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Entscheidungen - Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe

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- Bevollmächtigter: … -

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2 BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 2654/17 -

In dem Verfahren über

die Verfassungsbeschwerde der L… GmbH,

vertreten durch den Geschäftsführer B…,

gegen §§ 1, 2, 3, 7, 9 bis 13 des Gesetzes zur Sicherung der Sozialkassenver- fahren im Baugewerbe (Sozialkassenverfahrensicherungsgesetz – Soka- SiG) vom 16. Mai 2017 (Bundesgesetzblatt I Seite 1210)

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterinnen Baer,

Ott

und den Richter Radtke

gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 11. August 2020 einstimmig beschlossen:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenom- men.

G r ü n d e : A.

Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen das Gesetz zur Sicherung der Sozial- kassenverfahren im Baugewerbe (Sozialkassenverfahrensicherungsgesetz – Soka- SiG) vom 16. Mai 2017 (BGBl I S. 1210). Sie rügt in erster Linie, damit sei eine unzu- lässige Rückwirkung verbunden. Die durch das Gesetz begründete echte Rückwirkung ist jedoch verfassungsrechtlich zu rechtfertigen.

I.

1. Die Arbeitgeberverbände Zentralverband des Deutschen Baugewerbes und Hauptverband der Deutschen Bauindustrie haben mit der Industriegewerkschaft Bau- en-Agrar-Umwelt (IG BAU) Tarifverträge zur Berufsbildung, zur Altersversorgung so- wie zum Urlaub geschlossen. Mit diesen Leistungen sollen Nachteile ausgeglichen werden, die auf den Eigenheiten der Baubranche beruhen. Die Leistungen werden von den Sozialkassen des Baugewerbes erbracht, als gemeinsame Einrichtungen

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6 der Tarifparteien im Sinne von § 4 Abs. 2 des Tarifvertragsgesetzes (TVG). Finan-

ziert werden sie durch Pflichtbeiträge der Arbeitgeber, die in den Anwendungsbereich der Tarifverträge fallen; die Einzelheiten regelt der Tarifvertrag über das Sozialkas- senverfahren im Baugewerbe (VTV). Weil dieser in der Vergangenheit regelmäßig gemäß § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt worden ist, wurden auch nicht tarif- gebundene Arbeitgeber zu Beiträgen herangezogen (zum Ganzen BVerfGE 55, 7 <9 ff.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. Januar 2020 - 1 BvR 4/17 -).

2. Mit Beschlüssen vom 21. September 2016 und 25. Januar 2017 erklärte das Bun- desarbeitsgericht die Allgemeinverbindlicherklärungen des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe aus den Jahren 2008, 2010, 2012, 2013 und 2014 für unwirksam. Die dagegen gerichteten Verfassungsbeschwerden sind mit Be- schlüssen der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Januar 2020 nicht zur Entscheidung angenommen worden (1 BvR 4/17, 1 BvR 593/17, 1 BvR 1104/17, 1 BvR 1459/17).

3. Der Gesetzgeber reagierte auf die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts vom 21. September 2016 mit dem hier angegriffenen Gesetz. Es sollte eine von den Allgemeinverbindlicherklärungen unabhängige Rechtsgrundlage dafür geschaffen werden, noch ausstehende Beiträge für die Sozialkassen im Baugewerbe einzuzie- hen und bereits erhaltene Beiträge nicht zurückzahlen zu müssen. Den „Entwurf ei- nes Gesetzes zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe“ (BTDrucks 18/10631) beschloss der Deutsche Bundestag am 26. Januar 2017 (vgl. Stenografi- scher Bericht der 215. Sitzung des Deutschen Bundestages, S. 21588). Der Bundes- rat beschloss am 10. Februar 2017, keinen Antrag nach Art. 77 Abs. 2 GG zu stellen (BRDrucks 54/17). Das Gesetz wurde am 24. Mai 2017 im Bundesgesetzblatt ver- kündet und trat gemäß seinem § 14 am darauffolgenden 25. Mai 2017 in Kraft (BGBl I S. 1210).

4. Das Gesetz zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe besteht im Wesentlichen aus einer zeitlich gestaffelten, mit dem Jahr 2006 beginnenden Rei- hung von Verweisen. So werden Tarifnormen der Sozialkassentarifverträge zur Be- rufsbildung im Baugewerbe (§ 1), der zusätzlichen Altersversorgung im Baugewerbe (§ 2) sowie zu Urlaubsregelungen für das Baugewerbe (§ 3) kraft Gesetzes verbind- lich angeordnet. In § 7 SokaSiG ist die im Jahr 2006 beginnende Geltung des Tarif- vertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe festgelegt. So heißt es in § 7 Abs. 10 SokaSiG:

„Für den Zeitraum vom 1. Januar 2006 bis zum 30. September 2007 gelten die Rechtsnormen des Tarifvertrags über das Sozial- kassenverfahren im Baugewerbe vom 20. Dezember 1999 in der aus der Anlage 35 ersichtlichen Fassung in seinem Geltungsbereich für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer.“

In Bezug genommen sind damit sämtliche Bestimmungen des genannten Tarifver-

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10 trags einschließlich der Gesamtbeitragspflicht und der Regelung zum Gerichtsstand.

Sodann regelt § 9 SokaSiG, wann ein Tarifvertrag beendet wird, § 10 SokaSiG be- stimmt den Anwendungsbereich und § 11 SokaSiG die Geltung der tarifvertraglichen Rechtsnormen, auf die im Gesetz verwiesen wird, unabhängig davon gelten, ob die Tarifverträge wirksam geschlossen wurden. Die Regelung in § 12 SokaSiG verweist zur zivilrechtlichen Durchsetzung auf das Arbeitnehmer-Entsendegesetz; § 13 So- kaSiG bestimmt, dass die Allgemeinverbindlichkeit tarifvertraglicher Rechtsnormen nach dem Tarifvertragsgesetz unberührt bleibe.

5. Die beiden zuständigen Landesarbeitsgerichte halten das Gesetz für verfas- sungsgemäß. Eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 GG scheide daher aus (vgl. Hessisches LAG, Urteil vom 2. Juni 2017 - 10 Sa 907/16 -;

LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16. Juni 2017 - 3 Sa 1830/16 -). Mit Urteil vom 20. November 2018 - 10 AZR 121/18 - hat es auch der Zehnte Senat des Bundesar- beitsgerichts für verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten, dass § 7 SokaSiG die Tarifverträge über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe rückwirkend auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber erstreckt. Das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.

20 Abs. 3 GG geschützte Vertrauen dieser sogenannten Außenseiter, von rückwir- kenden Gesetzen nicht unzulässig belastet zu werden, sei nicht verletzt. Die tariffrei- en Arbeitgeber hätten damit zu rechnen gehabt, dass diese tariflichen Rechtsnormen durch Gesetz rückwirkend wieder auf sie erstreckt werden würden. Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat diese Rechtsprechung verschiedentlich und zuletzt durch Urteil vom 22. Januar 2020 (- 10 AZR 387/18 -, Rn. 45 ff.) bestätigt.

6. Die nicht tarifgebundene Beschwerdeführerin unterhält einen Betrieb zur Verrich- tung von Abdichtarbeiten. Für den Zeitraum von Januar 2013 bis Dezember 2015 wurde sie auf Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialkassen in Höhe von 870.005,57 Euro verklagt. Bei Einreichung der Verfassungsbeschwerde stand eine Entscheidung der Fachgerichte über diese Forderung noch aus.

II.

Die Beschwerdeführerin meint, die Regelungen der §§ 1, 2, 3, 7 und 9 bis 13 Soka- SiG verletzten sie in ihren Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG sowie dem Recht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG.

Im Wesentlichen rügt sie, dass mit dem Gesetz eine „echte“ Rückwirkung einherge- he, da es Rechtsfolgen rückbewirke, was verfassungsrechtlich unzulässig sei. Ein anerkannter Ausnahmefall liege nicht vor. Das Vertrauen der bisher nicht von den Sozialkassenregelungen erfassten Arbeitgeber darauf, weiterhin nicht von ihnen er- fasst zu sein, sei vorhanden und schutzwürdig gewesen. Die Wirksamkeit der Allge- meinverbindlicherklärungen habe schon lange im Streit gestanden und die Kriterien, aufgrund derer das Bundesarbeitsgericht sie am 21. September 2016 für unwirksam erklärt habe, seien in der Fachliteratur bekannt gewesen. Dass eine tarifvertragliche Regelung durch ein Gesetz ausgetauscht werden würde, sei unvorhersehbar gewe-

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15 sen.

Auch sei die Rückwirkung nicht durch überragende Belange des Gemeinwohls ge- rechtfertigt. Das Gesetz sei – anders als tarifvertragliche Regelungen – am strengen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen, den es verletze. Es sei schon nicht erforderlich, denn der Gesetzgeber sei zu Unrecht davon ausgegangen, das Gesetz verabschieden zu müssen, weil nach den Entscheidungen des Bundesarbeitsge- richts im September 2016 zahlreiche Beitragsrückforderungen und damit die Über- schuldung der Sozialkassen gedroht hätten. Er habe sich auf unzutreffende Angaben der Tarifparteien verlassen, ohne deren Tragfähigkeit zu hinterfragen. Tatsächlich sei das Ausmaß möglicher Rückforderungen gänzlich unklar gewesen. Eine Prognose

„ins Blaue hinein“ könne im grundrechtsrelevanten Bereich aber nicht genügen. Der Gesetzgeber hätte vielmehr belegen müssen, mit welchen Rückforderungen zu rech- nen sei und welche Konsequenzen das habe. Das sei nicht geschehen. Zudem hätte die behauptete Gefährdung der Sozialkassen durch das mildere Mittel der Finanzie- rung aus Steuermitteln abgewendet werden können. Im Übrigen sei das Gesetz nicht angemessen.

Darüber hinaus sei es nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren, weil es sich nur auf die Baubranche in den alten Ländern erstrecke.

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Es kann dahinstehen, ob sie dem Grundsatz der Subsidiarität genügt und auch im Übrigen zulässig ist, denn die erhobenen Rügen greifen jedenfalls nicht durch.

I.

Das Gesetz zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe verstößt nicht gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot.

1. Nach den in Art. 12 Abs. 1 beziehungsweise Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.

20 Abs. 3 GG verankerten Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschut- zes in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundge- setzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rech- te sind der Rückwirkung von Gesetzen verfassungsrechtlich Grenzen gesetzt (vgl.

BVerfGE 148, 217 <255 Rn. 134 f.> m.w.N.; stRspr). So ist eine echte Rückwirkung, mit der eine Rechtsnorm nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt än- dernd eingreift, grundsätzlich unzulässig (vgl. BVerfGE 141, 56 <73 Rn. 43>; zu ech- ter und unechter Rückwirkung BVerfGE 135, 1 <13 Rn. 37> sowie BVerfGE 89, 48

<66>). Eine echte Rückwirkung liegt insbesondere vor, wenn eine Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt der Verkündung des Gesetzes für be- reits abgeschlossene Tatbestände gelten soll, also eine „Rückbewirkung von Rechts- folgen“ vorliegt (vgl. BVerfGE 127, 1 <16 f.>; 132, 302 <318 Rn. 42> m.w.N.; 135, 1

<14 Rn. 40 f.>).

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18 Das Rückwirkungsverbot findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes aber nicht

nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze. Es gilt daher nicht, soweit sich kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte oder ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutz- würdig war (vgl. BVerfGE 135, 1 <21 f. Rn. 61 f.>). Das ist nicht schon dann der Fall, wenn auf eine Rechtslage vertraut wird, die in Wahrheit überhaupt nicht gegeben ist, weil die maßgeblichen Rechtsnormen unwirksam sind. Denn auch von unwirksamen Rechtsnormen geht regelmäßig zunächst der Rechtsschein aus, dass sie wirksam sind. Aus dem Rechtsschein kann dann schutzwürdiges Vertrauen darauf erwach- sen, dass er die tatsächliche Rechtslage abbildet, so dass von ihm umfasste Begüns- tigungen nicht nachträglich beseitigt werden dürfen (vgl. schon BVerfGE 13, 261

<272> sowie BVerfGE 18, 429 <439>; 50, 177 <193 f.>; 135, 1 <22 Rn. 62>; ferner BVerfGK 10, 346 <352 f.>; 14, 244 <250>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. Juni 1988 - 1 BvR 35/88 -, juris, Rn. 5; Beschluss der 2. Kam- mer des Ersten Senats vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14 -, Rn. 56).

Der Vertrauensschutz tritt aber zurück, wenn die betroffenen Bürgerinnen und Bür- ger sich nicht auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtsschein verlassen durften (vgl. BVerfGE 101, 239 <263 f.>; 122, 374 <394 f.>; 135, 1 <22 Rn. 62>).

Dann kann es zulässig sein, dass der Gesetzgeber rückwirkend eine nichtige Bestim- mung durch eine rechtlich nicht zu beanstandende Bestimmung ersetzt (vgl.

BVerfGE 13, 261 <272>). Dasselbe gilt, wenn sich der Rechtsschein auf eine Norm bezieht, welche die Normadressaten nicht begünstigt, sondern belastet. Dann kann der Rechtsschein bewirken, dass mit der rückwirkenden „Wiederherstellung“ einer zunächst durch eine unwirksame Norm beabsichtigten Rechtslage gerechnet werden muss. Das ist die notwendige Kehrseite dessen, auch auf unwirksame begünstigen- de Normen vertrauen zu dürfen. Auch hier wird eine nichtige Bestimmung zulässig rückwirkend durch eine nicht zu beanstandende Regelung ersetzt (vgl. BVerfGE 13, 261 <272>). Insoweit kann der Rechtsschein die Rückwirkung einer Neuregelung rechtfertigen, weil die Betroffenen gerade nicht darauf vertrauen durften, dass die Belastung nun entfällt. Das gilt insbesondere, wenn die Norm nicht aus materiellen Gründen, sondern wegen formaler Fehler unwirksam wird. Auch mit Rücksicht auf den in ihr zum Ausdruck gekommenen Rechtssetzungswillen des Normgebers kann dann nicht darauf vertraut werden, von einer entsprechenden Regelung jedenfalls für den Zeitraum dieses Rechtsscheins verschont zu bleiben (vgl. BVerfGK 16, 162

<166 f.>).

Entscheidend ist, dass die materiellen Belastungen, die in einem solchen „Repara- turgesetz“ enthalten sind, denjenigen entsprechen, die in den ursprünglichen, später als unwirksam erkannten Bestimmungen vorgesehen waren; dann wird den Belaste- ten durch die Rückwirkung nichts zugemutet, womit sie nicht ohnehin schon zu rech- nen hatten (vgl. BVerfGE 22, 330 <348>; ferner BVerfGK 10, 346 <352 f.>; 16, 162

<168>).

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23 2. Die Rückwirkung des Sozialkassenverfahrensicherungsgesetzes ist danach ver-

fassungsrechtlich gerechtfertigt.

a) Das Gesetz ordnet eine „echte“ Rückwirkung an (so auch BAG, Urteil vom 20.

November 2018 - 10 AZR 121/18 -, Rn. 71; Hessisches LAG, Urteil vom 2. Juni 2017 - 10 Sa 907/16 -, juris, Rn. 80; LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16. Juni 2017 - 3 Sa 1830/16 -, juris, Rn. 38; desgleichen Bader, jurisPR-ArbR 31/2017 Anm. 2;

Berndt, DStR 2017, S. 1166 <1169>; Biedermann, BB 2017, S. 1333 <1338>; En- gels, NZA 2017, S. 680 <684>). Das Sozialkassenverfahrensicherungsgesetz belas- tet Arbeitgeber mit Beitragspflichten, die nicht kraft Verbandsmitgliedschaft tarifge- bunden sind, und begründet diese Beitragspflichten für Zeiträume, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits abgeschlossen waren.

b) Diese Rückwirkung ist ausnahmsweise gerechtfertigt. Den hier interessierenden Allgemeinverbindlicherklärungen, die durch die gesetzliche Regelung ersetzt wer- den, kam vor den Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts vom 21. September 2016 der Rechtsschein der Wirksamkeit zu. Die Allgemeinverbindlicherklärung ent- hält nach § 5 Abs. 4 Satz 1 TVG wie auch das Gesetz einen gültigen Normbefehl.

Gesetz und Allgemeinverbindlicherklärung unterscheiden sich zwar in ihrem Zustan- dekommen, erzeugen aber gleichermaßen Rechtsschein der Wirksamkeit (vgl.

BVerfGE 44, 322 <340 f., 348>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Se- nats vom 10. Januar 2020 - 1 BvR 4/17 -, Rn. 13).

aa) Der Rechtsschein der Wirksamkeit wird entgegen der Auffassung der Be- schwerdeführerin nicht dadurch zerstört, dass die Allgemeinverbindlichkeit der ein- schlägigen Tarifverträge umstritten war. Es mag zwar sein, dass die Maßgaben zur Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen in der Fachliteratur bereits an- gelegt waren, das Bundesarbeitsgericht also keine unerwartbare Entscheidung ge- troffen hat. Doch genügen fachliche Bedenken nicht, um den Rechtsschein einer Norm zu zerstören. Auch war die Tarifnormerstreckung auf Außenseiter schon vor dem Tag der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts am 21. September 2016 rechtlich in Zweifel gezogen worden. So hatten sich von den Sozialkassen in An- spruch genommene Arbeitgeber gegen die Beitragspflichten zur Wehr gesetzt (bei- spielhaft EGMR, G. K. GmbH gegen Deutschland, Urteil vom 2. Juni 2016, Nr. 23646/09). Doch genügt auch dies nicht, um den Rechtsschein der Wirksamkeit der Norm zu zerstören. Die Zweifel haben die Gerichte – soweit ersichtlich – in kei- nem Fall überzeugt. Die Tarifnormerstreckung durch die Allgemeinverbindlicherklä- rungen wurde vielmehr durchgängig als wirksam angesehen und dementsprechend wurden Beitragszahlungen ausgeurteilt. Daher ist anzunehmen, dass die beteiligten Akteure von der Wirksamkeit der Erstreckung des Sozialkassenverfahrens ausge- gangen sind (vgl. Hessisches LAG, Urteil vom 2. Juni 2017 - 10 Sa 907/16 -, juris, Rn. 76, und dann auch BAG, Urteil vom 20. November 2018 - 10 AZR 121/18 -, Rn.

50; ausführlich Ulber, NZA 2017, S. 1104 <1105 f.>).

bb) Die durch die tarifvertraglichen Regelungen Belasteten mussten hier auch von

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26 27 deren Wirksamkeit ausgehen. Sie konnten nicht darauf vertrauen, dass die Allge-

meinverbindlicherklärungen unwirksam sind. Auch die im Zeitpunkt des Planens und Handelns ungewisse, sich später als richtig herausstellende Ansicht, eine Norm sei ungültig, entbindet nicht davon, zu berücksichtigen, dass die angewandte Norm wei- terhin gültig sein kann (vgl. BVerfGE 22, 330 <348>).

Es kommt insofern nicht darauf an, ob die Entscheidungen des Bundesarbeitsge- richts zur Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen allein auf „formale Gründe“ gestützt sind (vgl. BAG, Urteil vom 20. November 2018 - 10 AZR 121/18 -, Rn. 93, 95; Hessisches LAG, Urteil vom 2. Juni 2017 - 10 Sa 907/16 -, juris, Rn. 89).

Formale und materielle Aspekte sind regelmäßig eng miteinander verbunden. So be- trifft die Anforderung, dass sich die Hausspitze des zuständigen Ministeriums mit den Allgemeinverbindlicherklärungen selbst befassen muss, zwar das Verfahren, sichert aber auch die demokratische Legitimation dieser Entscheidung. Desgleichen wirkt die im damaligen § 5 TVG noch geforderte 50%-Quote zwar formell, betrifft aber auch die materielle Reichweite der tariflichen Bindung (vgl. Ulber, NZA 2017, S. 1104

<1106 f.>). Für die Frage, ob sich eine rückwirkende Korrekturregelung rechtfertigen lässt, ist entscheidend, ob das Korrekturgesetz Belastungen vorsieht, die dem ent- sprechen, was nach Maßgabe des korrigierten Rechts ohnehin als geltendes Recht unterstellt werden musste. Hier zeigt die Verfassungsbeschwerde jedenfalls in keiner Weise auf, dass mit dem angegriffenen Gesetz insoweit neue und eigenständige Be- lastungen einhergingen.

cc) Das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot greift hier auch nicht etwa, weil, wie die Beschwerdeführerin vorträgt, ein „einzigartiges Rettungsgesetz“ vorliege, mit dem niemand habe rechnen können. Richtig ist zwar, dass das Sozialkassenverfah- ren im Baugewerbe bis zum Inkrafttreten der angegriffenen Regelung nur durch All- gemeinverbindlicherklärungen und gerade nicht durch Gesetz auf tarifungebundene Außenseiter erstreckt worden ist. Doch weist die Beschwerdeführerin selbst darauf hin, dass die rechtliche Zulässigkeit dieser Tarifnormerstreckung verschiedentlich in Zweifel gezogen worden sei. Wenn aber die Unwirksamkeit der Allgemeinverbindli- cherklärungen für möglich gehalten werden konnte, lag es nicht fern, dass der Ge- setzgeber erwägen würde, die mit den Allgemeinverbindlicherklärungen verfolgten Ziele mit anderen Mitteln zu erreichen. Angesichts der langen Tradition der Sozial- kassen war nicht zu erwarten, dass verfügbare Möglichkeiten zu ihrer Sicherung un- genutzt bleiben würden. Zudem ist anerkannt, dass der Gesetzgeber rückwirkend ei- ne von ihm abgelehnte Rechtsprechung korrigieren darf (vgl. BVerfGE 7, 89 <94>;

126, 369 <392>; 135, 1 <15 Rn. 45>). Folglich war auch mit einem Gesetz zu den Sozialkassen im Baugewerbe zu rechnen.

II.

Auch die übrigen Rügen haben keinen Erfolg.

1. Das Sozialkassenverfahrensicherungsgesetz verstößt nicht gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, dem – unabhängig von der Frage, welches Grundrecht hier

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31 konkret berührt ist – jede Regelung genügen muss, die in grundrechtlich geschützte

Rechtspositionen eingreift. Insbesondere bestehen keine verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken dagegen, dass der Gesetzgeber von der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit der Neuregelung ausgegangen ist.

a) Soweit die Beschwerdeführerin gegen die Erforderlichkeit des Gesetzes einwen- det, der Gesetzgeber habe nicht ohne nähere quantifizierte Plausibilisierung anneh- men dürfen, dass die Sozialkassen nach den Entscheidungen des Bundesarbeitsge- richts vom 21. September 2016 Rückforderungen in existenzbedrohendem Umfang zu erwarten hatten, greift dies schon wegen des weiteren Einschätzungs- und Pro- gnosespielraums des Gesetzgebers bei der Erforderlichkeit (vgl. BVerfGE 138, 136

<190 Rn. 142> m.w.N.) verfassungsrechtlich nicht durch. Zwar müssen sich gesetz- geberische Prognosen soweit möglich auf gesicherte empirische Daten und verläss- liche Erfahrungssätze stützen (vgl. BVerfGE 106, 62 <151>). Das kann aber nur gel- ten, wenn solche Daten vorliegen oder zu erlangen sind. Hier ist weder substantiiert dargetan noch sonst ersichtlich, dass Daten oder andere Erfahrungsgrundsätze dazu vorgelegen hätten, in welchem genauen Umfang Rückforderungen zu erwarten wa- ren. Wie die Beschwerdeführerin selbst ausführt, war eine neue Situation eingetre- ten; dann liegen typischerweise keine Daten vor. Doch ist die Annahme plausibel, dass bei einem Wegfall der Bindung an den Tarifvertrag und damit auch an die Bei- tragspflichten zu den Sozialkassen substantielle Einbußen eintreten können.

b) Soweit die Beschwerdeführerin die von der Gesetzgebung angenommene Ge- fährdung der Sozialkassen bezweifelt, weil der Durchsetzung von Rückforderungs- ansprüchen zahlreiche Hindernisse entgegenstünden, greift dies ebenfalls nicht durch. So setzt sich die Beschwerdeführerin nicht damit auseinander, dass der Ge- setzgeber ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs davon ausging, dass die Sozialkassen aufgrund ihrer Rechtsform auch wegen Rückforderungsansprüchen, deren Wert juristisch nicht sicher prognostizierbar sei, Rückstellungen zu bilden hät- ten, was sie aber, da sie nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtet seien, überfordern dürfte. Desgleichen bleibt unberücksichtigt, dass der Gesetzgeber das angegriffene Gesetz für erforderlich hielt, weil die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts vom 21. September 2016 die Akzeptanz des Sozialkassenwesens insgesamt in Mitleiden- schaft gezogen hätten (vgl. BTDrucks 18/10631, S. 2 f.). Das genügt, um das ge- wählte Mittel zur Erreichung seiner Ziele im verfassungsrechtlichen Sinne für erfor- derlich zu halten.

c) Dies gilt auch für die Leistungspflichten, die das angegriffene Gesetz gegenüber denjenigen begründet, die keine Beiträge gezahlt hatten. Der Gesetzgeber wollte die Sozialkassen auch in die Lage versetzen, ausstehende Beiträge einzuziehen (vgl.

BTDrucks 18/10631, S. 3). Damit hat der Gesetzgeber den ihm hinsichtlich der Erfor- derlichkeit einer Regelung zustehenden Einschätzungsspielraum nicht überschritten (vgl. auch BAG, Urteil vom 27. März 2019 - 10 AZR 318/17 -, Rn. 48).

d) Desgleichen verfängt die These nicht, eine Gefährdung der Sozialkassen hätte

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35 durch Steuermittel aufgefangen werden können. Es erschließt sich nicht, dass dies

ebenso geeignet wäre, die Akzeptanz des Sozialkassenverfahrens aufrechtzuerhal- ten und die betroffenen Arbeitgeber zu freiwilligen Zahlungen an die Sozialkassen zu veranlassen.

e) Schließlich ist nicht ersichtlich, dass das Sozialkassenverfahrensicherungsge- setz im Übrigen unzumutbar wäre. Die Beschwerdeführerin wendet insoweit ein, die Rückwirkung erstrecke sich über einen „überlangen“ Zeitraum, diejenigen, die die Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen gerichtlich geltend gemacht hat- ten, seien besonders belastet, das arbeitsvertragliche Austauschverhältnis gestört und besonders kleinere Betriebe unzumutbar betroffen. Zu berücksichtigen ist hier jedoch, dass – soweit in diesem Verfahren ersichtlich – mit dem Gesetz allein die Rechtslage festgeschrieben werden sollte, von der jedenfalls die Beschwerdeführe- rin für den Zeitraum vor dem 21. September 2016 auszugehen hatte. Dabei muss nicht entschieden werden, ob die gesetzliche Rückwirkung unverhältnismäßig wäre, wenn die Existenz der in Anspruch genommenen Arbeitgeber gefährdet wäre. Dass eine solche hier vorliegt, ist jedenfalls nicht erkennbar.

2. Auch die Rüge, das angegriffene Sozialkassenverfahrensicherungsgesetz unter- werfe die erfassten „Außenseiter“ verfassungswidrig der Regelungsmacht der Tarif- parteien, greift nicht durch. Das Grundrecht der negativen Koalitionsfreiheit schützt nicht davor, dass der Gesetzgeber die Ergebnisse von Koalitionsvereinbarungen zum Anknüpfungspunkt darüber hinaus geltender Regelungen nimmt (vgl. BVerfGE 44, 322 <351 f.>; 55, 7 <20 ff.>). Allein dadurch, dass jemand den Vereinbarungen fremder Tarifvertragsparteien unterworfen wird, ist ein spezifisch koalitionsrechtlich geschütztes Recht nicht betroffen (vgl. BVerfGE 64, 208 <213>; 116, 202 <218 f.>).

Das gilt auch mit Blick auf die Regelung in § 9 SokaSiG, wonach ein in Bezug ge- nommener Tarifvertrag endet, wenn er gekündigt, aufgehoben, geändert oder durch einen anderen Tarifvertrag ganz oder teilweise abgelöst wird. Die Verbindlichkeit der Tarifverträge mit ihrer in § 9 SokaSiG umschriebenen Geltungsdauer beruht damit nicht auf der Regelungsmacht der Tarifparteien, sondern weiterhin auf der gesetzge- berischen Entscheidung. Allein der Geltungsbefehl des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ist maßgeblich für die Tarifnormerstreckung.

3. Es ist nicht erkennbar, inwiefern das Sozialkassenverfahrensicherungsgesetz ge- gen das allgemeine Gleichheitsgrundrecht (Art. 3 Abs. 1 GG) verstoßen soll (zu den Anforderungen an die Substantiierung BVerfGE 131, 66 <82 ff.>). Die Geltung des Gesetzes nur für die Baubranche, nicht aber für andere Wirtschaftszweige mit für all- gemeinverbindlich erklärten Sozialkassentarifverträge, erklärt sich schon daraus, dass nur die Allgemeinverbindlicherklärungen dieser tarifvertraglichen Regelungen gerichtlich für unwirksam erklärt worden waren. Zwischenzeitlich hat der Gesetzge- ber die Allgemeinverbindlichkeit im Übrigen auch für die anderen Branchen mit dem Gesetz zur Sicherung der tarifvertraglichen Sozialkassenverfahren vom 1. Septem- ber 2017 (BGBl I S. 3356, sogenanntes „SokaSiG II“) geregelt. Daneben lässt sich

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36 die Geltung des hier angegriffenen Gesetzes nur in den alten Bundesländern an-

gesichts des grundsätzlich weiten Spielraums des Gesetzgebers nicht allein mit der These erschüttern, es gebe dafür keinen Grund.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Baer Ott Radtke

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Bundesverfassungsgericht, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 11. August 2020 - 1 BvR 2654/17

Zitiervorschlag BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 11. Au- gust 2020 - 1 BvR 2654/17 - Rn. (1 - 36), http://www.bverfg.de/e/

rk20200811_1bvr265417.html

ECLI ECLI:DE:BVerfG:2020:rk20200811.1bvr265417

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