• Keine Ergebnisse gefunden

bewegt Eurythmie erziehungs kunst

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "bewegt Eurythmie erziehungs kunst"

Copied!
84
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

erziehungs kunst

06 | 2016 Juni | 4,90 €

Waldorfpädagogik heute

Eurythmie

bewegt

(2)

4

H. Daniel: Chancen und Schwierigkeiten der Eurythmie 5 J. Frank: Eurythmie – von der Ich-AG zum Wir 11

M. Zabel: Eurythmie – fächerübergreifend 14 S. Hasler: Eingeborenen stellt man dumme Fragen

Fünf Jahre Eurythmieforschung. Rückblick und Ausblick 16

D. Weber: Quer durch die Welt. Die Jugend-Eurythmie-Truppe San Francisco 18 H. Hutzel: Höchster Alarm. Neue Finanzierung der Eurythmieschulen 22 S. Grosse: Zuschauer gesucht! Eurythmie auf der Bühne erleben 25

27

28

W. Kuhfuss: Die Bauhütte des Lebens

Welche Eigenschaften braucht ein Haus für kleine Kinder? 28

32

Sprache – das Brot, das uns ernährt.

»Manifest« des Sprachlehrerinitiativkreises 32

34

J. Beckmerhagen: Tim Emil – Vom Krankenhaus zurück ins Leben 34

37

Chr. Doll: Merhaba! Erste Waldorfschule in der Türkei 37 B. Blaeser: Waldorfschulen praktizieren Inklusion 39 S. Saar: Gewinnen am Widerstand.

Welt-Lehrer- und -Erzieher-Tagung am Goetheanum 45

48

J. Elm : St. Louis – Stadt der zwei Gesichter 48

52

M. Betti: »Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg.« Der Psychismus 52

54

55

59

61

63

82

(in der Heftmitte zum Herausnehmen)

41

erziehungskunst Juni |2016

2

INHALT

Titel-Foto: Charlotte Fischer

U1_U2_U3_U4_EK06_2016_EZK Cover 09.05.16 15:48 Seite 2

(3)

Simon sitzt auf dem Schoß seiner Mutter und verfolgt gespannt das Bühnengeschehen auf der Monatsfeier; er sieht ein Eurythmiestück, aufgeführt von Oberstufenschülern. Danach folgt ein englisches Gedicht. Da fragt er leise: »Mama, wann kommen die Engel wieder?« – »Welche Engel?« – »Vorhin, die Könige mit den schönen Gewändern.«

Der Fünfjährige hat mit Engeln und Königen in schönen Gewändern den Kern der Eurythmie intuitiv erfasst. In unserem Leben gibt es keine Könige mehr und im Schulalltag sind die eurythmischen Engel eher im Absturz begriffen. Das »Alleinstellungsmerkmal« der Waldorfschulen »Eurythmie« kämpft mancher orts ums Überleben. Finanziell nicht bezuschusst – der Rotstift zuckt –, unverstanden von Eltern und Schülern – die Eurythmisten befinden sich unter ständigem Rechtfertigungsdruck – und selbst in den Kollegien wegen der notwendig geringeren Deputate neidisch beäugt – lässt sich dieses »lästige« Ange bot doch rasch reduzieren oder gar ganz vom Stundenplan streichen. Es geht ja, je näher sie rücken, nur um die Abschlüsse, es zählen nur die »harten« Fächer.

Um einen neuen Impuls für die Eurythmie zu setzen, bedarf es dreierlei:

Aufklären, was Eurythmie ist und warum man sie betreibt – und zwar gegenüber Eltern und Schülern, be- sonders in der Oberstufe. Am bes ten praktisch erfahrbar machen, in Kursen, Elternabenden, Aufführun- gen, Vorträgen. Am wirksamsten ist, die Eurythmie am eigenen Leibe selbst zu erleben. Nachhaltigkeit durch künstlerische Selbsterfahrung.

Erforschen, wissenschaftlich begründen, dass Eurythmie kein exotisches l’art pour l’art ist, sondern die Fähigkeitsbildung des Menschen ganzheitlich und nachhaltig beeinflusst, nicht nur als ein sich bewegen- der, sondern sogar als ein rechnender zum Beispiel im Fach Mathematik. Seit Jahrzehnten ist bekannt, Hochgeschwindigkeitskameras lieferten den Beweis, dass der Mensch unbewusst ständig eurythmisiert – selbst wenn er nur zuhört. Überzeugen durch Fakten.

Befähigen, dazu ausbilden, dass Eurythmisten an den Schulen in erster Linie Lehrer sind. Im Fokus steht:

Wie bringe ich als Pädagoge, der Eurythmie unterrichtet, die Inhalte meines Faches meinen Schülern nahe? – nicht umgekehrt. Denn es nützt nichts, im professionellen Ernst und Glanz zu erscheinen, ohne dass der Funke den Lernwillen der Schüler und die Unterstützung der Eltern entzündet. Selbstbewusst punkten mit pädagogischem Profil.

»Kannst Du Deinen Namen tanzen?« – man kann den Satz, der zu einem Synonym von Waldorf anvancierte, nicht mehr hören. Müsste er nicht lauten: »Tanzt Du noch oder bewegst du schon?« Man möge sich den Blick des kleinen Simon für diese hohe Kunst wieder aneignen.

‹›

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer

3

EDITORIAL

2016 |Juni erziehungskunst

Simons Blick

Liebe Leserin, lieber Leser!

(4)

Foto: sven jungtow

»WIR SIND LAUT!«

SCHULERZITAT ..

»

03_04_EK06_2016_EZK 09.05.16 14:37 Seite 4

(5)

5

THEMA: EURYTHMIE

Juni|2016 erziehungskunst Innenbilder

Ein leerer Saal, vielleicht 100 – 120 m2, Fenster, die viel Licht spenden, ein Klavier oder ein Flügel, eine Tafel, vielleicht an einer Wand Bänke, vielleicht lange Vorhänge, kein Gerät, – nur der Schwamm von

der Tafel und die Kreide und die Vorhänge … Was würde ich tun,wenn die Tür aufginge und mir

dieser Raum zur Verfügung stünde?

Freiraum

– Chance und Schwierigkeit –

Ich muss nur ich selber sein, ein Fach ohne Druck, keine gesellschaftliche Relevanz – wohl Rechtfertigungserwartung im sozialen Umfeld.

Keine Jahrhunderte alte Tradition, keine von außen festgesetzten Ziele oder Vorgaben.

– neu, eigen, einzigartig – Leere

– Chance und Schwierigkeit –

Der Lehrer, die Schüler, der Musiker in diesem Raum, nichts dazwischen,

(keine Tische, keine Stühle, keine Geräte), nur die Sprache, das Wort – oder die Musik –

Strukturen, Gesetze.

Gegenüber – von Mensch zu Mensch, von Gruppe zu Individuum, von Individuum zu Gruppe –

Zwischenraum.

– Chance und Schwierigkeit –

Dazu habe ich große Lust, es macht mir Freude,

meine Kreativität wird geweckt,

Chancen und Schwierigkeiten der Eurythmie von Helga Daniel

ich darf spielen – endlos – ich habe Angst – vor dem Unbekannten,

ich will mir selber nicht begegnen –

schäme mich, will mich nicht entblößen, nicht versagen, nicht die Kontrolle verlieren,

doch – wie ergreife ich die Chance?

Wie überwinde ich die Schwierigkeiten?

Freiheit

– Chance und Schwierigkeit –

Eurythmie – schöner Rhythmus – Bewegung – strukturierter Fluss

Leben

– Chance und Schwierigkeit –

Es geht nur um mich, das Kind, den Jugendlichen, den Lehrer – in Bewegung.

Es geht um uns als Individuen, um uns als soziale Wesen – um uns als sich entwickelnde Wesen, als Künstler, in jedem Alter anders, als Kind, als Jugendlicher, als Lehrer.

Immer wieder neu – immer weiter.

Werden

– Chance und Schwierigkeit – Es geht um mein Sein – in Bewegung, ich lerne mich kennen in meinem tiefsten Wesen.

Es geht um das Stehen in mir selbst – und – zu mir selbst.

Es geht um meine Entwicklung als Mensch – an der Sprache – an der Musik

mit anderen Menschen – durch andere Menschen – in Bewegung –

Selbsterkenntnis

(6)

05_06_07_08_09_10_11_12_13_14_15_EK06_2016_EK 09.05.16 14:43 Seite 6

(7)

7

THEMA: EURYTHMIE

Juni|2016 erziehungskunst – Chance und Schwierigkeit –

Ich lerne meinen Leib in all seiner Strukturiertheit kennen – als Ausdrucksmittel – durch Sprache und Musik – Er ist kompliziert und differenziert – in jedem Alter

anders proportioniert,

in jedem Alter anders gefühlt, in jedem Alter anders zu gebrauchen,

– überraschend, fremd, vertraut – Üben

– Chance und Schwierigkeit –

Es geht um mein Fühlen, mein Denken, mein Wollen ich lerne sie zu führen, zu beherrschen

– als Ausdrucksmittel –

mit dem Leib, durch den Leib – in Bewegung.

Ich spüre, dass es nicht gelingt, mache mich auf den Weg und finde, wo es hakt. Will ich das?

Will ich – an mir arbeiten? – Selbstführung

– Chance und Schwierigkeit –

Im schönen Rhythmus der Eurythmie kann ich all das entdecken, mich entdecken –

kann Entwicklung gestalten, zum Ausdruck bringen, kann bei mir sein.

– Sprache – Musik – Struktur – Fluss – Ich kann Schönheit gestalten – auch Hässliches,

Abgründiges, Rätselhaftes. – Kunst.

– Chance und Schwierigkeit –

Doch – was soll das? Niemand kennt dieses Fach, diesen Weg, diese Möglichkeit.

Will ich das?

Traue ich mich? Kann ich das?

Bin ich geschickt genug? Kann ich mich konzentrieren?

Will ich mich zeigen?

Kann ich hinhören auf die Musik – die Sprache?

Entscheidung

– Chance und Schwierigkeit –

Kann ich differenziert genug laufen – rückwärts, vorwärts, seitwärts,

– Schleifen – Wellen – Zacken – – alleine – gemeinsam?

Kann ich führen – oder – mich führen lassen?

Kann ich der Dynamik, der Struktur, dem darunterliegenden Gedanken eines Gedichtes/Musikstückes

gerecht werden?

Will ich meine Arme als Ausdrucksmittel gebrauchen, um damit den Inhalt der Sprache/Musik auszudrücken?

– durch meine Bewegung aus – sprechen, heraus – singen?

Ausdruckskraft

– Chance und Schwierigkeit –

Will ich stets mit meinen Schwächen und Stärken konfrontiert sein

– mit den anderen – vor den anderen? – Mut

– Chance und Schwierigkeit – Eine große Bühnenaufführung:

das besondere Erlebnis, das Erarbeitete zeigen den Eltern, anderen Schülern, Lehrern, der Öffentlichkeit.

Verstecken, Schämen? – Vertiefte Erfahrungen machen?

Sich selbst neu kennenlernen, über sich hinauswachsen! –

Erfüllung

Foto: Charlotte Fischer

Zwei Gegensätze: ganz bei sich sein und gleichzeitig

in der Umgebung, lauschend und bewegend; immer findet ein räumliches und ein zeitliches Ineinander, Miteinander statt.

(8)

8

THEMA: EURYTHMIE

erziehungskunst Juni|2016

– Chance und Schwierigkeit – Will ich mich als Lehrer all dem stellen?

Will ich den Schülern helfen und einen Weg weisen bei sich selbst anzukommen?

Kann ich den Schülern die Eurythmie zur Verfügung stellen als Kunst, in der sie sich selbst ergreifen und

erkennen, sich selbst schulen?

Kenne ich mich so gut, dass ich die Kinder und Jugend - lichen im Spiegel meiner eigenen Seele als die sehe,

die sie sind?

Kann ich streng sein – konsequent handeln – Grenzen setzen – ermutigen – Wärme schaffen? Übersehe ich

differenzierte Gruppenbewegungen im Raum? – Habe ich die Fantasie, einzugehen auf alle Unbilden

des Alltags? –

Habe ich die Fähigkeit, allem künstlerischen Wollen der Schüler gerecht zu werden? – Habe ich die Menschenkenntnis, auf die Kinder

und Jugendlichen so einzugehen, dass sie sich gesehen fühlen? – Habe ich die Sprachfähigkeit und Musikalität,

um aus diesen Elementen zu schöpfen? – Habe ich die Kraft, mich selbst zu ertragen? – Kann ich kollegial arbeiten – mit dem Musiker – den Fachkollegen – den Klassenkollegien – im Schul-

zusammenhang – mit den Eltern?

Will ich die Eurythmie erklären – muss ich sie rechtfertigen – sie präsentieren,

re – präsentieren? –

Will ich mich dem in jeder Unterrichtsstunde stellen als der, der ich im tiefsten Wesen bin – mit all meinen Schwächen und Stärken?

– Die Schüler wollen das – sie brauchen es – Kann – ich – das? –

Will ich die Verantwortung ergreifen – will ich schöpferisch sein, gemeinsam mit den Schülern?

Erziehungskunst – Chance und Schwierigkeit –

Außenschau

Ja, die Eurythmie ist ein ungewöhnliches Fach. Sie ist eine Bühnenkunst, die der Pädagogik als Erziehungskunst dient.

Sie bietet viele Chancen einer lebendigen Arbeit, die zu- gleich auch ihre Schwierigkeiten sind.

Die Eurythmie ist in der Kultur nicht fest verankert. Sie ge- hört nicht selbstverständlich zum gesellschaftlichen Leben.

Es gibt keinen öffentlichen Lehrplan, so wie für Musik, Ma- thematik oder Handarbeit. Auch wenn sich innerhalb der Waldorfschulen im Laufe der Jahre eine Art Lehrplan ent- wickelt hat, welche Grundelemente des Faches in welche Al- tersstufe gehören und sich die Eurythmie an den Stoff der übrigen Fächer anlehnt, verfügt sie doch über einen riesen- großen Spielraum.

Eine Motivation für Schüler und Lehrer geht nur aus der Sache selbst hervor. Die Eurythmie ist ein Entwicklungsfach.

Sie unterstützt durch die jeweilige Art der Bewegung die leib- liche und seelisch-geistige Entwicklung des jungen Men- schen. Der Schüler hat die Möglichkeit, sich in jedem Alter seiner Entwicklungsphase entsprechend in seiner und durch seine Bewegung wiederzuerkennen, sich in seinem Leib und seinem »Sosein« wohlzufühlen. So kann der Schüler immer erleben, dass es gut ist, so wie es jetzt ist – wenn er einsteigt.

Die Eurythmie ist als Bewegungsfach anders als Sport oder Tanz. Nicht der Ball, das Ziel oder ein Gerät – wie beim Sport – sind Anlass der Bewegung oder das Bewegungsempfinden als solches, wie beim Tanz. Anlass der eurythmischen Be- wegung sind die Prozesse der in Formen gegossenen Ge- danken, Gefühle und Bilder des Menschen selbst, so wie sie in der Sprache und in der Musik aufgerufen werden und zum Ausdruck kommen. Die Eurythmie bringt diese durch die Bewegung über das Hörbare hinaus in die Sichtbarkeit.

Inneres Stillwerden, differenziertes Hinhören und feines

05_06_07_08_09_10_11_12_13_14_15_EK06_2016_EK 09.05.16 14:43 Seite 8

(9)

9

Juni|2016 erziehungskunst tiefgründiges Verstehen befähigen Gedanken, Worte, Stim-

mungen durch die eigene Bewegung sichtbar zu machen.

Ein untrügerisches Wahrheitsempfinden, Interesse und Em- pathie werden geschult. Gerade darin liegt eine große Schwierigkeit des Eurythmieunterrichts: Die Schüler brau- chen neben starken Bewegungssequenzen diese innere Stille – von allen Schülern zugleich.

Es gibt immer Schüler, die sich scheuen, in dieses intime, qualitative Arbeiten einzusteigen oder keine Lust dazu haben. So verlangt die Eurythmie von den Schülern jeden Alters viele Dinge gleichzeitig: ein hohes Konzentrations- vermögen im Hinhören auf das Gedicht oder die Musik und Geistesgegenwart im Reaktionsvermögen; die eigene Bewe- gung richtig führen und sich chorisch, aufeinander abge- stimmt im Raum bewegen.

Zwei Gegensätze: ganz bei sich sein und gleichzeitig in der Umgebung, lauschend und bewegend; immer findet ein räumliches und ein zeitliches Ineinander, Miteinander statt.

Es entsteht ein Leben und Handeln im Hier und Jetzt, nicht jeder schafft das, nicht jeder will das.

Die Eurythmie ist für den einen die Chance, sich zu entfalten, für den anderen eine ständige Überforderung. Doch alle sind im Bewegungsstrom aufeinander angewiesen: helfen und sich helfen lassen, gestalten oder mitschwimmen, stören oder unterstützen – jeder entscheidet selbst und ist dadurch für das Gelingen oder Misslingen des Ganzen verantwort- lich. Es ist anstrengend, Verantwortung zu tragen, für das Ganze da zu sein – es ist ein großes soziales Üben und Ler- nen mit sehr vielen Tücken. – Die Eurythmie verlangt sehr viel von dem Eurythmie lehrer: Er ist es, der die Atmosphäre im Unterricht schafft, in der die Schüler bereit sind zu den großen Anforderungen, die das Fach stellt. Er ist das Vorbild in der Zusammenarbeit mit dem Musiker. Er ist es, der durch sein Menschsein die Schüler ermutigt, die Stille zu entde-

cken und auszuhalten, der sie lehrt, konkret hinzuhören. Zu ihm müssen die Schüler rückhaltloses Vertrauen aufbauen können, damit sie den Mut finden, sich zu öffnen und zu üben, ganz zu sein, wer sie sind.

Hierzu braucht der Lehrer einerseits ein hohes Können der Kunst der Eurythmie und andererseits die Liebe zu den Schülern. Dann wird es ihm gelingen, die Kunstmittel der Eurythmie immer mehr in Verbindung mit den unter- schiedlichen Entwicklungsstufen zu bringen, um sie dann mit differenzierten methodisch-didaktischen Mitteln ge- meinsam mit den Schülern zu erarbeiten.

Er braucht aber auch ein inneres Verstehen des Faches sei- tens des Kollegiums und der Eltern. Und er braucht eine dem Fach angemessene Besoldung!

Eurythmielehrer, Kollegium und Elternschaft sind gleicher- maßen dafür verantwortlich, dass die Chance der Eurythmie für die Schüler zum Tragen kommt.

‹›

Zur Autorin:Helga Daniel ist international tätig im Bereich der Mentorierung von Eurythmielehrern an Waldorfschulen und ist im Namen der Sektion für Redende und Musizierende Künste am Goetheanum, Dornach verantwortlich für eurythmisch-pädago- gische Ausbildungen

Literatur:T. Richter (Hrsg.): Pädagogischer Auftrag und Unterrichts- ziele, Stuttgart 2016; H. Daniel: Bewegt ins Leben, Stuttgart 2008;

H. Daniel: Übung macht den Meister, Stuttgart 2009;

H. Daniel: Sein oder Nichtsein, Stuttgart 2015.

THEMA: EURYTHMIE

(10)

Foto: Charlotte Fischer

05_06_07_08_09_10_11_12_13_14_15_EK06_2016_EK 11.05.16 15:30 Seite 10

(11)

11

THEMA: EURYTHMIE

Juni|2016 erziehungskunst Auf die Frage, »Ihr geht auf eine Waldorfschule? Könnt Ihr

auch Eure Namen tanzen?« antwortete eine Dreizehnt- klässlerin:»Ja natürlich können wir unsere Namen tanzen – uns vor allem aber in Bewegung ausdrücken. Das ist kei- neswegs das einzige, was wir in 13 Jahren Eurythmie-Un- terricht gelernt haben. Wir haben auch gelernt, unsere Sehnsüchte, unseren Humor, unsere Trauer und unsere musikalischen und sprachlichen Empfindungen durch Be- wegung auszudrücken«. Besser kann man eigentlich nicht fassen, was Eurythmie ist.

In der Werbung gab es vor kurzem einen Slogan, der den Zeitgeist auf den Punkt bringt: »Unterm Strich – zähl ICH«;

als Ausdruck eines sozialen Standpunkts ein Gegenentwurf zu dem, was wir als Eurythmiepädagogen und Waldorf lehrer bei den Schülern veranlagen wollen. Soziales Verhalten je- doch lässt sich nicht intellektuell vermitteln, benoten und in Abschlüsse fassen, es braucht für den einzelnen Menschen einen Übungsweg als Bestandteil des Unterrichts. Einer der wesentlichen Impulse Rudolf Steiners zielt auf eine Verbes- serung des sozialen Miteinanders der Menschen und damit der Nationen untereinander. Diesen Impuls finden wir dar- gestellt in vielen öffentlichen Vorträgen, Schriften und Peti- tionen. Zeitgleich mit der Entstehung seiner sozialen Impulse entwickelte Steiner die Kunst der Eurythmie. In ihr eröffnet sich ein Übungsfeld, auf dem Menschen im Rah- men einer Kunst soziales Miteinander erlernen können.

Die Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart 1919 setzte einen Erneuerungsimpuls in der Bildung. Sie sollte nicht nur die Chancen der Arbeiterkinder verbessern, son- dern auch Menschen befähigen, in ihrem späteren Leben in

der Gesellschaft sozial kompetent zu handeln. Daher war es schlüssig, die Eurythmie als »soziale Kunst« fest in den Lehrplan der Waldorfschule aufzunehmen.

Viele Grundimpulse der pädagogischen Eurythmie haben sich nicht wesentlich verändert:

Gesunde Bewegungsentwicklung

Stärkung und Ausbildung des Willens

Unterstützung einer gesunden Entwicklung des Gefühls

Ästhetische Erziehung Brauchen wir das eigentlich ?

Die vielen Hinweise Steiners auf die Bedeutung einer gesun- den Bewegungsentwicklung für die Ausbildung des Denkens werden durch die heutige Hirnforschung bestätigt. Bewegung aktiviert geistige Fähigkeiten. Bewegung bewegt auch das neuronale Netzwerk. Bewegen bildet das Denken aus. Die durch Urbanisierung, Mediatisierung und Verhäuslichung veränderte Lebens- und Bewegungswelt der Kinder führt dazu, dass in Kindergarten und Schule das nachgearbeitet werden muss, was in der frühen Kindheit versäumt wurde.

Aus meinen Erfahrungen als Aufnahmelehrer weiß ich, dass mindestens ein Drittel der vorgestellten Kinder kurz vor der Einschulung deutliche Defizite in der Bewegungsentwicklung hat. Der auf Nachahmung aufgebaute Unterstufenunterricht setzt stark auf die Fähigkeit, Bewegungen (auch Denkbe we- gungen) nachzuahmen und trifft dann auf Kinder, die dieses Nachahmen erst erüben müssen. Viele Kinder haben ein ge- trübtes Vertrauensverhältnis zur umgebenden Welt. Eu- rythmie bemüht sich gerade in der Kindergarten- und

Eurythmie – von der Ich-AG zum Wir

von Jürgen Frank

Soziales Verhalten kann nicht intellektuell vermittelt, sondern muss erübt werden. Die Eurythmie ist eines der Fächer der Waldorfschule, die diese Fähigkeit schulen. Sie spielt aber auch bei der Förderung der emotionalen Intelligenz und natürlich der Bewegungsfähigkeit eine herausragende Rolle, so der Eurythmielehrer und Hochschuldozent Jürgen Frank.

lotte Fischer

(12)

12

THEMA: EURYTHMIE

erziehungskunst Juni|2016

Unterstufenzeit um eine Heilung dieses gebrochenen Ver- trauensverhältnisses. Nur wer vertraut, kann nachahmen.

Durch ein nahezu unbegrenztes waldorfpädagogisches An- gebot an altersgemäßen, sinnerfüllten Bewegungsübungen, die sich nicht nur auf das Physische beziehen, sondern dem kindlichen Seelenleben und dem geistig-seelischen Entwick- lungsstand der Kinder gerecht werden, wirkt der Euryth- mieunterricht. Die von Willenserziehung geprägte Mittel- stufenzeit ist eine wunderbare Herausforderung für jeden Pä- dagogen. Die Eurythmie, die aus dem Rhythmischen heraus arbeitet, bietet eine Vielzahl von Übungen, die das Soziale in der Gemeinschaft und die individuellen Begabungen glei- chermaßen fördern. Schüler in diesem Alter müssen sich spüren, sich erleben und am Gegenüber ein wenig abschlei- fen. Die Schulabschlüsse fordern von den Schülern der Ober- stufe einen hohen Arbeitseinsatz; für die Gemeinschaft und für Hobbys. Instrumentalunterricht, Sport, kulturelle Inte- ressen werden zum Teil aufgegeben, da die Zeit nicht mehr ausreicht. Die hohe Belastung führt häufig zu Haltungsschä- den, Essstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten und er- höhter Anfälligkeit für Krankheiten. Hier kann die Eurythmie in vielerlei Hinsicht helfen: regenerative Übungen erfrischen die Lebenskräfte, die große Darstellungs- und Bewegungs- freude der Schüler findet Nahrung in der eurythmischen Erarbeitung von Texten und Musik, Choreografien und ge- meinschaftsbildende Übungen führen aus der Vereinzelung zurück in die Gemeinschaft. Durch die intensive Beschäfti- gung mit der Kunst finden die Schüler Anschluss an die in ihnen schlummernden Ideale.

Auf das Gefühl kommt es an

In den vergangenen Jahren ist mir deutlich geworden, dass neben der Unterstützung der Bewegungsentwicklung, der

Stärkung des Willens, die Entwicklung einer »gesunden Empfindung« eine wesentliche Aufgabe der Schuleuryth- mie darstellt. Gerade im Bereich des Fühlens, des Zulassens und Zeigens von Gefühlen sowie ihrer Differenzierung spielt die Eurythmie eine große Rolle. Meine Ausbildnerin sprach immer von einem Gefühlsklavier, das in uns schlum- mert, von dessen Tasten wir nur einen kleinen Teil benut- zen. Wir können uns durch gezielte Übungen schulen, diese verstärkt wahrzunehmen, zu zeigen und zu benutzen. Doch geht es nicht nur um das Erkennen der persönlichen Ge- fühle, sondern auch um das Verständnis dafür, dass Gefühle uns einen Zugang zur Welt vermitteln können. Freude, Schmerz und Trauer sind zwar subjektiv Erlebnisse, aber ebenso allgemeine menschliche Gefühle, die objektiv dar- stellbar sind. Die eurythmische Darstellung der größten kul- turellen Schöpfungen, ergreifender Lyrik oder Musik führt zum Erleben objektiver Gefühle.

Das kann Jugendlichen in Krisensituationen eine Hilfe beim Finden des eigenen Wegs sein.

»Könnten Sie das tanzen?«, fragte Rudolf Steiner 1908 die junge Malerin Margarita Woloschin im Anschluss an einen Vortrag zum Prolog des Johannes-Evangeliums, wo es heißt:

In der künstlerischen Eurythmie mit Schülern wird die Fähigkeit zu einem kontrollierten und flexiblen Umgang mit den Grenzen

eigener und fremder Identität geübt.

05_06_07_08_09_10_11_12_13_14_15_EK06_2016_EK 09.05.16 14:43 Seite 12

(13)

13

THEMA: EURYTHMIE

Juni|2016 erziehungskunst

»Am Anfang war das Wort …«. Ihre Antwort war: »Ich glaube, man könnte alles tanzen, was man fühlt«. Woraufhin er er- widerte: »Aber auf das Gefühl kommt es doch heute an.«

Diese Antwort Steiners habe ich viele Jahre lang nicht ver- standen. Als Eurythmielehrer empfand ich Widerstand gegen eine Eurythmie als »Gefühlskunst«, da sie doch auf alle Seelenkräfte: Denken, Fühlen und Wollen wirkt. Wenn ich heute über diese Antwort nachdenke, so empfinde ich eine tiefe Wahrheit darin. Mir scheint, dass ich in einer Welt lebe, in der die »gesunde« menschliche Empfindung sich immer mehr abkoppelt vom Denken und Handeln und die Empathie mit den Mitmenschen immer mehr schwindet.

Eurythmie entwickelt und pflegt die emotionale Intelligenz

Unsere traditionellen Bildungssysteme berücksichtigen vor allem die kognitive Intelligenz. Den Erkenntnissen der mo- dernen Hirnforschung zufolge ist Lernen erfolgreich, wenn das Gefühl beteiligt ist. Lernen bedeutet, sich gefühlsmäßig mit den Inhalten zu verbinden. Lernen ist nicht ein bloßes Abspeichern von Informationen, wenn es auch in vielen Be- reichen der Pädagogik so gehandhabt wird. Nur in wenigen Schulformen wie der Waldorfschule gibt es eine verstärkte Pflege der emotionalen Intelligenz der Schüler. Hier lag viel- leicht ein wichtiger Grund für Steiner, die Eurythmie in die Waldorfschule zu integrieren.

Die Arbeitswelt ist inzwischen weitgehend digitalisiert und dies wird sich noch verstärken. Gunter Dueck, Mathemati- ker und ehemaliger CTO bei IBM, prognostiziert eine Ar- beitswelt, in der es nur in den Bereichen Arbeit gibt, für die der Computer zu dumm ist. Was kann der Computer nicht?

Was benötigt die Arbeitswelt an Fähigkeiten? Eine Antwort ist nur schwer zu finden; der rasche Wandel macht sichere

Prognosen fast unmöglich. Umso wichtiger ist es vielleicht, sich auf ein Bildungsideal zu besinnen, das nicht in erster Linie die Verwertung der erworbenen Bildung in der Ar- beitswelt als Ziel hat, sondern Persönlichkeitsbildung, eine Orientierung in der Welt, die in den eigenen Idealen veran- kert ist.

Was brauchen wir für unsere Zukunft und was brauchen unsere Kinder? Menschen, die im besten Sinne sozial mit ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt umgehen. Menschen, die eine Wahrnehmung des Zwischenmenschlichen haben, Menschen, die in einem gesunden Verhältnis zur Welt ste- hen. Soziale Kompetenz ist ohne Empathie nicht möglich.

In einem großen Teil der künstlerischen Eurythmie mit Schülern wird die Fähigkeit zu einem kontrollierten und flexiblen Umgang mit den Grenzen eigener und fremder Identität geübt. Schüler erfahren den tieferen Gehalt eines Textes oder eines Musikstücks, machen ihn sich nach und nach zu Eigen, um ihn schließlich zur Darstellung zu brin- gen. Dies ist unter anderem eine Übung in Empathie: Ich fühle, was der Dichter fühlte und dachte, ich empfinde, was der Komponist empfand. Empathie ist Voraussetzung für das Verständnis fremder Erlebnisse, das Tor zu einem schöpferischen Prozess.

Eurythmie bietet sich als Medium für diesen spielerischen, künstlerischen Umgang mit den Grenzen eigener und frem- der Identität an; besonders dann, wenn in einer bestimm- ten Entwicklungsstufe das Bedürfnis entsteht, Erfahrungen weit reichender oder extremer Art zu machen, die im eige- nen Alltag kaum möglich sind.

‹›

Zum Autor:Jürgen Frank ist Eurythmielehrer an der Rudolf- Steiner-Schule Hamburg-Bergstedt, Dozent an der Hoogeschool Leiden, NL, und Mitglied von IPEU (Initiative Pädagogische Eu- rythmie), Forscher und Autor im Bereich der Eurythmiepädagogik.

(14)

Sprache lernen, sondern in sie eintauchen. Sowohl durch das Zuhören – es geht nicht darum, dass sie jedes einzelne Wort verstehen, sondern die Botschaft des Satzes begreifen, – als auch das Hinhören und das Umsetzen des Gehörten in Bewegung.

Englisch bewegen

Zunächst tasten wir uns im mündlichen Austausch an die Unterschiede zwischen der deutschen und englischen Spra- che heran. Wir kommen dabei recht schnell darauf, dass das Deutsche tatsächlich viel härter, steifer und technischer klingt, während das Englische als fließender, melodiöser und weicher wahrgenommen wird. Konsequenterweise bringt dies die Eurythmie, die das Hörbare sichtbar machen soll, zum Ausdruck. Zunächst versuchen wir, unsere Bewe- gungen gemäß der englischen Sprache weicher, fließender und raumfüllender auszuführen, was einiger Übung bedarf.

Dann gehen wir zu Zungenbrechern über, die sich mit dem englischen »W« und dem stimmhaften und stimmlosen Während meines Eurythmiestudiums war ich erstaunt, wie

schnell die ausländischen Kommilitonen Deutsch lernten.

Da wurde mir bewusst, dass sie durch die Eurythmie die fremde Sprache viel intensiver erlebten, als das in einem ge- wöhnlichen Sprachkurs der Fall gewesen wäre. Denn der Sprachklang, die lautmalerischen Feinheiten und auch die Inhalte werden durch die eurythmische Bewegung mit dem ganzen Körper ergriffen. Das geht so weit, dass man in der Lautierung – den Armbewegungen, die einen Laut darstel- len – teilweise sogar einen »Akzent« wahrnehmen kann. So sind zum Beispiel im Englischen die Bewegungen weicher und dramatischer als im Deutschen. Das Italienische wird zierlicher und schneller bewegt. Eine amerikanische Be- kannte meinte, die deutsche Eurythmie sei deshalb so an- strengend, weil die Sprache so klar, nüchtern und steif sei und einen viel weniger trage, als die englische.

Aus diesen Überlegungen ergab sich für mich die Idee, in der 11. Klasse zwischen Sommer und Weihnachten den ge- samten Eurythmieunterricht auf Englisch zu geben – wie eine kleine Sprachreise. Die Schüler sollen nicht direkt die

erziehungskunst Juni|2016

Eurythmie – fächer übergreifend

von Martin Zabel

Eurythmie kann zu einer Sprachreise werden, kann Mathematik erfahrbar und Geschichte erlebbar machen.

Foto: Charlotte Fischer

05_06_07_08_09_10_11_12_13_14_15_EK06_2016_EK 09.05.16 14:43 Seite 14

(15)

15

THEMA: EURYTHMIE

Juni|2016 erziehungskunst

»Th« beschäftigen. Wobei die Bewegungen in den Höhen und Tiefen des Raumes im Englischen stärker als im Deut- schen sind. Auch die Vokale bilden eine Herausforderung, da sie nicht so klar wie im Deutschen sind. So lautieren wir zum Beispiel bei »sun« das geschriebene »u« wie ein deut- sches »a« oder in »to go« sind die zwei »o« vom Klang her ein Mal wie »u« und das andere Mal wie »ou«. Auf diese Art schärfen wir unser Gehör für die Unterschiedlichkeit des Klanges gegenüber der Schrift und präzisieren unsere Be- wegungen, bevor wir an ganze Gedichte gehen. Die Schüler sollen als Klasse und in kleinen Gruppen dann eine Form zu einem englischen Gedicht finden.

Dabei zeigt es sich, selbst wenn das Gedicht einmal ge- meinsam übersetzt wurde, dass man für das Finden einer Form doch den genauen Inhalt präsent haben muss.

Schließlich soll die Eurythmie dem Zuschauer helfen, in eine fremde Sprache einzutauchen – ein manchmal recht mühsamer Prozess, mit gegenseitigem Zeigen, Ausprobie- ren und Verbessern.

Nach der ersten Phase dieses Projektes kam bei den Schü- lern der Wunsch auf, die englische Eurythmie über das ganze Schuljahr fortzuführen. Durch eine Englisch-Vertre- tungsstunde ergab sich die Möglichkeit, diesem Wunsch entgegenzukommen. Zunächst ungewohnt, gibt dies den Schülern die Möglichkeit, festzustellen, was sie schon alles verstehen, und nebenbei auch noch den Wortschatz zu er- weitern. An welcher Stelle würde man sich außerdem über Monate mit einem fremdsprachigen Gedicht so intensiv aus- einander setzen, auf Feinheiten der Lautmalerei achten und versuchen, die Stimmung durch die Bewegung des ganzen Körpers auszudrücken?

Meine Hoffnung ist, dass sich die Schüler durch diese Arbeit intensiver mit der Sprache verbinden, dass ihnen die Angst vor dem »Nichtverstehen« genommen wird und sie die eng- lische Sprache mit ihrem Charakter mehr verinnerlichen.

Gradzahlen, Brüche und Kreise

Die Eurythmie bietet auch die wunderbare Möglichkeit, The- men aus anderen Fächern aufzugreifen und künstlerisch in eine neue Vertiefung zu bringen. In Poetik und Musik ist dies recht offensichtlich. Hier macht die Eurythmie das sichtbar, was in seiner Grundform schon künstlerisch ist. Aber auch die Geometrie bietet ein weites Feld. So können Formver- wandlungen wie der Fünfstern, die Cassinische Kurve oder die Umstülpung eines Kreises durch das gemeinsame Tun ganz neu ergriffen und erlebt werden. Auch kann man seine Anweisungen manchmal geometrisch-mathematisch geben mit Gradzahlen, Brüchen von Kreisen oder geometrischen Grundkonstruktionen, wodurch das Gedankliche mit dem ganzen Körper in das Tun übertragen wird. Wenn dies eine Gruppenaufgabe betrifft, kommt auch noch ein sozialer Pro- zess hinzu. Wie ergreift man den interpretatorischen Spiel- raum (z. B. der Größe der Form) als Gruppe, worauf einigt man sich und wie geht man mit Schülern um, denen das ge- dankliche Ergreifen schwerer fällt, oder die schlicht und ein- fach nicht aufgepasst haben? Im Geometrieunterricht fallen diese ihren Mitschülern nicht so sehr auf. In der Eurythmie müssen sie aber integriert werden, damit die Form auch ge- lingt. Der Geschichtsunterricht lässt sich gut durch Gedichte aus einer anderen Perspektive aufgreifen. Da ich auch Klas- senlehrer bin, ist es eine wunderbare Möglichkeit, die Epo- chen in der Eurythmie noch einmal zu vertiefen. Manchmal gingen wir auch spontan während des Hauptunterrichtes in den Eurythmiesaal, um das Gelernte in Bewegung zu brin- gen. Ich denke, es gibt noch viele Möglichkeiten, um die Eurythmie mit dem Alltag zu verknüpfen und ihn zu berei- chern. Wir müssen sie nur suchen.

‹›

Zum Autor:Martin Zabel ist Eurythmie- und Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Freudenstadt.

Die Schüler sollen nicht

direkt die Sprache lernen,

sondern in sie eintauchen.

(16)

Forschungsdesign

Mit diesem Fachbegriff konnten die Eurythmisten zunächst gar nichts anfangen – er war ihnen suspekt und ganz ein- fach nicht verständlich. Charlotte Heinritz, und später Axel Föller-Mancini und Gisela Beck, gaben sich durch die langen Arbeitsphasen hindurch große Mühe, die Eurythmielehrer zu verstehen – sie betrachteten sie quasi wie einen neu auf- gefundenen Stamm von »Eingeborenen« im Urwald. Sie stellten sogenannte dumme Fragen über Dinge, die die Eu- rythmielehrer selber nie in Frage gestellt hätten. Genau das war das Spannende in dieser Arbeitsphase.

Die Ergebnisse des Forschungsprojektes sollten in insgesamt drei Publikationen veröffentlicht werden. Für den ersten und dritten Band wurde ausgemacht, dass in ihnen die Euryth- mielehrer selber die Erforschung ihrer Unterrichtssituatio- nen in die Hand nehmen. Hierfür sollte sich jeder der teilnehmenden Eurythmisten auf eine Fragestellung kon- zentrieren. Der zweite Band wurde von Gisela Beck betreut.

Für die in ihm dargestellten Forschungen hospitierten Eu-

rythmisten bei einzelnen ihrer Kolleginnen und Kollegen;

insgesamt wurden vierzehn Eurythmie-Unterrichtsstunden besucht und nachbesprochen. Alle drei Bände enthalten über das oben Dargestellte hinaus eine Reihe von Fachartikeln un- terschiedlicher thematischer Schwerpunktsetzung.

Forschungskontext

Die Eurythmie ist über 100 Jahre alt. Es gilt, einen großen Er- fahrungsschatz zu heben. In ihren Anfangsjahren bewegte sich die Eurythmie mit großem Idealismus in die Zukunft.

Heute kann und muss inne gehalten und bewusst wahrge- nommen werden, was wir in und mit dieser Kunst tun. Damit lenken wir unseren Blick weder hin zu Idealen der Zukunft, noch zurück in die Vergangenheit – »so wurde es damals ge- macht« –, sondern wir betrachten die Gegenwart selbst. Wir schauen auf eine Unterrichtsstunde, reflektieren ihren Inhalt und ihre Methodik, respektieren sie in ihrem konkreten Ver- lauf und nehmen das in ihr Geschehene ernst – dies ist in die- ser Komplexität und Gründlichkeit ein für die Eurythmie Vor mehr als fünf Jahren haben wir an der Alanus Hochschule ein erstes Treffen organisiert mit der Frage »Welche Forschungsfragen stellen sich uns heute hinsichtlich der Eurythmiepädagogik?«. Die Eurythmielehrer waren überzeugt davon, dass sie eine sehr gute Ar- beit leisteten und dass der Eurythmieunterricht auf die Jugendlichen und Schüler gute Auswirkungen habe. Die Wissenschaftler soll- ten das nun irgendwie beweisen. Damit wäre die Forschungsfrage hinreichend beantwortet. – Nun, so einfach war es dann doch nicht.

erziehungskunst Juni|2016 Foto: Charlotte Fischer

Eingeborenen stellt man dumme Fragen

Fünf Jahre Eurythmieforschung. Rückblick und Ausblick

von Stefan Hasler

16_17_18_19_20_21_22_23_24_25_EK06_2016_EK 09.05.16 14:47 Seite 16

(17)

17

THEMA: EURYTHMIE

Juni|2016 erziehungskunst neuer Vorgang. Erst durch die Zusammenarbeit von Erzie-

hungswissenschaft und Eurythmie, also gewissermaßen durch eine »Entfremdung« vom eigenen Tun, kann ein Ab- stand und damit ein wirkliches Anschauen der Tatsachen ent- stehen. Am wichtigsten wurden im Forschungsverlauf die

»Begegnungen«: die Begegnung mit sich selbst, mit den ei- genen tieferen, noch nicht bekannten Schichten; die Begeg- nungen mit den Hospitierenden, durch die sich neue Betrachtungsräume entwickeln konnten. Das Interesse des Anderen hilft dabei, die eigene Fragestellung zu konkretisieren und einer Klärung zuzuführen. Forschung setzt eine offene Fragegeste voraus, nicht den Wunsch, etwas beweisen zu wol- len. Sie braucht die Bereitschaft innezuhalten, aus Erfahrun- gen zu lernen und sich neu zu finden. Selbstevaluation und ehrliche Selbsterkenntnis erfordern Mut. Erst dadurch kann eine eigentliche Ich-Beziehung zur Sache selbst entstehen.

Von den vielfältigen Erfahrungen, die die beteiligten Kollegin- nen und Kollegen im Verlauf der Forschungsarbeit gemacht haben und von den hierdurch angestoßenen Veränderungs- prozessen seien hier einige wesentliche benannt:

eine ehrliche und offene Zusammenarbeit unter Fachkol- legen ist möglich;

es lässt sich auch für eurythmische Prozesse eine Sprache entwickeln, die allen verständlich ist;

es ist befruchtend für sich selbst und für andere, die ei- gene Arbeit mit all ihren Stärken und Schwächen zu teilen;

es ist hilfreich, die eigene Suchrichtung auf eine einzige Fragestellung hin zu konzentrieren;

der jeweilige Augenblick im Unterricht kann ernst genom- men und so geistesgegenwärtig wie möglich betrachtet werden;

das eigene Tun und dessen Wirkungen können mit Ab- stand angeschaut werden, um daraus weitere Fragen und Ideen entwickeln zu können;

es heißt, offen zu sein für Unerwartetes, und eventuell die eigene Berufsbiographie in Frage zu stellen;

aus alten Gewohnheiten kann ausgebrochen werden – dies gilt es auszuhalten, auch wenn man sich dabei für einen Moment ganz »nackt« fühlen sollte.

Und worum geht es in den nächsten fünf Jahren ?

Neben der beschriebenen Praxisforschung ist die Grundla- genarbeit ein Boden für jegliches aktuelle Handeln. Dafür sind folgende Projekte in Arbeit:

Neuherausgabe des sogenannten Querbandes »Zur Ent- stehung und Entwicklung der Eurythmie«. Eine vollständige Dokumentation der verschiedenen Überlieferungen der ers- ten Eurythmiekurse durch Marie Steiner, Tatiana Kisseleff, Mieta Waller, Lory Smits u.a. zusammen mit Rudolf Steiners Anmerkungen aus seinen Notizbüchern ist in Vorbereitung.

Eine Übersicht und Neuordnung der bisher über die Ge- samtausgabe (und auch in Ausgaben außerhalb der Ge- samtausgabe) verteilten, z. T. noch nicht veröffentlichten Eurythmie-Ansprachen, in denen Rudolf Steiner die Euryth- mie von immer neuen Aspekten aus öffentlich und intern vorstellt. Erstmals ist nun auch eine genauere Einordnung der Ansprachen in den eurythmiegeschichtlichen Kontext möglich.

Neuauflage des Lauteurythmiekurses »Eurythmie als sichtbare Sprache«.

Des weiteren sind Fachbücher zum Inhalt des Lauteuryth- miekurses sowie zu methodisch-didaktischen Fragen der Anfangszeit geplant.

All das wird sicher erneute fünf Jahre dauern.

‹›

Zum Autor:Stefan Hasler ist Musiker und Eurythmist. Zusätzlich zu seiner künstlerischen Bühnentätigkeit ist er seit 2003 Professor für Eurythmie an der Alanus-Hochschule. Seit 2015 ist er Leiter der Sektion für Redende und Musizierende Künste am Goetheanum.

Literatur:S. Hasler, Ch. Heinritz: Den eigenen Eurythmieunterricht erforschen, Bd. 1–3, Stuttgart 2013–2016.

Forschung setzt eine

offene Fragegeste voraus, nicht den Wunsch,

etwas beweisen zu wollen.

(18)

18

THEMA: EURYTHMIE

erziehungskunst Juni|2016

Seit zwanzig Jahren leitet Astrid Thiersch einen einzigar- tigen Oberstufen-Eurythmiekurs in San Francisco.Jedes Jahr wird ein neues Programm erarbeitet, das weltweit zur Aufführung gelangt. Die Schüler machen begeistert Eu- rythmie. In ihrem Wahlkurs geht der Unterricht weit über das Übliche hinaus. Rund 25 Schüler aus den Klassen 10 bis 12 treffen sich drei- bis viermal pro Woche von September bis Januar, um ein ganzes Bühnenprogramm zu erarbeiten.

Für jeden Programmteil entwickelt Astrid Thiersch die Cho- reographie und die Kostüme. Die Schüler helfen bei der Spendenakquisition, die Eltern bei den Flugkosten. Ein ty- pisches Programm enthält ein großes Musikstück, wie zum Beispiel eine Sonate von Beethoven oder eine Opernouver- türe, ein Märchen in voller Länge, einen Spruch oder eine Form Rudolf Steiners, kleinere Stücke für Trios, Duos oder

Solos, Humoresken und ein Finale. Die jährlichen Auffüh- rungen sind ein Höhepunkt des Schullebens der Waldorf- schule in San Francisco und ziehen viele Liebhaber der Eurythmie an. An vielen weiteren Orten in den USA sowie in Deutschland, der Schweiz, Italien, Frankreich, Holland, Belgien, Ägypten, Japan, China, Taiwan, Neuseeland und Thailand ist die Truppe aufgetreten.

Eurythmie ohne Grenzen

Diese jährlichen Aufführungen hat Astrid Thiersch 1995 ins Leben gerufen. 1999 erhielt die Truppe eine Einladung zur Sonnenfinsternis-Konferenz in Stuttgart. Auf dem Weg dort- hin führte sie ihr Programm am Goetheanum in Dornach auf. Den Höhepunkt dieser Tournee bildete Beethovens

Quer durch die Welt

Die Jugend-Eurythmie-Truppe San Francisco

von David Weber

16_17_18_19_20_21_22_23_24_25_EK06_2016_EK 09.05.16 14:47 Seite 18

(19)

19

THEMA: EURYTHMIE

Juni|2016 erziehungskunst 9. Sinfonie in der Stuttgarter Liederhalle: Die Eurythmie-

truppe stellte den Anfang des letzten Satzes dar. Aus dieser Tournee gewannen wir zwei Erkenntnisse: dass die Zu- schauer begeistert von Jugendeurythmie sind und dass junge Menschen aus unterschiedlichen Ländern gerne kulturelle Unterschiede erforschen und etwas entdecken, was sie mit- einander verbindet. Daraus entstand der Impuls, die Welt zu bereisen – nicht als Touristen, sondern um mit dem Funken der Eurythmie neue Aktivitäten in Gang zu setzen.

Unser erster Asienbesuch führte uns 2006 nach Japan. Die Waldorfschule in Tokyo war auf zehn Klassenstufen ange- wachsen, die Lehrer waren begeistert, dass sie amerikani- sche Schüler beherbergen durften. In Fujimo gibt es eine vollausgebaute Oberstufe und die ganze Schulgemeinschaft war bei unserer Aufführung dabei. Wir erlebten in Japan

eine große Aufnahmebereitschaft für die Eurythmie – sie scheint sich gut in die kulturelle Tradition sakraler Bewe- gung einzufügen, die Menschen lieben ihre Anmut und Schönheit. Ähnliches erlebten wir später in Asien wieder – es gibt keine kulturelle Kluft bei der Wertschätzung der Eu- rythmie.

2008 waren wir nach Sekem in Ägypten eingeladen. Ibra- him Abouleish hat hier ein Wunder bewirkt: 80 Hektar Wüste wurden in ein baumbeschattetes biodynamisches Pa- radies verwandelt; die dortige Schule besuchen mehr als dreihundert Kinder. Wir führten für die Gemeinschaft in Heliopolis auf und für Schüler und Mitarbeiter der Schule.

Das Programm enthielt Texte von Echnaton, Rumi und Kalil Gibran, Musik aus »Aida« und das Märchen »Prinzessin Sinhold« von Michael Bauer, das von einer Prinzessin in

(20)

erziehungskunst Juni|2016

20

THEMA: EURYTHMIE

einem wüsten Land erzählt. Abouleish meinte, das Märchen enthalte seine Vision von Sekem und er sei beglückt, dass die Eurythmie sie zum Leben erweckt haben.

Unsere Schüler genossen die Begegnung mit ihren ägyp ti- schen Altersgenossen. Während sie zusammen aßen, Bäume pflanzten, Fußball spielten, Musik austauschten und in der Wüste herumwanderten, wurden Freundschaften geschlos- sen und kulturelle Differenzen schwanden dahin. Indem wir die Eurythmie als Geschenk brachten, wurden wir zu- gleich von dieser wunderschönen Kultur inspiriert.

2009 luden uns Aban und Dilnawaz Bana aus Mumbai nach Indien ein. Wir präsentierten Gedichte von Tagore und Auszüge aus Texten von Gandhi und der »Bhagavad Gita«.

Die Gemeinschaft von Tridha füllte ein ganzes Theater und Aban schrieb: »25 junge Eurythmisten bezauberten uns mit ihrer Anmut und Präzision. Der Zuschauerraum quoll von Erwachsenen und Kindern über und alle waren von der Schönheit der Eurythmie verzaubert.« In Udwada, einem Fischerdorf, das von Parsi bewohnt wird, begleitete uns die örtliche Musikgruppe zu unserer Aufführung im Freien. Wir hingen die Kostüme hinter einem Tuch zwischen Palmen auf und kletterten über eine kleine Leiter aus Metall zur Bühne hinauf. Die Magie der Eurythmie bezauberte alle und der Abend klang mit gemeinsamem Tanz aller Beteiligten aus. In Hyderabad traten wir in einem großen Theater im Rahmen der Feierlichkeiten zu Ehren Shiwas auf. Familien aus sechs Waldorfschulen waren dabei. Auch sie waren ent- zückt und interessierten sich sehr für unsere Schüler. Wir fühlten uns geehrt, dass wir an dieser wundervollen Arbeit in Indien teilhaben durften.

Auch China war eine Waldorf-Offenbarung: Die Schulen sprießen dort wie Pilze aus dem Boden. Die Eltern wissen, wie sehr das staatliche Schulsystem die Seelen hemmt und suchen nach Alternativen: »Wadofoo« gilt als die gesündeste

Schulform. Zuerst traten wir in Peking auf, wo eine kleine Gruppe von heranwachsenden Schulen uns 700 Zuschauer bescherte. Astrid Thiersch führte Eurythmiegesten vor und ließ das ganze Publikum sie ausprobieren, was mit großem Genuss und unter vielerlei Kommentaren geschah. Wir er- lebten diese freimütige Begeisterung auch bei der intensi- ven Aufführung der Schüler.

Die erste chinesische Waldorfschule steht in Chengdu. Als wir dort ankamen, hatte die Schule sechs Jahrgänge. Eltern, die an die Oberstufe dachten, wünschten unsere Schüler zu treffen, sie hatten viele Fragen, die unsere Schüler gerne be- antworteten. Unsere Aufführung wurde von 700 Menschen besucht. Große Bewegung ging durch das Publikum als 25 Schüler in den starken Farben der Beethoven-Sonate auf die Bühne strömten. Die Schüler gaben ihr Bestes und der Saal wurde von Staunen ergriffen, als Wellen der Schönheit von der Bühne herunterwogten.

China ist reich an Kultur und Weisheit und offen für neue Menschen, Ideen und Erfahrungen. Ähnliches erlebten wir in Taiwan und Thailand. Lehrer und Eltern suchen ernst- haft nach der Weisheit des Menschen, die sich durch die Anthroposophie erschließt und verbinden die Pädagogik mit ihren eigenen reichen kulturellen Überlieferungen.

Eurythmie kommt dem

sichtbaren reinen Gefühl am nächsten – du kannst es ebensowenig sehen,

wie das Licht, aber du siehst, was durch das Licht

erleuchtet wird … «

»

16_17_18_19_20_21_22_23_24_25_EK06_2016_EK 09.05.16 14:47 Seite 20

(21)

www.yep-eurythmie.de

Durchst art en.

YEP! GEHT IN DIE ZWEITE RUNDE

Projektzeitraum:

10.09.2016 bis März 2017 Anmeldeschluss: 30.06.2016 Teilnehmeralter: 18 – 25 Jahre Du hast Fragen an das Leben, bist weltoffen, interessierst Dich für Kunst, liebst die Euryth- mie und Du bewegst Dich gerne! Dein ganzer Einsatz, Deine Kreativität und Gestaltungsfreude

sind dem gemeinsamen Ziel gewidmet: eine junge, existenzielle Eurythmie-Performance zu

erarbeiten, die wir an vielen Orten zur Auffüh- rung bringen werden.

Sei dabei!

21

THEMA: EURYTHMIE

Juni|2016 erziehungskunst Samen der Zukunft

Auf jeder Tournee übernachten die Schüler bei Familien, tauchen in eine neue Kul- tur ein und schließen Freundschaften. Es ist ein Privileg, diese Waldorfgemein- schaften auf der ganzen Welt erleben und unser gemeinsames Menschsein mit den Lehrern, Schülern und Eltern erfahren zu dürfen. Jede Schulgemeinschaft hat ihren eigenen Charakter, aber jede versucht, menschliche Fähigkeiten für die Zukunft zu entwickeln. Dieses Bestreben ist für die Waldorfpädagogik grundlegend und die Eu- rythmie macht es besonders deutlich sichtbar. Die Eurythmie ist nicht nur sicht- bare Sprache und sichtbarer Gesang, sondern auch sichtbare Anthroposophie – die Seelenkräfte der Schüler werden in ihrer schönsten Form offenbar. Die Eurythmie ist eine derart edle Erscheinungsform des menschlichen Geistes, dass sie uns auf eine höhere Stufe erhebt. Sie schenkt allen, die sie ausüben und erleben, Leben, Gesundheit und Wachstum. Sie wird in den künftigen Generationen weiter wach- sen, die in ihr das Wirken des Geistes empfinden. Jedes Jahr werden die Schüler ge- beten, ihre Erfahrungen niederzuschreiben. Hier zwei Beispiele:

»Eurythmie ist nicht etwas, was du ›tust‹. Die Eurythmie ist und es ist unser Privileg, sie für andere sichtbar zu machen. Sie wird nicht schön oder gut dargestellt, sondern sie ist die den Dingen innewohnende Schönheit und Güte. Sie kommt dem sichtbaren reinen Gefühl am nächsten. Du kannst es ebensowenig sehen, wie das Licht, aber du siehst, was durch das Licht erleuchtet wird … Es gibt nichts, was menschlicher wäre«.

»Die Eurythmie ist nur wahr, wenn der Künstler alles von sich in die Musik oder die Spra- che hineinlegt. Wenn das Herz führt, dann wird der Körper ein reiner Verstärker für den Klang, der in der Bewegung aufblüht. Wenn ich eurythmisiere, habe ich das Gefühl, auf- zuwachen, ich entdecke sie und lerne sie als etwas Neues, gleichzeitig habe ich das Gefühl sie schon immer gekannt, und immer schon gewusst zu haben, wie es geht …«

‹›

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Lorenzo Ravagli.

Zum Autor:David Weber ist Waldorflehrer und unterrichtet Geschichte in der Oberstufe sowie Musikgeschichte, Faust und leitet den Chor. Er ist in San Francisco und in China in der Lehrerausbildung tätig.

Kontakt:thierschinator@gmail.com

Links: Facebook: http://tinyurl.com/h3kubjp youtube: http://tinyurl.com/z95czkb

(22)

Es fehlt an manchem – Eurythmieschule Berlin

erziehungskunst Juni|2016

Waren Sie schon einmal in einer Eurythmieschule? Zum Beispiel in Berlin.Die Lage im Westen der Stadt ist histo- risch bedingt, als West-Berlin noch eine Insel war. Ein In- seldasein führt die Schule bis heute. Dabei ist Berlin mittlerweile Hauptstadt. Da soll es nach hundert Jahren nur eine kleine Eurythmieschule geben? Da müsste doch mehr möglich sein! Sinnbild ist ein Schild, das auffordert, wenn es brennt, die Trillerpfeife zu nutzen, da kein Geld für andere Brandverhütungsmaßnahmen vorhanden war. Aber nicht nur in Berlin, auch an vielen anderen Standorten hat die Eu- rythmie bis heute einen isolierten Status.

Die Waldorfschulen haben die finanzielle Misere der Eu- rythmieschulen erkannt und auf der Mitgliederversamm- lung des Bundes der Freien Waldorfschulen mit be-

eindruckender Mehrheit eine deutliche Erhöhung der Be- zuschussung von sechzig auf neunzig Prozent beschlossen.

Die Schulbewegung hat klug entschieden und die Zu- schüsse nicht an Bedingungen oder Forderungen geknüpft.

Nicht nur der bauliche Zustand mancher Eurythmieschule ist beklagenswert. Die Einkommenssituation der Dozentin- nen und Dozenten ist bedrohlich schlecht und angesichts ihres überaus großen Engagements völlig unangemessen.

Die aktuell Tätigen scheinen sich mit den niedrigen Gehäl- tern arrangiert zu haben, doch eine attraktive Zukunft ist damit nicht zu gestalten.

Durch die erhöhte Bezuschussung soll sich das ändern.

Denn ohne eine grundständige künstlerische Ausbildung wird das Waldorfschulfach Eurythmie verschwinden. Die Ei-

Höchster Alarm

Der Bund der Freien Waldorfschulen stellt die Eurythmieschulen auf eine neue finanzielle Basis

von Hans Hutzel

16_17_18_19_20_21_22_23_24_25_EK06_2016_EK 09.05.16 14:47 Seite 22

(23)

23

Juni|2016 erziehungskunst genständigkeit dieser Kunstform wird nur sichtbar, wenn es

ausführende Künstler gibt, die durch ihr professionelles Können überzeugen und ihre Kunst selbstbewusst mit hoher Qualität in der Öffentlichkeit darstellen können.

Weg von der Insel

Erster Schritt: Weg vom Inseldasein, wo man sich irgendwo zwischen Gemütlichkeit, Selbstaufopferung und Askese ein- gerichtet hat. Es gilt: Hineinzuspringen in die künstlerische Auseinandersetzung auf dem (Tanz-)Parkett! Die verschie- denen Eurythmieschulen sollen ihre jeweiligen Besonder- heiten zeigen und am durchaus konkurrierenden Konzert mit anderen eurythmischen Richtungen und anderen Küns- ten teilnehmen. Nur der Eurythmist, der ein Könner ist und sein Können präsentieren kann, wird die Schüler von die- sem Fach überzeugen können und vielleicht so befeuern, dass deren Berufsfindung beeinflusst wird. Reinhard We- gener, Schüler, Dozent und langjähriges Vorstandsmitglied der Berliner Schule sagt: »Der schöne Glanz der Eurythmie muss sichtbar bleiben« – vielleicht muss er erst wieder er- lebbar werden.

Die Ausbildungsorte sollen ermutigt werden, nach außen in die Öffentlichkeit zu treten. Dazu bedarf es einer ausrei- chenden Größe, einer engagierten Dozentenschaft und der Hoffnung auf eine Zukunft der Schule. Wer würde freiwil- lig auf einer untergehenden Insel seine Zelte aufschlagen, wenn sie oder er in anderen Bereichen der Kunst Land ge- winnen kann? Ausdrücklich bedeutet dies nicht eine Vertei- lung der zusätzlichen Finanzmittel auf möglichst viele Orte und damit für den einzelnen nur eine graduelle Verbesse- rung. Es bedeutet, dort Geld für eine Zukunft zu geben, wo sich genügend Menschen zusammenfinden, die diese Zu- kunft ergreifen. Die bisherigen Finanzierungseckpunkte der

Bezuschussung bleiben bestehen: eine ausreichende Größe, eine ausreichende Anzahl von Studierenden und ein Kolle- gium, das in der Welt steht. Diese Bedingungen sind bei den aktuell in Deutschland noch existierenden Schulen vorhan- den. Es braucht jedoch mehr als Geld: Die Bereitschaft, sich mit dieser Kunst zu zeigen und nicht hinter verschlossenen Türen zu verstecken.

Die Waldorfschul-Kollegien müssen sich die Bedeutung des Alleinstellungsmerkmals »Eurythmie« bewusst machen.

Wie binden die Schulen die Eurythmie überzeugend in das Gefüge der Fächer und Künste ein und wie gelingt es den Kollegen, diese Qualitäten zu verknüpfen und zu nutzen?

Wenn jetzt nicht die Trillerpfeife schrillt, brennen weitere Ausbildungsorte aus und bald wäre es dann zu spät. Also höchste Alarmstufe!

‹›

Übrigens: Reinhard Wegener berichtet, es gebe seit dem Beschluss der Mitgliederversammlung endlich Geld für ein Brandschutz- konzept an der Berliner Eurythmieschule.

Zum Autor:Hans Hutzel leitet die Emil Molt Akademie in Berlin und ist im Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen in Stuttgart tätig.

LEBEN TANZEN

ist das Motto einer neuen Kampagne, die neben der Schönheit und Vielfalt der Eurythmie auch ihre große Bedeutung für die Entwicklung junger Menschen zeigt – und wie wichtig es ist, dass auch in Zukunft begeisterte und begeisternde

Eurythmielehrerinnen und -lehrer die Waldorfschulen bewegen. Übersichtlich, mit selbstbewussten Texten

und kraftvollen Bildern werden Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten gezeigt und

konkrete Informationen gegeben.

Ab sofort, z.B. hier:

www.lebentanzen.de

THEMA: EURYTHMIE

(24)

16_17_18_19_20_21_22_23_24_25_EK06_2016_EK 09.05.16 14:47 Seite 24

(25)

25

THEMA: EURYTHMIE

Juni|2016 erziehungskunst Die Eurythmie hatte es schon einmal leichter. Die Zeiten, in denen große Büh- nenensembles, begleitet von Sinfonieorchestern, konkurrierend durch Europa und die ganze Welt tourten, liegen schon eine Weile zurück. Die großzügigen Mäzene, die solche kostspieligen Unternehmungen ermöglichten, gibt es nicht mehr. Die Schüleraufführungen, die anlässlich solcher Gastspiele für Waldorfschulen immer wieder abfielen, haben inzwischen Seltenheitswert. Die Schüler erleben kaum mehr professionelle Bühneneurythmie. Von beeindruckenden Bühnenerlebnis- sen können vor allem Oberstufenschüler impulsiert werden, sich bei ihrer Be- rufswahl für die Eurythmie zu entscheiden. Um das zu ermöglichen, hat der Bund der Freien Waldorfschulen das Projekt »Eurythmie – eine bewegte Begegnung«

aufgelegt. Folgende Zielvorstellungen sollen umgesetzt werden:

ein kleines Ensemble von Bühneneurythmisten

ein Programm, das auf die Mittel- und vor allem Oberstufe zugeschnitten ist und bei den Eltern Interesse findet

die Vielfalt und Spannweite der Eurythmie erlebbar machen

kleine Erläuterungen zu den Stücken, die den Blick der Zuschauer auf das Wesentliche lenken und dadurch das Erlebnis vertiefen – man sieht nur, was man weiß!

ein Rahmenzuschnitt, der in den technischen Ablauf einer Schule passt.

Sonja Zausch, Lea Tsangaris und Thomas Feyerabend haben sich der Aufgabe an- genommen und erarbeiten ein Eurythmie-Bühnen-Programm mit zeitgenössi- schen und zeitlosen sprachlichen und musikalischen Kompositionen, einer erläuternden Moderation und der Möglichkeit, Fragen zu stellen, mitzumachen und zu verstehen! Es richtet sich an Schüler, Eltern und die interessierte Öffent- lichkeit. Ab sofort kann das Programm für das nächste Schuljahr von Schulen ge- bucht werden. Angeboten werden ein 45- und ein 70-Minuten-Format, sodass eine Schüleraufführung am Vormittag mit einer Abendaufführung kombiniert werden kann. Das 70-Minuten-Format kann auch für sich gebucht werden.

‹›

Kontakt:Bund der Freien Waldorfschulen, Petra Kazmeier, Wagenburgstr. 6, 70184 Stuttgart, E-Mail: kazmeier@waldorfschule.de, Tel. 0711-2104242

Zuschauer gesucht !

Eurythmie auf der Bühne erleben. Ein Angebot des Bundes der Freien Waldorfschulen

von Stefan Grosse

Foto: Charlotte Fischer

Christiane Hagemann |Michael Werner | Annette Bopp: Vitaleurythmie

Das Anti-Stress-Programm für den Alltag 152 Seiten, mit zahlr. Abb. und QR-Codes für Video-Clips, kart. | 17,90 (D) ISBN 978-3-8251-8009-6

Fehlt Ihnen die Energie, um Ihr tägliches Pensum zu bewältigen? Fällt es Ihnen schwer, sich im Alltag gegenüber Ihrer Umgebung abzugrenzen? Können Sie nicht gut loslassen? Haben Sie das Bedürfnis, sich zu entspannen – oder brauchen Sie vielleicht etwas, das Sie belebt? Treibt Sie Ihr selbst auferlegter Perfektionismus immer wieder zu Höchstleistungen an, die Sie langfristig erschöpfen?

Vitaleurythmiestellt eine wichtige Möglichkeit dar, unter den gegebenen Lebens- und Arbeitsbedingungen gesund zu bleiben. Sie trägt dazu bei, in all der Hektik und Überforderung des Alltags Inseln der Ruhe zu finden.

So können wir unsere Vitalität zurück- gewinnen, Kraft schöpfen, Gelassenheit tanken und uns neu zentrieren. Vital- eurythmie bringt uns äußerlich und innerlich in Bewegung, indem sie unser Fühlen, Denken und Handeln aktiviert.

Urachhaus |

www.urachhaus.com

Gelassen und kraftvoll

durch den Alltag

(26)

Christiane Kutik

Von der Kraft der Werte im Alltag mit Kindern

Herzensbildung

Christiane Kutik: Herzensbildung. Von der Kraft der Werte im Alltag mit Kindern. |158 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag |

18,90 (D)|ISBN 978-3-7725-2744-9 | Jetzt neu im Buchhandel! | auch als eBook erhältlich |www.geistesleben.com Leseprobe!

In unserer modernen Gesellschaft fällt es oft schwer, Kindern grundlegende Werte zu vermitteln. Dabei brauchen gerade die Kinder solche Orientierungs- punkte, die ihr Selbstvertrauen stärken und es ihnen ermöglichen, gesunde Beziehungen zu den Mitmenschen und zur Umwelt aufzubauen. Kinder orien- tieren sich unmittelbar am Handeln und an der Haltung der Erwachsenen;

diese haben daher eine unangefochtene Vorbildfunktion. An konkreten Situationen mit Kindern zeigt dieser Ratgeber exemplarisch, wie eine gelungene Vermittlung fundamentaler Werte aussehen kann.

Kinder bekommen heute häufig jeden Wunsch erfüllt – doch oft nicht das, was sie wirklich brauchen. Und das sind Werte. Dabei sehnt sich jeder danach: Jeder freut sich, wenn er wertgeschätzt wird. Wie es gelingt, den Kindern Werte – und damit einen Leitfaden fürs Leben – mitzugeben, dafür gibt Christiane Kutik eine Fülle praktischer Anregungen.

Werte der Kindheit

Freies Geistesleben : Kinder wahr nehmen

Foto: Mr Nico (photocase)

26_27_EK06_2016_EK 09.05.16 14:49 Seite 26

(27)

STANDPUNKT

27

2016|Juni erziehungskunst

»Maß und Mitte sind der Höhepunkt menschlicher Naturanlage. Aber unter dem Volk sind sie seit langem selten.«So sprach Konfuzius, der große Lehrmeister der chinesischen Kultur, 500 Jahre vor Christi Geburt. Ende der 1950er Jahre prägte der Soziologe Seymour Martin Lip- set den Begriff »Extremismus der Mitte« für politische Strömungen, die aus der Mitte der Ge- sellschaft entstehen. Die Frage nach Extrem und Mitte ist so alt wie brennend aktuell, nur die Antwort müssen wir immer wieder neu finden.

»Polarität und Steigerung« war für Goethe eine Schlüsselidee für die Erkenntnis der Natur. In ihren Erscheinungsformen erkannte er Gegensätze, die sich wechselseitig bedingen, gegensei- tig steigern und in einer Art geistigem Urbild offenbaren. In der Metamorphose der Blätter einer Pflanze – vom Keim über den Spross bis zum Kelch und zur Blüte – wird in der Zeit sichtbar, was als wirkende Kraft in jedem Augenblick gestaltbildend vorhanden ist. Das Grundprinzip alles Lebendigen, der Wandel, wird durch Gegensätze möglich, die auf einer höheren Stufe wie- der zusammengeführt werden und dadurch Neues möglich machen.

Was bei den Tieren durch ihre leibgebundenen Instinkte, Lust und Unlust, bei den Pflanzen durch ihr Leben am Berührungspunkt von Himmel und Erde geschieht, bedarf beim Men- schen der aktiven Mitarbeit, um sich zu offenbaren: sein Wesen. Schon das Aufrichten und Laufen lernt ein Kind nur durch Nachahmung, immer wieder, unverdrossen, bis es sich in diesem labilen Gleichgewicht halten und neue Räume des Wahrnehmens und Handelns erobern kann. Wenn Lisa oder Noah später Einrad fahren, üben sie weit mehr, als nur nicht hinzufallen. Sie üben, die Balance zu halten und damit, Mensch zu sein.

In Rudolf Steiners grandioser Skulptur des »Menschheitsrepräsentanten« steht die Gestalt des Christus zwischen zwei gewaltigen Wesen, deren eine ihn in eine rein geistige, erdenflüchtige Sphäre hinauf- und die andere in eine eisige, rein materielle Existenz herabziehen will. Aufrecht stehend hält er diese Mächte mit einer erkennbar aus der Mitte seines Herzens kommenden Geste in einem fast körperlich spürbaren, dynamischen Gleichgewicht.

Balance ist die vielleicht schwierigste, aber auch höchste Kunst des Menschseins. Je weiter die Herzen, je tiefer die Gefühle, je umfassender die Erkenntnis, desto größer ist auch die Spannung zwischen ihren Polen. Aber nicht der Ausschluss der Extreme, sondern die Stärkung der inneren Kraft, sie im Gleichgewicht zu halten, ist die Grundlage unserer Freiheit. Ein

»Extremismus der Mitte« kann nur entstehen, wenn die individuelle Mitte geschwächt ist und verführbar wird. Deshalb braucht Erziehung viele Gelegenheiten, die Welt in ihrer Tiefe, Schön- heit und Weite immer differenzierter auszuloten, mit den Gefühlen, Gedanken und Entschlüs- sen. Im Stillstand werden Maß und Mitte zu »Mittelmaß«, in der Bewegung zur Balance.

Erziehung ist Bewegung und Balance.

‹›

Mittelmaß oder Balance ?

von Henning Kullak-Ublick

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassen- lehrer an der FWS Flensburg;

Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steinersund der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogi- schen Bewegung – Haager Kreis

a

(28)

28

FRÜHE KINDHEIT

erziehungskunst Juni|2016

Ein Kind sollte auf dem Dorf aufwachsen. Wenn das nicht geht, sollte das Haus, in dem es lebt, ein wenig von einem Dorf haben. Ein Kindergarten der Zukunft wird so sein, dass er ein Dorf werden kann. Küche, Stall, Scheune, Werkstatt – das sollte im Ansatz da sein. Und zwar echt, nicht zurecht- gemacht für Kinder. Schließlich sollen die Erwachsenen auch als Menschen voll dort sein und arbeiten können, nicht pädagogisch herabgebeugt.

Die Kinder kommen von oben, also sollen wir sie nicht zu uns hochziehen, sondern herabbitten. Das Motiv der Jakobsleiter gehört ins Kinderleben. Die kleinen Kinder wollen hinauf, weil sie von dort her kommen. Sie wollen spüren, dass es ein Oben und ein Unten gibt, – steigend, kletternd, rutschend.

So wird das Haus für Kinder mindestens eine obere Ebene haben und ein Dach, das sich an einer Stelle öffnet, vielleicht sogar eine Kuppel. Ein solches Haus ist eines der Bewegung.

Es ist ein Bewegungsinstrument, so wie eine Geige ein Klang- instrument ist. Ein gutes Bewegungsinstrument zeichnet sich dadurch aus, dass es Bewegung anregt, zugleich aber beruhigt und harmonisiert. Ein solcher Bau verhält sich zu den Kindern und zu den beteiligten Erwachsenen wie eine Baumkrone zum Vogelschwarm, ein Bienenkorb zu den Bie- nen, ein Ameisenhaufen zu den Ameisen.

Aber ein gutes Haus hat auch einen Klang, den jedes Kind hört, auch wenn es äußerlich still erscheint. Der Ton oder Tonusdes Hauses bildet sich aus der Übereinstimmung von Material, Konstruktion und Bauprozess, also Arbeit. Der Ar- beits-, das heißt, Menschenklang ist in ein gutes Haus ein- gebaut, und Kinder erleben ihn, weil sie selber in ihrem Leibesaufbau und -prozess einen Tonus, einen Klang haben.

Auch wenn der Bautonus still erscheint, so ist er spürbar an jeder Stelle, die das Kind berührt, vor allem beim Gehen.

Die Bauhütte des Lebens

Welche Eigenschaften braucht ein Haus für kleine Kinder ?

von Werner Kuhfuss

Die folgenden Überlegungen sind durch die Begegnung mit Imre Makovecz, dem großen ungarischen Architekten, angeregt worden.

Der Kindergarten in Solymar / Ungarn 28_29_30_31_EK06_2016_EK 09.05.16 14:51 Seite 28

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Aggressives Verhalten kann also sehr verschiedene Ursachen haben, die sowohl im Kind als auch in sei- ner Umgebung liegen: Jedes Kind und jede Situation muss individuell

Kerzenziehen ist zwar etwas aufwändig, aber wenn man sich schon dran wagt, dann kann man den Aufbau einige Tage stehen lassen und immer wieder nut- zen – wie man weiß, lieben Kinder

Seelische Folgen werden vor allem bei den Pädagogen sichtbar, wenn ihnen ihre Arbeit keine Freude mehr macht und sie sich nicht mehr durch entspannte Ab- läufe und die Wahrnehmung

Und in diesem Fall, sei es, dass das Kind auf das wiederholte Rufen hin nicht zum Essen kommt oder dass es nicht warten mag, bis alle fertig gegessen haben, kann man

Befinden sich mehrere cholerische Kinder in einer Kindergartengruppe, kann dies für die Erzie- her recht anstrengend werden, weil diese Kinder bisweilen buchstäblich mit

Kann es nicht sein, dass eine ganz neue Sensibilität für Echtheit als Sprache der Jugend ausgebildet wird, die zwi- schen den Zeilen wahrzunehmen vermag, was als

Das kann schnell geschehen: »Was, du arbeitetest (immer noch) nicht?« Oder: »Wir wollen und können uns es leisten, die Kinder zu Hause zu haben.« Letzteren kann es passieren, dass

oder »Was bewirkt es, Eurythmie zu machen?« selbst zu beantworten, so weit und so gut sie können. Gerne dürfen die Schüler auch andere »Experten« befragen: Was wissen oder meinen