Die antike Verknüpfung von phantasia und Dichtung
bei den Arabern
Von Wolfhart Heinrichs, Gießen
Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung steht der aus der philoso¬
phischen (d.h. letztlich aristotelischen) Poetik stammende Begriff der
,, Vorstellungsevokation" (tahyil), so wie er sich in den Werken seines
„Akkulturators" (sit venia verbo) al-Färäbi (st. 950) darstellt*. Damit wird zunächst die wissenschaftliche Erörterung des Begriffs weitergeführt,
was insofern nötig ist, als die bemerkenswerte Umdeutung des tahyil durch
al-Färäbi noch nicht klar erkannt worden ist ; sie wü'd daher im folgenden
zusammenhängend dargestellt und gewürdigt. Gleichzeitig möchte diese
Darstellung als ein Beitrag zur kulturübergreifenden Komparatistik
verstanden sein, obwohl ein Vergleich im strengen Sinne nicht stattfindet.
Es geht vielmehr — abstrakt gesprochen — um das Schicksal eines
dichtungstheoretischen Grundbegriffs beim Übergang von einer Kultur
in die andere und die durch die andersgeartete Struktur der aufnehmen¬
den Kultur bedingte innere Umwandlung dieses Begriffs. Auf unseren
Fall bezogen heißt dies, daß der Prozeß der Rezeption des antiken
Begriffs der phantasia — als eines auf Dichtung bezogenen Vermögens —
im islamischen Bereich und die allmähliche Umdeutung der auf diesem
Begriff basierenden Dichtungstheorie in eine Theorie der Religion durch
al-Färäbi nachzuzeichnen ist. Hierbei ergibt sich als dritte — eher nach¬
geordnete — Intention der folgenden Ausfühmngen die Darstellung der
semantischen Entwicklung des Fachterminus tahyil aus seinen beiden
Quellen : Alltagsbedeutung und Lehnübersetzung.
1. Herkunft und Definition des Begriffs tahyil in der ,, logi¬
schen" Poetik
Die Vorstellung (phantasia) als schöpferisches Seelenvermögen wurde
schon in der Antike mit der Dichtung (und allgemein mit der Kunst)
' Die vorliegende Arbeit wurde ursprünglich für eme facbfremde Zeitschrift
verfaßt, welcho dann wegen des allzu philologischen Charakters der in ihr
enthaltenen Ausführungen auf den Abdruck verzichtete. Trotz Revision des
Textes mögen manche dem Leser überflüssig erscheinende Erläuterungen
stehengeblieben sein, wofür ich um Nachsicht bitte.
Die antike Verknüpfung von phantasia und Dichtung 253
verknüpft*; sie hatte allerdings keinen leichten Stand gegenüber der
Nachahmung (mimesis) als Kunstprinzip. Im Abendland wurde die
imaginatio als Quelle der Dichtung — in strikter Zuordnung — erst von
F. Bacon (st. 1626) namhaft gemacht*. Im arabisch-islamischen Bereich
nahm al-Färäbi die Kombination Dichtung-Vorstellung zum ersten Male
auf — im Rahmen einer Dichtungstheorie, deren unmittelbare griechische
Vorgänger wir nur bruchstückhaft kennen. Aufgrund der für die isla¬
mische Kultur eigentümliche Abgrenzung der Wissenschaften geschah
diese Übernahme seltsamerweise fernab der eigenthchen Dichtung, und
damit waren auch größtenteils die Weichen für die spätere Wirkungs¬
geschichte des Begriffs tahyil gestellt. Die Koppelung der beiden Begriffe
Dichtung und tahyil ergab sich nämlich im Verlaufe der arabischen
Rezeption der aristotelischen Poetik, und diese galt den Arabern wie ihren
Lehrmeistern, den spätalexandrinischen Aristoteles-Kommentatoren,
als eine Disziplin der Logik* und fiel somit in die Zuständigkeit der
Philosophen. Die Philosophie wiederum gehörte zu den Wissenschaften
der ,, alten" Völker (in erster Linie Griechen, Perser und Inder) und
■wurde daher den sogenannten „nichtarabischen" Wissenschaften zuge¬
rechnet — ganz im Gegensatz zur Dichtung, welche einen Ehrenplatz
unter den ,, arabischen" Wissenschaften einnahm*. Die Kluft zwischen
den beiden Wissenschaftsbereichen -wurde nur ausnahmsweise durch
universal interessierte G«lehrte überbrückt, und da zudem nur in wenigen
Fällen eine auf Themengleichheit beruhende Konkurrenz zwischen
arabischen und nichtarabischen Disziplinen auftrat, was zu einer beider-
2 Ausführliche Darstellung in Mübbay Wbight Bundy: The Theory of
Imagination in Classical and Mediaeval Thought. Urbana, TU. 1927.
' Vgl. Encyelopedia of Poetry and Poetics. Ed. Alex Pbeminger. Princeton 1965, S. 372a, s.v. Imagination.
< Grundlegend immer noch Richabd Walzeb: Zur Traditionsgeschichte der
aristotelischen Poetik. In: Studi italiani di Filologia Classica N.S. 11 (1934),
S. 5—14. Wiederabgedruckt in: ders.: Oreek into Arabic. Essays on Islamic
Philosophy. Oxford 1962, S. 127—136.
' Die Einteilung der Wissenschaften m arabische und fremde hegt beispiels¬
weise der in der zweiten Hälfte des 10. Jhs. verfaßten Enzyklopädie Mafätih
al-'ulüm ,,Die Schlüssel der W^issenschaften" von al-Hwärizmi zugrunde
(s. S. 5, Z. 6—8). Für den etwas früheren al-Färäbi, der bestrebt war, die
griechische Philosopie im arabisch-islamischen Bereich heimisch zu machen,
war eine solche Einteilimg natürlich nicht annehmbar, und so werden die
einheimischen Wissenschaften (Sprachwissenschaft, islamisches Becht und
Theologie) in seine ,, Aufzählung der Wissenschaften" (Ihsä' al-'ulüm)
integriert. Aber auch bei ihm erscheint die Dichtung zweimal, in der Sprach¬
wissenschaft (s. Ilisä' 19—21) und in der Logik (s. Ihsä' 43—45, 49—50)!
Zur Auffassung der Dichtung als Wissenschaft — hierbei ist in erster Linie
an die für den Dichter unerläßlichen Kenntnisse wie Metrik, Reimlebre u.a.m.
zu denken — vgl. Heinbichs: Arabische Dichtung 55 —56.
264 WOIiFHABT BtEINBICHS
seitigen Inbezugsetzung hätte führen können', waren die Vorbedingungen
für eine Querverbindung zwischen arabisch gewandeter aristotehscher
Poetik und einheimischer Dichtung und Literaturtheorie von vorneherein
äußerst ungünstig. Die Geschichte der aristotehschen Poetik im arabisch¬
islamischen Bereich ist daher in keiner Weise vergleichbar mit ihrer
Wirkungsgeschichte im Westen seit der Renaissance.
Trotzdem verlohnt es sich, diesen kümmernden Seitentrieb des
arabischen Aristotelismus und insbesondere den zentralen Begriff dieser
,, logischen" Poetik, den tahyil, genauer zu betrachten, und zwar aus zwei
sehr unterschiedlichen Gründen: Zum einen taucht der Terminus tahyil
vom 11. Jahrhundert an im Begrififsinventar der ,, einheimischen"
Literaturtheoretiker auf — in Bedeutungen, die zwar vom ,, logischen"
Sprachgebrauch deutlich verschieden sind, aber dennoch von einigen
Forschern darauf zurückgeführt werden (dies muß einer gesonderten
Untersuchung vorbehalten bleiben) ; zum anderen hat al-Färäbi, der an
der Einführung der ,, logischen" Poetik ins Arabische den wesentlichsten
Anteil hatte', den Begriff tahyil (samt Derivaten der gleichen Wurzel
und Grundbedeutung) für eine umfassende Theorie der Religion fruchtbar
gemacht, ein Vorgang, der auf die Funktion der Dichtung im arabisch¬
islamischen Bereich ein (indirektes) Licht wirft. Davon soll hier die Rede
sein.
Zuvor seien die Grundbegriffe der ,, logischen" Poetik und die damit
verknüpften Anschauungen kurz vorgestellt, und zwar im Anschluß
an al-Färäbis ,,Buch der Dichtung" [Kitäh aS-Si'r)^; denn dieses kleine
' Wo doch eine Konkurrenzsituation bestand, war das Ergebnis der Aus¬
einandersetzimg verschiedenartig: Synthese im Falle der altarabischen und
griechischen Astronomie, besonders der Sterimomenklatur ; getrermte
Weiterentwicklung im Falle von Logik und Grammatik, an deren gegen¬
seitigem Verhältnis im 10. und 11. Jh. ein starkes Interesse auf beiden Seiten bestand; oder auch die Konsolidierung einer neuen ,, arabischen" Wissen¬
schaft durch die Herausforderung einer übermächtigen fremden wie im Falle
der Propheten-Medizin, die als Antwort auf die galenische entstand, sich
aber freilich wegen Niveaumangels nicht durchsetzen konnte.
' Diese Einschätzung ist natürlich zu einem Teil abhängig von unserer
Quellenlage. Eine Epitome (muhtasar) der ,, Poetik" aus der Feder des ersten berühmten Philosophen der Araber al-Kindi (st. nach 870), welche im Fihrist
von Ibn an-Nadim verzeichnet steht, ist nicht auf uns gekommen. Anderer¬
seits deutet die allmähliche Bereicherung der Terminologie in den ,,logisch"-
poetischen Schriften von al-Färäbi darauf hin, daß er maßgeblich an der
Arabisierung dieser Logik-Disziplin beteiligt war (vgl. Heineichs : Arabische
Dichtung 129). Und schließlich zeigt die weitreichende Verwendung des
,, logisch"-poetischen Grundbegriffs tahyil durch al-Färäbi, daß er ein starkes inhaltliches Interesse an diesem Schrifttum baben mußte.
8 Dies ist eine nur wenige Seiten umfassende Teilschrift aus einem Kom¬
pendium des gesamten Organons. Eine analytische Inhaltsangabe findet sich
Die antilce Verknüpfung von phantasia und Dichtung 255
Werk zeichnet sicli dadurch aus, daß in ihm aUe drei maßgebhchen Be¬
grifFe, nämhch Si'r ,, Dichtung", tahyil „Vorstellungsevokation" und
muhäkät ,, Nachahmung", in einer einheitlichen Theorie über Wesen und
Zweck der Dichtung zusammen-\virken. Dichtung wird durch zweierlei
konstituiert: dadurch, daß sie aus Aussagen besteht, welche nachahmen,
und dadurch, daß sie metrisch ist. Von diesen beiden konstitutiven
Elementen ist die muhäkät ,, Nachahmung" das wichtigere; wenn das
Metrum fortfällt, handelt es sich zwar nicht mehr um Dichtung, aber
immerhin noch um eine dichterische Aussage {qaul Si'ri). Die Nachahmung
durch eine Aussage geschieht nun so, daß der Dichter die Aussage aus
Dingen zusammensetzt, welche die Sache, über die die Aussage geht,
nachahmen, d.h. er läßt die Aussage auf Dinge weisen (oder : Dinge be¬
deuten), welche besagte Sache nachahmen*. Das ist von al-Färäbi etwas
ungelenk ausgedrückt; er hat hier, wie aus anderen Schriften deutlich
wird, bildhche Ausdrucksweisen im Blick. Der Zweck der nachahmenden
Aussagen ist tahyil ,, Vorstellungsevokation", d.h. der Dichter beab¬
sichtigt mit diesen Aussagen, im Hörer ein Vorstellungsbild der in Rede
stehenden Sache (oder auch eines sie betreffenden Sachverhalts) zu er¬
zeugen, und zwar entweder ein schönes oder ein häßliches, und ihn
dementsprechend zur Erstrebung oder Vermeidung besagter Sache zu
veranlassen. Dem liegt die Auffassung zugrunde, daß die Menschen in
ihren Handlungen häufig ihren Vorstellungen folgen — unter Umständen
sogar dann, wenn die Vorstellung dem Wissen, das sie von derselben
Sache haben, zuwiderläuft.
Soweit die Grundzüge der Theorie nach dem Kitäb aS-Si'r. Es fehlt
hier — das sei nebenbei angemerkt — ein charakteristischer Begriff,
welcher in anderen Schriften al-Färäbis und besonders in der späteren
Geschichte der ,, logischen" Poetik eine beträchtliche Rolle spielt, nämhch der des qiyäs Si'ri (bzw. muhayyil), des ,, poetischen (bzw. vorstellungs-
evozierenden) Syllogismus", welchem eben die hier genannten dichte¬
rischen Aussagen als Prämissen dienen*". Über die ideengeschichtliche
Herkunft all dieser Begriffe und Anschauungen habe ich schon an
in Heinbichs: Arabische Dichtung 141—145. Der abgelegene Erscheinungs¬
ort der Edition dieses Werkes duroh Muhsin Mahdi (siehe Bibhographie)
hat es mit sich gebracht, daß es leider weithin unbekannt geblieben ist, so
auoh in den neuesten Pubhkationen von Dahiyat und Cantabino (siehe
Bibliographie).
' Ich habe mich hier eng an den Wortlaut von Si'r 93, Z. 13—15, gehalten.
1" Der Begriff ,, poetische Syllogismen" (al-maqäyis aS-Si'riya) wird von al-Färäbi in Alfäz 98, Z. llff., regelrecht eingeführt. Er findet sich aber an
den Stellen, an denen man ihn sonst erwarten könnte, bei al-Färäbi doch
recht selten. Er gebrauoht lieber aqätml ,, Aussagen" oder furuq ,,Wege, Methoden".
18 ZDMG 128/2
256 WoLFHABT Heinrichs
anderer Stelle gehandelt**, so daß hier eine kurze Zusammenfassung aus¬
reicht. Die beiden Grundbegriffe ,, Nachahmung" und ,, Vorstellungs¬
evokation" entstammen versehiedenen Traditionen. Man muß zwei tj ber-
liefemngskomplexe innerhalb der arabischen philosophischen Poetik
unterscheiden, welche einander merkwürdig wenig durchdrungen haben :
auf der einen Seite der Text der ,, Poetik", ihre Übersetzung und
Kommentierung, und auf der anderen Seite die alexandrinischen Be¬
gründungen der Zuordnung der Poetik zum Organen**. Die muliäkät
,, Nachahmung" ist natürlich eine Wiedergabe der aristotelischen
mimesis. Der auffällige Bedeutungswandel zu ,, bildliche Ausdrucks¬
weise" läßt sich wahrscheinlich dadurch erklären, daß der Übersetzer
der ,, Poetik" — und gleichzeitig Lehrer von al-Färäbl — Abü Bisr Mattä
b. Yünus (gest. 940) den Begriff mimesis, bzw. das ihm vorliegende
syrische Pendant riieddammyänütä, in den meisten Fällen mit dem
Hendiadyoin taSbih wa-muhäkät wiedergibt, wobei taSbih zwar wörtlich
,, Ähnlichmachen", üblicherweise aber den literarischen Vergleich be¬
deutet. Angesichts der Tatsache, daß der arabische Text der ,, Poetik"
für den damaligen Leser über weite Strecken unverständlich und bar¬
barisch gewesen sein muß, stand einer Fehldeutung des Begriffs muhäkät
in Richtung ,, Bildersprache" nichts im Wege. Der uns besonders interes¬
sierende, mit muhäkät eng gekoppelte Terminus tahyil ,, Vorstellungs¬
evokation" gehört der Tradition der Zuordnungsbegründungen an: Er
liefert bei abgrenzenden Definitionen der poetischen Aussagen oder
Syllogismen innerhalb von Organou-Skizzen die differentia specifiea**.
Leider können wir nicht die alexandrinische Quelle vorweisen. Dies kann
einerseits bedeuten, daß die betreffende Quelle verlorengegangen ist —
nicht ungewöhnlich, wenn man bedenkt, daß von drei ziemlich sicher
11 Arabische Dichtung 146—154.
12 Dahiyat: Avicenna's Commentary 3, unterscheidet — im Hinblick auf
Avicennas Poetik-Kommentar — drei verschiedene Traditionen, indem er
al-Färäbis Qawänin (siehe Bibliographie) aus der textlichen und der ,, logi¬
schen" Uberlieferung ausgrenzt. Das ist nur halb richtig, denn die ersten
Teile dieser etwas zusammengewürfelt wirkenden Schrift gelten Themen
aus der ,, logischen" Poetik-Diskussion. Dagegen stammen die Erörterungen der zweiten Hälfte der Schrift in der Tat aus anderen gedanklichen Zusammen¬
hängen und anderen Quellen (die al-Färäbi selbst summarisch angibt), nicht
aus den Proömien zu den Kategorien-Kommentaren, in welchen die ,, logi¬
sche" Behandlung der Poetik meistenteils stattfindet. Darauf weist auch
Schoeleb : Grundprobleme 48, ausdrücklich hin. Im Hinbhck auf Aviceima,
der nämlich auch diese Teile der Qawäniti in seinem Kommentar benutzt hat,
ist Dahiyats Dreiteilimg sicher statthaft. Ansonsten ist aber dieses Material
recht folgenlos geblieben, so daß man sich scheuen würde, hier von einer
dritten Tradition zu reden.
" So z.B. Ihsä' 43, Z. 1—3.
Die antike Verknüpfung von phantasia und Dichtiuig 257
alexandrinischen Definitionen, welche al-Färäbi an anderer Stelle**
alternativ bietet, nur eine im Griechischen, nämhch bei Elias, nachweis¬
bar ist. Andererseits könnte natürlich al-Färäbi selbst den Begriff tahyil,
der in seinem Denken auch anderweitig eine nicht geringe Rolle spielt,
zur Kennzeichnung der poetischen Aussagen eingesetzt haben. Dagegen
spricht, daß er zwar den Terminus tahyil in die ,, logische" Behandlung
der Dichtung eingeführt zu haben scheint**, ihn aber augenscheinlich als
fertige Prägung und in seiner Anwendung auf die Dichtung übernommen
hat, da er ihn nirgends — etwa durch eine Diärese der Aussageformen —
ausdrücklich begründet. Die Annahme einer alexandrinischen Quelle
liegt daher näher, und wir können den Charakter dieser Quelle auch an¬
näherungsweise beschreiben, indem wir uns auf verwandte Diskussionen
in erhaltenen Schriften stützen. Vorauszuschicken wäre, daß das Wort
tahyil die Verwandten tahayyul ,, Vorstellung" und hayäl ,,Vorstellungs-
büd" besitzt, welche beide von den Übersetzern zur Wiedergabe des
peripatetischen Begriffs phantasia (hayäl auch für phantasma) verwendet
wurden*'. Von Johannes Pliiloponos kennen wir nun eine Zuordnung der
Syllogismen (apodeiktisch, dialektisch, sophistisch) zu den menschlichen
Erkenntnisweisen (Vernunft, Meinung, Vorstellung), in der die grund¬
sätzlich falschen, sophistischen Schlüsse der phantasia zugesellt werden.
Andererseits sind für Elias die poetischen Schlüsse — die bei Philoponos
gar nicht auftauchen — die grundsätzlich falschen. Die von uns zu
rekonstruierende Quelle scheint diese beiden Anschauungen kombiniert
zu haben, indem sie die poetischen Schlüsse der Phantasie zugeordnet
hat. Vielleicht enthielt sie auch schon die für dio arabische tahyil-
Theorie charakteristische Aufhebung der Opposition wahr-falsch (ein
Für-wahr-halten ist für die Wirkung des suggerierten Vorstellungsbildes
nicht erforderlich); denn die Voraussetzung dafür, daß nämlich die
phantasia Wahres reproduzieren und Falsches kombinieren kann, findet
sich ebenfalls bei Johannes Pliiloponos belegt*'. Bleiben noch drei
1* Nämlioh Qawänin 150, Z. 3—8 (falsche Aussagen, die nämlich eine
Nachahmung der Sache, nioht die Sache selbst, suggerieren); 151, Z. 3—8
(poetische Aussage ist Analogieschluß) und 151, Z. 9—15 (gänzlich falsche
Aussagen). Letzteres ist die Definition des Elias, welche durch einen inter-
pretativen Zusatz von al-Färäbi gemildert wird, da sie den anderen Defini¬
tionen widerspricht.
i'' Das läßt sich daraus schließen, daß der Begriff in den Qawänin nioht
auftaucht, obwohl reichlich Veranlassimg dazu bestünde.
" Siehe unten S. 262.
1' Elemente dieser Theorie finden sich schon bei Aristoteles, die ausdrück¬
lich formulierte Anerkennung der kombinatorischen Fähigkeit der Phantasie
— möglicherweise auf stoischen Einfluß zurückgehend — jedoch erst bei
Philoponos (das III. Buch des Z)e-4nima-Kommentars wird neuerdings
semem Schüler Stephanos zugeschrieben; siehe Later Oreek ... Philosophy 316,
IS»
258 Wolthabt Heinbichs
wichtige Gedanken der tahyil-Theovie, die ebenfalls auf antikes Denken
zurückzuführen sind, wenn auch nicht unbedingt auf dieselbe postulierte
Quelle: nämlich erstens die Auffassung, daß die Menschen unter Um¬
ständen eher ihrer Vorstellung als ihrem Wissen oder ihrer Meinung
folgen — dies ist schon aristotelisch und bei den späteren Peripatetikern
mit gewissen Abwandlungen wiederzufinden ; zweitens, damit zusammen¬
hängend, die kausative Form tahyil, welche ja nicht die Vorstellung des
Dichters, sondern die Erzeugung eines Vorstellungsbüdes beim Hörer
bedeutet — dies dürfte so zu erklären sein, daß die poetischen Aussagen
und Schlüsse nach den rhetorischen modelhert worden sind, bei denen
ja von jeher die Beeinflussung des Hörers im Sinne einer Überzeugung
(arab. iqnä') das Ziel war; denn Dichtung und Rhetorik sind in der Spät¬
antike kaum voneinander zu trennen**; und drittens die Kombination
von ,, Vorstellungsevokation" — oder allgemein ,, Vorstellung" — mit der
„Nachahmung" — hierüber wird noch zu reden sein (S. 270), wenn wir
dieselbe Kombination in anderen Bereichen des Färäbischen Denkens
kennengelernt haben.
Bei den späteren arabischen Autoren von Abrissen der Logik wird der
Begriff tahyil als Kennzeichen der poetischen Schlüsse uneingeschränkter Herrscher; die ,, Nachahmung" schwindet fast ganz**. Das ist verständ¬
lich; denn durch die Umdeutung ,, Nachahmung" = ,, bildlicher Aus¬
druck" wurde die allgemeine Anwendbarkeit dieses Begriffes sehr er¬
schwert, weil selbstverständlich trotz der hervorragenden Bedeutung der
Bildersprache besonders in der späteren arabischen und persischen Dich-
Anm. 5); vgl. Btjndy: Theory of Imagination 85—86, Anm. 11. Auf die
Bedeutsamkeit dieser Anschauung für den arabischen Bereich — der Kom¬
mentar lag in arabischer Übersetzung vor — hat schon von Gbunebaum:
Kritik 130, Anm. 1, hingewiesen.
1' Vgl. dazu den Abschnitt ,, Rhetorik und Poesie" in Nobden: Antike
Kunstprosa II, 883—908.
1* So schon bei al-Färäbi selbst in Ihsä' 43—44 (wo muhäkiya auf S. 44,
Z. 1, sich nicbt aufdie Dichtung bezieht) und auch Hurüf 70, Z. 16—22, 148,
Z. 18—19, und Fusül §§ 51—52. Desgleichen in enzyklopädischen Werken,
vgl. al-Hwärizmi: Mafätih 152, Z. 3—11, Ibn Haldün: Muqaddima 491,
Z. 13—15, = Tri. Rosenthal III, 141 (hier ist immerhin von tamtil ,, Gleich¬
nis" und taSbih ,, Vergleich" als Resultat des Diohtimgs-Syllogismus die Rede),
und at-Tahänawi: KaSSäf I, 746, Z. 2—6. Avicenna ist in dieser Hinsicht
inkonsequent: In Burhän 4, Z. 9—11, erwähnt er die muhäkät, in der längeren Erörterung Qiyäs 5, Z. 4ff., dagegen nicht. In ausgedehnteren Diskussionen,
einschließlich der Poetik-Kommentare von Avicerma und Averroes, ist die
Behandlung der ,, Nachahmung" die Regel. Aber es gibt Ausnahmen wie
al-ö-azäli: Mi'yär 185—186, wo sogar Beispiele aus der Dichtung gebracht
werden, der Terminus ,, Nachahmung" jedoch nicht angewendet wird und die
Vorstellung vom ,, bildlichen Ausdruck" nur einmal (186, Z. 1) durch das
Verbum Sabbaha ,, vergleichen" ins Spiel kommt.
Die antike Verivnüpfung von phantasia und Dichtung 259
tung nicht jeder Vers ein Bild (Vergleich, Metapher u.a.m.) enthielt.
Avicenna scheint ein diesbezügliches Unbehagen auszudrücken, wenn er
in dem Abschnitt ,,über die Ideen des Buches Poetica" (fi ma'äni kitäb
Fü'itiqi) seines Jugendwerkes ,,Buch der Summe" [Kitäh al-Magmü')
schreibt: ,,Wohl die meisten von ihnen (sc. den vorstellungsevozierenden
Aussagen) sind Nachahmungen von Dingen durch (andere) Dinge, zu
deren Wesen es gehört, daß sie jene Vorstellungen*" suggerieren. So ahmt
man den Kühnen mit dem Löwen, den Schönen mit dem Mond und den
Freigebigen mit dem Meer nach. Aber nicht alle sind Nachahmungen,
sondern viele von ihnen sind Sätze (eig. Prämissen), die von Nachahmung
(hier: hikäya) völlig frei sind, nur daß eben die Art ihrer Aussage aus¬
schließlich auf die Vorstellung gerichtet ist."**
2. Die Alltagsbedeutung der iaÄyii-Wortsippe
Bevor wir der Verwendung des Begriffs tahyil im Färäbi'schen Denken
nachgehen, scheint es angezeigt, die Alltagsbedeutungen der Wortsippe
hayäl, tahyil, tahayyul u.a.m. herauszuarbeiten, so wie wir sie in un¬
philosophischen (und möglichst vor-philosophischen, alten) Quellen
finden. Zwar ist es klar, daß diese Wortsippe zunächst einmal eine Lehn¬
übersetzung der griechischen Wortfamilie phantasma, phantasia u.a.m.
ist. Jede Lehnübersetzung enthält aber, wenn wir die Verhältnisse ein
wenig idealisieren, die systematisch-funktionale Bedeutung des Aus¬
gangswortes und die Konnotationen und sonstigen Gtebrauchsweisen des
Zielworts. Darum sollte man m.E. viel stärker als bisher bei der Unter¬
suchung von übersetzten (und nicht nur solchen) Fachausdrücken den
vorterminologischen Sprachgebrauch untersuchen** ; denn es ist mehr als
wahrscheinlich, daß dieser nicht nur im Augenblick des Übersetzens,
sondern auch in der späteren Geschichte des Begriffs, wenn auf den
Urtext nicht mehr zurückgegriffen wird, meßbaren Einfluß auf die
Bedeutung nimmt. In unserem Falle empfiehlt sich eine solche Unter¬
suchung besonders, da sie uns Aufschlüsse über echt arabische Vor¬
stellungen von Phantasie zu geben verspricht.
Der Übersetzer eines Textes hat bei der Wiedergabe eines Terminus
die Wahl, entweder den Begriff — aus welchen Gründen auch immer —
2° Das hds. at-tahayyulät ist gegenüber der Emendation des Herausgebers
at-tahyilät zu restituieren. Sälim hat übersehen, daß der Aspekt der Beem¬
flussung schon durch das Verb auqa'a, von mir mit ,, suggerieren" wieder¬
gegeben, zum Ausdruck kommt. Am Ende des Zitats wäre gleichfalls at-
taliayyid wiederherzustellen, allerdings berührt die Emendation nicht den
Sinn. 21 Ma'äni kitäh aä-äi'r 16, Z. 2,-17, Z. 2.
22 Vorbildlich sind in dieser Hinsicht die „Vorgeschichten" mystischer
Termini, welche Benedikt Reinert in seinem Werk Die Lehre vom tawakktd
n der klassischen Sufik. Berlin 1968, an verschiedenen Stellen einflicht.
260 Wolfhart Heinrichs
für unübersetzbar zu halten und dementsprechend zu transkribieren, oder
ihn zu übersetzen**. Im letzteren Falle hat er unter Umständen die Wahl
zwischen mehreren Approximationen der gewünschten Bedeutung aus
dem Wortangebot der Zielsprache. Zur Wiedergabe des griechischen
,, phantasia" sind alle drei Möglichkeiten genutzt worden:
1. die Transkription fantäsiyä (auch: hantäsiyä). Sie findet sich bei
al-Kindl (gest. um 873), welcher sich auf ,,alte" — d.h. nicht aus der
Schule des Hunain b. Ishäq (gest. 876) hervorgegangene — Übersetzun¬
gen stützte**, und taucht auf jeden Fall bei Avicenna in anderer, speziali¬
sierter Bedeutung wieder auf**, so daß man der Transkription den Status
eines eingebürgerten Fremdwortes zuerkennen muß**. Allerdings wird das
" Ein Sonderfall der Übersetzung wäre die Neuprägimg aus vorhandenem
Wortmaterial nach vorhandenen Wortbildimgsgesetzen ; bierzu gehören die
zahlreichen von Abstrakta abgeleiteten Beziehungsadjektive auf -i, welcbe
ein Charakteristikum der Wissenschaftssprache sind. Entspreehend gibt es
als Sonderfall der Transkription Neuprägungen mit Hilfe arabischer Deriva-
tionsschemata, vne falsafa „Philosophie", eine arabische Ableitung auf
failasüf ,, Philosoph" aus syr. piläsöpä aus griech. philosophes. Ich benutze das Wort ,, Transkription" hier unabhängig davon, ob das ,, transkribierte"
Wort eine reine gelehrte Schriftform ist oder auch der gesprochenen Sprache angehört.
2* Vgl. Afnan: Philosophical Lexicon 96a und 320a. Leider bietet Afnan
wenig Kontext und überhaupt keine Stellenangaben. Er verweist summarisch
auf die Ausgabe der Rasä'il al-Kindi von Abü Rida, welcbe ich leider nicht
zur Hand habe. Wenn die Zitate richtig (und richtig abgetrennt) sind, dann
setzt al-Kindi die fanfäsiyä an verschiedenen Stellen mit tawahhum, hayäl
oder tahayyul gleich. Wir befinden uns also gleichsam auf der experimentellen
Stufe der Terminologie. Die Benutzung der Transkription fanfäsiyä in der
frühen Zeit ist wohl auch dadurch mitbedingt, daß das Wort im Syrischen,
der Muttersprache der meisten Übersetzer, in der Form panfasiya (und mit
einem breiten Bedeutungsspektrum) eingebürgert ist, und zwar so sehr, daß
sogar die verbalen Ableitungen panfes ,,phantasiae repraesentavit" und
etpanfas ,,sibi repraesentavit" gebildet wurden (siehe Cabl Brockelmann:
Lexicon Syriacum. Hahe n928, S. 579).
25 Nämlich im Simre von al-hiss al-muStarak (kotnon aistheterion, sensus
communis), siehe Goichon: Lexique 70—71 (fanfäsiyä) und Avicenna:
Nafs 44, Z. 4 (banfäsiyä).
2' Die wenigsten Transkriptionen setzen sich als rezipierte Fremdwörter
durch. Zunächst einmal sind alle jene Fälle auszuscheiden, in denen die
Unübersetzbarkeit des Ausgangsworts objektiv gegeben ist, wenn nämlich
a) das Wort unverständlich (verderbt oder dem Übersetzer unbekannt und
in seinen lexikalischen Hilfsmitteln nicht erfaßt) ist, b) das Wort ein fremdes Ding bezeichnet (hierher gehört die Liste angeblicher griechischer Dichtungs¬
gattungen in al-Färäbi: Qawänin 152—155, reproduziert von Avicenna:
Ma'äni hitäb aS-äi'r 30—33 und Si'r 165—167) und c) das Wort wegen
seiner lautlichen Gestalt diskutiert wird (so werm Ishäq b. Hunain in seiner
Übersetzung von Themistius' De Anima, diö Transkription fantäsiyä dort
verwendet, wo Themistius die traditionelle griechische Etymologie phantasia
Die antike Verknüpfung von phantasia und Dichtung 261
Wort jeweils mit einem arabischen Äquivalent glossiert, so daß es eigent¬
lich überflüssig ist.
2. Ableitungen der Wurzel w-h-m, als deren Grundbedeutung man
,, wähnen" annehmen kann — mit den in einigen Ableitungen realisierten Konnotationen ,, argwöhnen", ,, verdächtigen", woraus man schließen
kann, daß der Inhalt oder — grammatisch gesprochen — das Objekt des
Wähnens vorzugsweise ein Sachverhalt ist, weniger ein Ding. Bei den
,, alten" Übersetzern scheinen die Ableitungen wahm und tawahhum zur
Wiedergabe von phantasia nicht unüblich gewesen zu .sein*' ; aber später
aus phaos ,, Licht" anführt; siehe Themistius: Nafs 162, Z. 9). Die übrigen
Fälle, d.h. diejenigen, in denen der Übersetzer das Ausgangswort transkri¬
biert, weil er in der Zielsprache kein passendes Äquivalent zu finden glaubt,
nehmen in dem Maße ab, wie Umfang und Leistungsfähigkeit der arabischen
Terminologie —- hauptsächlich durch Lehnübersetzungen •— zunehmen:
Die ,, alten" Übersetzimgen sind — wie das Syrische! — voll von transkri¬
bierten griechischen Wörtern (vgl. Richard Walzer: New Light on the
Arabic Translations of Aristotle. In: ders., Greek into Arabic 60—113, hier
besonders 89—91), fast alle werden im Laufe der Zeit eliminiert, und die¬
jenigen Fremdwörter, die schließlich vollgültige Mitglieder des arabischen Wortschatzes werden, sind — wie es scheint (aber eine genaue Untersuchung stebt noch aus) — durch zweierlei charakterisiert: 1) Sie sind ausweislich
ihrer Lautung aus dem Griechischen durch das gesprochene Syrisch, nicht
als reine gelehrte Schriftformen, in das Arabische gelangt und waren viel¬
leicht deswegen kräftig genug, um bestehen zu bleiben. 2) Sie haben nichts¬
destoweniger alle ein arabisches Äquivalent erhalten (sekundäre philoso¬
phische Distinktionen sind natürlich möglicb), welches sie eigentlich ent¬
behrlich macht: usfuqnss (stoicheion) = 'unsur ,, Element", hayülä (hyle) = mädda ,, Materie", süfisfä'i (sophistes, sophistikos) = mugäli} oder mumawwih ,, Sophist, sophistisch", faylasüf (philosophes) = hakim ,, Philosoph" imd
eben aucb fanfäsiyä bzw. banfäsiyä, wobei die zwei Varianten gemäß den
üblichen Transkriptionsgewohnheiten des Arabischen den gesprochenen
syrischen p-Anlaut wiederspiegeln und die arabischen Übersetzimgsäqui-
valente ebenfalls nicht lange auf sich warten lassen.
2' Vgl. Afnan: Philosophical Lexicon 319b — 320a. Die Belege für den
Gebrauch von wahm und tawahhum für phantasia bei Ishäq b. Hunain (kein
,, alter" Übersetzer) sind zu streichen, da die unter Ishäqs Namen von
'Abdarrahmän Badawi. Kairo 1954, veröffentlichte arabische Version von
Aristoteles: De Anima, in Wirkhchkeit eine ,,alte" Übersetzung ist (siehe
Richard M.Frank: Isliäq's translation of the De Anima. In: Cahiers de
Byrsa 8 (1958—59), mir bekannt durch das Referat von M. C. Lyons in der
Introdtiction zu Themistius: Nafs, S. IX — XI). Das gleiche gilt für die Ishäq
als dem Übersetzer zugeschriebene anonyme Paraphrase von De Anima,
welche von Ahmad Fu'äd al-Ahwäni unter dem Titel Kitäb an-Nafs al-
mansüb li-Ishäq b. Hunain als Anhang in seiner Edition von Talhls Kitäb
an-Nafs li-Abl l-Walld Ibn RuSd. Kairo 1950, S. 125—175 veröffenthcht und
von Richard Walzer: New Light 95—97, aufgrund der Teiminologie für
die älteste arabische De-AnimaSchvift gehalten v/orden ist. Auoh hier wird
phantasia mit wahm wiedergegeben (siehe S. 162, Z. 3ff.).
262 Wolfhart Heinrichs
— bei der Weiterentwicklung der Theorie der „inneren Sinne" — werden
diese W^örter und ihre Derivate zur Bezeichnung der „Einschätzungs¬
kraft" (vis aestimativa) und ihrer Tätigkeit verwendet**, als deren
Objekt charakteristischerweise die ma'äni, die nicht-sinnlichen, un¬
mittelbar erfaßten ,, Bedeutungen", gelten, nicht die suwar, die sinnlich
erfaßten Formen wahrgenommener Dinge (die vis aestimativa befähigt
beispielsweise ein Schaf, einen herannahenden Wolf als gefährlich einzu¬
schätzen). Diese philosophische Festlegung und Spezifizierung des
Begriffs ist durch die Alltagsbedeutung induziert.
3. Ableitungen der W^urzel h-y-l, nahezu ein Synonym zu w-h-m, also
ebenfalls mit der Grundbedeutung ,, wähnen", aber •—■ wie die Ablei¬
tungen zeigen •— mit stärkerer Betonung des Bildhaften und Erschei¬
nungshaften (darüber S. 263 ff.). Bei den ,, alten" Übersetzern findet sich
schon hayäl für phantasia**. In der Blütezeit des Übersetzens, bei Ivshäq
b. Hunain (gest. 910) und Qustä b. Lüqä (gest. 923), haben sich dann
die Ableitungen der Wurzel h-y-l zur Wiedergabe der Ableitungen von
phantazesthai durchgesetzt, und es besteht eine Tendenz zu konse¬
quenter Zuordnung : tahayyala — phantazesthai, tahayyul — phantasia,
hayäl — phantasma u.a.m*".
Insgesamt gesehen, hat sich also nach anfänglichem Zögern die Wort¬
sippe der Wurzel h-y-l durchgesetzt. Auch dies scheint eine Folge der
Einwirkung der Alltagsbedeutung auf die Fachsprache zu sein.
Um die vorwissenschaftliche Bedeutung der später fachsprachlich
fixierten Wörter zu ermitteln, stütze ich mich im folgenden auf den
Lisän al-'arab unter Heranziehung des Arabic-English Lexicon von Lane,
in welchem ja die meisten einheimischen Wörterbücher ausgezogen sind ;
Vgl. Goichon: Lexique 441—444, und Avicenna: Nafs 54, Z. 6—10.
Averroes stebt der Anerkennung dieser unaristotelischen Seelenkraft wider¬
willig bis ablehnend gegenüber (vgl. Gätje : Innere Sinne 282).
2' Vgl. Afnan: Philosophical Lexicon 95b.
Vgl. ebda. Ishäq b. Hunain gebraucht Ableitungen von h-y-l sowohl
beim peripatetischen Sprachgebrauch in seiner Übersetzimg von Themistius'
De-yiniwia-Paraphrase (vgl. die Glossare in Lyons Ed. S. 251—252 mid 385)
wie auch im stoischen Sprachgebrauch in seiner Übersetzung von De natura
hominis des Nemesius von Emesa (= Ps.-Gregor von Nyssa) (vgl. den kurzen
Auszug in Simone van Riet: Stoicorum veterum fragmenta arabica. In:
Müanges d'Islamologie ... ä la mimoire de Armand Abel. Leiden 1974,
S. 254^—263, hier 261). Ebenfalls stoischen Sprachgebrauch gibt Qustä b.
Lüqä durch Ableitungen von h-y-l in seiner Übersetzung von Ps.-Plutaroli:
Placita Philosophorum. Hrsg. u. übers, von Hans Daiber u.d.T. Die arabische
Übersetzung der Placita Philosophorum. Diss. Saarbrücken 1968, S. 265—268,
wieder. Zu Avicennas Verwendimg der Termini siehe Goichon: Lexique
116—120.
Die antike Verknüpfung von phantasia und Dichtung 263
dabei beschränke ich mich auf diejenigen Bedeutungsangaben und Ver¬
wendungsbeispiele, welche für unser Vorhaben von Belang sind**.
1. Die Grundbedeutung von hayäl — wenn wir die angegebenen Be¬
deutungen auf einen gemeinsamen Nenner bringen — ist: eine Gestalt
(meist menschlich), welche demjenigen, der sie sieht oder zu sehen glaubt,
eine Körperhaftigkeit und ein Wesen vorspiegelt, welches nicht da oder
zumindest zweifelhaft ist. Der von Ibn Manzür zitierte Lexikograph
al-Azharl (gest. 980) gibt als allgemeine Definition: „hayäl gilt für alles,
was du wie einen Schatten siehst." Im einzelnen kann es sein: ein
trügerisches Schattenbild**, ein Spiegelbild**, ein Traumbild im Schlaf,
ein Schemen oder Phantom im Wachen**, eino umrißhafte Gestalt (Sahs)
in der Ferne (wohl, weil sie noch nicht deutlich auszumachen ist) und
schließlich eine aus Stöcken und Kleidern gebildete menschliche Gestalt,
welche als Vogelscheuche oder Wolfsscheuche und auch als Grenz¬
markierung eines heiligen Bezirkes (himä) in vorislamischer Zeit ver¬
wendet wurde. Die Tatsache, daß sich hayäl, wie man sieht, in weitem
Umfang mit dem griechischen phantasma in seinen Alltagsbedeutungen
(ebenfalls Traumbild, Trugbild) deckt, erleichtert die Gleichsetzung und
die nach dem Vorbild von phantasma sodann erfolgte philosophische
Bedeutungserweiterung und -Spezifizierung des Wortes hayäl, nämlich
,, Vorstellungsbild". Es ist jedoch sehr bemerkenswert, daß wesentliche
Elemente des philosophischen Begrififs (nämlich, daß es sich a. um von
*' Cantarino : Poetics 80—81, hat ebenfalls die eohtarabische Semantik des
<aÄ2/i/-Begriffes herauszuarbeiten versucht. Aber seine Lemmata-Auswahl
aus dem Lisän al-'arab ist ganz willkürlich — Unwesentliches wird mit¬
übersetzt und Belangreiches %vird übergangen —, zudem ist die Übersetzimg fehlerhaft. Am schwersten wiegt allerdings als Mangel, daß er die griechische
Komponente des toÄj/iZ-Begriffs ganz außer Betracht läßt. Daher bleiben
seine Ausführungen sehr unbefriedigend.
ä2 Der durch das Schattenbild hervorgerufene Trug oder Selbstbetrug wird
besonders deutlicb am Beispiel des hayäl al-{ä'ir ,, Schattenbild des Raub¬
vogels", ,,wenn er in den Himmel hinaufsteigt, dann seinen eigenen Schatten
erblickt und — meinend, es sei Beute — auf ihn herabstößt, aber gar nichts
vorfindet". Die handlungsauslösende Funktion des hayäl verdient festge¬
halten zu werden; da der poetische tahyil gleichfalls Handlungen bewirken
soll, ist es nicht unmöglich, daß die zugrundeliegende griechische Theorie
(s.o. S. 258) durch arabische Vorstellungen gestützt worden ist.
Die Bedeutung ,, Spiegelbild" — und zwar im Wasser (hayäluhü fi
l-mä') — kommt selbst bei al-Färäbl: Siyäsa 85. Z. 7, in seiner optischen
Analogie zur Funktion des tahayyul vor.
3* In der Bedeutung ,, Phantom der Geliebten" ist der hayäl ein Topos der Liebesdichtung schon in vorislamischer Zeit (vgl. Ilse Lichtenstadter:
Das Nasib der altarabischen Qa^de. In: Islamica 5 (1932), S. 18—96, hier
S. 36—37, und Renate Jacobi: Studien zur Poetik der altarabischen Qaside.
Wiesbaden 1971, S. 35—37).
264 Wolfhart Heinrichs
der Materie abgezogene und b. um möglicherweise trügerische Bilder
oder Formen handelt) schon in der Alltagsbedeutung enthalten sind;
erforderlich war nur noch die Verlegung nach innen, in das Subjekt
hinein.
2. Bei der Feststellung der Grundbedeutung von tahyil, bzw. des zuge¬
hörigen Verbs hayyäla, ist in Betracht zu ziehen, daß wegen der ver¬
schiedenen Derivationsmöglichkeiten des Verbs eine einheitliche Grund¬
bedeutung nicht gegeben zu sein braucht. Theoretisch kann hayyäla
vom verbalen Grundstamm häla mit der blassen Bedeutung ,, glauben"
als Faktitiv, also ,, glauben machen", abgeleitet sein, oder aber von jedem
Nomen der gleichen Wurzel h-y-l denominiert sein**. Bei der ersten
Möglichkeit sollte man analog zu Verben wie wahhama ,, jemanden etwas
wähnen machen" und 'arrafa ,, jemanden etwas wissen lassen" einen
doppelten Akkusativ als Rektion erwarten. Diese Konstruktion ist jedoch
nirgends belegt, und damit wird die verbale Ableitung sehr fragwürdig**.
Dagegen läßt sich die Herleitung von hayäl einigermaßen glaubhaft
machen, und zwar gerade in den Fällen, in denen — genau wie im
späteren philosophischen Sprachgebrauch — die Wirkung auf eino
Person in der Konstruktion vorgesehen ist. Unter dieser Einschränkung
bleiben nur zwei Bedeutungen übrig, nämlich huyyila 'alaihi ,,es war ihm
zweifelhaft, dunkel, unklar" und huyyila ilaihi annahü kadä ,,es wurde
jbm der (falsche) Eindruck erweckt, daß es so sei*'". Beide Formeln lassen
sich ohne Zwang unter Zuhilfenahme von hayäl explizieren, das eine als
,,die Angelegenheit wurde ihm zu einem hayäl gemacht", d.h. er konnte
über ihr Wesen nichts Genaues ausmachen und war vor Täuschung nicht
sicher (parallel zu dem als Interpretament dienenden subbiha 'alaihi „die
'5 Daher sollte man hayyäla in der Fügung hayyäla jihi l-haira ,,er erblickte in ibm (zukünftiges) Gutes" von der folgenden Untersuchung ausschließen,
da es nicht unmittelbar zu dem uns interessierenden semantischen Komplex
gehört, sondern von malüla ,, Indiz" oder — noch konkreter — von häl
,,Mal (auf der Haut)" denominiert ist; man vergleiche die Definition des
Sehers (häzi) in al-Maidäni: Magma' al-amtäl. Ed. Muhammad Muhyiddin
'Abdalhamid. Kairo 21379/1959, II, S. 36a, Z. 5—6: ,,Der häzi ist derjenige,
der auf die Male im Gesicht (hilän al-wa§h) und auf dieses oder jenes Ghed
schaut und eine Voraussage maoht."
Hiermit wird das in Heinbichs: Arabische Dichtung 149, über die
Etymologie Gesagte zurechtgerückt.
'' Cantarino : Poetics 80—81, stellt hayyäla in der Bedeutung ,, Anstalten
machen zu regnen" (mit der Wolke oder dem Himmel als grammatischem
Subjekt) in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Das ist jedooh etwas ab¬
wegig, weil dieses Verbum absolut, d.h. ohne Angabe der einer Wirkung aus¬
gesetzten Person, gebraucht wird und weil die Ableitung von malßla ,, Indiz"
naheliegender ist. Übrigens kann der Infinitiv tahyil grammatisch auch zum
Passiv gehören; in der Tat parallelisiert ihn Ibn Manzür mit nahm ,,Wahn"
Die antike Verknüpfung von phantasia und Dichtung 265
Angelegenheit wurde ihm (einer anderen) ähnhch gemacht", d.h. er
konnte nicht herausfinden, mit welcher der beiden ähnlichen Sachen er
es zu tun hatte), das andere als ,,es avurde ihm als hayäl vor Augen ge¬
stellt, daß die Angelegenheit so sei". Die Präposition 'alä ,,auf" im ersten
Falle ist durch zahlreiche Analogien (wie z.B. hädä sa'bun 'alayya
wörtlich ,,dies ist schwierig auf mir", d.h. ,,für mich") gut verständhch;
sie deutet eine gewisse Belastung und Verpflichtung für die betroffene
Person und eine Anstrengung ihrerseits an. Dagegen gibt die Präposition
ilä ,,hin zu" im zweiten Falle lediglich die Zielperson an, welche den
hayäl schlicht hinnimmt. Da das Verb im Passiv steht, fragt sich, wer
der Urheber oder Au.sgangspunkt des hayäl ist. Wenn man analoge
Konstruktionen wie ühiya ilayya ,,es -wurde mir eingegeben" zu Rate
zieht, bei der das aktive Verb auhä ,, eingeben, inspirieren, offenbaren"
nicht selten Gott zum Subjekt hat, so dürfen -wir vielleicht auch hier
höhere Mächte — und zwar Blendwerk be-wirkende — als Urheber an¬
nehmen. Und in der Tat ist dort, wo sich die Konstruktion huyyila ilaihi
in alten Texten belegen läßt, bezeichnenderweise von Zauberei die Rede.
So schon im Koran (Sure 20, 66): und da hatte er (sc. Mose) von
ihren Stricken und Stöcken infolge ihrer (sc. der Zauberer des Pharao)
Zauberei die Vorstellung (yuhayyalu ilaihi), daß sie (auf dem Boden
davon) eilen." Auch in eimgen Prophetentraditionen -wird das Verb
huyyila ausdrücklich zur Bezeichnung der Wirkung einer Zauberei
benutzt, -während anderweitig die Bedeutung schon zu einem subjek¬
tiven ,,es kommt ihm so vor" verblaßt ist**. Unter der Voraussetzung,
daß hier tatsächhch ein Bedeutungswandel vorliegt, nämlich — wie auch
sonst nicht ungewöhnlich — vom Konkreten zum Abstrakten, vom
Farbigen zum Blassen, vom Übersinnlichen zum Rationalen, können wir
feststellen, daß die für den philosophischen Sprachgebrauch notwendige
Interiorisierung des hayal, d.h. die Umwandlung des ,, objektiven", von •
außen bewirkten Blendwerks zu einer subjektiven Einbildung, sich hier
im semantischen Bereich des von hayäl abgeleiteten Verbums huyyila
anbahnt. Andererseits wird die Zielgerichtetheit der von außen auf das
Subjekt -wirkenden (ursprünglich zauberhaften) Suggestion im termino¬
logischen Gebrauch der Philosophen bewahrt und sogar intensiviert,
indem das Verbum im Aktiv hayyäla benutzt wird — mit der dichte¬
rischen Aussage als grammatischem Subjekt, so daß schheßlich als
38 Vgl. al-Buhäri: al-Öämi' as-sahih. Bulaq 1311— 12h, VII, S. 136, Z.—5,
und VIII, S. 18, uit. — zwei Varianten derselben Geschichte, in welcher der
Prophet selbst Opfer eines Zaubers ist und Dinge getan zu haben glaubt, die
er gar nicht getan hat — und I, S. 76, Z. •—5, wo der Prophet ein Wrmder
vollbringt. Dagegen ist in I, S. 39, Z. —3, von einem Eindruck die Rede,
über dessen Realität die betreffende Person im Zweifel ist.
266 WOIFHABT EÜEINBICHS
Ergebnis dieser doppelten semantischen Entwicklung und unter dem
Impuls der griechischen phantasia-Lehre die Bedeutung „eine Einbil¬
dung suggerieren" oder •—• weniger negativ — „ein Vorstellungsbild
hervorrufen" entstehen konnte. Al-Färäbi benutzt neben dem ursprüng¬
lichen Passiv huyyila ilaihi auch das Aktiv hayyäla ilaihi und statt der
üblichen Präposition ilaihi auch das blassere lahü „für ihn"**.
3. Die soeben festgestellte zweifache Bedeutung von Ijayäl (und dem¬
entsprechend von huyyila) — „objektives" Blendwerk oder subjektive
Einbildung — spiegelt sich auch in den beiden Konstruktionen des
Verbums tahayyala wieder — dies die dritte in den philosophischen
Texten häufiger vorkommende Ableitung der Wurzel h-y-l. Wir haben
hier einerseits eine intransitive Konstruktion, bei der die Form tahayyala
wie üblich als Passiv-Refiexiv zur Form hayyäla fungiert und damit fast
ein Synonym zu huyyila ist: tahayyala li hayäluhü ,,sein hayäl (Phantom -
bild) erschien mir" — übrigens ein schöner Beleg dafür, daß die Verben
hayyäla und tahayyala von hayäl deriviert sind — oder tahayyala S-Sai'u
lahü bzw. tahayyala lahü annahü kadä ,,die Sache zeigte sich ihm (als
hayäiy bzw. ,,es zeigte sich ihm (als hayäl), daß (die Sache) so .sei". In diesem Fall ist die betroffene Person rein passiv aufgefaßt. Auf der anderen
Seite gibt es die transitive Konstruktion, bei der das Verb tahayyala als
eine Art Medium fungiert: tahayyaltuhü ,,ich machte (die Sache) zum
hayäl für mich", d.h. ,,ich bildete sie mir ein" oder — weniger negativ — ,,ich stellte sie mir vor". In diesem Falle ist die betroffene Person aktiv
mit der Bildung des hayäl beschäftigt, und dieser ist ein inneres Bild, das
man sich von einer Sache macht*".
Als Ergebnis unserer Untersuchung des vorphilosophischen Alltags¬
gebrauchs von hayäl, tahyil und tahayyul können wir festhalten, daß
die konstitutiven Elemente der Semantik dieser Wortsippe in der philo¬
sophischen Terminologie auf die eine oder andere Weise im üblichen
Gebrauch der Worte schon angelegt sind. Mit anderen Worten: die
Wiedergabe der phantasia-Wortsippe durch Ableitungen war sehr
*° Vgl. Si'r 94, wo alle Konstruktionen belegt sind.
*° Ähnliche doppelte Konstruktionen finden sich auch bei anderen Verben
gleicher Form, welche geistige Tätigkeiten wie Vorstellen u.ä. ausdrücken.
Mit großer Wahrscheinlichkeit sind Analogiebildungen anzunehmen. Al-
Hwärizmi: Mafätih 152, nennt die intransitiven Konsti'uktionen bei den
Verben des Vorstellens allgemeinen Sprachgebrauch und sagt, daß die
transitiven Gebrauchsweisen in Analogie zu den Verben tabayyantuhü fa-
tabayyanall (ich erkannte es deutlich, da wurde es mir klar) und tahaqqaqtuhü
fa-tahaqqaqa ll (ioh erlangte Gewißheit darüber, da bestätigte es sich mir)
gebildet worden seien. In Anbetracht des oben Gesagten wäre zu erwägen,
ob nicht die doppelte Konstruktion tahayyaltuhü fa-tahayyala ll der Ausgangs¬
punkt der Analogiebildung sein könnte.
Die antilce Verknüpfung von phantasia und Dichtung 267
treffend und hat sich zurecht im späteren fachsprachhchen Gebrauch
(xmd von dort auch in der späteren Alltagssprache) durchgesetzt. Auf
der negativen Seite können wir verbuchen, daß — was unser spezielles
Anliegen betrifft •— eine Verknüpfung der h-y-l-Wörter mit der Dichtung,
als deren Wirkung oder anders, in der alten Sprache, soweit unsere
Belege reichen, nicht besteht.
3. Die bisherige Erforschung des tahyil-'Begriffs bei al-
FäräbT
Nachdem wir nun die doppelte Begriffsgeschichte, welche in tahyil
samt Ableitungen zusammenläuft, in Umrissen — denn unser Beleg¬
material ist sehr bruchstückhaft —■ kennengelernt haben, sind wir besser
vorbereitet, den weit über den engen Rahmen der Dichtung hinaus¬
gehenden, aber doch mit ihr zusammenhängenden Gebrauch des Begriffs
tahyil — bei al-Färäbi häufig zusammen mit seinem poetischen Schwester¬
begriff muhäkät ,, Nachahmung" — zu begreifen und einzuschätzen. Die
Forschung hat bisher auf verschiedene Teilaspekte dieses Komplexes
hingewiesen, aber die Zusammenhänge nicht gebührend ans Licht ge¬
stellt. Bei den Teilaspekten handelt es sich einmal, wie wir schon wissen,
um die philosophische Poetik, des weiteren um die Prophetielehre und
schließlich um die Religionstheorie. Was die Aufarbeitung der Poetik
betrifft, so habe ich in meiner früheren Arbeit die folgenden Werke al-
Färäbis ausgewertet:**
a) Risäla fimä yanbagi an yuqaddam qabl ta'allum al-falsafa, ,, Abhandlung
über das, was dem Erlernen der Philosophie vorhergehen muß", eine
kleine propädeutische Schrfft, die wahrscheinlich zur Gänze auf alexandri-
nischem Gedankengut beruht und u.a. die Einteilung der Syllogismen
nach Elias (ohne Namensnennung) enthält, wobei die geradezu falschen
Schlüsse der Poetik zugeordnet werden.
b) Bisäla fi qawänin sinä'at aS-Su'arä', ,, Abhandlung über die Gesetze
der Kunst der Dichter", ein Sammelsurium von Exzerpten aus griechi¬
schen Schrfften mit gelegentlichen Bezugnahmen auf arabisch-islamische
Verhältnisse**. Der Begriff der Nachahmung taucht hier erstmals auf**
■•1 Vgl. Heinbichs: Arabische Dichtung 127ff.
*2 Eine analytische Inhaltsübersicht findet sich bei Heineichs : Arabische
Dichtung 132—137. Die englische Übersetzung von Aebeeey (siehe Biblio¬
graphie) ist etwas ungenau in der Wiedergabe philosophischer Faohtermini.
*ä Da die Datierung der Werke al-Färäbis in den meisten Fällen unbekannt ist, bezieht sich die zeitliche Einordnung ,, erstmals" auf eine relative Chrono¬
logie, die ihre Beweisstücke aus dem Fehlen oder Nichtfehlen wichtiger
Tormini zieht. Die Verwendung des Begriffs ,, Nachahmung" an dieser Stelle
deutet darauf hin, daß die mimesis sohon in späthoUenistisoher Zeit umge¬
deutet und für die Klassifizierung von Aussagen verwendet wurde.
268 Wolfhart Heinrichs
und wird zur Definition der dicliterischen Aussagen verwendet, allerdings
nur alternativ zu anderen Definitionen. Tahyil und Ableitungen fehlen
völlig; dagegen werden an zwei Stellen in gleicher Funktion Ableitungen
der Wurzel w-h-m verwendet, welche ja, wie wir gesehen haben, in ,, alten"
Übersetzungen zur Wiedergabe von phantasia benutzt wurde**.
c) Kitäb as-Si'r, ,,das Buch der Dichtung", dessen Grundzüge oben
schon wiedergegeben worden sind**.
Sodann hat J. Christoph Bürgel in seinem Aufsatz über das Problem
der Lüge in der Dichtung bei den arabischen Literaturtheoretikern und
Philosophen** zwei weitere Schriften al-Färäbis herangezogen, nämlich :
d) Ihsä' al-'idüm, ,, Aufzählung der Wissenschaften", ein enzyklopädisches
Werk, in welchem die dichterischen Aussagen wie üblich innerhalb der
Logik abgehandelt werden*'. Die Vorstellungsevokation spielt hier eine
große Rolle, die Nachahmung dagegen überhaupt keine; mit anderen
Worten : auf das eigentliche Verfahren der dichterischen Aussagen wird
kaum eingegangen, während die Wirkweise und der Zweck solcher
,, Anrede" (muhätaba), also die Beeinflussung der Zuhörer durch Vor-
stollungsbilder — gegebenenfalls unter Ausschaltung verständigen Nach¬
denkens —, ziemlich ausführlich erörtert wird. Dies ivirft — nebenbei
bemerkt — ein schwieriges Problem hinsichtlich der Einheitlichkeit,
bzw. gedanklichen Entwicklung der einschlägigen Äußerungen al-Färäbis
auf: Die BegrifFe ,, Nachahmung" und „Vorstellung", bzw. „Vorstellungs¬
evokation" sind, wie wir am Beispiel des ,, Buchs der Dichtung" gesehen
haben, im Färäbischen Denken eng zusammengehörig und komplementär ;
wenn also al-Färäbi einen der beiden Begriffe nicht verwendet, so müssen
wir wohl in Anbetracht der Tatsache, daß die Übersetzertätigkeit zu
jener Zeit noch in vollem Gange war, annehmen, daß er den betreffenden
Begriff zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennt. Wie aber sollen wir den
bedenklichen Tatbestand intei-pretieren, daß in der ,, Abhandlung über
die Gesetze der Kunst der Dichter" die ,, Vorstellungsevokation" fehlt,
während in der ,, Aufzählung der Wissenschaften" gerade umgekehrt dio
„Nachahmung" ganz vernachlässigt wird? Theoretisch böten sich mehrere
Vgl. Qawänin 150, Z. 15—16, wo die ,, täuschende" (sophistische) Aus¬
sage dadurch von der ,, nachahmenden" (poetischen) abgegrenzt wird, daß
die eine das Gegenteil, die andere das Ähnliehe suggeriert {yühimu, wörtl.
„wähnen läßt"), rmd 158, Z. 2—3, wo als Ziel der Dichtung (rmd der Malerei)
das ,, Hineinbringen der Nachahmungen in die Vorstellungen (auhäm) und
Sirme der Jlenscben" angegeben wird.
*5 S.o. S. 254 f¥. " Vgl. Beste Dichtung 38—43.
*' Es sei daran erimiert, daß die Dichtung nicht nur bier (s. Ihsä' 43—45),
sondern auch in der Sprachwissenschaft (s. Ihsä' 19—21) und in der Auf¬
zählung der Organon-Schriften (s. Ihsä' 49—50) vorkommt. Vgl. oben
Anm. 5.
Die antike Verknüpfung von phantasia und Dichtung 269
Lösungen an; aber für eine ins einzelne gehende Untersuchung dieser
Frage ist hier nicht der Platz. Es sei nur aufdie für unser Thema wichtige
Tatsache hingewiesen, daß die grundsätzlichen Gedanken, die in den
Fachtermini muhäkät und tahyil implizit enthalten sind, auch in den
genannten beiden Texten anklingen, indem sie durch Ableitungen anderer
Wurzeln** angedeutet werden.
e) Falsafat Aristütälis, ,,die Philosophie des Aristoteles", ein Überblick
über das Corpus Aristotelicum in der als logisch sinnvoll erachteten
Reihenfolge der Werke. Der auf die Poetik bezugnehmende Abschnitt**
benutzt beide Begriffe, muhäkät und tahyil ; darüber hinaus aber erfahren
wir hier zum ersten Male Genaueres sowohl über den Inhalt der muhäkät
als auch über die Zielpersonen des tahyil : Nachgeahmt werden in erster
Linie schwierige theoretische Dinge, welche in den theoretischen Diszi¬
plinen durch sichere Beweise erwiesen worden sind, mit Hilfe ihrer Ab¬
bilder (mitälät), und diese Bilder werden durch die entsprechende Aus¬
sage in die Vorstellung des gemeinen Volkes (gumJtür) hineingebracht,
welches, theoretischer Wissenschaft nicht mächtig, auf diese Weise durch
(sinnliche) Entsprechungen (munäsabät) in den geistigen Wahrheiten
unterwiesen wird*". Durch diese Gedanken unterscheidet sich dieser
Passus grundlegend von den vorhergehenden Texten, welche alle nur die
Funktionsteclinik der nachahmenden und vorstellungsevozierenden Aus¬
sagen zum Thema haben, nicht aber ihre eigentliche Funktion. Diese
führt uns durch ihren didaktisch-politischen Charakter mitten hinein in
die zentralen Gefilde des Färäbischen Denkens, damit aber auch — durch
die eigentümliche Spezialisierung der Nachahmung und Vorstellungs¬
evokation — in gewisser Weise weg von der Dichtung, wie sie historisch
gegeben war, und es fragt sieh, ob Bürgel diesen Text zu Recht in eine
Diskussion der DicJitung und ihres Wirklichkeitsverhältnisses einge-
Nämhch S-b-h ,, ähnlioh sein" statt h-k-y ,, nachahmen" in Ih^sä* 43, Z. 7,
imd w-h-m statt h-y-l in Qawänin, s. oben Anm. 44.
" Falsafa 85, Z. 4—12, Transl. 92—93.
5" Genau genommen, sind es zwei verschiedene Kategorien von Dingen,
die dem muhäkät-tahyil-Vrozeß unterworfen werden: neben den schwierigen
theoretischen Dingen (das sind die Intelligibilia, ma'qülät) auch andere
Particularia (das sind Sensibilia, mahsüsät), bei denen man üblicherweise
muhäkät und tahyil anwendet. Letztere sind, wie in^rö' 91, Z. —2, —92, Z. 8,
gesagt wird, die Objekte der praktischen Ratio (an-näfiqa al-'amaliya) und
können, weim sie von der Vorstellungslcraft aufgenommen werden, entweder
so, wie sie sind, oder aber duroh muhäkät (Nachahmung durch andere Dinge)
repräsentiert werden •—■ daher die nähere Bestimmung „übliclierweise" in
unserer Stelle. Das Ergebnis der muhäkät ist natürlich in jedem Falle etwas
(potentiell) sinnlich Wahrnehmbares, gleichgültig ob das Original oin intelli- gibile oder ein sensibile ist.
270 WoLFHABT Heinbichs
bracht hat. Denn eme sonderbare Tatsache ist ihm und in seinem Gefolge
Schoeleb** entgangen : Obwohl dieser Passus innerhalb des Corpus die
Poetik vertritt, ist von Dichtung oder dichterischer Aussage mit keiner
SUbe die Rede, ebensowenig wie im vorangehenden Abschnitt, welcher
offenkundig die Rhetorik meint, die Wörter ,,Rede", ,, Redekunst" o.ä.
auftauchen. Daß dies kein zufälhges Versehen ist (sonst werden die Namen
der aristotelischen Bücher oder der entsprechenden Disziplinen immer
genannt), werden wir S. 272f. zu beweisen versuchen. Auf jeden Fall aber
müssen, wenn dieser Text in die Dichtungsdiskussion einbezogen werden
soll, auch die nicht wenigen Parallelstellen in Fusül, Hurüj, Siyäsa,
Taljen und Milla berücksichtigt werden, w^elche unseren Text erst in die
richtige Perspektive stellen**.
An ganz anderer Stelle im Färäbischen System treffen wir ebenfalls
auf eine Kombmation von ,, Vorstellung" und ,, Nachahmung", nämhch in seiner Prophetielehre (einschließlich der Traum- und Wahrsagelehre).
Richabd Walzeb hat sie dargestellt und die griechischen Quellen der
einzelnen Elemente dieser Lehre, soweit möglich, aufgezeigt**. Hinsicht¬
lich der Kombination von — griechisch gesprochen — phantasia und
mimesis stellt er fest, daß eine griechische Quelle dafür nicht erhalten,
aber mit einiger Sicherheit im Bereich des mittleren Platonismus zu
postulieren ist**. Etwa gleichzeitig hat sich Fazlub Rahman mit der¬
selben Thematik beschäftigt; er bringt einige weitere Parallelen aus dem
Griechischen, setzt sich aber mit den uns interessierenden Begriffen nicht
im einzelnen auseinander**. Grundlage dieser Lehre ist die muhäkät
,, Nachahmung", die hier als eine Fähigkeit der Vorstellungskraft {al-
quwwa al-mutahayyila) eingeführt wird, und zwar ausdrücklich als dritte
neben den beiden bekannten: Aufbewahrung der Sinneseindrücke und
(freie) Verknüpfung der aufbewahrten Eindrücke. Objekte der Nach¬
ahmung können sein : das mit den fünf Sinnen Erfaßte, das mit dem Geist
Erfaßte, die nutritive und die appetitive KLraft der Seele und schließlich
das jeweilige Mischungsverhältnis der Körpersäfte. Mittel der Nach¬
ahmung sind in jedem Falle die in der Vorstellungskraft bewahrten
Sinneseindrücke. Das bedeutet, daß die Nachahmung eine besondere
" Vgl. ZDMG 126 (1976), *78*—*79*.
*2 Stellennachweise und Einzelheiten folgen unten bei der Gesamtdar¬
stellung dieses thematischen Komplexes.
5' Al-Färäbi's Theory oj Prophecy and Divination. In : Journal of HeUenic
Studies (1957), S. 142—8. Wiederabgedruckt in: ders.: Oreek into Arabic
206—19. Der zugrundeliegende Text ist Ärä' 88—95.
" Vgl. Oreek into Arabic 211—214.
'5 Prophecy in Islam. Philosophy and Orthodoxy. London 1958. Vgl. bes.
S. 36—38 mid die zugehörigen Anrnmerkungon.
Die antike Verknüpfung von phantasia und Dichtung 271
zielgerichtete Art der Verknüpfung aufbewahrter Sinneseindrücke ist**,
und natürhch, daß sie die beiden anderen Fähigkeiten der Vorstellungs¬
kraft zur Voraussetzung hat. Die Nachahmung findet meistens im Schlafe
statt (Träume), weil die Vorstellungskraft als einziges erfassendes Ver¬
mögen im Schlaf weiter tätig ist und zu dieser Zeit nicht wie üblich von
,, unten", den Sinnen, und von ,,oben", der Vernunft, in Anspruch ge¬
nommen wird. Bei manchen Menschen ist die Vorstellungskraft jedoch
so stark und vollkommen, daß sie auch im Wachen nachahmend tätig
sein kann, weil sie durch ihre üblichen Funktionen nicht ausgelastet ist.
Hier kann es nun bei ganz wenigen Menschen geschehen, daß diejenigen
Inhalte, welche die besonders aufgeschlossene und empfangsbereite
Vernunft dieser Menschen vom ,, tätigen Geist" (al-'aql al-fa"äl, nus
poietikos)*' verliehen bekommt, in einer Art Fortsetzung der Emanatio¬
nenkette und in Umkehrung des normalen Erkenntnisweges nicht nur
von der Vorstellungskraft in Gestalt von entsprechenden Sinnesein¬
drücken nachgeahmt, sondern auch von hier an den ,, Gemeinsinn"
und dann an die einzelnen Sinne weitergeleitet und schließlich — im
Falle der sichtbaren Dinge — vom Auge aus durch den Sehstrahl in die
Luft projiziert werden, worauf sie dann auf dem natürlichen Erkenntnis¬
weg, also rückläufig, wieder wahrgenommen werden. Das ist die wahre
Natur von Visionen und ähnlichen Erlebnissen. Handelt es sich bei den
Inhalten um geistige Dinge ohne körperliches Substrat (al-ma'qülät
al-mufäriqa), also um göttliche — oder zumindest außerhalb der sub¬
lunaren Welt des Werdens und Vergehens befindliche — Dinge, oder
auch um gegenwärtige oder zukünftige Particularia, so ist die betreffende
Person ein Prophet. Je nach der Art des Inhalts und der Art der Wieder- /
gäbe (Vision, Traum, Vorstellung) gibt es in absteigender Reihe eine
Vielzahl von weniger vollkommenen seherischen Menschen bis hin zu
jemandem, der hin und wieder einen auf ein einziges Particulare bezüg¬
lichen präkognitiven Traum hat. Für unser Thema ist noch interessant,
wie al-Färäbi die Äußerungen dieser Menschen charakterisiert: ,,Ihre
Aussagen, mit denen sie (ihre Erlebnisse) ausdrücken, .sind nachahmende
Aussagen, Symbole (rumüz), Verrätselungen (algäz), Substitutionen
5» So drückt sich auoh al-Färäbi selbst aus. Wenn z.B. die Feuchtigkeit
im Mischimgsverhältnis der Körpeisäfte überwiegt, so ,,ahmt sie (so. die
Vorstellungskraft) die Feuchtigkeit duroh die Verlmüpfung (tarkib) der¬
jenigen Sinneseindrücke, welche die Feuchtigkeit nachahmen, nach, wie z.B.
Gewässer und das Schwimmen in ihnen" (Ärä' 89, Z. 1).
" Der ,, tätige Geist" ist der ,, unterste" der losgelösten, d.h. ohne körper¬
liches Substrat existierenden Geister (al-'uqül al-mufäriqa) in der Emana¬
tionenreihe. Er herrscht in der sublunaren Welt und bewirkt, daß der mensch¬
liche Geist von der potentia in den actus überführt wird.
19 ZDMO 128/2
272 WOIiTHABT ELeINBICHS
(ibdälät) und Vergleiche (taSbihät)"^^. Wenn man diese Aussagearten auf
die beiden Typen von Inhalten, also die geistigen Dinge und die sinnlich
wahrnehmbaren Particularia, verteilen möchte, was al-Färäbi nicht tut,
so müßte man wohl die ,, nachahmenden Aussagen" als generischen
Begriff auffassen und sodann die Symbole und Verrätselungen den
Intelligibilia und die Substitutionen und Vergleiche den Particularia
zuordnen ; einigermaßen sicher scheint diese Zuordnung für die Sj^mbole
und Vergleiche zuzutreffen.
Der dritte Komplex, in welchem die Begriffe muhäkät und tahyil Ver¬
wendung finden, ist die Färäbische Theorie der Religionen, die natürlich
mit der soeben geschilderten Prophetielehre eng zusammenhängt, ob¬
wohl al-Färäbl sie nicht im unmittelbaren Anschluß daran behandelt.
Eine knappe und klare Darstellung findet sich in Richard Walzers
Beitrag Early Islamic Philosophy^^ . Er beruft sich hier auf den ein¬
schlägigen Abschnitt in den ,, Ansichten der Leute des Musterstaates"
(Ärä' ahl al-madina al-fädila)'^''; hier fehlt allerdings der Begriff tahyil
bzw. tahayyul, weswegen für unsere Zwecke die parallelen Ausführungen
in der ,, Staatsleitung" (as-Siyäsa al-madaniya) geeigneter sind**. Der
Gedankengang ist der folgende : Da die meisten Menschen — von Natur
aus oder durch Gewohnheit — unfähig sind, die für ihre Glückseligkeit
notwendigen metaphysischen Wahrheiten in der Weise der Philosophen
so zu verstehen, daß sich die Wesenheiten (dawät) dieser geistigen Dinge
ihrer Seele einprägen (tartasim), so muß man ihnen besagte Dinge als
Vorstellung eingeben (tuhayyal ilaihim), d.h. daß sich Bilder dieser Dinge
und andere Dinge, welche diese Dinge nachahmen, ihrer Seele einprägen.
Die Wesenheiten bleiben immer dieselben; dagegen sind ihre Abbilder
sehr vielfältig. Zum Zwecke der Abbildung und Nachahmung nimmt man
solche Dinge, die dem jeweiligen Volke aus seiner Umwelt am vertrau¬
testen sind. So erklärt sich die Verschiedenheit der Religionen (milal),
welche alle als Abbilder der einen Wahrheit in gleicher Weise wahr und
auf dasselbe Ziel, die Glückseligkeit, gerichtet sind.
Man sieht sofort, daß der von Bürgel zum ersten Male für die Färä¬
bische Poetik herangezogene Text aus der ,, Philosophie des Aristoteles"
58 Ärä' 94, Z. — 3f. Das Possessivpronomen ,,ihre" bezieht sich seiner
Stellung nach auf die Sehertypen imterhalb des Propheten, muß aber dom
Sinne naoh auoh für letztere gelten. Die merkwürdige Vagheit des Bezugs ist
möglicherweise eine Vorsichtsmaßnahme des Autors (s. dazu u. S. 284).
Die Ergänzung ,,ihre Erlebnisse" ist deswegen nötig, weil das Verb 'ahbara
hier ungewohnterweise obne das durcli 'an eingeleitete sächhohe Objekt
gebraucht ist. Die französische Übersetzung sagt stattdessen ,,s'exprimeront"
(s. Ärä', Trad. 75, Z. 9).
" In: Laier Greek . . . Philosophy 643—669, hier 654—657.
6» Ärä' 122—123. «i Siyäsa 85—87.
Die antike Verknüpfung von phantasia und Dichtung 273
die Verbindung z^vischen Poetik und Religionstheorie herstellt: In
beiden Fällen geht es um die Unterweisung des gemeinen Volkes durch
bildhafte Sprache ; und bedeutsamerweise ist in dem Abschnitt aus der
„Philosophie des Ai'istoteles", obwohl er eine Charakteristik der aristote¬
hschen Poetik zu sein beabsichtigt, von Dichtung ,, nicht mehr" und von
Rehgion ,,noch nicht" die Rede — wobei die Zeitadverbien ,, nicht mehr"
und ,,noch nicht" keine Wendemarke im Färäbischen Denken zu be¬
zeichnen brauchen, sondern durchaus al-Färäbis idealisierende Inter¬
pretation der historischen Position des Aristoteles in dieser Frage wider¬
spiegeln können. Auf jeden Fall ist dieser Text ein wichtiges Zwischen¬
glied in dem merkwürdigen Prozeß der Umdeutung der ,, logisehen"
Poetik in eine Theorie der religiösen Bildersprache. Hiermit ist zugleich
auch klar, daß alle drei Themenkomplexe, die sich durch Verwendung der
Begriffe muhäkät und tahyil auszeichnen, zueinander auf die eine oder
andere Weise in Beziehung stehen, und es ist nunmehr geboten, diese
Beziehungen im Zusammenhange darzustellen.
Ich wähle dafür einen Text aus dem ,,Buch der Buchstaben" [Kitäh
al-HurüfY^, in welchem al-Färäbi eine Geschichte der menschlichen
Erkenntnis anhand der jeweils zugehörigen Aussage-Typen skizziert.
Ich übersetze den Text in Auswahl und füge an geeigneten Stellen
ergänzendes Material aus anderen Schriften unseres Autors hinzu. Daß
ich hierbei möglicherweise eine nicht vorhandene Einheitlichkeit dieses
Materials voraussetze, läßt sich nicht vermeiden. Auffallig ist jedenfalls,
daß bei parallelen Erörterungen desselben Themas in verschiedenen
Werken häufig nicht der gesamte Kreis der zugehörigen Gedanken dinch-
schritten wird, sondern hier der eine, dort der andere Gedanke fehlt.
Unauflösliche Widersprüche sind dagegen selten.
4. Tahyil in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen
Geistes nach al-Päräbi
Al-Färäbi beginnt seine Darlegungen ganz systematisch mit einer
beeindruckenden Sprachentstehungstheorie, in welcher die ursprünghch
konkurrierenden Theorien — Nachahmung, Setzung, Konvention —
sinnreich zu einer Einheit zusammengeschmiedet werden**. Für unser
Vorhaben interessiert uns aus diesem Teil nur der Abschnitt, in welchem
«2 Dieses Bueh ist eine Art freier Kommentar zur ,, Metaphysik" des
Aristoteles, welch letztere im Arabischen ebenfalls u.a. den Namen „Buch
der Buchstaben" trägt — wegen der zur Bezeichnung der einzelnen Bücher
im Griechischen und im Arabischen verwendeten Buchstaben. Zu anderen
Erklärungsmöglichkeiten bezüglich des Titels siehe die Darlegimgen des
Herausgebers Muhsin Mahdi in Hwrüf 30—37.
6= Vgl. Hurüf 134—142.
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