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Das Fremde als Argument

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Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen 7

Das Fremde als Argument

Identität und Alterität durch Fremdbilder und Geschichtsstereotype von der Antike bis zum Holocaust und 9/11 im Comic

Bearbeitet von Oliver Näpel

1. Auflage 2011. Buch. XXIV, 836 S. Hardcover ISBN 978 3 631 61149 4

Format (B x L): 14,8 x 21 cm Gewicht: 1220 g

Weitere Fachgebiete > Geschichte > Kultur- und Ideengeschichte

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Einführung

Die Buchreihe, in der dieser Band erscheint, trägt den Titel »Die Deutschen und das östliche Europa«. Sie versammelt Studien und Quellen zu den Beziehungen zwischen den Deutschen bzw. Deutschland und dem östlichen Europa, also den dortigen Län- dern, Nationen, Staaten, Gesellschaften und Menschen. Dass zu dieser Beziehungs- geschichte auch die wechselseitigen stereotypen Vorstellungen und Bilder gehören, darf als selbstverständlich gelten, ja die Wahrnehmungsgeschichte schält sich immer mehr als eine der wichtigsten Komponenten jeglicher Beziehungsgeschichte heraus;

Wahrnehmung begleitet nicht nur die politischen, militärischen und ökonomischen Beziehungen, sondern geht ihnen nicht selten voraus. Stereotypen und Bilder von

›den Anderen‹ sagen zwar wenig, oft sogar gar nichts über die Realität ›der Anderen‹

aus, aber sehr viel darüber, wie sie wahrgenommen werden, und damit über die Be- ziehungen zu ihnen.

Der vorliegende, als Dissertation an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster entstandene Band befasst sich mit ›gezeichneten‹ Stereotypen, und zwar in der Son- derform des Comics. Sein Autor untersucht an einer Fülle konkreter Beispiele die Ste- reotypisierung ›der Anderen‹ im gezeichneten Bild. Auch wenn Osteuropa nicht im Mittelpunkt der Überlegungen und angeführten Beispiele steht, so nehmen die He- rausgeber diesen wertvollen Band doch mit Freude in die Reihe auf, werden hier doch sehr grundsätzliche Probleme (nicht nur methodischer Art) behandelt, die ebenfalls für das Verhältnis zu und die Wahrnehmung und Stereotypisierung von Osteu ropa von höchstem Belang sind. Das betrifft in besonderer Weise den Zusammenhang von Stereotyp und Geschichte.

Die Stereotypenforschung beschäftigt sich – und da stellt die von uns betriebene Hi- storische Stereotypenforschung keine Ausnahme dar – vor allem mit Stereotypen, die sprachlich zum Ausdruck gebracht werden, ja neben der Soziologie war es vor allem die Linguistik, die in Deutschland am Anfang der Beschäftigung mit dem Phänomen Stereotyp stand.1 Zwar finden sich in der einschlägigen Literatur immer wieder Hin- weise auf die Karikatur als zeichnerische Ausdrucksform von Stereotypen, ohne dass dies aber bisher zu grundlegenden Untersuchungen von Karikaturen als Stereotypen- trägern geführt hätte. Allerdings macht man es sich mit einer simplen Dichotomie von Sprache und Bild als möglichen Ausdrucksformen von Stereotypen zu einfach.

1 Uta Quasthoff: Soziales Vorurteil und Kommunikation – eine sprachwissenschaftliche Analyse des Stereotyps. Ein interdisziplinärer Versuch im Bereich von Linguistik, Sozialwissenschaft und Psychologie. Frankfurt a.M. 1973.

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VI Einführung

Stereotypen können auch in ›Wortbildern‹ wiedergegeben werden, und zwar entwe- der mit einfachen Metaphern oder auch mit so genannten ›narrativen Stereotypen‹.2 Eine Schilderung mag sich sehr sachlich geben wie die folgenden Ausführungen He- gels über die Geschichte Osteuropas und der dort lebenden Slawen:

»Wir finden nun außerdem im Osten von Europa die große slawische Nation, deren Wohnsitze sich im Westen der Elbe entlang bis an die Donau erstreckten;

sie ist über Österreich, Kärnten, Krain, Steiermark verbreitet. Alle diese Völker werden im 8. Jahrhundert den Avaren untertan, deren Hauptsitze in den Ebe- nen zwischen der Donau und Theiß begründet werden. Zwischen sie hinein ha- ben sich dann die Magyaren (Ungarn) gelagert und die Avaren verdrängt. In der Moldau und Walachei und dem nördlichen Griechenland sind die Bulgaren, Serben und Albanesen ebenso asiatischen Ursprungs und in den Stößen und Ge- genstößen der Völkerschaften hier als gebrochene barbarische Reste geblieben.

Es haben zwar die Völkerschaften Königreiche gebildet und mutige Kämpfe mit den verschiedenen Nationen bestanden; sie haben bisweilen als Vortruppen in den Kampf des christlichen Europas und des unchristlichen Asiens eingegriffen, die Polen haben sogar das belagerte Wien von den Türken befreit, und ein Teil der Slawen ist der westlichen Vernunft erobert worden. Dennoch aber bleiben sie aus unserer Betrachtung ausgeschlossen, weil sie ein Mittelwesen zwischen europäischem und asiatischem Geiste bilden, und weil, obgleich sie vielfach in die politische Geschichte von Europa verflochten sind, ihr Einfluß auf den Stufengang der Fortbildung des Geistes nicht tätig und wichtig genug ist. Diese ganze Völkermasse ist bisher nicht als ein selbstständiges Moment in der Reihe der Gestaltungen der Vernunft in der Welt aufgetreten.«3

Das klingt zunächst wie von wenigen Werturteilen begleitete sachliche Ausführungen über die geographische Ausbreitung der osteuropäischen Völker. Aber man kann die- sen Text auch als eine Serie von Bildern lesen. Welch ein Zeichner von Comics würde nicht Freude an den Porträts von avarischen Herrschern oder lagernden Magyaren, von Stößen und Gegenstößen der Völkerschaften, asiatischen Geistern oder amor- phen barbarischen Resten haben? Spätestens bei der eigenartigen Konstruktion der Slawen als »Mittelwesen zwischen europäischem und asiatischem Geiste« läuten dem Stereotypenforscher alle Alarmglocken, zumal wenn vorher einige von Ethnogenese

2 Siehe dazu die in dieser Reihe erschienene Arbeit von Beata Dorota Lakeberg: Die deutsche Minderheitenpresse in Polen 1918-1939 und ihr Polen- und Judenbild. Frankfurt a.M. u.a.

2010 (Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen 6), hier vor allem S. 23f.

3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte [1822/23]. Zweite Hälfte, Band IV: Die germanische Welt. Hamburg 1988, S. 779.

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Einführung VII und Sprache höchst unterschiedliche Völker als »asiatischen Ursprungs« und »gebro- chene barbarische Reste« bezeichnet werden. Die mit nichts begründete Assoziation von ›Asien‹ und ›Barbaren‹ dient hier vor allem als Rechtfertigung eines schwerwie- genden Urteils, ohne dass unser Philosoph auch nur rudimentäre Geschichtsbilder bemühen muss.

Knapp ein Jahrhundert später malte der aus dem Baltikum stammende einflussreiche Imperialist Paul Rohrbach mit seinem Vokabular noch erschreckendere Osteuropa- bilder aus:

»Im Osten lag Rußland unter der Herrschaft der Mongolen. Dort bildete sich durch das Emporkommen des Großfürstentums Moskau, das die übrigen Teil- fürstentümer aus der Nachkommenschaft Ruriks beseitigte, der russische Ein- heitsstaat. Aber unter dem Einfluß des Asiatentums verschmolzen die Reste der frühen slawisch-normannisch-byzantinischen Kultur mit der durch das Mon- golenjoch heraufgeführten Barbarei zu einem Gebilde, das kaum noch Züge der Verwandtschaft mit dem Abendlande an sich trug. Die Kirchentrennung war dabei das Entscheidende: Die Ungarn, die nicht einmal indogermanischer, son- dern mongolischer Herkunft waren, und die Polen, die abendländisch-germa- nischen Einfluß nicht wie die russischen Slawen durch die Blutmischung mit den Normannen erfuhren, sonder gleich den Ungarn durch die Nachbarschaft der Deutschen, wurden Glieder der abendländischen Staatengemeinschaft, weil sie der katholischen Kirche angehörten. Die Russen dagegen wurden oder blie- ben Barbaren, weil sie von dem sich auflösenden byzantinischen Reiche her weder kirchliche noch sonstige kulturelle Gegenwirkungen gegen ihre Unterta- nenschaft unter die asiatischen Nomaden erfahren konnten.«4

Die Assoziationen zwischen ›Slawen‹ und ›Barbaren‹ verselbstständigten sich im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, ja sie fanden zunehmend Eingang in politische Debatten. So hat beispielsweise niemand anderer als Theodor Mommsen im Zuge der alldeutschen Unruhen um die Badenischen Sprachverordnungen von 1897 das Barbarenstereotyp für die Slawen zum Anlass einer recht drastischen Aufforderung an die Deutschen in Österreich genommen:

»Und nun sind die Apostel der Barbarisierung am Werke, die deutsche Arbeit eines halben Jahrtausends in dem Abgrunde ihrer Uncultur zu begraben... Seid hart! Vernunft nimmt der Schädel der Czechen nicht an, aber für Schläge ist auch er zugänglich!«5

4 Paul Rohrbach: Die Geschichte der Menschheit. Königstein/Ts. / Leipzig 1914, S. 232.

5 Theodor Mommsen an die Deutschen in Österreich. In: Neue Freie Presse, 31.10.1897.

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VIII Einführung

Die Bilder der ›Barbarei‹ sollten ihre Entsprechung nicht nur in den gängigen Asso- ziationen der Slawen mit Asien, sondern auch in Rückgriffen auf die Natur finden.

Musste bei der Konstruktion der so genannten deutschen Ostkolonisation noch oft der Urwald6 herhalten, so malten die Angstszenarien des 19. und 20. Jahrhundert eine andere Naturlandschaft:

»Die hügellose Landebene des östlichen Europa’s, in welcher sich die Slaven nach dem Abzuge der Deutschen gelagert haben, hat wenig natürliche Begren- zungen, sie setzt Europa noch immer in Gefahr, durch einen Völkerschwall, der aus ihren unendlichen Ebenen und Steppen heranrauscht, beunruhigt zu werden. Wie sich dort das ungeheure russische Reich verhältnißmäßig leicht zu- sammengefügt hat, so vermag auch der eroberungslustige Wille eines Einzelnen immer noch unter günstigen Umständen viele Hunderttausende zusammenzu- ballen und zu einem Angriff gegen den Westen zu führen.«7

Dieses Bild der Steppe nicht nur als Spezificum Osteuropas, sondern auch seiner Bewohner, sollte dann in der Stereotypenwelt des 20. Jahrhunderts Schule machen, sei es bei Adolf Hitler, wenn er über seine Pläne mit dem so genannten Ostraum sprach: »Das Gebiet muß den Charakter der asiatischen Steppe verlieren, europäisiert werden!«8, oder wenn es bei Alfred Rosenberg hieß:

»Und schließlich sehen wir im Osten Europas die Steppe sich ausbreiten. Diese Steppe ist immer ein Gegner klarer Staatsformen gewesen. Auf dieser Steppe lebten Völker, die sich gegen diese festen Formen europäischer Staatsauffassung stemmten. Und so sehen wir die Geschichte dieser russischen Steppe im Kampf gegen europäische Staatsgedanken.«9

6 Vgl. die folgende Beschreibung der Randgebiete Böhmens vor der Ankunft deutscher Siedler:

»An den Grenzen des Königreichs weiteten sich bis in diese Zeit herein immer noch schier endlose Wälder von urwüchsigem Aussehen, die Bären, Wölfen und anderem wilden Getier eine wenig gestörte Heimstätte boten. Diese Waldreviere waren infolge ihrer Höhenlage die rauheren und weniger ertragsreichen Landesteile;...«, aus: Karl Beer: Geschichte Böhmens mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte der Deutschen in Böhmen. Reichenberg 1921, hier zit. nach der zweiten, vermehrten Auflage Reichenberg [1922], S. 35.

7 [Gustav Freytag:] Die polnische Bewegung und die Deutschen. In: Die Grenzboten 1861, IV, S. 81-91, hier S. 83f.

8 Adolf Hitler: Monologe im Führer-Hauptquartier 1941-1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, hrsg. v. Werner Jochmann, Hamburg 1980, S. 90.

9 Alfred Rosenberg: Nationalsozialismus im Ausland. In: Alfred Rosenberg: Gestaltung der Idee.

Blut und Ehre, II. Band. Reden und Aufsätze von 1933-1935, hrsg. v. Thilo von Trotha. Mün- chen 1936, S. 379-394, hier S. 382.

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Einführung IX Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg findet sich bei dem völkischen Nationalismus- theoretiker Eugen Lemberg die ›osteuropäische Steppe‹ wieder, diesmal als Mittel zur Erklärung der infolge des Krieges erfolgten Massenumsiedlungen:

»Gewisse Züge des östlichen Menschen, die uns so als Wildheit und Brutalität erscheinen, sind in der Natur seiner Heimat begründet. Die grenzenlose Weite, die Steppen und Wälder der östlichen Ebene haben eine eigentümlich Beweg- lichkeit ihrer Bewohner bewirkt […] Diese mangelnde Verwurzelung in einer bestimmten Heimat ist auch die Ursache dafür, daß in Osteuropa Umsied- lungen und Ausweisungen von Bevölkerungsgruppen, ja von Massen, häufig in der Geschichte vorkommen.«10

Sogar der einer nationalsozialistischen Gesinnung normalerweise nicht verdächtigte Politiker Konrad Adenauer bediente sich des Steppen-Motivs, wenn er z. B. über die verlorenen deutschen Ostgebiete im Sommer 1946 behauptete:

»Dieses Land ist für die Ernährung des deutschen Volkes von entscheidender Bedeutung. Dieses Land versteppt, verödet, nichts wächst mehr dort. Hier sind die Menschen zusammengepreßt, und die Alliierten müssen uns mit Nahrungs- mitteln versorgen, die auf jenem versteppten Land wachsen könnten.«11

Dass es sich mit der Behauptung: »Das Land versteppt…« um ein Stereotyp handelt, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass über die Entwicklung der ehemals zum Deutschen Reich gehörenden Gebiete zwölf Monate nach der Beendigung der Kampfhandlungen noch nichts Konkretes ausgesagt werden konnte.

Unter welchem selbstauferlegten gedankenlosen ›Stereotypenzwang‹ manche Auto- ren standen, zeigt die historisch-politische Literatur über Böhmen. Die stereotype Verbindung Slawen–Steppe brachte man nämlich sogar im Falle der Tschechen an, obwohl man doch wirklich schlecht die böhmische und mährische Landschaft als Steppe bezeichnen kann. Der Geograph Hugo Hassinger, der noch immer als »einer

10 Eugen Lemberg: Osteuropa und die Sowjetunion. Geschichte und Probleme der Welt hinter dem eisernen Vorhang. Stuttgart 1950, S. 19. Vgl. Eva Hahn: Das völkische Stereotyp ‚Osteu- ropa‘ im Kalten Krieg. Eugen Lembergs ‚Erkenntnisse‘ über Osteuropa aus der Sicht der histo- rischen Stereotypenforschung, In: Hans Henning Hahn / Elena Mannová (Hrsg.): Nationale Wahrnehmungen und ihre Stereotypisierung. Beiträge zur Historischen Stereotypenforschung.

Frankfurt a.M. 2007, S. 401-441 (Mitteleuropa – Osteuropa. Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas 9) – dort S. 407-411 über die traditionelle Bipolarität west- licher Europabilder.

11 Konrad Adenauer am 12. Mai 1946, zit. nach Hans Peter Mensing (Hrsg.): Adenauer. Briefe 1945-1947. Berlin 1983, S. 657.

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X Einführung

der bedeutendsten Humangeographen im deutschen Sprachraum«12 bezeichnet wird, griff daher 1925 zu der etwas seltsamen Wortbildung ›Parksteppe‹:

»Der tschechische Keil bezeichnet die Spitze der mitteleuropäischen Parksteppe, die sich einbohrt in die Waldlandschaft, zugleich aber auch in das deutsche Volksgebiet.«13

Für völkische Ideologen ergab sich aus der feindlichen Frontstellung gegen Osten und gegen Westen eine heute kaum verständliche, aber in sich logische Stereotypenkon- struktion:

»Alle Demokratien sind scheinheilig und riechen mehr oder weniger nach dem Alten Testament. Die Prager stellt aber noch einen ganz bestimmten Typ dar, denn hier vermählt sich westlerisches und halbasiatisches Wesen«14

– d. h. die Verbindung zwischen Asien und dem Westen geschieht über das Judenste- reotyp, und damit werden gleichzeitig sowohl die Demokratie als politisches System als auch die benachbarten Slawen denunziert. Die Vorstellung, wie ein Zeichner die jüdisch-westlerisch-halbasiatischen Menschen darstellen würde, kann kaum anderswo als in die Nähe grotesker Bilder aus der Welt der Comics führen – wenn man von den tragischen Begleiterscheinungen derartiger Rhetorik absieht.

Das in vielen Stereotypenkonstruktionen beliebte Wort »scheinheilig« weist auf ein nicht selten benutztes Element stereotyper Bildwelten hin, nämlich auf das Theater- motiv. Nichts ist leichter, als mit dem Spiel von ›Schein und Sein‹ ›die Anderen‹ als schlechtere Menschen zu stigmatisieren: ›Die Anderen‹ sind nicht so, wie sie scheinen, sie spielen nur, sie sind nicht echt; wir begegnen einer Theaterkulisse, haben es mit Betrug zu tun, demgegenüber wir selbst logischerweise ›echt‹ und ›unverfälscht‹ sind.

In fast perfekter Weise wird dies in dem folgenden Text exerziert, in dem Polenstereo- typen mit wenigen Worten in kleinen Szenen als Wortbilder gemalt werden – als ob hier Sprach-Comics gezeichnet würden:

»Sie tragen silberne Gürtel zu schwarzen Trauerröcken, sie arrangiren stumme Trauerdiners mit Haselhühnern und Champagner, sie veranstalten Processi- onen vornehmer Frauen zu berühmten Muttergottesbildern mit Wagen und Pferden, damit die müden Pilgerinnen, so oft von der Fußprocession keine

12 http://www.aeiou.at/aeiou.encyclop.h/h245360.htm (Zugriff 25. 4. 2010).

13 Hugo Hassinger: Die Tschechoslowakei. Ein geographisches, politisches und wirtschaftliches Handbuch. Wien / Leipzig / München 1925, S. 230.

14 Rudolf Jung: Die Entstehung des Tschechenstaates und die sudetendeutsche Volksgruppe. In:

Sudetendeutscher Schicksalskampf, hrsg. v. Erich Kühne. Leipzig 1938, S. 35-52, hier S. 47.

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Einführung XI Wirkung zu erwarten ist, einsteigen können. Schwarzgekleidete Damen sitzen an den Kirchenthüren und sammeln für Polen, Seelenmessen werden für patrio- tische Märtyrer gehalten, welche noch im Licht der Sonne Tabak rauchend und Branntwein trinkend umherlungern. Jede Art von dramatischer Schaustellung wird angewandt, das Volk aufzuregen. Und da die Masse des polnischen Volkes für die alte Größe Polens schwer zu begeistern ist, und auf die Mehrzahl der Agitatoren ohne besonderes Vertrauen blickt, so wird die Kirche zur Bundes- genossin geworben, die Geistlichkeit hat bereitwillig ihren Theil an dem Aufre- gungsgeschäft übernommen, sie vorzugsweise trägt die Schuld, wenn die neue Bewegung wieder tausend Unwissende und Vertrauensvolle elend macht. Aber wie komödiantenhaft das Aussehen der Bewegung ist, welche in den polnischen Ländern arbeitet, […]«15

Man wird wohl kaum leugnen, dass diese Anhäufung kleiner bildhafter Szenen ein wirksames Mittel zur Diffamierung der nicht nur als ›Andere‹, sondern als Gegner definierten Polen darstellte, das weniger harmlos war, als es zunächst den Anschein hat. Denn wenn es in diesem Text auch zunächst um die Protestdemonstrationen im russischen Teilungsgebiet ging, die zur Vorgeschichte des großen Januaraufstands von 1863 gehörten, so finden wir doch schon wenige Abschnitte weiter die Sätze:

»Aber wenn – was wir nicht für wahrscheinlich halten – den Polen in der That gelänge, sich von den Russen zu lösen, dann werden wir die Landkarte in die Hand nehmen und uns erinnern, daß Warschau bereits einmal eine preußische Stadt war. Und unsere lebhaften Nachbarn mögen überzeugt sein, daß wir ei- nen solchen neuen Erwerb, wie arbeitvoll und unhold er immer sei, nicht wie- der aufgeben werden. Wir werden ihr Land deutsch machen. Denn jetzt haben die Polen nicht mehr eine einzelne Regierung gegen sich, sondern das deutsche Volk.«16

Der Weg vom Heterostereotyp zu eigenen politischen Anliegen, die letztlich durch die Stereotypen direkt oder indirekt legitimiert werden, lässt sich oft durch Bildhaf- tigkeit verkürzen. Das ist nicht nur eine Frage der rhetorischen Mittel, sondern liegt auch in dem funktionalen Verhältnis von Hetero- und Autostereotyp begründet.

Das Neue an der hier veröffentlichen Arbeit stellt die Verknüpfung der beiden For- schungsfelder ›Fremdheit‹ bzw. Alterität und ›Geschichtskultur‹ dar. Stereotypen arbeiten oft mit Geschichte und bedienen sich dabei stereotypisierter Geschichts- bilder bzw. stereotypisieren sie. Herausgearbeitet wird die Korrelation beider Phäno-

15 Freytag (wie Anm. 6), hier S. 81.

16 Ebd., S. 82.

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XII Einführung

mene mit der Identitätsbildung. Dieser Zusammenhang kann schon unschwer aus dem obigen Hegelzitat erschlossen werden. Der ›Westen‹ legitimiert sich in seinem Selbstverständnis und seinen Dominanzansprüchen sowohl durch eine bestimmte Stereotypisierung der ›Anderen‹, sei es Osteuropa, Asien oder der Orient17, als auch mit bestimmten Geschichtsbildern, die seine Vorstellungen von moralischer und zi- vilisatorischer Superiorität rechtfertigen – mit anderen Worten, sie bestimmen sein Selbstbewusstsein, seine Identität.

Obwohl der Zusammenhang zwischen ethnischen Fremdstereotypen und Geschichts- bildern eigentlich evident ist, scheint er bisher sowohl in der allgemeinen Geschichts- schreibung als auch in der Osteuropa-Historie nur wenig untersucht und kaum öf- fentlich bewusst zu sein. Ethnische Fremdstereotype gelten zwar als politically incor- rect; offensichtlich wirkt sich aber das Bemühen, sie abzulegen bzw. möglichst wenig öffentlich zu benutzen, kaum auf die Geschichtsbilder aus, im Gegenteil, letztere blei- ben strukturell unverändert weiter bestehen. Das kann man an den gängigen Darstel- lungen der Deutschen als der Kulturbringer Osteuropas ebenso gut sehen wie an den populären Bildern der angeblich in einer eigenartigen Art traditionsverhafteten osteu- ropäischen Gesellschaften. In der Welt der Osteuropa-Wortbilder hat sich rhetorisch im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zwar manches verändert, in den Darstellungen ihrer Geschichte jedoch weniger. Heute spricht kaum jemand mehr von einer ›deut- schen Ostkolonisation‹ oder von den ›Slawen‹ als den asiatischen oder halbasiatischen Steppenvölkern oder gar Barbaren; heute ist von der ›europäischen Ostsiedlung‹18, und den ›postkommunistischen Gesellschaften‹ die Rede.19 Wie wirkt sich jedoch ein solcher Wandel auf die kritische Auseinandersetzung mit überlieferten Geschichtsbil- dern aus? Wird er nicht vielfach alibistisch zum Schutz ererbter Vorurteile eingesetzt?

Wenn wir die Erkenntnisse der hier vorliegenden Studie ernst nehmen, können wir

17 Edward Said: Orientalism. New York 1978 (deutsch udT: Orientalismus, Frankfurt 1981 und 2009); Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the En- lightenment. Stanford 1994; Maria Todorova: Imagining the Balkans. New York / Oxford 1997 (deutsch udT: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Darmstadt 1999).

18 Vgl. Ostkolonisation. Archäologische Sondierung einer deutschen ‚Kulturleistung‘. Eine Text- und Bildcollage, gewidmet Hans Henning Hahn von der Oldenburger HistoArt Gruppe als HistoArt Beitrag zur Erforschung von Deutschlands östlichen Nachbarschaften. In: Edmund Dmitrów / Tobias Weger (Hrsg.): Deutschlands östliche Nachbarschaften. Eine Sammlug von historischen Essays für Hans Henning Hahn. Frankfurt a.M. 2009, S. 325-362 (Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen 4).

19 Vgl. den oben (Anm. 9) zitierten Aufsatz von Eva Hahn: Das völkische Stereotyp ‚Osteuropa‘

im Kalten Krieg.

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Einführung XIII Wortbilder aus der rhetorischen Schatztruhe der deutschen Osteuropaforschung kei- neswegs als belanglose Aufkleber der einen oder anderen Zeit abtun.

Oliver Näpel untersucht auf den ersten Blick kein Thema, das unmittelbar mit der Geschichte der Deutschen und dem östlichen Europa zusammenhängt. Hier geht es um Comics als ikonographischen Ausdruck gesellschaftlicher Stereotypisierungen von ›fremden‹ Nationen bzw. Völkern und von Geschichte, Comics, die in ihrem Spiegelungscharakter ebenso wie in vorgeblichen normativen Setzungen behandelt werden. Zweifellos stellt diese Studie damit eine bedeutende Bereicherung der Hi- storischen Stereotypenforschung sowie des Instrumentariums von Wahrnehmungs- geschichte dar. Sie verweist auch deutlich auf bisher vernachlässigte Möglichkeiten, die deutsche Geschichte und ihre Beziehungen zum östlichen Europa zu betrachten.

Vor allem zeigt sie, wie verfehlt es wäre, die heute abgelegten und oft als höchstens zum Schmunzeln geeigneten rhetorischen Konstruktionen und Wortbilder auf die leichte Schulter zu nehmen. Oliver Näpel eröffnet mit dem Comic der modernen Geschichtswissenschaft eine neue Quelle, deren Wert zwar nie ernsthaft in Zweifel gezogen, aber bisher noch nicht so gründlich durch eine konkrete und umfassende Untersuchung unter Beweis gestellt wurde. Dafür und für die Inspiration, sich mit ei- ner ähnlichen Ernsthaftigkeit und einem ähnlich bohrenden analytischen Instrumen- tarium den Comic-ähnlichen Produkten deutscher Osteuropaexperten zuzuwenden, sei dem Autor Dank!

Eva Hahn Hans Henning Hahn

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