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122 IP November/Dezember 2009

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Christoph Neidhart | Drei Herren im Anzug tourten Ende September in einem Reisebus durch Japan. Vor grö- ßeren Bahnhöfen machten sie Halt, kletterten aufs Dach eines Lieferwa- gens und redeten zum japanischen Volk. Das nannten sie Wahlkampf.

Das Volk indes ignorierte sie. Am Bahnhof Shibuya in Tokio sahen die Passanten kaum hin. Kein Wunder:

Als Nichtmitglieder der Liberaldemo- kratischen Partei (LDP) besaßen sie ohnehin kein Stimmrecht. Die drei Herren – Yasutoshi Nishimura, Sada- kazu Tanigaki und Taro Kono – bewar- ben sich um den Vorsitz der LDP – der Partei, die Japan über ein halbes Jahr- hundert regierte, bevor sie im vergan- genen August abgewählt wurde.

Der LDP-Chef wird von den Parla- mentsabgeordneten seiner Partei und den Sektionen in den Präfekturen ge- wählt. Solange er automatisch auch Premier wurde, blieben die Leute bei diesen Wahlkampfshows stehen, um ihren künftigen Regierungschef zu sehen. Diesmal jedoch sollte der Sieger bloß Oppositionsführer werden – ohne Aussicht, je eine Regierung zu bilden.

In Japan ist vieles nicht, was es zu sein vorgibt. Die Nation ist nicht ho- mogen, obwohl die Propaganda das

behauptet, die Gewerkschaften sind keine Gewerkschaften. Und dieser Wahlkampf war bloß ein rituelles Schaulaufen einer Partei, die weder li- beral noch demokratisch ist und ei- gentlich auch keine politische Partei.

Jedenfalls nicht in unserem Sinne:

Weder vertritt sie ein bestimmtes Seg- ment der Bevölkerung, noch stand sie je für eine Ideologie, sie war auch nie Wahlverein eines populären Politikers.

Die LDP wurde nicht geschaffen, um am demokratischen Wettstreit der poli- tischen Kräfte in Japan teilzunehmen, sondern aus zwei rivalisierenden Par- teien fusioniert, um diesen Wettstreit zu verhindern. Sie war keine Institu- tion, die Volksvertreter nominierte und in politische Gremien schickte, sondern eine Organisation zur Verwal- tung der Macht. Als solche war sie von Anfang an heterogen. In ihren Reihen gab es Sozialdemokraten, Liberale, Neo- liberale und Rechtsextreme.

Ihre Kritiker hat sie stets mit einer großen Umarmung zu ersticken ver- sucht oder durch Einverleiben gegneri- scher Gruppierungen – trotz ihrer In- dustrienähe auch Umweltgruppen.

Zuletzt scheiterte sie mit dem Versuch, die damals oppositionelle Demokrati- sche Partei DPJ, die nun an der Macht

Show ohne Publikum

Warum sich niemand mehr für Japans ehemalige Regierungspartei interessiert

© Thomas Albrecht, Büro Hilmer, Sattler & Albrecht GmbH

Brief aus … Tokio

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IP November/Dezember 2009 123

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ist, in eine große Koalition zu locken.

Zugleich war die LDP der sichtbare Teil eines Apparats, der in den Nach- kriegsjahrzehnten alle Segmente der japanischen Gesellschaft durchdrang.

Dieser Apparat ist wegen seiner alles durchdringenden Präsenz zu Recht mit der Kommunistischen Partei der Sow- jetunion (KPdSU) verglichen worden, auch in Japan selbst. Allerdings hat er, ganz anders als die sowjetisch gepräg- ten Gesellschaften und ohne deren Zwängen unterworfen zu sein, Japan stets gut versorgt. Das Land wurde dank der LDP reich, die KPdSU hatte die Völker der Sowjetunion ausgehun- gert. Und die LDP hat sich ihr Mandat in freien Wahlen immer brav bestäti- gen lassen. Die Wähler hatten freilich kaum eine andere Wahl. Die mit viel Geld geschmierte LDP-Wahlmaschine sorgte jeweils für die nötigen Mehrhei- ten. Erst bei den Oberhauswahlen 2007 kam dieser Motor ins Stocken; im August brach er auseinander.

Jetzt ist die LDP in der Opposition.

Aber von den drei agilen Herren, die im September LDP-Chef werden woll- ten, mochten zwei das nicht einsehen.

Manche LDP-Abgeordnete gründeten neue Parteien, um sich an der Macht zu halten. Und schimpften über die LDP, als hätten sie nie dazugehört.

Exverteidigungsministerin Yuriko Koike, die sich auch schon um einen Sitz im LDP-Präsidium beworben hatte, schloss sich in den vergangenen 15 Jahren fünf verschiedenen Partei- en an. Auch die meisten Minister der neuen Regierung begannen ihre Kar- rieren ursprünglich in der LDP.

Die drei leutseligen Herren, die Ende September vor Japans Pendler- Bahnhöfen Wahlkampf ohne Publi- kum spielten, setzten sich in ihren

Reden deutlich voneinander ab. Yasu- toshi Nishimura, ein Provinzabgeord- neter mit dem Charme eines Hand- lungsreisenden, versuchte den Japa- nern jene verbrauchten rechtsnationa- len Ideen anzudrehen, die sie mit hohen Mehrheiten

abgelehnt haben, etwa die Militari- sierung des Welt- raums. Sadakazu Tanigaki, ein sanf-

ter, liberaler Exfinanzminister, recht- schaffen und professoral, der die Wahl zum Vorsitzenden schließlich gewann, tat so, als pausiere die LDP bloß.

Einzig Taro Kono, der dritte im Bunde, ein gescheiter Stratege, hatte verstanden, dass sich die LDP radikal erneuern müsste, um sich in eine mo- derne konservative Partei zu verwan- deln. In einer von ihm geführten LDP gäbe es kein Senioritätsprinzip, die Abgeordneten und Funktionäre müss- ten um ihre Pfründe fürchten. Kein Wunder, dass die Parteimitglieder ihn nicht gewählt haben. Das Revolutio- näre des Machtwechsels in Tokio ist nicht der Wahlsieg der Demokraten, die ihre Politik erst formulieren müs- sen, sondern der sich abzeichnende Untergang der LDP. Dass sie gleich ganz untergeht, ist keine gute Nach- richt. Ohne LDP wird Japan nicht zum Mehrparteiensystem oder we- nigstens zum Zweiparteiensystem, das es längst zu sein vorgibt.

CHRISTOPH NEIDHART ist Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Tokio.

Revolutionär ist nicht der Wahlsieg der Demokraten, sondern der Untergang der Liberaldemokratischen Partei Brief aus … Tokio

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