- nen, weil sie als »Gesprächsmedien« kommunikative Räume zur Selbstinszenie- rung schaffen. Gerade im kommunikativen Charakter der Feldpost liegt bei der Suche nach Männlichkeit mithin der Schlüssel zur Authentizität. In seiner Analyse der Feldpost unterschied er drei Dimensionen, in denen sich Männlichkeit (über den Modus kameradschaftlicher Vergemeinschaftung hinaus) als signifikantes In- dividualitätsprinzip manifestiert: als subjektives Angebot zur Selbstverortung und Selbstidentifikation, als kollektiver Wahrnehmungsfilter, der die Unübersichtlich- keit des Krieges in den Chiffren dualer Geschlechterbilder ordnet, und als sozialer Geltungswert, der die Kriegsgesellschaft nach Maßstäben der Männlichkeit hierar- chisiert und individuelle Anreizstrukturen zur Normerfüllung konstituiert.

Michaela Kipps (München) Auswertung von ca. 7000 Feldpostbriefen führte zu dem Ergebnis, dass die Soldaten kaum auf ideologische Argumente rekurrierten, sondern eher damit beschäftigt waren, die im Einsatzgebiet vorgefundenen Ein- drücke dem eigenen Erfahrungshorizont anzuverwandeln. Erst wenn politische Ideologie an solche Alltagsüberzeugungen anschlussfähig ist, erhält sie Hand- lungsrelevanz für konkrete Situationen. Die Verschränkung kollektiver Deutungs- muster und persönlicher Wahrnehmung im Kontext des Krieges führte zu einem ausufernden, dynamischen Prozess der Enthemmung, der zu den mentalen Mög- lichkeitsbedingungen der Vernichtungskriegführung im Osten gehörte. Dabei sollte insbesondere das zivilisatorische Grundmotiv der »Reinlichkeit« eine mörde- rische Wirkung entfalten.

Bilder von Kriegsschauplätzen und Urlaubserlebnissen passen nicht zueinan- der, scheinen sich zu widersprechen. Kriegsgeschehen positiv zu besetzen ist je- doch eine Möglichkeit Kriege wahrzunehmen und wird, beispielsweise von der US-Marine, bis heute als Interpretationsmuster angeboten. Ob und inwieweit dieses Wahrnehmungsmuster speziell bei deutschen Soldaten existierte, unter- suchte Kerstin Wölki (Dortmund). Sie wies nach, dass die Wahrnehmung des Krieges als Urlaubs- und Vergnügungsreise durch deutsche Soldaten insbesondere in Frank- reich auftrat und gleichermaßen ein Gegenmodell zur Kriegserfahrung in Osteuropa

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ist. Dieses subjektive Wahrnehmungsmuster hatte aber auch in Frankreich seine Grenzen, bleibt jedoch auch nach der Landung der Alliierten abrufbar und ist bis heute erhalten, wenn Zeitzeugen versuchen, jenen, die nicht am Krieg teilgenom- men haben, ihre Erlebnisse zu vermitteln.

Neben der Erfahrung des Kriegs als Reise war es die Truppenbetreuung, die positive Erlebnisse organisierte, wie Heike Frey (München) betonte. Aus der Über- zeugung der NS-Führung, die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung und vor allem der Soldaten sowie die gravierenden Zerfallserscheinungen in der Etappe wären im Ersten Weltkrieg mit gezielter ideologischer Ausrichtung und Betreuung zu vermeiden gewesen, resultierte der hohe Stellenwert, der einer planvollen und um- fassenden Truppenbetreuung beigemessen wurde. Sie umfasste Gastspiele großer Theater- und Opernhäuser, Sinfonieorchester, Wanderbühnen, Kabarettisten, Streichquartette und Pianisten, Vortragsreisende, Filmvorführungen mit Spielfil- men, Wochenschauen oder Propagandastreifen, die Versorgung mit Notenmate- rial, Büchern, Musikinstrumenten, Grammophonen und Schallplatten, Soldatenblät- ter mit Anregungen zur Freizeitgestaltung, Frontzeitungen und am allerwichtigsten:

Rundfunkgeräte, um den Reichsrundfunk hören zu können.

Welche enorme psychosoziale Bedeutung die Feldpost für die Angehörigen in der Heimat hatte, beleuchtete Rüdiger Overmans (Freiburg) mit »Die leidige Affäre Heitz«. Durch ein Versehen der deutschen Auslandsbriefzensur gelang der Sowjet- union ihr wohl größter Propagandacoup im Zweiten Weltkrieg. Mehr als 600 Briefe angeblich gefallener Wehrmachtangehöriger wurden über das Ausland zugestellt, der prominenteste von Generaloberst Heitz an seine Frau. Die Nachricht von die- sem Brief pflanzte sich im Deutschen Reich wie ein Lauffeuer fort. Frau Heitz wurde buchstäblich mit Post überschwemmt. Das Reichssicherheitshauptamt un- terband jedoch sehr bald den Postverkehr in dieser Angelegenheit. Wer Informatio- nen darüber verbreitete, wurde von der Gestapo nachdrücklich verwarnt, jede wei- tere Aktivität zu unterlassen, wenn er nicht in ein Konzentrationslager eingewiesen werden wollte.

Petra Bopp (Jena) und Sandra Starke (Dresden) weiteten den Horizont, indem sie anhand zweier Foto-Feldpost-Konvolute die Charakteristika der schriftlichen und visuellen Medien Feldpost und Fotografie erörterten. Sie beleuchteten dabei die gegenseitigen Bezüge, Interpretationen und Leerstellen.

Nina Simone Schepkowski (Berlin) wertete die Feldpostbriefe Max Beckmanns als eindringliche literarische Zeugnisse und bettete diese in das künstlerische Œuvre des Malers ein. Beckmanns zeichnerisches und grafisches Werk zeigt schonungs- los die ganze Härte des Krieges. Die künstlerische Reflexion seiner Fronterlebnisse äußerte sich in einem radikalen Wandel innerhalb seiner bildnerischen Ausführun- gen.

Dorothee Schmitz-Köster (Berlin) sprach über den »Krieg ihres Vaters« auf der Grundlage der von ihr ausgewerteten mehr als 1000 Briefe, die sich Vater und Groß- mutter von 1935 bis 1945 geschrieben haben. Sie betonte die Nähe zum Objekt einer- seits als notwendig, um die private Ebene der Briefe zu erschließen, und anderer- seits als problematisch, da diese blinde Flecken erzeugen und zu unangemessenen Urteilen verleiten könnten.

Neben der Vorstellung neuer Feldpostkonvolute, die das Mosaikbild des Kriegs- alltags immer wieder vergrößern, wurden viele neue Anregungen gegeben. So be- zog Klaus Latzel die Sprache der Feldpostbriefe auf aktuelle kriegerische Ereignisse, Christian Heuer benannte die Fehlstellen bei der Verwendung von Feldpost in Schul-

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büchern und Elke Scherstjanoi warnte zu Recht davor, die Quelle wiederum zu über- fordern. Mehrere Referenten, wie Clemens Schwender und Aribert Reimann unterstri- chen die Bedeutung von Feldpost als Medium sozialer Kommunikation im Sinne moderner Kommunikationsforschung. Auch der Umgang mit der Feldpost im mo- dernen Infotainment wurde kritisch hinterfragt. Durch die Konferenztage wurden viele maßgeblich mit der Feldpostforschung befasste Wissenschaftler und Publizis- ten vernetzt. Es ist zu wünschen, dass das Gespräch z.B. in Symposien weiterge- führt wird, um einzelne Themen tiefer auszuloten.

Der Konferenzband erschien im April 2011.

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Klaus Storkmann

»Auf dem Weg zur Wiedervereinigung:

Die beiden deutschen Staaten in ihren Bündnissen 1970 bis 1990«.

51. Internationale Tagung für Militärgeschichte (ITMG), 22. bis 24. September 2010 in Potsdam

Anlässlich des 20. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung und vor dem Hin- tergrund der aktuellen transatlantischen Debatte über die langfristigen Ursachen von 1989 brachte die 51. ITMG viele interessante Aspekte der deutsch-deutschen und ost-westlichen Sicherheits- und Militärpolitik in die Debatte um die langfristi- gen Ursachen des Endes der Blockkonfrontation und die Schaffung der Rahmen- bedingungen für die Wiedervereinigung ein. Der friedliche Charakter der Umwäl- zungen der Jahre 1989 und 1990 mache nachträglich dankbar, so der Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) Hans-Hubertus Mack (Potsdam) als Gastgeber rückblickend. Die damaligen revolutionären Veränderungen und der zeitgenössisch als »Deutsche Frage« bezeichnete schwierige Weg dorthin ent- halten auch militärische Komponenten, begründete Mack in seiner Begrüßung die Konzeption der Konferenz. Es habe sich daher angeboten, Dynamiken und Perspek- tiven der letzten zwanzig Jahre des Ost-West-Konflikts zu thematisieren. Oliver Bange (Potsdam) zufolge war es eine zentrale Frage bei Konzeption der Tagung, ob die Existenz zweier deutscher Staaten, ihrer Bündnispflichten, ihrer Soldaten und Gesellschaften Katalysator oder Hindernis auf dem gewundenen Weg zu 1989 ge- wesen sei. Bange und Co-Organisator Bernd Lemke (Potsdam) betonten den An- spruch der Tagung, Mehrdimensionalität widerzuspiegeln, sowohl in Auswahl der Themen als auch der Referenten.

Gottfried Niedhart (Mannheim) meinte in seinem Einführungsvortrag, der deutschlandzentrierte Blick auf die Anfänge des Kalten Krieges sei nicht ange- bracht, auch wenn sich hier der Ost-West-Konflikt am augenfälligsten zeigte. Viel- mehr sah er – global formuliert – die Ursache des Kalten Kriegs in der Verweige- rung des Westens, nach 1945 die Statuserhöhung der Sowjetunion als gleichrangigen Partner zu akzeptieren. Grundlage der späteren Entspannungspolitik sei daher die Anerkennung der jeweiligen Besitzstände der anderen Seite gewesen. John F. Ken- nedy habe demzufolge den Bau der Berliner Mauer 1961 auch als Zeichen gewer- tet, dass Nikita S. Chruščev die amerikanische Interessensphäre akzeptiere und re- spektiere. Niedhart rief in Erinnerung, dass Kennedy auf den Mauerbau mit der Bemerkung reagierte, jetzt sei West-Berlin sicher und eine Mauer sei allemal bes- ser als ein Krieg. Die grundsätzliche Anerkennung der sowjetischen Interessen habe dazu geführt, dass auch Krisen wie der Prager Frühling 1968 die Arbeitsbe- ziehungen zwischen beiden Supermächten nicht erschüttern konnten. Niedhart konstatierte, der Übergang vom Kalten Krieg zur antagonistischen Kooperation sei von beiden Seiten gewollt und letztlich unvermeidbar gewesen.

Der Weg in die Entspannungspolitik stand im Zentrum der ersten Tagungssek- tion. Csaba Békés (Budapest) plädierte für neue Interpretationen der Detente und unterstrich ähnlich wie Niedhart die Rolle der Kommunikation zwischen beiden Seiten. Geheimdiplomatie habe viel zur Lösung der großen Krisen um Berlin und Kuba beigetragen. Kompromisse hinter den Kulissen und Gesichtswahrung nach Außen seien dabei der Weg zur Entschärfung der Konflikte gewesen. Die konkur-

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rierenden Entspannungsstrategien des Westens analysierte Stephan Kieninger (Mannheim). Trotz scharfer öffentlicher Angriffe auf das »evil empire« habe die Ent- spannungspolitik auch unter Ronald Reagan weitergelebt. Reagan und sein Außen- minister George Schultz seien sich der Wirkmächtigkeit der amerikanischen Über- legenheit bewusst gewesen und hätten auf dieser Basis die Entspannungspolitik als Wettbewerb mit dem östlichen Lager zu führen – und zu gewinnen gehabt. Die Bedeutung des KSZE-Prozesses für die Ost-West-Dynamik hinterfragte Oliver Bange. Es sei ungewöhnlich gewesen, dass eine Sicherheitskonferenz jegliche mili- tärische Themen ausspare. Die KSZE habe aber einen wesentlich umfassenderen als nur einen militärischen Sicherheitsbegriff verfolgt. Bange beleuchtete das hin- ter Helsinkis Kulissen betriebene Dreiecksspiel zwischen Bonn, Moskau und Washington. Ost-Berlin blieb außen vor, sei aber durch seine erfolgreiche Ausland- spionage sehr wohl genau im Bilde gewesen. In seinem Kommentar fragte Win- fried Heinemann (Potsdam), ob die europäischen Partner etwa ein Interesse an einer Fortdauer der europäischen und vor allem der deutschen Teilung gehabt hätten, weil diese ihnen auch Sicherheit vor Deutschland verschaffte. Die KSZE habe auch dazu gedient, beide deutschen Staaten enger in ihre jeweiligen Bündnisse zu inte- grieren, da die Entspannungspolitik nur innerhalb der Bündnisstrukturen geführt werden konnte.

»Die Wiedervereinigung Deutschlands – 20 Jahre danach: Welche Chancen ha- ben wir genutzt, welche haben wir versäumt?« fragte Horst Teltschik (Rottach- Egern) auf dem traditionellen Abendvortrag der ITMG. Im November 1989 sei die größte Sorge der Bundesregierung gewesen, was passieren würde, wenn doch noch Schüsse fielen – sei es aus Nervosität oder aus Angst. Auf den Vereinigungspro- zess zurückblickend, plädierte er dafür, nicht nach Fehlern zu suchen. Das Tempo der Einigung sei nur von einer Seite bestimmt worden – den Menschen in der DDR.

Mit Blick auf heutige internationale Probleme fasste Teltschik seine Erfahrungen prägnant zusammen; wichtig sei nicht immer die Realität, sondern meist deren Perzeption.

Krisen als Brenn- und Wendepunkte des Ost-West-Konflikts diskutierte die zweite Sektion. Wanda Jarzabek (Warschau) untersuchte die polnische Krise 1980/81 und die unterschiedlichen Ansätze innerhalb des östlichen Bündnisses zu deren Beilegung. Die Folgen der »Able Archer«-Übung 1983 thematisierte Mark Kramer (Cambridge, USA). Sein Fazit: »Able Archer« werde stark überbewertet. Die Welt habe 1983 bei Weitem nicht am Rand eines nuklearen Krieges gestanden. Gestützt auf sowjetische Akten und von ihm befragte vormalige sowjetische Politiker und Militärs sieht Kramer keine Hinweise, dass das Politbüro und der Generalstab in Moskau über »Able Archer« besorgt gewesen seien oder es gar Ängste vor einem amerikanischen Überraschungsangriff gegeben hätte. Blockübergreifend skizzierte Joseph P. Harahan (Springfield, USA) die internationalen Rüstungskontrollverhand- lungen und -mechanismen als Instrument vertrauensbildender Maßnahmen.

Wilfried Loth (Essen) stellte seinen Kommentar unter das Leitmotiv der Lernpro- zesse. So wie die polnische Krise zu einem Lernprozess für die Sowjetunion wurde, führte »Able Archer« 1983 zu einem solchen auf amerikanischer Seite. Loth relati- vierte Kramers Einschätzung einer »non-crisis«: »Es war nicht nichts«. Den Rüs- tungskontrollvereinbarungen lag ein nicht zuletzt den immensen Kosten der Rüs- tung geschuldetes Umdenken auf beiden Seiten zugrunde: die »Einsicht in die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sicherheitspolitik«. In der Diskussion unter- stützen Gregory Pedlow (Mons, Belgien) und Sigurd Hess (Rheinbach) Kramers Ein-

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schätzung, »Able Archer« sei in Moskau nicht als Bedrohung wahrgenommen wor- den. Dieter Krüger (Potsdam) fragte, ob nicht in allen großen Krisen im Ostblock ein gleiches Grundmuster sichtbar werde. Durch die ökonomische Schwäche des real existierenden Sozialismus ausgelöste Wirtschaftskrisen zwangen die Partei- führungen zu Reformschritten und damit zum Lockern der Zügel, bis sie schließ- lich von der Dynamik der Prozesse überrollt wurden. Kramer differenzierte die Sicht auf Michail Gorbačev als generellen Gegner militärischer Interventionen mit dem Hinweis auf den von ihm befohlenen oder zumindest autorisierten Einsatz gegen die litauische Unabhängigkeitsbewegung 1990. Er widersprach zugleich der Einschätzung Loths, die Brežnev-Doktrin habe nicht erst mit Gorbačev, sondern bereits mit der Nichtintervention in Polen 1980/81 ihr Ende gefunden. Loth entgeg- nete, er sehe eine graduelle Entwicklung hin zur neuen Politik Moskaus aber eine radikale Umkehr unter Gorbačev.

Den Beziehungen zwischen beiden Bündnissen und ihren deutschen Mitglied- staaten widmete sich eine weitere Sektion. Tim Geiger (Berlin) zufolge blieb die Bundesrepublik aufgrund ihrer geopolitischen Lage besonders druckempfindlich.

Hinzu kamen die Schatten der jüngeren deutschen Vergangenheit. Geiger brachte seine Analyse auf die Formel, die zwei Schwachstellen der Bundesrepublik seien

»Berlin und Auschwitz« gewesen. Diese hätten Bonn auch im atlantischen Bünd- nis eine Politik der Zurückhaltung anempfohlen. Seine tatsächliche Machtposition habe Bonn nur selten öffentlich gemacht. Jordan Baev (Sofia) konstatierte, die DDR habe aufgrund ihrer exponierten Lage und ihres ungeklärten Status in den ersten Jahrzehnten innerhalb des Warschauer Pakts zumeist eine härtere Position als die anderen Paktstaaten eingenommen. Heiner Möllers (Potsdam) richtete seinen Fo- kus zur NATO-Doppelbeschlussdebatte nicht auf SPD und FDP, die ohnehin im Mittelpunkt des zeitgenössischen und des späteren historiografischen Interesses standen, sondern auf den wenig bekannten Widerstand gegen die Nachrüstung innerhalb der CDU/CSU. Krüger nutzte seinen Kommentar zu differenzierenden und vergleichenden Gedanken zur Rolle und zum Einfluss beider deutscher Staa- ten in ihren Bündnissen. Die DDR habe den Warschauer Pakt in den 1960er Jahren benutzt, um mit einer »umgekehrten Hallstein-Doktrin« die Anerkennung durch die Bundesrepublik zu erzwingen. Das östliche Bündnis habe für die DDR und die osteuropäischen Staaten in gewisser Weise die fehlende innere Legitimation er- setzt: Innerhalb des Blocks habe sich die DDR als scheinbar gleichberechtigt dar- stellen können. Krüger betonte, die Sowjetunion habe gegenüber der NATO keine Aggressionsabsichten verfolgt, und verwies auf die Notwendigkeit zwischen poli- tischen Absichten und strategischen Dispositiven zu differenzieren.

Marie-Pierre Rey (Paris) skizzierte den Weg der Veränderungen im Denken Gorbačevs und führte dann in die Sektion zu Interdependenzen von innerer und äußerer Sicherheit ein. Darin beschrieb Rainer Eckert (Leipzig) den Weg der Opposi- tion und des politischen Protests in der DDR. Oldrich Tuma (Prag) stellte in seinem Kommentar die großen politischen Unterschiede bei den Zielen und Motiven der Protestbewegungen in Ost und West – bei gleichzeitiger nahezu identischer Visua- lisierung und ähnlichem Auftreten – heraus.

Den operativen Planungen beider Blöcke sowie dem Verhältnis von Strategie und wechselseitiger Perzeption galt ein mit besonderer Spannung verfolgter Kon- ferenzabschnitt. Sektionsleiter Hans-Hubertus Mack erinnerte daran, dass Krieg zu Zeiten des Ost-West-Konflikts sehr wohl als realistische Gefahr angesehen und mit entsprechend hohem Aufwand durchgespielt wurde. Auf der Grundlage

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