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Ideengeschichte der Physik

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Ideengeschichte der Physik

Wilfried Kuhn

Eine Analyse der Entwicklung

der Physik im historischen Kontext

2. Auflage

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Ideengeschichte der Physik

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Wilfried Kuhn

Ideengeschichte der Physik

Eine Analyse der Entwicklung der Physik im historischen Kontext

2. Auflage

Unter Mitarbeit von Oliver Schwarz

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Wilfried Kuhn Villmar, Deutschland

ISBN 978-3-662-47058-9 ISBN 978-3-662-47059-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-662-47059-6

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Planung: Margit Maly

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.

Springer-Verlag GmbH Berlin Heidelberg ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)

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Vorwort zur zweiten Auflage

Eine Ideengeschichte der Physik – aber wozu?

„Das ist ja schön, Sie wissen sogar etwas zur Entdeckungsgeschichte.“ Wie oft hat der Verfasser dieser Einleitung einen solchen Satz schon in physikalischen Schulstunden, Seminaren oder Kolloquien gehört. So gut er auch gemeint sein mag, letztlich suggeriert er, Einblicke in die Genesis der Fachdisziplin Physik wären eine pittoreske, wahrschein- lich entbehrliche Zugabe. Bei jüngeren Schulkindern verdient der Nachweis historischer Kenntnis natürlich Lob, für Abiturienten und Studierende der Physik sollte Wissen um die historischen Erkenntniswege aber nicht den Status eines im Grunde überflüssigen Sahnehäubchens besitzen, sondern wesentlich zur Bildung gehören. Wie sonst, wenn nicht an konkreten Beispielen, könnte man Achtung vor menschlicher Leistung erwer- ben, etwas über die Mühsal der Forschung lernen oder die Wissenschaften als eine der größten Schöpfungen der Menschheit begreifen?

Leider fällt die Überzeugungskraft dieses einfachen Arguments in unserer derzeitigen Bildungslandschaft auf keinen fruchtbaren Boden, denn die Realität wird vor allem durch andere Einflüsse geprägt. Insider beklagen einen über Jahrzehnte hinweg anhaltenden Verlust von Lehrstühlen für Wissenschaftsgeschichte an Universitäten – bis hin zum völ- ligen Ausbluten. Nicht nur an Gymnasien wird man kräftig für einen Abschluss getrimmt – sogenannte Bildungsstandards und Kompetenzbeschreibungen sollen höchstes Niveau garantieren, doch in Wahrheit steht schon längst nicht mehr eine weitgespannte Umfas- sung vielfältiger Themenbereiche im Brennpunkt von Unterricht und Lehre. Insbesondere die Physik leidet darunter. Als weltfremd, kompliziert und unanschaulich verkannt, würde gerade sie eine Richtigstellung benötigen: Ohne Physik gäbe es die technisierte Welt, ja unsere Zivilisation, nicht so, wie wir sie kennen, kompliziert an der Physik sind allenfalls die Formeln, nicht aber ihre Grundgedanken, und physikalische Modelle dienen letztlich auch der Veranschaulichung komplexer Sachverhalte. Und vor allem: Physik zu betreiben ist ein zutiefst menschliches Unterfangen. Ein Weg, die großen Missverständnisse zur Physik zu korrigieren, wäre, sie den nachwachsenden Generationen noch mehr als bislang als Teil des dramatischen Ringens um eine bessere Zukunft zu vermitteln und als Resultat einer bemerkenswerten Eigenschaft unserer Spezies – der Neugier. Mit den in der Ide- engeschichte der Physik vereinten Darstellungen und Materialien kann man sich dieser Aufgabe stellen, handelt es sich doch durchweg um die Schilderung von Bildungsgut. Die Verwendung dieses herrlich „altmodischen“ Wortes sei hier gestattet, hebt es sich doch wohltuend von den inflationär benutzten „Bildungsinhalten“ ab.

Die meisten Fachphysiker oder Physiklehrer würden bekräftigen, dass es unbedingt wünschenswert wäre, die soeben geschilderten Lehr- und Unterrichtsziele anzustreben.

Anzustreben ist die Vermittlung der Entwicklungsgeschichte der eigenen Disziplin gewiss, aber – und genau dies ist die entscheidende Frage – kann man auf sie auch verzichten,

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ohne das Gesamtverständnis infrage zu stellen? Um die Ideengeschichte angemessen zu würdigen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass Wilfried Kuhn sein Werk nicht nur ver- fasst hat, weil er die Erreichung allgemeiner Bildungsziele unterstützen wollte. Er hat als Didaktiker und Wissenschaftshistoriker darüber geforscht, welchen Wert das Studium der Physikgeschichte für das Verständnis der modernen Physik hat und welche Perspektiven sich aus einer erkenntnistheoretischen Reflexion des zeitlichen Wandels physikalischer Begriffe und Arbeitsweisen für eine moderne Fachdidaktik ergeben. Diese Fragestellun- gen hat er auch im Vorwort zur Ideengeschichte angesprochen, ohne sie schulmeisterhaft sogleich umfassend zu klären. Er überließ es lieber dem Leser seiner Ideengeschichte, mögliche Antworten durch eigene Lektüre herauszufiltern, zumal eindimensionale, vom physikalischen Kontext abgelöste Aussagen ohnehin nicht möglich sind.

Von jeher beschäftigen sich hervorragende Vertreter der Physik mit der Frage, wie man eigentlich ihre Disziplin definieren, wie man ihre wesentlichen Merkmale be- schreiben kann. Oft wird erwähnt, dass für physikalische Entdeckungen das freie Spiel mit Begriffen wesentlich sei. Verbreitet ist die Ansicht, Physik sei eine Wissenschaft, die sich auf eine nur für sie typische Weise mit dem Studium von Systemen befas- se. Wie bei der Charakterisierung der Physik immer wieder betont wird, ist sie eine Erfahrungswissenschaft. Gewiss nicht falsch, aber auch nur als erste grob umschrei- bende Beruhigungstablette für Schulkinder und studentische Anfänger taugend, ist die Aussage, Physik sei die Wissenschaft von den Eigenschaften, den Bewegungen, Zu- ständen und Strukturen in der nichtbelebten Materie, die in Lehr- und Schulbüchern weit verbreitet ist. Obgleich all diese Kriterien die Physik gut umschreiben, sie treffen nicht allein nur auf sie zu. Auf den ersten Blick ist es für eine nach begrifflicher Klar- heit strebende Naturwissenschaft überraschend, dass selbst die Grundfrage, wie sie ei- gentlich zu definieren sei, nicht ohne Weiteres zu beantworten ist. Zielführend ist nicht einmal das Ausschlussprinzip, also die Aufzählung aller Forschungsgebiete, die nicht zur Physik gehören – etwa Chemie, Biologie oder Astronomie. Auch dieses Vorgehen hat sich historisch immer wieder überholt, indem die Physik mit ihren experimentellen Methoden und Modellvorstellungen diese Disziplinen in vielfältiger Weise durchdrang, wodurch sich häufig neue Forschungsrichtungen wie etwa die Astrophysik, die physi- kalische Chemie oder die Biophysik herausbildeten. Wenn wir in den unterschiedlichen Definitionen der Physik nach Gemeinsamkeiten suchen, dann finden wir vor allem die Tatsache, dass viele Autoren die bereits erwähnte Begrifflichkeit der Physik besonders herausstellen. Wie man ebenfalls konstatieren kann, unterliegen alle Auffassungen da- rüber, was Physik nun sei, einem beständigen historischen Wandel. Auch die Bemühun- gen, die Physik über ihre konkreten Forschungsgegenstände zu charakterisieren, sind immer nur in einem bestimmten geschichtlichen Umfeld zielführend gewesen. Mit der Weiterentwicklung der Physik kamen neue Untersuchungsgegenstände hinzu oder – ein keineswegs seltenes Phänomen – ältere Forschungsgegenstände lösten sich in größeren Kontexten auf. Die Konsequenz aus den soeben dargelegten Fakten lässt sich in einer Aussage des bekannten Physikers und Physikhistorikers Max Jammer zusammenfassen, die auch Wilfried Kuhn bei vielen Anlässen gern zitiert hat:

„Was eigentlich Physik ist, kann nur historisch verstanden werden.“ [1]

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Eine Fachwissenschaft wird wesentlich durch ihre typischen Forschungsmethoden konstituiert. Als zentrale physikalische Methode schlechthin muss die – nach langem historischem Vorlauf – von Galileo Galilei begründete experimentelle Methode ange- sehen werden. Unter dieser Methode versteht man bekanntlich das Wechselspiel zwi- schen Theorie und Experiment, bei dem eine zuvor im Rahmen von Modellüberlegun- gen und theoretischen Vorhersagen geplante Versuchsanordnung darüber entscheiden soll, ob die prognostizierten Entitäten, Zusammenhänge oder Phänomene in der Natur tatsächlich vorhanden sind. Wir können nicht auf die erkenntnistheoretische Kritik an diesem hier ohnehin nur holzschnittartig dargelegten Konzept eingehen. Es liegt im Selbstverständnis einer Disziplin, die Naturforschung betreibt, dass Strukturen und Zu- sammenhänge in der Welt tatsächlich vorhanden sind – in welcher Art auch immer. Wie die moderne Erkenntnistheorie lehrt, haben wir bei unserer Suche nach der natürlich gegebenen Weltordnung aber nicht die Möglichkeit, ihre Zusammenhänge unmittelbar und umfassend zu erkennen, quasi auf direkte Weise zu „sehen“. Wir unterliegen den engen Grenzen, die uns Sinnesorgane und Denkapparat setzen, z. B. sind wir bei der Na- turbeschreibung auf die Verwendung von Begriffen angewiesen, unmöglich können wir das Weltgeschehen allumfassend geistig durchdringen, ja wir können nicht einmal einen einzigen Naturvorgang in seiner vollständigen Komplexität abbilden. So ist das häufig zitierte paradigmatische Beispiel des realen freien Falls eines physikalischen Körpers, bei dem die vielfältigen Gravitationseinflüsse aller Himmelskörper, die Luftreibung, der Auftrieb, die Corioliskraft, die Oberflächengestalt und die Eigenrotation des fallenden Objekts zu beachten wären (und noch unendlich mehr), sorgfältig von den Aussagen über den freien und reibungslosen Fall eines Massepunkts im konstanten Schwerefeld zu unterscheiden, die im Unterricht gelehrt werden. Und deshalb gehört zur erkennt- nistheoretischen Darlegung der experimentellen Methode vor allem die Herausstellung einer wichtigen Tatsache: Sowohl im Rahmen theoretischer Überlegungen als auch bei der Entwicklung von Versuchsanordnungen handelt es sich um Idealisierungsprozesse, die auf begrifflicher Ebene erfolgen. Als außerordentlich erfolgreich für diese Ideali- sierungen hat sich die Anwendung der Mathematik erwiesen. Über den Ausgang eines Experiments entscheidet auch der Umstand, wie gut die Physik die benutzten Begriffe und Definitionen der Natur zuvor abgelauscht hat. Ein freudiges „Hallo“ aus der Natur, verbunden mit der Erklärung, wie sie nun wirklich sei, hat noch niemand vernommen, sondern immer nur, mit etwas Glück, eine einigermaßen passende Antwort auf eine zuvor mit dem Experiment verbundene Frage. Und diese Antwort wird immer in der Sprache gegeben, die man für die Formulierung der Frage benutzt hat. Das Experiment kann „passen“, unter Umständen ist nur ein spezieller Rechenweg zu ändern, ein Para- meter zu korrigieren, und der Versuch zeigt dann das erwartete Resultat. Doch vielleicht – wenn dieses leicht korrigierende Vorgehen nicht zum Erfolg führt – muss der ge- samte Begriffsapparat umgedeutet, erweitert oder mit neuen Inhalten versehen werden.

Nicht nur die Fragestellung selbst, sondern auch die gedankliche Einbettung, aus der sie entspringt, sind dann neu zu formulieren. Wie die Physikgeschichte lehrt, ist das ein extrem schmerzhafter und zuweilen recht langwieriger Prozess, den man im Rahmen der Wissenschaftstheorie durch verschiedene Modellansätze zu beschreiben versucht.

Was für eine exakte Wissenschaft aber noch viel aufwühlender ist: Bis heute kennen wir

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keinen reproduzierbaren Weg, auf dem es möglich wäre, der Natur die physikalischen Begriffe so abzulauschen, dass wir in die Lage versetzt würden, nach Belieben bessere und umfassendere Modellvorstellungen und Theorien zu formulieren. Mit extrem gro- ßer Wahrscheinlichkeit wird man auch niemals einen solchen Weg finden. „Über die Art und Weise, wie wir Begriffe zu bilden und zu verknüpfen haben und wie wir sie den Sinneserlebnissen zuzuordnen haben, lässt sich nach meiner Ansicht a priori nicht das geringste aussagen“ – so Einstein zu dieser Problematik [2]. Ohne Newton gäbe es kei- ne Newton´schen Axiome, ohne Maxwell keine Maxwellgleichungen und ohne Einstein kein spezielles und allgemeines Relativitätsprinzip. Es bleibt der Phantasie, der Geni- alität und der Hartnäckigkeit einzelner Personen vorbehalten, diese großen Würfe zu vollziehen. Ihre Ideen beziehen solche herausragenden Persönlichkeiten dabei notwen- dig aus den jeweiligen individuellen, wissenschaftlichen und kulturellen Umfeldern, die vor allem historisch geprägt sind. Wir kommen nicht umhin, eine entscheidende Schnittstelle der Physik im Reich der freien und teilweise außerlogischen Geistes- und Sinnestätigkeit anzusiedeln. Um noch einmal Einstein zu zitieren: „Das Erfinden ist kein Werk des logischen Denkens. Wenn auch das Endprodukt an die logische Gestalt gebunden ist.“ [3]

Eine Konsequenz der aus intuitivem und individuellem Denken geborenen Modell- bildungen ist, dass es häufig alternative Erklärungen von Phänomenen gibt. Die Phy- sik geht damit pragmatisch um, indem sie anstrebt, unter den möglichen Deutungen die einfachste oder zweckmäßigste zu wählen. Virtuosen des physikalischen Denkens springen zwischen den verschiedenen Begriffs- und Modellebenen hin und her, merken es vielleicht nicht einmal, wundern sich jedenfalls nicht, dass man ein und dieselbe Sache durch verschiedene Ansätze erklären kann. Das ist für die Physik gewissermaßen der Normalzustand. Einige Aspekte der Physik sind also befreiend und zutiefst mensch- lich – allerdings mit tiefgreifenden Konsequenzen für unser Denken: Obgleich wir fest davon überzeugt sind, dass sich der physikalische Erkenntnisprozess iterativ an die Rea- lität annähert (ohne hier klären zu können, was diese Aussage eigentlich bedeuten soll), müssen wir der Physik selbst eine historische Mehrdimensionalität zugestehen. Könn- te man mit einem Resetknopf die letzten 400 Jahre Physikgeschichte immer wieder

„auf null“ zurücksetzen und dann im Zeitraffer ablaufen lassen, würden wir wohl jedes Mal eine andere Physik sehen, eine Physik mit anderen Begriffen, Modellen, Theorien und Experimenten, aber natürlich immer noch eine Physik, die wesentliche Aspekte der Welt beschreibt. Zu oft gab es in der Vergangenheit gute Gelegenheiten, entweder rechts oder links abzubiegen. Friedrich Hund formulierte bei der Erörterung dieses Pro- blems: „Darf man fragen; wie hätte sich die Physik entwickelt, wenn das schwächliche Siebenmonatskind Isaak Newton nicht am Leben geblieben wäre, wenn Davy nicht dem jungen Faraday eine Stelle angeboten hätte?“ [4]

Diese Frage führt zu zwei Einsichten. Die erste lautet, dass nicht alles an der Physik unwiderruflich in Stein gemeißelt ist, weshalb wir besondere Anstrengungen unterneh- men müssen, um in unserem Erkenntnisstreben nicht wahllos in der Welt umherzustol- pern. Die zweite Erkenntnis lautet: Der Einzelne, im Hier und Jetzt verhaftet, hat keine andere Möglichkeit, als die historisch gewordenen Begriffe der Physik zu verwenden.

Es wäre für ihn unmöglich, diese in nur einem Menschenleben allein und nur aus sich

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selbst heraus neu zu erschaffen. Das Gespür für diese Tatsachen entwickelt man vor allem aus einer geschichtlich untermauerten erkenntnistheoretischen Betrachtung der Physik. Doch was könnten nun die Elemente an unserer Physik sein, die nicht beliebig und zufällig sind?

Das soeben beschriebene Gedankenexperiment darf eine wichtige Tatsache nicht außer Acht lassen: Jede nur denkbare Physik wäre unbedingt eine Erfahrungswissen- schaft. Auch wenn sie anders als die unsrige wäre, zum Beispiel das Gravitationsgesetz anders formulieren würde als wir es tun, hätte sie sehr wahrscheinlich das, was wir als fundamentale Naturgesetze, Prinzipien oder Strukturen kennen, auch aufgespürt. Dazu gehören Erhaltungs- und Symmetrieprinzipen, Konstanzprinzipien, die Existenz von Wechselwirkungen, Transformationseigenschaften beim Wechsel von Inertialsystemen, die Mikro- und Makrostruktur des Universums oder die Tatsache, dass man einige Phä- nomene zweckmäßig mit sich kontinuierlich in Raum und Zeit ändernden, andere wie- derum besser mit diskreten, sich sprunghaft ändernden Größen beschreiben kann. Ob wir mit dieser Einschätzung richtig liegen, ist nicht beweisbar, aber die Art und Weise, wie unsere Physik auf diese Leitthemen aufmerksam wurde, wie sie andere Leitideen als unzweckmäßig verwarf und wie sich historisch herausstellte, dass die allen Wider- legungsversuchen bisher standhaltenden Prinzipien immer wieder zielführend bei der Bemühung sind, Neues zu entdecken und zu erklären, legt doch nahe, dass wir hier auf wesentliche Eigenschaften der Natur gestoßen sind. Wer das Wesen der Physik und ihrer Erkenntnisse erfassen will, muss vor allem ihre Leitprinzipien und -ideen verstehen und dieses Verständnis wird im soeben geschilderten Sinn tiefer sein, wenn die historischen Wege, auf denen man sie aufgedeckt hat, verinnerlicht werden konnten.

In seiner berühmten Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, gehalten im Jahre 1789 an der Universität Jena, definierte Fried- rich Schiller zwei Prototypen eines Gelehrten – den Brotgelehrten, der sich ängstlich um jede Erneuerung seiner Fachdisziplin herumwindet, die für ihn letztlich nur Er- werbsmittel ist, und den philosophischen Kopf, der bereit ist, persönliche Opfer zu brin- gen, hergebrachte Gedankengebäude aufzugeben, um der Wahrheit zu dienen, und der ein Ziel über alle anderen stellt – die Vollendung seines Wissens. [5]

Diese beiden Prototypen bevölkern auch die heutigen Universitäten, doch man trifft sie kaum unter Physikstudierenden an. Die intellektuelle Herausforderung eines Phy- sikstudiums ist einfach zu groß, potenzielle Brotgelehrte ringen sich erfahrungsgemäß nicht dazu durch, gerade diesen Studiengang zu belegen, denn zur Realisierung ihrer Absichten gibt es bessere Möglichkeiten. Bei vielen Studierenden der Physik trifft man tatsächlich auf faustische Züge – sie wollen wissen, „was die Welt im Innersten zusam- menhält“. Doch wenn sie Pech haben, dann geraten sie in die Fänge von Ausbildern, die nur zwei Ziele verfolgen – das Trainieren ausgefeilter theoretischer Rechenkünste und das Exerzieren der Durchführung von Experimenten mit größter Präzision. Diese Fähigkeiten sind natürlich ungemein wichtig. Ohne sie kann man später nicht bestehen und die Aneignung solcher spezieller Kenntnisse ist in jeder Hinsicht wünschenswert.

Doch wenn das Studium nicht mehr als dies hergibt, wird es skandalös und betrüge- risch. Skandalös, weil wir junge Menschen in die Gesellschaft entlassen, die zwar die Fähigkeit haben, Sachverhalte zu managen, die aber nicht ausreichend gelernt haben,

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was eigentlich zu tun ist, wenn man anstrebt, etwas Neues zu entdecken, das Unbe- kannte aufzuspüren oder einfach nur seine Tätigkeit in einen sinnvollen Gesamtzusam- menhang zu stellen. Betrügerisch, weil man dadurch die Studierenden, von diesen oft- mals gar nicht bemerkt, in dem Glauben lässt, sie wären philosophische Köpfe, derweil sie still und heimlich doch die Grundausstattung des Brotgelehrten empfangen haben.

Auch die Hochschuldidaktik ist daran nicht unschuldig. Je ausgefeilter deren Methoden werden, desto besser ist sie in der Lage, die Physik als logisch durchkonstruiertes und deshalb streng deduzierbares Konstrukt zu suggerieren. Freudig erregte Studierende, die ernsthaft behaupten, sie hätten gerade aufgrund einer Analogiebetrachtung zur all- gemeinen Wellengleichung die Schrödingergleichung hergeleitet oder Referendare, die man nicht von der Selbstverblendung abbringen kann, sie hätten allen Ernstes durch ein Experiment zum äußeren lichtelektrischen Effekt mit ihren Schülern Einsteins Quan- tenpostulat entdeckt, haben den Kern dessen, was die Physik eigentlich ausmacht und wie sie funktioniert, nicht einmal ansatzweise verstanden. Sie können allenfalls mit ihr umgehen – wie Klempner im Universum.

Besonders prekär wird diese Situation im Physikunterricht. Die Fachdidaktik sollte das regulierende Normativ sein, wenn es darum geht, zwischen den Ansprüchen der Pädagogik, der Lern- und Entwicklungspsychologie und der Fachphysik zu vermitteln.

Doch jeder, der sich auch nur ansatzweise mit fachdidaktischen Fragestellungen befasst, lernt schnell, dass man sich unmöglich in all diese Teildisziplinen auf gleich hohem Ni- veau einarbeiten und hineindenken kann. Um einen angemessenen Ausgleich zwischen pädagogischen, psychologischen und physikalischen Zielvorstellung zu gewährleisten, bedarf es von jeder Disziplin gewisser Hilfestellungen. Aus fachwissenschaftlicher Sicht ist eine gute Kenntnis der Physikgeschichte unbedingt hilfreich, wie folgendes Beispiel belegen mag.

Eine immer wieder von der Pädagogik erhobene Forderung lautet, Lernende mögen die Unterrichtsgegenstände im Alleingang untersuchen, Zusammenhänge selbst her- ausfinden, die Lehrkraft solle nur noch – wenn überhaupt – regulierend eingreifen. Es zählt vor allem das, was die Schüler selbst herausfinden. Dahinter steckt die im Prinzip korrekte Überlegung, dass man nur dann etwas lernen kann, wenn man es durch eigene Aktivität verinnerlicht. Doch so gut dieser Ansatz auch gemeint sein mag, er ist bei der Vermittlung der Physik – und nicht nur der Physik – kaum, jedenfalls nicht ausschließ- lich, durchzuhalten. Spätestens dann, wenn Lernende etwas aus Experimenten herausle- sen sollen, ohne zuvor eine theoretische Beschreibung des experimentellen Rahmens zu besitzen, wenn sie Begriffe aufdecken müssen, die durch logisches Denken allein nicht aufzustöbern sind, und wenn sie etwas interpretieren sollen, ohne dass man ihnen zuvor die dazu angemessene Sprache vermittelt hat, wird es kritisch. Es gehört zu den größten Merkwürdigkeiten mancher Lehrerausbildung, dass das einfachste Mittel verboten ist, um diese erkenntnistheoretischen Stolpersteine zu beseitigen – das Vermitteln der nicht im Alleingang erschließbaren Zusammenhänge durch die Lehrkraft. Unübertroffen ist der sogenannte stille Impuls – durch Vorzeigen eines Artefakts sollen Lernende auch noch ganz allein herausfinden, was in der nächsten Stunde so dran ist. Eine Fachdidak- tik, die hier nicht eingreift, hat zweifellos versagt. So entwickelt sich inzwischen an den Schulen ein beachtlicher Rummel, dessen Ingredienzien Posterwände, verschlun-

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gene Mindmaps, Klebstoff, Bastelpapier, Buntstifte, Pusteblumen und allerlei andere Materialien darstellen. Und dort, wo man damit nicht weiterkommt, wird der Lehrplan

„passend“ gemacht. Als Resultat dieses Vorgehens kommen dann Unterrichtsinhalte zu- stande, die man wahrscheinlich tatsächlich im Alleingang konstituieren kann, die aber an Plattheiten kaum noch zu überbieten sind. Solche Gerippe möchte man nicht mehr verspeisen. Liebe Referendare, so sehr ihr auch auf die Pauke haut, es gibt viele Dinge, die Lernende nicht selbst erschließen können, egal wie viel Mühe ihr euch gebt, um ihnen auf die Sprünge zu helfen. Dabei wäre es doch ganz einfach: Ein Blick in die Physikgeschichte könnte wichtige Hinweise darauf geben, an welchen Stellen man auf Erfolg hoffen darf, wenn man Lernende auf sich gestellt an ein Problem setzt, und wo es schlichtweg nicht möglich ist, etwas Sinnvolles aus sich selbst heraus zu vollbringen.

Vielleicht waren es ja ähnliche Überlegungen, die die sonst viel gescholtene Kultusmi- nisterkonferenz (KMK) dazu bewogen haben könnten, für die Physiklehrerausbildung aller Schularten ausdrücklich die Kenntnis physikhistorischer Zusammenhänge einzu- fordern. Wir lesen in den jüngst bekräftigten Vorgaben der KMK für die Physikausbil- dung („Ländergemeinsamen inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung“):

„Die Studienabsolventinnen und -absolventen … kennen die Ideengeschichte ausgewählter physika- lischer Theorien und Begriffe sowie den Prozess der Gewinnung physikalischer Erkenntnisse (Wis- sen über Physik) und können die gesellschaftliche Bedeutung der Physik begründen.“ [6]

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Was Wilfried Kuhn besonders am Herzen lag, war das Bemühen, einen Ausgleich zwischen Natur- und Geisteswissenschaften herzustellen. Hat man die Physik so verin- nerlicht, wie er es in der Ideengeschichte vorschlägt, dann fragt man sich in der Tat, wo die Kluft zwischen den Disziplinen eigentlich herkommt. Die Physik provoziert wich- tige Fragen, die sie allein nicht beantworten kann. Was sollen wir mit unseren physika- lischen Kenntnissen machen, wofür wollen wir sie nutzen? Hat Physik einen absoluten Sinn, unabhängig von uns selbst? Wahrscheinlich muss man ein gewisses Lebensalter erreicht haben, um diese Fragen für wichtig zu halten. In seiner Eröffnungsrede anläss- lich der Tagung des Fachausschusses „Didaktik der Physik“ der Deutschen Physikali- schen Gesellschaft im März 1981 zitierte Wilfried Kuhn hierzu Erwin Schrödinger:

„… es gibt eine Neigung zu vergessen, dass die gesamte Wissenschaft an die menschliche Kultur über- haupt gebunden ist und dass wissenschaftliche Entdeckungen, mögen sie im Augenblick auch überaus fortschrittlich und esoterisch und unfasslich erscheinen, außerhalb ihres kulturellen Rahmens sinnlos sind.“ [7]

Vom Lesen der Ideengeschichte sollten sich deshalb Geisteswissenschaftler nicht ab- halten lassen. Folgt man dem im Vorwort gegebenen Rat des Autors, so kann man die Kerngedanken auch dann gut nachvollziehen, wenn man die mathematischen Herleitun- gen überblättert, da alles in verbaler Darstellung wiederholt wird.

Um den vorliegenden Wiederabdruck der Ideengeschichtezu bewerkstelligen, waren viele hilfreiche Hände notwendig. An erster Stelle ist Frau Ingrid Kuhn zu danken, die das wissenschaftliche Erbe ihres Gatten pflegt und sich für die Verbreitung seiner

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wissenschaftlichen Ideen einsetzt. Der Springer-Verlag hat dieses Projekt mit Nach- druck gefördert und insbesondere eine zügige Wiedererscheinung angestrebt. Wie wir gesehen haben, wird das Werk gerade in der Physiklehrerausbildung dringend benötigt.

Das hängt mit dem Umstand zusammen, dass gegenwärtig auf dem deutschsprachigen Büchermarkt, sagen wir es einmal vorsichtig, nicht gerade viele physikhistorische Dar- stellungen verfügbar sind, insbesondere nicht solche, die ausdrücklich auch die schuli- sche Physik im Blick haben. Da die letzte Auflage im Jahre 2001 erschienen ist, können die allerneuesten physikalischen Entdeckungen der Teilchenphysik und der Kosmologie noch nicht im Werk enthalten sein. Aber das tangiert die Intention des Buches nicht, prinzipiell hat sich an den Leitideen der Physik im Laufe der letzten 10 Jahre nicht viel geändert.

Siegen, im Juli 2015 Oliver Schwarz

Literatur

[1] zitiert nach: Physik: Erleben, Lehren, Lernen, zum 70. Geburtstag von Wilfried Kuhn, Sammelband, Aulis-Verlag, Deubner, 1993, S. 57.

[2] Albert Einstein, Aus meinen späten Jahren, Ullstein-Verlag, Frankfurt/M. und Ber- lin, 1984, S.66.

[3] zitiert nach: Horst Melcher, Albert Einstein wider Vorurteile und Denkgewohnhei- ten, Vieweg-Verlag, Braunschweig, 1979, S. 44.

[4] Friedrich Hund, Geschichte der physikalischen Begriffe, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin, Oxford, 1996, S. 11.

[5] Friedrich Schiller, Akademisch Antrittsrede 1789, Jenaer Reden und Schriften, Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2. Aufl., 1984.

[6] Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.10.2008 i.d.F. vom 12.22.2015), S. 42.

[7] zitiert nach: Physik: Erleben, Lehren, Lernen, zum 70. Geburtstag von Wilfried Kuhn, Sammelband, Aulis-Verlag, Deubner, 1993, S. 42.

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Vorwort

Es gibt zahlreiche Darstellungen der Geschichte der Physik mit unterschiedlichen Zielsetzungen auf verschiedenem Anspruchsniveau.

Das Spektrum reicht von streng wissenschaftlichen Abhandlungen bestimmter Epochen bzw. speziellen Fragestellungen bis zu populären Beschreibungen der Lei- stungen genialer Physiker. Dabei liegt es in der Natur der Sache, daß die Elemente solcher Darstellungen meist unverbunden nebeneinander stehen bleiben. Unsere Ideengeschichte geht davon aus, diese Elemente in einen globalen geistesgeschichtli- chen Zusammenhang zu bringen, indem sie versucht, die grundlegenden Ideen, die die historische Entwicklung entscheidend bestimmt haben, thematisch ausgerichtet zu strukturellen Leitlinien der Darstellung zu machen.

Dies geschieht im Rahmen naturphilosophischer bzw. wissenschaftstheoretischer Analysen bezüglich der Entstehung und des Wandels physikalischer Begriffs-, Hypothesen- und Theorienbildungen vor dem Hintergrund sich wandelnder Weltbild- vorstellungen.

Dabei kommt der Einbeziehung ausgewählter Biographien und Originaltexte eine besondere Bedeutung zu. Mit ihnen wird die Historie lebendig, denn hier erscheinen die thematischen Leitlinien in persönlicher Perspektive und schicksalhafter Einge- bundenheit der großen Forscher in die geistigen Strömungen und Umbrüche ihrer Zeit, welche auch die metaphysischen Hintergrundüberzeugungen ihrer physikali- schen Überlegungen bestimmten. Besonders deutlich erkennbar ist dies bei Koperni- kus, Kepler und Galilei und nicht zuletzt bei der Entstehung der Relativitätstheorie und den Interpretationsproblemen einschließlich der Realismusdebatte der modernen Quantenphysik.

Eine signifikante thematische Leitlinie ist die Entwicklung der Materievorstellun- gen von den Anfängen bei den Vorsokratikern bis zur heutigen Elementarteilchen- physik und Kosmologie. In ähnlicher Weise wird beim historischen Diskurs der Raum- und Zeitvorstellungen der thematische Bogen von Aristoteles über Newton und Leibniz bis zur „gekrümmten Raumzeit" der Allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins gespannt.

Ebenso durchzieht als thematische Leitlinie die Aufstellung der fundamentalen Erhaltungssätze, die in ihrer historischen Wurzel philosophisch im genuinen Zusam- menhang mit der Bestimmung des Substanzbegriffs stehen, unsere Ideengeschichte.

In den heutigen physikalischen Theorien erkennen wir die Erhaltungssätze als Aus- druck von Symmetrien gegenüber Raum und Zeit bzw. als Eichsymmetrien.

Das mit der Genesis des Bewegungsbegriffs verbundene permanente Ringen um eine physikalisch tragfähige Trägheitsvorstellung von der griechischen Naturphiloso- phie über Newton bis Einstein eröffnet im historischen Kontext auch interessante denkpsychologische Einblicke in Facetten des naturwissenschaftlichen Denkens.

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Parallel zu diesen thematischen sind methodologische Leitlinien für die Strukturie- rung unserer Ideengeschichte konstitutiv. Dabei steht die Entwicklung der Methode der Physik im Mittelpunkt der Überlegungen. Als ein bedeutsames Instrument physi- kalischer Hypothesen- und Theorienbildung wird der erkenntnisleitenden Rolle von Analogien besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

Extremalprinzipien haben seit der Antike die Entwicklung des physikalischen Denkens nachhaltig bestimmt. In der Optik erscheinen sie als Fermats „Prinzip des kürzesten Lichtwegs", in der Mechanik seit Maupertuis als „Prinzip der kleinsten Wirkung", das nach seiner Weiterentwicklung durch Euler und Hamilton auch in der Elektrodynamik und Quantentheorie sich fruchtbar erwies. Dabei hat sich nach Auf- gabe der ursprünglichen metaphysischen Deutung der Extremalprinzipien (z.B. Leib- niz „Beste aller möglichen Welten") gezeigt, daß kausale und finale Formulierung der Naturgesetze mathematisch äquivalent sind.

Die thematische Strukturierung des Stoffes und der damit verbundene besondere Stil der Darstellung ist für einen breiten Leserkreis sicher interessant und nützlich.

Der bekannte Physiker und Physikhistoriker Max Jammer vertritt pointiert die Mei- nung, erst im historischen Kontext erschließe sich ein volles Verständnis der Physik.

In diesem Sinne kann die Physikgeschichte dem in Forschung und Lehre tätigen Physiker Perspektiven eröffnen, Physik nicht nur als Instrument der Naturbeherr- schung, sondern auch als ein höchst bedeutsames geistesgeschichtliches Ereignis zu sehen.

Studenten beklagen, daß sie in den „normalen" Lehrveranstaltungen davon kaum etwas erfahren. Diese Situation will unsere Ideengeschichte verbessern.

Vor allem in der Ausbildung der Lehramtskandidaten könnte eine Ideengeschichte ihr didaktisches Potential in besonderer Weise entfalten und dem späteren Physikleh- rer auch lernpsychologische Einsichten vermitteln hinsichtlich des individuellen Lernprozesses, in dem der Schüler gleichsam im Zeitraffertempo die vielen Lern- schwierigkeiten des historischen Lernprozesses der Physikergenerationen nachvoll- ziehen muß. Damit gewinnt der Physikunterricht auch mehr Farbe und innere Dyna- mik und Physik wird dann nicht bloß als Reduktion der Welt auf mathematische For- meln mißverstanden.

Die historische Entwicklung der modernen Physik kann ohne Kenntnis der Rolle der Mathematik bei der physikalischen Theorienbildung nicht voll verstanden werden.

Um jedoch die Darstellung auch für philosophisch und geisteswissenschaftlich orien- tierte Leser zugänglich zu machen, wird weitgehend auf längere mathematische Her- leitungen verzichtet. Ohne den Gesamtzusammenhang zu stören, können mathema- tisch formulierte Argumentationen auch beim ersten Lesen überschlagen werden, da ihre wesentlichen Ergebnisse zusammengefaßt auch verbal mitgeteilt werden.

Eine Ideengeschichte kann Brücken schlagen über die von C.P. Snow beklagte tiefe Kluft zwischen „literarischer und naturwissenschaftlicher Intelligenz" und ist somit als eine wesentliche Vorbedingung für ein volles Verständnis unserer Kultur anzusehen.

In diesem Sinne stellt der Physikhistoriker Bernhard Cohen heraus:

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„In der Geschichte der Niiturwissenschaften sehe ich eine Zusammenfassung aller schöpferischen Kräfte des Menschen und ein Mittel, mit dessen Hilfe die Wissenschaft ihre humanisierenden Fä- higkeiten wiedergewinnen kann, die sie so oft durch Abgleiten ins rein Formale verloren hat."

Dank gilt allen, die bei der Erstellung des Buches mitgeholfen haben.

Für die kritische Durchsicht von Manuskriptteilen mit wertvollen Hinweisen schulde ich Dank den Herren Prof. Dr. Karl-Heinz Lotze, Jena, Dr. Rainer Müller, München, Dr. Ralf Rath, Heidelberg und Prof. Dr. Walter Saltzer, Frankfurt.

Besonders zu danken habe ich meiner Frau Ingrid für sachkundiges Korrekturlesen und Frau Isolde Knopp, die mit großer Sorgfalt aus einem vielfach umgearbeiteten Manuskript eine druckreife Endfassung erstellt hat.

Gießen, im Juli 2001 Wilfried Kuhn

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1.

1.1 1.2 1.3 1.4

2. 1.5 2.1 2.2

Inhaltsverzeichnis

Das Weltbild der Antike Die Vorsokratiker

Platons Welt der Ideen Das aristotelische Erbe Die Ideen der Stoiker

Das Weltmodell des Ptolemäus Naturwissenschaften im Mittelalter

Rezeption von Platon und Aristoteles durch das Christentum Der Islam als Hüter und Vermittler des Wissens der Antike

1 1 12 16

25 27 40 40

2.3 Neue Denkrichtungen in der Scholastik 42 44

2.4 Reformierte aristotelische Dynamik 45

2.5 Fortschritte naturwissenschaftlichen Denkens der Übergangs- 51 zeit

3.

3.1 3.2 4.

4.1 4.2

4.3 4.4 5.

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 6. 6.1

6.2 6.3

7. 6.4

7.1 7.2

7.3 7.4

Astronomie der Neuzeit Die „Kopernikanische Wende"

Keplers „Harmonischer Kosmos" - „Astronomia nova"

Die Genesis der klassischen Physik Das mechanistische Konzept Descartes Galileis „Scienza nuova"

Huygens mathematisiert die Mechanik

Newtons „Philosophiae naturalis principia mathematica"

Analytische Mechanik Siecle des Lumieres Eulers Variationsrechnung

Extremalprinzipien von Fermat und Maupertuis

Die Bewegungsgleichungen von Lagrange und Hamilton Triumph des Determinismus, „deterministisches Chaos"

Stabilität

Entwicklungslinien der Optik Die Vorgeschichte

Die Vorstellungen Newtons von der Natur des Lichtes Die Huygenssche Lichttheorie

Wellentheorie des Lichtes bei Y oung und Fresnel Ladungen und Ströme

Geheimnisvolle magnetische Wirkungen Reibungselektrizität

Der „homo electrificatus"

Das Coulombsche Gesetz

54 54 85 116 116

132 181

212 250 250 251 255 260 - 263 268 268 270 274 278 287 287

290 294 296

(17)

7.5 Die Entdeckungen von Galvani und Volta 299

7.6 Oersteds „Elektrischer Konflikt" 303

7.7 Amperes Kraftgesetz 306

7.8 Ohms Gesetz der Stromleitung 316

8. Das elektromagnetische Feld 322

8.1 Die Ausgangssituation 322

8.2 Michael Faraday 324

8.3 Die Entdeckung der elektromagnetischen Induktion 326

8.4 James Clerk Maxwell 331

8.5 Die Maxwell-Theorie 333

8.6 Die Experimente von Heinrich Hertz 341

8.7 Die erkenntnisleitende Funktion von Analogien 343

9. Die Entwicklung der Thermodynamik 347

9.1 Was ist Wärme? 347

9.2 Der Wirkungsgrad von Dampfmaschinen 348

9.3 Das Wärmeäquivalent 351

9.4 Helmholtz: Prinzip der „Erhaltung der Kraft" 353

9.5 Die beiden Hauptsätze 355

9.6 Boltzmann: Entropie und Wahrscheinlichkeit 357

9.7 Philosophische Aspekte der Statistischen Thermodynamik 361

10. Relativität und Raumzeit-Struktur 365

10.1 Die Suche nach dem „Äther" 365

10.2 Die Beiträge von Lorentz und Poincare 368

10.3 Einsteins Lösung des Relativitätsproblems 371

10.4 Relativistische Elektrodynamik und Mechanik 376

10.5 Minkowskis vierdimensionale „Welt" 380

10.6 Einsteins Weg zur Allgemeinen Relativitätstheorie 386

10.7 Philosophische Implikationen 396

11. Quanten und Atome 400

11.1 Die Geburt der Quantenphysik 400

11.2 Atommodelle der klassischen Physik 409

11.3 De Broglies Idee der Wellennatur der Materie 421

12. Quantentheoretische Umdeutung der mechanischen Prinzi- 428 pien

12.1 Werner Heisenberg - Schüler von A. Sommerfeld, N. Bohr und 428 M. Born

12.2 Virtuelle Oszillatoren und Korrespondenzprinzip 431

12.3 Der mühsame Weg zur Matrizenmechanik 433

12.4 Heisenbergs Unschärferelation 436

13. Quantisierung als Eigenwertproblem 440

13.1 Erwin Schrödinger - rastloser Wanderer 440

13 .2 Von De Broglies Phasenwelle zu Schrödingers Wellenglei- 442 chung

13.3 Die opto-mechanische Analogie 444

(18)

13 .4 Die physikalische Deutung der \jf-Funktion 447

13.5 Relativistische Wellengleichungen 450

14. Deutungsprobleme der Quantenmechanik 453

14.1 Die Matrix-Welle - Kontroverse 453

14.2 Die Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik 456

14.3 Kritik an der Kopenhagener Interpretation 458

14.4 Quantenphysik und Wirklichkeit 465

15. Kosmologie 469

15.1 Historische Wurzeln der Kosmologie 469

15.2 Galaxienflucht - Hubble-Gesetz - „Urknall" 472 15.3 Kosmische Hintergrundstrahlung - „Echo des Urknalls" 475 15.4 Gravitation bestimmt die Entwicklung des Kosmos 477

15.5 „Inflationäres" Szenarium 485

15.6 Epochen in der Entwicklung des Universums 489

15.7 Epilog 492

Quellenangaben 498

Bildquellenverzeichnis 506

(19)

1 Das Weltbild der Antike

1.1 Die Vorsokratiker

Die Wurzeln unserer heutigen Physik reichen weit zurück in die Antike. Die grundle- genden Prinzipien der wissenschaftlichen Methodik, wie sie heute noch gelten, sind im alten Griechenland entdeckt worden, wobei jedoch die primäre Zielsetzung der damaligen Naturphilosophen nicht die Beherrschung der Natur war. Ihr Antrieb ent- sprang rein intellektueller Neugier.

Die Geburt der Wissenschaft vollzog sich im 6. vorchristlichen Jahrhundert bei dem bewundernswerten hellenischen Volk der Ionier an der Küste Kleinasiens. Dieses bedeutsame Ereignis ist jedoch nicht schlagartig in einem gleichsam luftleeren Raum aufgetreten, sondern in einer geistigen Atmosphäre, die von vorwissenschaftlichen Mythen und Schöpfungstheorien Griechenlands und alldem, was sich in den voraus- gegangenen Jahrhunderten in Mesopotamien und Ägypten an naturwissenschaftlichen Fakten angesammelt hatte, erfüllt war.

Die herausragende Leistung der Griechen besteht darin, diese verschiedenen Er- rungenschaften und Einzelheiten in einem System wissenschaftlichen Denkens zu- sammengefügt und daraus ein umfassendes Weltbild geformt zu haben.

Es ist der erste geniale Versuch einer Rationalisierung der Naturphänomene und ihrer Erklärung aus allgemeinen Prinzipien und Hypothesen.

Den ionischen Naturphilosophen - man bezeichnet sie als Vorsokratiker - genügt nicht mehr der bloße Augenschein der Phänomene. Man will die Ö.pX,at (archai), d.h.

die Ursprünge erkennen, um die Fülle der wechselnden Naturerscheinungen aus der Annahme einer einzigen Grundsubstanz bzw. aus einem nichtmateriellen, logischen Prinzip zu erklären. Im Rahmen dieses Konzeptes sieht man den Urgrund der Dinge nicht mehr in mythologischen, irrationalen Vorstellungen, personifiziert durch Götter, Geister und Dämonen, sondern im Vertrauen auf die Ratio in grundlegenden physika- lischen Prinzipien.

Diese bedeutsame epistemologische Wende kann wohl mit Recht als Sieg des Lo- gos über den Mythos charakterisiert werden, der in seiner ideengeschichtlichen Be- deutung vergleichbar ist mit der Befreiung der modernen Wissenschaft vom Joch der mittelalterlichen philosophischen Dogmatik.

Die neue Ära in der ideengeschichtlichen Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens ist gekennzeichnet durch:

1. Die Entmythologisierung, einhergehend mit einer Entpersonalisierung der Na- turphänomene.

2. Die Entwicklung einer wissenschaftlichen Sprache und Begriffbildung.

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

W. Kuhn, Ideengeschichte der Physik, DOI 10.1007/978-3-662-47059-6_1

(20)

3. Die Zurüc/iführung der Vielfalt der Erscheinungen auf wenige materielle oder immaterielle Ursachen bzw. logische Prinzipien.

4. Die Reduktion von Qualitäten auf Quantitäten.

5. Symmetriebetrachtungen.

6. Benutzung mechanischer Modelle und Analogien anstelle mythischer Allego- rien.

Da diese Prinzipien auch heute noch die Methode des wissenschaftlichen Denkens erkenntnisleitend bestimmen, ist es im Rahmen unserer ideengeschichtlichen Analyse von besonderer Bedeutung bis zu ihren Quellen in der Antike vorzudringen.

Dabei besteht jedoch die Gefahr, unsere heutigen Erkenntnisse unreflektiert in die frühen Epochen der Entwicklung hineinzuprojizieren. Zwar haben wir heute einen anderen Zugang und eine höhere Stufe in der Erfassung der physikalischen Wirklich- keit erreicht, doch die allgemeinen Prinzipien der Forschung sind gleich geblieben.

Eine Betrachtung der gemeinsamen Züge der Konzepte der Vorsokratiker und derje- nigen der heutigen Wissenschaft wird uns helfen, den eigentlichen Charakter der anti- ken griechischen Naturwissenschaft zu verstehen, wenn wir dabei auch die Grenzen der vergleichenden Betrachtungen aufzeigen, die durch die historisch bedingte ver- schieden geartete geistige Atmosphäre der Antike und der Neuzeit gesetzt sind.

1.1.1 Thales von Milet (ca. 620-546 v. Chr.)

Den Gedanken, die Vielfalt der Erscheinungen auf ein Grundprinzip zurückzuführen, verwirklicht Thales, indem er eine Substanz annimmt, „von der sich alle Dinge ablei- ten, während sie selbst erhalten bleibt". In dieser Aussage manifestiert sich bereits der enge Zusammenhang eines Urstoffes mit seiner Erhaltung. Für Thales ist dieser Urstoff das Wasser.

Aristoteles ist der Meinung, daß Thales aus biologischen Erwägungen das Wasser als Urstoff angesehen hat. Alle Nahrungsmittel enthalten Wasser und alle Samen sind feucht. Weiterhin geht Aristoteles davon aus, daß trotz des rationalen Ansatzes hin- tergründig auch noch mythologische Gedanken mitgespielt haben, da ja in der grie- chischen Mythologie der Ozean der Vater aller Dinge sei. Andererseits gibt es sicher auch physikalische Gründe. Wasser ist der einzige Stoff, der den Menschen von al- tersher in den drei Aggregatzuständen fest, flüssig, gasförmig bekannt war.

Wie man diese Deutungen auch immer bewerten mag, kein Zweifel kann jedoch hinsichtlich der fundamentalen Tatsache bestehen, daß wir es bei Thales mit einem Prinzip zu tun haben, das mit einem Minimum an Hypothesen ein Maximum an Phä- nomenen erklären will. Wie in unserer heutigen Wissenschaft handelt es sich bereits hier um einen ersten Versuch, unterschiedliche Erfahrungen aus einer gemeinsamen Wurzel herzuleiten. Eine ähnliche geniale Vereinfachung und Zusammenschau wurde auf einer höheren abstrakten Ebene erreicht, als es Newton gelang, das Fallen eines Apfels und die Bewegung des Mondes um die Erde aus dem grundlegenden Gravita- tionsgesetz herzuleiten.

2

(21)

1.1.2 Anaximander (611-545 v. Chr.)

Im Gegensatz zu Thales geht Anaximander nicht von Erfahrungen bzw. unmittelbaren Anschauungen aus, sondern er postuliert als Grundsubstanz der Welt ein immateriel- les Prinzip, d.h. einen Urstoff mit völliger Attributlosigkeit. Er nennt ihn Um:tpov (apeiron), d.h. das Grenzenlose oder Unbestimmte. Die Überlieferung schreibt Ana- ximander den Satz zu:

„Woraus aber das Werden dem Seienden ist, da hinein geschieht auch sein Vergehen gemäß der Schuldigkeit, denn sie zahlen einander Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Ord- nung der Zeit." 1)

Hier wird erstmalig eine Gesetzmäßigkeit für Entstehen und Vergehen der Dinge ausgesprochen. Vergehen wird als „Buße" verstanden, die für Kommendes gezahlt werden muß. Alles Seiende hat eine zeitliche Dauer, um dann wieder in das Apeiron zurückzukehren. Dann beginnt der Zyklus wieder von neuem. Die Idee, daß das Apei- ron ein unendliches, selbst qualitätsloses Reservoir für permanente zyklische Mutati- onen ist, die gewisse Seinsqualitäten hervorbringt und ihnen Entgegengesetztes zer- stört, hat ein gewisses Analogon in der heutigen Theorie der Grundkräfte der Natur.

Nach dieser Theorie entstehen die Grundkräfte der Natur, die elektromagnetische Kraft, die schwache Wechselwirkung, die starke Wechselwirkung (Farbkraft) und die Gravitationswechselwirkung durch „Symmetriebrechungen" aus dem „GUT- Material", d.h. dem unspezifischen Substrat der Grand Unified Theorie.

Die „Buße", welche die heutigen Elementarteilchenphysiker für eine diese Sym- metriebrechung rückgängig machende „Vereinigung" der Grundkräfte zu zahlen ha- ben, sind die gewaltigen Aufwände an Energie in den Hochenergielabors.

Dieser Vergleich ist gewagt, und es gilt für ihn grundsätzlich das, was wir ein- gangs hinsichtlich des Hineinprojizierens heutiger physikalischer Konzepte in Denk- ansätze der Vorsokratiker festgestellt haben. Diese Denker hatten geniale Ideen, aber es war ihnen nicht möglich, diese - im Gegensatz zu den heutigen experimentell ar- beitenden Elementarteilchenphysikern - empirisch zu überprüfen. Auch überschätz- ten sie die Kraft ihrer abstrakten Entwürfe, so daß sie eine derartige Überprüfung auch nicht für nötig hielten.

Andererseits lehrt uns aber die vergleichende ideengeschichtliche Betrachtung, daß bestimmte Grundgedanken des naturwissenschaftlichen Denkens thematisch die Entwicklung der Physik von den Vorsokratikern bis heute motiviert und katalysiert haben. Wir werden im folgenden weitere Beispiele dafür kennenlernen.

1.1.3 Anaximenes (585-525 v. Chr.)

Dieser dritte der ionischen Naturphilosophen kehrt hinsichtlich des Urstoffes zum Standpunkt des Thales zurück, indem er nun statt des Wassers die Luft, d.h. einen qualitativ bestimmten Stoff, annimmt. Feuer, Wasser, Wolken, Wind, Erde, Steine stellen für Anaximenes verschiedene Verdichtungsgrade des Urstoffes Luft dar. Aus diesen Stoffen entstehen dann alle übrigen. Auch das „Kalte" als ein sich „zusam- menziehendes" und das „Warme" als ein „Schlaffes" werden in dieses Erklärungs-

3

(22)

schema mit einbezogen. Der Mensch erscheint darin als Zusammensetzung aus Luft verschiedener Verdichtungsstufen, wobei die Seele - als äußerste Verdünnung ange- sehen - ihn zusammenhält.

Luft, Geist und Seele werden von Anaximenes synonym gebraucht. Dies hat in der weiteren Entwicklung der griechischen Philosophie eine wesentliche Rolle gespielt, indem das Wort Pneuma (nviܵa), das im Griechischen auch Hauch oder Atem be- deutet, in der physikalischen Terminologie der Stoiker eine semantische Erweiterung erfuhr im Sinne eines den ganzen Kosmos durchdringenden subtilen Stoffes, in dem wir cum grano salis eine Art Vorläufer des späteren „Ätherbegriffes" sehen können.

Die ionischen Naturphilosophen sehen Bewegung als eine elementare Gegebenheit an, die keiner weiteren Erklärung bedarf: Alles entsteht durch Verdichtung und Ver- dünnung der Luft, jedoch die Bewegung besteht von Ewigkeit her.

Dieser Satz kennzeichnet in besonderer Weise das physikalische Konzept von Anaximenes. Durch Bewegung wird Qualität auf Quantität zurückgeführt. In diesem Prinzip erkennen wir den Höhepunkt der gedanklichen Leistungen der Vorsokratiker.

Der Weg von ihren genialen spekulativen Ansätzen bis zu den Konzepten unserer heutigen Physiker ist sehr weit, jedoch das Prinzip ist dasselbe.

1.1.4 Heraklit (ca. 544-483 v. Chr.)

Ähnlich wie Anaximander versucht Heraklit den geordneten Kosmos aus einem Ur- prinzip heraus zu erklären. Dieses Prinzip ist für ihn der A.oyo~ (logos). Dieser be- wirkt die gesetzliche Ordnung des Kosmos. Über die „Weltordnung" ist uns von He- raklit die Aussage überliefert:

„Diese Weltordnung, dieselbe für alle Wesen, schuf weder einer der Götter noch der Mensch, sondern sie war immer dar und ist und wird sein ewiges Feuer erklimmend nach Maßen und erlö- schend nach Maßen. "2)

Dies sind typisch ionische Gedanken:

Die Welt wird nicht von Göttern und Dämonen regiert, sondern vom Logos. Der Urgrund der Welt ist beständig, ein sich ewig Gleichbleibendes.

Heraklits Aufmerksamkeit ist vorwiegend gerichtet auf den dauernden Wandel, dem alles Seiende unterworfen ist. Ihm wird der Ausspruch zugeschrieben: n&vm

~Et (Alles ist im Fluß). Deshalb meint Heraklit, das einzige, was wirklich ist, sei der Wandel selbst: Sein ist Wandel.

In diesem Sinne ist das Flußgleichnis zu verstehen:

„In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und sind nicht" .3)

Es ist im Fluß immer ein anderes Wasser, das gerade vorbeiströmt. Deshalb bleibt der Fluß sich keinen Augenblick gleich. Immer ist er im Entstehen, aber trotzdem haben wir den Eindruck, der Fluß sei etwas Beständiges. Wenn es auch kein wirkli- ches Sich-selbst-Gleichbleiben, keine wirkliche Ruhe gibt, die sinnliche Wahrneh- mung täuscht sie uns vor. Dieser Schein muß nun aber nach Heraklit auf etwas beru- hen.

4

(23)

Deshalb sucht er nach einem Seinsgrund, dem die beiden Aspekte - scheinbares Gleichbleiben und die Wirklichkeit des permanenten Wandels zukommt.

Dieser weltgestaltende Logos veranschaulicht sich für ihn symbolisch im Feuer;

denn Feuer bleibt in keinem Augenblick gleich, immer ist es im Wandel begriffen, stets wird es aus neuem Brennstoff gespeist, auch wenn es dem Schein nach immer dasselbe bleibt.

Bei diesem Gleichnis darf man den heraklitischen Urstoff „Feuer" nicht zu wört- lich verstehen, wie dies in der späteren Tradition mißverstanden wird. Das Feuer ist bei Heraklit nur eine sinnliche Veranschaulichung des Abstrakten.

Mit dieser Einschränkung können wir Heisenbergs Interpretation zustimmen:

„Wir können an dieser Stelle einfügen, daß die moderne Physik in einer gewissen Weise der Leh- re des Heraklit außerordentlich nahekommt. Wenn man das Wort „Feuer" durch das Wort „E- nergie" ersetzt, so kann man Heraklits Aussagen fast Wort für Wort als Ausdruck moderner Auf- fassung ansehen." 4)

1.1.5 Parmenides (ca. 520-470 v. Chr.)

Der heraklitischen Auffassung genau entgegengesetzt ist diejenige des Parmenides. Er gehörte zur Schule der Eleaten, benannt nach der süditalienischen Stadt Elea. Wenn Heraklit das Wesen des Seins im Wandel sieht und Ruhe nur Schein ist (Flußgleich- nis ), vertritt Parmenides genau den umgekehrten Standpunkt: Die Wirklichkeit ist unveränderlich und jede Veränderung nur Schein.

Während Heraklit dem Zeugnis der Sinne besonderes Gewicht gibt, spricht Par- menides der sinnlichen Wahrnehmung jegliche Bedeutung ab. Für ihn ist das Denken das einzige zuverlässige Kriterium der Welterfahrung.

Sein ist Denken.

Logos ist für Parmenides - nun anders als bei Heraklit - nicht mehr Ausdruck des geordneten Kosmos, sondern „logisches", vernünftiges Denken. Als solches ist es dadurch charakterisiert, daß es stets auf Seiendes ausgeht. Nur Seiendes ist, das Nichts dagegen existiert nicht und kann daher auch nicht gedacht werden.

Er sagt: „Dasselbe ist Denken und Sein".

Wenn aber nur das Seiende wirklich ist, und es allein gedacht werden kann, dann hat dies zur Folge, daß dem Seienden Veränderung wahrhaft nicht zukommt. Die Argumentation des Parmenides ist in sich logisch: Veränderung wäre ein Übergang vom Sein zum Nicht-Sein. Da nun aber das Nicht-Sein nicht existiert, kann es auch kein Werden, keine Veränderung in Wirklichkeit geben. Dementsprechend ist Sein ein Unwandelbares und „Eines". Der Schein von Entstehen und Vergehen, den uns die Sinne vorgaukeln, beruht nach Parmenides darauf, daß die Menschen widersinnig auch Nicht-Seiendem ein Sein zugestehen. Er sagt:

„Mit Namen haben die Menschen gesetzt Entstehen sowohl als auch Vergehen, Sein sowohl als Nicht-Sein und Wechsel des Ortes und Veränderung der leuchtenden Farbe - so als sei dies alles etwas."5)

5

(24)

Auch die Vielheit des Seienden ist ein Trugbild der Sinne. Wieder argumentiert er ganz logisch: Sein ist Eins. Damit Vielheit sein könnte, müßte es etwas geben, was das Eine Sein trennt, d.h. Vielheit aus der Einheit erzeugen müsse. Dies kann jedoch nicht das Sein selbst sein. Was aber nicht Sein ist, existiert nicht.

Die Vielfalt des Seienden versinkt vor dem Logos in Schein, den uns die Sinne als Trugbild vermitteln.

In diesen Überlegungen des Parmenides sehen wir den Versuch, naturphilosophi- sche Probleme durch Reflexion über Sprache und Begriffsbildung anzugehen.

Dieser Ansatz begegnet uns später bei Aristoteles und in ähnlicher Weise wieder bei den philosophischen Interpretationsproblemen der Quantenphysik. Auch der so- genannte Intelligibilitätsgrundsatz, daß nur dasjenige existieren kann, was man durch den Verstand begreifen kann, d.h. „intelligibel" ist, hat in der Entwicklung der Na- turwissenschaften eine fundamentale Rolle gespielt. Soll nämlich unser Denken über die Dinge einen Sinn haben, dann muß dieses Denken auf die „Wirklichkeit" gerich- tet sein.

Für Parmenides ist das Seiende, das ~v ein „Eins", ein „Ganzes", „unbeweglich"

und „begrenzt einer Kugel gleich". Der heraklitischen Idee des Werdens stellt Par- menides diametral die des Seins im Denken gegenüber, indem er die ganze materielle Welt als

ö6sa

(Trugbild) erklärt. Es wird damit deutlich, wie Parmenides von den Möglichkeiten des logischen Denkens fasziniert, Sein und Denken gleichsetzt.

Damit scheint einer empirischen Naturwissenschaft vorerst der Boden entzogen zu sem.

Trotzdem war die Grundidee für das theoretische Konzept der späteren Entwick- lung der Naturwissenschaften nicht ohne Bedeutung; denn sie enthält die grundlegen- de Idee, daß hinter dem Wandel der Erscheinungen etwas unverändert und erhalten bleibt. In diesen Überlegungen können wir in nuce das für die Naturwissenschaften fundamentale theoretische Konzept der Erhaltungssätze erkennen.

Das Weltbildkonzept des Parmenides, in dem die Wirklichkeit als zeitlos und un- veränderlich angesehen wird, hat in der heutigen Kosmologie eine überraschende Idee geboren. Als solche ist wohl der Versuch von Stephen Hawking anzusehen, mit einem mathematischen Modell das Problem des Anfangs des Universums (Urknall) formal zum Verschwinden zu bringen. Dabei huldigt er mutatis mutandis dem Grundsatz des Parmenides „Sein ist Denken". Für uns erhebt sich jedoch die Frage, in welchem Sinne ein formales mathematisches Modell mit der Einführung einer „imaginären Zeit" eine weltbildkonstituierende Relevanz haben kann.

1.1.6 Empedokles (ca. 500-430 v. Chr.)

Dieser ionische Naturphilosoph versucht, zwischen den beiden entgegengesetzten Positionen des Heraklit und Parmenides zu vermitteln.

Ein wichtiger Kompromiß besteht darin, daß Empedokles anstelle des einen unver- änderlichen monistischen Seins bei Parmenides zwar nicht wieder eine Vielheit von Seienden, jedoch vier „Wurzeln" der Dinge zuläßt. Bildlich gesehen zerteilt er die Seins-Kugel des Parmenides in die vier cn:o1xs1a (stoicheia =Elemente):

6

(25)

Feuer, Wasser, Luft und Erde.

Aus ihnen ist alles in der Welt zusammengesetzt. Die Vielfalt der Welt, d.h. die Verschiedenheit der stofflichen Dinge enthalten diese „Elemente" in unterschiedli- cher Zusammensetzung. Diese kann sich ändern durch / µ1~ti; (Mischung) und

ötaA-A-a~ti; (Austausch) der Anteile der „Wurzeln". Das verleiht den Dingen unter- schiedliche Qualitäten.

Es ist zu vermuten, daß Empedokles den ständigen Austausch der vier „Elemen- te", mit dem der Wandel des Seienden erklärt wird, mit dem Austausch unsichtbarer

„Teilchen" in Zusammenhang brachte, um so qualitative Veränderungen in quantita- tiver Art auf deren Bewegung zurückzuführen. Bewegungsursache des Vereinigens und Abstoßens sind die beiden Grundmächte cptlcta (Liebe) und YEtXo<; (Haß). Diese

„Mächte" dürfen wir jedoch nur sehr bedingt als „Kräfte" in unserem heutigen Sinne interpretieren. Sie sind Manifestationen göttlicher Wesenheiten, die den Dingen inhä- rent sind und nicht als Wechselwirkungskräfte zwischen den Teilchen fungieren.

Deshalb ist große Vorsicht geboten, Empedokles als Begründer einer „Atomistik"

anzusehen. Ebenso wie bei dem heraklitischen „Feuer" dürfen wir auch die „Elemen- te" des Empedokles nicht zu wörtlich als Feuer, Wasser, Luft und Erde uns vorstel- len. Sie sind mehr als „Wurzeln" in symbolhafter Weise, als Ausdruck von vier Gott- heiten zu verstehen. Diese vier Gottheiten sind Ausfluß der pythagoräischen Traditi- on, in der Vier als heilige Zahl galt.

Der im Vergleich zu den früheren Ansätzen neue Gedanke bei Empedokles besteht darin, daß der Bewegungsantrieb den Dingen nicht mehr wegen ihrer Allbeseeltheit inhärent ist. Das Bewegtwerden durch „Mächte" wird begrifflich von den Teilchen unterschieden.

1.1.7 Anaxagoras (ca. 500-428 v. Chr.)

Der weitere Ausbau der Lehre des Empedokles erfolgt durch Anaxagoras. Statt der vier Elemente des Empedokles nimmt er eine Vielheit von qualitativ unveränderli- chen Urstoffen an. Dem entsprechen viele ungleiche Teilchen, die Anaxagoras crnspµa·m (Keime oder Samen) der Dinge nennt. Sie sind ewig und unveränderlich.

Indem er so erstmalig im rein materialistischen Sinne „Materie" als einen unbe- seelten Stoff denkt, gerät er in Widerspruch zu seinen Zeitgenossen. Trotz seiner Freundschaft zu Perikles wird er aus Athen verbannt, weil er die Sonne als „glühen- den Klumpen" bezeichnet und ihr göttliches Wesen bestritten hat. Nach Anaxagoras wird diese materielle Welt von dem voüi; (Geist) regiert. Als bewegendes und gestal- tendes Prinzip schafft dieser aus dem Chaos den geordneten Kosmos.

Damit lehrt Anaxagoras als erster einen „Dualismus" von Geist und Materie. Der Geist ist das tätige und die Materie das werdende Prinzip. Der hier gemachte prinzi- pielle Unterschied zwischen dem ordnenden vo'0i; und der geistigen Ordnung bedürf- tigen Materie hat in der ideengeschichtlichen Entwicklung des naturphilosophischen Denkens eine besondere Rolle gespielt. Während bei Anaximander noch nicht deut- lich wird, wie das Apeiron in die beiden Qualitäten heiß und kalt aufspaltet, schreibt Anaxagoras dem votSi; die Fähigkeit zu, eine innere Rotationsbewegung des Urstoffes

7

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zu bewirken. Eine Fortsetzung dieses Gedankens finden wir in der Neuzeit bei Kant und Laplace in ihrer Kosmogonie des Sonnensystems. Auch die Atomisten Leukipp, Demokrit und Epikur gingen bereits in der Antike davon aus, daß der Materie im Ur- zustand ein konstanter Drehimpuls inhärent sei.

1.1.8 Leukipp und Demokrit (Anf. 5. Jahrh. v. Chrs., ca. 460-400 v. Chr.)

Die Konzepte des Empedokles und Anaxagoras werden durch Leukipp aus Milet und Demokrit von Abdera weiter ausgebaut und verändert.

Parmenides hatte die Veränderung der Phänomene als Schein bezeichnet. Anaxa- goras wollte die Veränderung durch die Einführung einer Vielheit von qualitativ ver- schiedenen Grundstoffen retten, indem er die Veränderung durch Austausch und Mi- schung dieser erklärte.

Leukipp und Demokrit gehen das bei Parmenides unbefriedigend behandelte Prob- lem der Veränderung neu an.

Sie versuchen den „Schein" zu erklären.

Ihre Vorgehensweise ist sehr bedeutsam für die weitere Entwicklung der Naturphi- losophie. Einerseits greifen sie die Idee des Parmenides von der quantitativen Einheit des Seins in unveränderter Form wieder auf, indem sie zwar die Seins-Kugel des Parmenides zerstückeln, aber jedem „Teilchen" ein verkleinertes vollkommenes Bild des parmenideischen „Seienden" zuerkennen.

Dieser Lösungsversuch des parmenideischen Dilemmas unterscheidet sich wesent- lich von dem des Anaxagoras. Dieser hatte im Unterschied zu den vier Elementen des Empedokles eine Vielheit von qualitativ verschiedenen Teilchen (amfpµcx:m.), die er sich als unendlich klein vorstellte, angenommen. Die „Teilchen" Demokrits - das ist der wesentliche Unterschied - haben selbst keine qualitativen Eigenschaften. Sie sind

~toµa,

d.h. unteilbar. Die „Atome" sind unveränderlich, unvergänglich und unter- scheiden sich nur in Gestalt und Größe. Sie bewegen sich im All in einem Wirbel und erzeugen so die Zusammensetzungen Feuer, Wasser, Luft, Erde; denn auch diese sind Zusammensetzungen von bestimmten Atomen.

„Alles entsteht aufgrund der Notwendigkeit, wobei die Wirbelbewegung Ursache alles Werdens ist, die er als Notwendigkeit bezeichnet „." berichtet Diogenes Laerti- us über die Lehre des Demokrit.

Da Leukipp und Demokrit Qualitäten und die Veränderung durch ihre Form (µopq:>~) und Lage (S{m<;) der Atome erklären wollen, benötigten sie als Gegenstück zum Atom, dem absolut ,,Vollen" (nA.fJps<;), einen zweiten Grundbegriff, das Vaku- um (nvov), den unbegrenzten leeren Raum. In diesem leeren Raum, der hier das Konzept des späteren newtonschen und huygensschen Raumes vorausprojiziert, be- wegen sich die Atome nach unabdingbaren Gesetzen von „Notwendigkeit"

(dvdyKYj).

Dies steht in flagrantem Gegensatz zu Parmenides, nach dem das „Leere" als Nicht-Seiendes nicht sein kann. Von grundsätzlicher Bedeutung ist weiterin, daß die rein materialistische Konzeption Leukipps nicht mehr den voÜ<; des Anaxagoras, der als weltordnender Geist Entstehen, Vergehen und alle Veränderung ordnet, benötigt.

8

(27)

Vergleichen wir die Konzepte von Leukipp und Demokrit bzw. Empedokles und Anaxagoras, dann sehen wir, daß sie alle in der Konfrontation mit dem Grundgedan- ken des unveränderlichen Seins des Parmenides entstanden sind. Seine Grundauffas- sung wird jedoch in verschiedener Weise von ihnen verändert. Die absolute Einheit des Seins muß aufgegeben werden, um die von den Sinnen wahrgenommene Verän- derung erklären zu können. Sie wird auf Trennung und Vermischung verschiedener, entweder mit Qualität behafteter Seins-Elemente (Anaxagoras) oder auf die Bewe- gung qualitätsloser Atome (Leukipp und Demokrit) zurückgeführt. Empedokles blieb dabei der Empirie am nächsten. Die Auffassungen des Leukipp und Demokrit sind spekulativ. Sie können jedoch als ein Programm der Naturforschung angesehen wer- den, das erst viele Jahrhunderte später an der Erfahrung geprüft werden konnte. Die Grundidee, die Vielfalt der Phänomene auf die Verhaltensweisen der elementaren Bausteine der Materie zurückzuführen, konnte erst zu einem praktikablen For- schungsprogramm werden, nachdem es gelungen war, die atomaren Wechselwirkun- gen nicht nur zu postulieren, sondern sie einer quantitativen mathematischen Analyse zuzuführen.

Das reduktionistische Programm besteht darin, makroskopisch in Erscheinung tre- tende Qualitäten durch Wechselwirkungen auf atomarer Ebene zu deuten.

„Nur der Meinung nach" sagt Demokrit, gibt es süß, nur der Meinung nach bitter, warm, kalt, nur der Meinung nach Farbe, in Wahrheit gab es nur Atome und leeren Raum (überliefert bei Sextus Empiricus, Adversus mathematicos, 7, 135). Wie wir aus den anderen Quellen erfahren, gibt es verschiedene Atomformen, welche die makroskopischen Eigenschaften der Stoffe verursachen. Die Atome sollen Haken, Höcker, Ausbuchtungen und Verzahnungen haben, sowie rund oder eckig sein kön- nen, um die Qualitäten z.B. hart, weich, flüssig u.a. erklären zu können. Auf die ein- zelnen Atomformen werden auch bestimmte Geschmacksempfindungen und Farbwir- kungen zurückgeführt. Im Detail mag es uns heute naiv erscheinen, die Qualität süß mit runden und sauer mit eckigen Formen erklären zu wollen.

Die Grundidee des Konzeptes, Qualitäten der Makroebene mit Konfiguratonen und Mechanismen auf der Mikroebene zu erklären, ist die gleiche, die wir in der heu- tigen Festkörperphysik erkennen, wenn man z.B. Körperfarben mit Hilfe des Bän- dermodells, d.h. einem atomaren Wechselwirkungsmechanismus erklärt.

Wie wir aus einigen überlieferten Mitteilungen wissen, waren die Überlegungen Leukipps und Demokrits nicht rein spekulativer Natur, herausgefordert durch das Dilemma des Parmenides, sondern sie haben teilweise auch einen gewissen empiri- schen Hintergrund. Demokrit soll versucht haben, das „Leere" in der Materie mit einem aschegefüllten Gefäß nachzuweisen, welches fast gleichviel Wasser aufnehmen kann wie ein leeres. In der medizinischen Literatur wird z.B. durch Lukrez berichtet, daß Demokrit zur Erklärung der unsichtbaren Verflüchtigungen von Substanzen und Gerüchen und ebenso zur Erklärung des Sehvorgangs atomistische Vorstellungen herangezogen habe. Als besonderer Hinweis auf die Existenz von Atomen wird auch die Dialyse von Salzwasser erwähnt. Man kann nach Demokrit Salzwasser zu Süß- wasser filtrieren, weil die Membran (ein in Salzwasser eingetauchtes Gefäß aus Wachs) das Salz,das aus großen und eckigen Atomen bestehen soll, nicht durchläßt.

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