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GOUTE’S BEGRIFF DER SOZIOLOGIE.

Von Ferdinand Tönnies/ .

Der Erfinder des Namens „Soziologie“, der oft auch als Be­

gründer dieser Wissenschaft, nicht selten als ihr „Vater“ hin­

gestellt wird, meinte selber nicht, etwas schlechthin Neues ins Leben zu rufen. Ja, man kann sagen: die Vorstellung, daß diese „fundamentale“ Disziplin ihr D asein erst beginne, steht im Widerspruch mit dem Grundgedanken der Comteschen

„Hierarchie der positiven Wissenschaften“. Dieser Grundge­

danke sagt nämlich, daß diese Wissenschaften mit der mensch­

lichen Natur selber gegeben sind, weil zu jeder Zeit das Be­

dürfnis irgendwelcher „Theorie“ zur Verbindung der Tatsachen bestehe. Nur der Stand ihrer Entwicklung sei verschieden und durch den allgemeinen Zustand des menschlichen Geistes be­

dingt, der von den theologischen Begriffen seiner Kindheit zu den metaphysischen des Jünglingsalters und von diesen zu den positiven und natürlichen des Mannesalters fortschreite. Also gab es auch von jeher eine „soziale Physik“ — diesen Aus­

druck wendet Comte im D iscours prélim inaire seines Cours noch ausschließlich auf jene letzte Fundamentalwissenschaft an —, aber dem Entwicklungsgesetze gemäß, das er entdeckt haben will, sei diese Lehre, deren Gegenstände die beson­

dersten, kompliziertesten, konkretesten und am direktesten für den Menschen interessanten seien, am längsten im (sagen wir kurz) vorpositiven Zustande geblieben, und stecke noch darin, zumal da sie noch speziellere Hemmungen zu überwinden ge­

habt habe und fortwährend habe. „Hier also ist die große, aber offenbar die einzige Lücke, die man noch auszufüllen hat, um die Konstitution der positiven Philosophie zu vollenden“ (Cours de philos. positive, I, 21). Nun meinte freilich Comte, daß er selber berufen sei, diese Lehre als W issenschaft — in dem be­

sonderen und höheren Sinne, den das Wort bei ihm gewinnt — zu begründen, zu schaffen oder zu konstituieren. Denn er fährt

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fort (a. a. 0 .) : „Jetzt, da der menschliche Geist die Physik des Himmels, die Physik der Erde, mechanische sowohl als chemische, die organische Physik, sowohl die der Pflanzen als der Tiere, begründet hat, bleibt ihm noch Vorbehalten, das System der Wissenschaften abzuschließen durch Begründung der so­

zialen Physik“. Begründung bedeutet hier eben nichts anderes als Überführung in ihren positiven, also definitiven Zustand.

Comte rechnet sich zum Verdienst, den Terminus «Physique sociale» erfunden zu haben (Cours, IV, 15) und verweist auf seine frühen kleinen Schriften, in denen er zuerst vorkomme.

In der Tat taucht der Ausdruck auf im dritten dieser Opus­

cules, das im Mai 1822 als Stück des C atéchism e des industriels, den Saint-Simon herausgab, erschien. Der Titel dieser Abhand­

lung war damals: «Plan des travaux n écessaires pour réor­

ganiser la société». „Da die Überlegenheit des Menschen über die anderen Tiere keine andere Ursache haben kann und wirk­

lich nicht hat, als die relative Vollkommenheit seiner Organi­

sation, so muß alles, was die menschliche Gattung gemacht hat, und alles, was sie machen kann, offenbar, im letzten Grunde, angesehen werden als eine notwendige Folge seiner Organisation, die in ihren Wirkungen durch den Zustand der Außenwelt modifiziert ist. In diesem Sinne ist die soziale P hysik, d. h. das Studium der Kollektiventwicklung der mensch­

lichen Gattung, in Wirklichkeit ein Zweig der Physiologie, d. h.

des Studiums der Menschen, wenn es in seiner ganzen Aus­

dehnung begriffen wird. Anders ausgedrückt, die Geschichte der Zivilisation ist nichts anderes als die unerläßliche Fortsetzung und Ergänzung der Naturgeschichte des Menschen.“ Damit ist der Grundsatz ausgesprochen, der die ganze zweite Hälfte (die drei letzten Bände) des Cours, d. i. die Darstellung der So­

ziologie, darin beherrscht. Der erste dieser drei Bände (in der ganzen Reihe der vierte) ist noch ausdrücklich als „soziale Physik“ (oder „dogmatische Partie der sozialen Philosophie“) bezeichnet, und erst in seinem Zusammenhänge begegnet zu­

erst der Terminus „Soziologie'1, den Comte durch folgende An­

merkung rechtfertigt (Cours, IV, 185 n.): „Ich glaube von jetzt an, diesen neuen Terminus wagen zu sollen, der völlig gleich­

wertig ist mit meinem schon eingeführten Ausdruck «soziale Physik», um mit einem einzigen Worte diese ergänzende Partie der natürlichen Philosophie bezeichnen zu können, welche auf

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das positive Studium der Gesamtheit der fundamentalen Ge­

setze, die den sozialen Phänomenen eigentümlich sind, sich bezieht. Die Notwendigkeit einer solchen Benennung, um der besonderen Bestimmung dieses Bandes zu entsprechen, wird, so hoffe ich, hier die letzte Ausübung eines legitimen Rechtes entschuldigen, das ich immer mit aller schicklichen Umsicht gebrauch! zu haben glaube, und ohne aufzuhören, einen tiefen Widerwillen gegen jede G ew ohnheit eines systematischen Neo­

logismus zu empfinden.“

Ganz im gleichen allgemeinen Sinne wendet aber Comte auch die Ausdrücke «S cien ce sociale» und «Philosophie sociale» an.

Wäre die französische Sprache in der Lage, wie die unsere, diese in einem W orte zu befassen („Sozialwissenschaft — Sozialphilosophie“), so hätte er anscheinend gar nicht das Be­

dürfnis empfunden, ja vielleicht es verschmäht, jenen, trotz vielen Widerstrebens siegreich gewordenen Terminus in die Welt zu setzen. Das Wort „Sozialphysik“, das freilich auch uns etwas sonderbar vorkommt, möchte seinen Wünschen noch besser ent­

sprochen haben.

Aber neben allen diesen Bezeichnungen erhält sich auch sehr lebendig bei ihm die früheste, in der er immer wieder das eigentliche Ziel seiner Bestrebungen festlegt, die Bezeichnung

„positive Politik“. Als „System der positiven P olitik“ gab er schon 1824 das erwähnte dritte Opusculum neu heraus. 30 Jahre später nannte er diesen Titel „verfrüht“ ; er wollte ihn nun seinem zweiten großen Hauptwerk Vorbehalten, das er eben in vier Bänden vollendet hatte: „System der positiven Politik oder Traktat der Soziologie, der die Religion der Menschheit einrichtet“ — wo aber der Titel zugleich die neue Phase seines Denkens bezeichnen soll, mit der er sich über den rein intellek- tualistischen Standpunkt des Cours erheben will, wenngleich er die wesentliche Einheit seiner „Laufbahn“ immer wieder hervorhebt.

Von dem Gedanken, die Politik zur positiven Wissenschaft zu machen, war schon der 20jährige Schüler Saint-Simons er­

füllt. Hier lag der Ausgangspunkt seines Philosophierens über­

haupt. Er kehrt immer wieder darauf zurück und unterscheidet zunächst nicht zwischen diesem Vorhaben und dem anderen, das soziale Leben oder die Zivilisation und ihren Fortschritt naturwissenschaftlich darzustellen. Freilich überwiegt im Cours

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bei weitem der Terminus Physique sociale. Aber in dem ersten großen Kapitel (der 46. Vorlesung), dem er den Titel gibt: „Vor­

läufige politische Erwägungen über die Notwendigkeit und Zeik gemäßheit ( opportunité) der sozialen Physik, gemäß der fun*

damentalen Analyse des gegenwärtigen sozialen Zustandes“

stellt er uns seine Doktrin bald als „die neue politische PhL losophie“, bald als „die positive Politik“ vor. Die Leitgedanken sind hier folgende: Die heutigen Gesellschaften sind in einem beklagenswerten Zustande, in einer erschreckenden revolutio­

nären Verfassung. Eine tiefe und mehr und mehr ausgedehnte Anarchie des gesamten intellektuellen Systems charakterisiert sie; herrührend von dem unvermeidlichen Zwischenzustand — einem „Interregnum“ —, durch den fortwährend wachsenden Verfall der theologisch-metaphysischen Philosophie auf der -einen Seite, die beständige, aber noch unvollendete Entwicklung der positiven Philosophie auf der anderen, die bisher zu eng*

zu speziell und zu furchtsam war, um sich endlich der geistigen Regierung der Menschheit zu bemächtigen. Bis dahin muß man zurückgreifen, um den wirklichen Ursprung des schwankenden und widerspruchsvollen Zustandes gehörig zu erfassen, worin wir heute alle großen sozialen Begriffe erblicken, eines Zu­

standes, der durch eine unbesiegbare Notwendigkeit, das mora­

lische Leben und das politische Leben so kläglich trübt; aber auch nur da kann man das allgemeine System der sukzessiven Operationen reinlich wahrnehmen, die, teils philosophisch, teils politisch, allmählich die Gesellschaft von dieser verhängnis­

vollen Neigung zu einer nahen Auflösung befreien und sie unmittelbar zu einer neuen Organisation hinführen müssen, die zu gleicher Zeit fortschrittlicher und dauerhafter sein wird, als jene, die auf der theologischen Philosophie beruhte.“ In dieser Absicht soll die „gleich radikale Unfähigkeit der ent­

gegengesetztesten politischen Schulen“ charakterisiert werden, von denen die eine das Prinzip der Ordnung, die andere das des Fortschritts vertritt. Dagegen soll die „positive Politik“

zeigen, daß diese beiden Ideale voneinander untrennbar und nur die beiden Seiten eines und desselben Prinzips darstellen, wie in der Biologie die Begriffe Organisation und Leben, von denen jene sogar im wissenschaftlichen Sinne „offenbar“ her­

zuleiten sind.

Die ganze Soziologie Comtes, wie sie in den drei Bänden des

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Cours sich darstellt, hat keinen anderen Inhalt. Sie beruht auf der Ansicht, daß unwissenschaftliche, also falsche politische L ehren bisher die soziale Welt beherrscht und bestimmt haben.

Die eine „Schule“ von Urzeiten her, speziell aber im Mittel- alter; die andere „Schule“ während der letzten drei Jahr­

hunderte, also in der „Neuzeit“. Sie widersprechen einander aufs schärfste, jede ist auch widersprechend in sich. Jede hat ihr Verdienst, Comte will es unparteiisch würdigen. Die eine vertritt das wesentliche und notwendige Prinzip: Ordnung, die andere das wesentliche und notwendige Prinzip: Fortschritt.

Jene ist ehemals wohltätig und fördersam gewesen „für die Bildung und erste Entwicklung der modernen Gesellschaften“, während der letzten drei Jahrhunderte aber bei den fortge­

schrittensten Völkern rückschrittlich geworden, „durch den natürlichen Fortschritt der Intelligenz und der Gesellschaft“.

Die andere ist „kritisch“ und folglich pure revolutionär, sie ver­

dient aber doch das Epitheton „fortschrittlich“, denn sie hat den hauptsächlichen politischen Fortschritten, die im Laufe der letzten drei Jahrhunderte erfüllt worden sind, „vorge­

standen“ („präsidiert“ ), diese mußten nämlich ihrem Wesen nach negativ sein. Das Übel ist, daß auch heute noch die Ideen des Fortschritts der kritischen oder revolutionären „Philoso­

phie“, ebenso wie es vom Übel ist, daß auch heute noch die der Ordnung dem „theologischen und militärischen“ System ent­

lehnt werden. Man will vorwärts gehen und bringt eine Zer­

störung zuwege, wie man unter dem Vorwände zu organisieren rückwärts schreitet. In Wahrheit sind beide Prinzipienreihen unfähig, „organisch“ zu werden. Das sei aber ebenso eine dritte „Meinung“ oder „Doktrin“ oder „Schule“ : die „stationäre“

Politik, die sich allmählich zwischen die rückschrittliche und revolutionäre Lehre geschoben habe und gewissermaßen, ohne jeden unmittelbaren, eigenen Begriff, aus den gemeinsamen Trüm­

mern beider gebildet worden sei. Natürlich muß dann Comte beflissen sein, die unermeßlichen Vorzüge seiner „positiven Politik“ vor der theologischen und der metaphysischen, vollends vor der bloß vermittelnden Richtung, herauszustreichen. Er spricht nun von ihr, bald und am häufigsten als von der neuen politischen Philosophie, bald als von der sozialen Philosophie oder der sozialen Wissenschaft oder, unter seinem alten Ter­

minus der sozialen Physik, und kommt dann endlich, in der

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47. Vorlesung, wo er die bisherigen „Versuche eine Sozial­

wissenschaft zu konstituieren erörtert“, und nach Montesquieu Condorcet erwähnt — von Saint-Simon geflissentlich schweigend

—, auf den Ausdruck „Soziologie“, der von da ab vorherrscht, ohne daß einer der übrigen Ausdrücke verschwindet, und auch ohne daß irgendein Unterschied ihrer Bedeutung angedeutet wird. So folgt denn die nicht weniger als 128 Seiten lange 48. Vorlesung, in der „die fundamentalen Merkmale der posi­

tiven Methode im rationellen Studium der sozialen Phänomene“

entwickelt werden. Ich kann aber nicht dabei verweilen, setze auch als bekannt voraus, daß er die „soziale Statik“, die der

„Dynamik“ vorausgehen soll, nur summarisch behandelt hat, daß ihre Bedeutung durchaus zurücktritt, so daß die „soziale Dy­

namik“ sich beinahe völlig deckt mit dem, was Comte — wenigstens im Cours — als Soziologie vorträgt. Diese „Dy­

namik“ aber bedeutet eine Erörterung der „Gesetze“ der Ent­

wicklung, die sich für Comte in dem einzigen fast resümieren, das er entdeckt haben will : dem Gesetz der drei Stadien, dessen Bedeutung auf der Voraussetzung beruht, daß der intellektuelle Fortschritt die gesamte übrige Entwicklung beherrsche und bedinge.

So wird Comtes Soziologie fast unmittelbar „Philosophie der Geschichte“, und er wendet auch diesen Ausdruck darauf an, an dessen Stelle er hin und wieder auch „historische Wissen­

schaft“ setzt. Die Vielheit der Bezeichnungen, deren Wortsinn doch so mannigfach ist, verrät, daß ein klarer wissenschaft­

licher Begriff nicht vorhanden ist. — Im Eingänge des fünften Bandes rechtfertigt er die Beschränkungen, die er sich in deren Abhandlung auferlegen müsse; vornehmlich, daß er seine ganze Erörterung nur auf eine einzige soziale Reihe, nämlich auf die Entwicklung der fortgeschrittensten Völker, auf die Elite oder Avantgarde der Menschheit beziehe. Und dazu macht er eine methodologische Anmerkung, die, wie mir scheint, in den neueren Darstellungen nicht gehörig beachtet wird, nämlich, daß eine solche Beschränkung schließlich darauf hinauskomme, auch auf das Studium der sozialen Phänomene die kapitale Unterscheidung zwischen „abstrakter“ Wissenschaft und „kon­

kreter“ Wissenschaft auszudehnen, die von ihm als für jeden denkbaren Gegenstand gültig aufgestellt worden sei. Er bezieht sich hier zurück auf die zweite Vorlesung seines C ou rs; klar

III. Internat. Kongress für Philosophie, 1909. 64

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durchgeführt hat er freilich weder dort noch hier diese Unter­

scheidung. Bald läßt er jede Wissenschaft, z. B. auch die Mathematik, einen abstrakten und einen konkreten Teil haben, und versteht unter dem konkreten einfach den mit weniger all­

gemeinen Begriffen operierenden, denn „abstrakt“ und „all­

gemein“ . ist ihm gleichbedeutend. Bald meint er ganz ver­

schiedene Wissenschaften, wie die Chemie und die Mineralogie, von denen diese die Begriffe und Gesetze, die in jener festge­

stellt sind, anwende. Nun aber heißt es, der Gebrauch der Geschichte in der Soziologie müsse wesentlich abstrakt bleiben, es könnte „gewissermaßen nichts weiter sein, als Geschichte ohne Namen von Personen, ja ohne Namen von Völkern“, wenn diese nicht doch stark dazu beitrügen, die Darlegung der Sache aufzuklären. Und diesen Gebrauch der Geschichte nennt er nun bald die abstrakte Ausarbeitung der fundamentalen Gesetze der sozialen Entwicklung, bald die abstrakte Aufstellung der fundamentalen Gesetze der Sozialität, die man doch eher von der Statik hätte erwarten mögen. Auf diese kommt Comte aller­

dings zurück im Systèm e de politique positive, und er aner­

kennt hier selber die Notwendigkeit einer eingehenderen Dar­

stellung, als sie im Cours erfahren habe. Er widmet ihr den ganzen zweiten Band des vierbändigen Werkes. Man streitet über die Bedeutung, die dem Systèm e im Verhältnis zum Cours zuzuschreiben sei. Ich bin der Meinung, daß man, um dem Soziologen Comte gerecht zu werden, das Systèm e nicht als eine bloße Verirrung abtun darf, wie nach Stuart Mill auch Barth zu meinen scheint, wenn er auch als Grund für seine Be­

schränkung auf den Cours angibt, daß nur diese, und nicht die spätere subjektive Phase „fruchtbar nachgewirkt“ habe. Auch Alengry, dessen tüchtige Monographie sich freilich auf das S y­

stème miterstreckt, urteilt, die neue Methode lenke ihn von jeder wirklich soziologischen Untersuchung ab, und, obgleich er hier den statischen Gesichtspunkt vorwalten lassen wolle, so seien es nicht statische Gesetze, die er aufstelle, sondern „ab­

strakte und allgemeine Betrachtungen über das Eigentum, die Familie, die Sprache und die Gesellschaft“. Wenn Comte sich über die statischen Gesetze getäuscht hat, so hat er sicherlich auch über „dynamische“ sich Illusionen hingegeben. Daß aber seine Betrachtungen „abstrakt und allgemein“ seien, kann ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden; es ist ja, was er ausdrück-

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lieh gewollt hat. Der besondere Titel des Bandes ist: Statique sociale ou traité abstrait de Vordre hum ain, und er hebt gleich im Eingänge hervor, der Geist der „statischen Soziologie“ sei einfacher, allgemeiner und abstrakter als derjenige der dyna­

mischen, und sie bilde das direkte Band zwischen der „Final­

wissenschaft“ und der Gesamtheit aller vorausgehenden Wissen­

schaften. In der Tat sind jene Betrachtungen nicht wahllos an­

einander gereiht, sondern sollen den notwendigen Elementen der sozialen Ordnung gewidmet sein, die nach Comte den wesentlichen Teilen unseres zerebralen Daseins: Tätigkeit (es könnte dafür auch heißen: Wille), Gefühl und Intelligenz ent­

sprechen. Diesen drei Kapiteln läßt er aber vorangehen eine

„positive Theorie der menschlichen Einheit“, die nunmehr für ihn gleichbedeutend ist mit einer allgemeinen Theorie der R e­

lig ion : und hierin liegt allerdings eine entschiedene Neuerung gegenüber dem C ours, während im übrigen der Geist dieser Ausführungen nicht so sehr abweicht von denen, die dort skiz­

ziert wurden. Schon dort ist der streng theoretische Gesichts­

punkt überwuchert von den Zielen des Reformators, des Pro­

pheten, der sich zuletzt entwickelt hat zum Religionsstifter. Aber seine Religion ist doch eine Vernunftreligion, und liegt durch­

aus in der Richtung, die auch früher als Mission der positiven Philosophie bedeutet war; nur daß jetzt nicht mehr allein und nicht einmal mehr hauptsächlich an den ,*Kopf“, sondern haupt­

sächlich an das „Herz“ appelliert wird; die Erfüllung des

„Kopfes“ mit wissenschaftlicher Denkungsart bleibt aber immer Voraussetzung. Mit Recht kann sicherlich in dem Briefe an Vieillard vom 3. Aristote 64 (28. II. 1852) Comte sich auf dessen Zeugnis dafür berufen, daß er seit 30 Jahren als bestimmtes Ziel im Auge gehabt habe, die geistliche Macht, die im Mittel- alter auf so bewundernswerte Art entwickelt gewesen sei, in würdiger Weise zu „rekonstruieren“, und daß es eine not­

wendige Konsequenz seines Gedankens gewesen sei, die m o­

ralisch e Überlegenheit des „Positivismus“ auf die Höhe der vorher etablierten intellektuellen zu erheben. Schon in dem fünften Bande der Opuscula (März 1826), wo er die Tendenz der modernen Völker auf eine „spirituelle Organisation“ als notwendig begründen will, erklärt er das Wort „spirituell“

durch den Zusatz: „d. h. intellektuell und moralisch“. Als

„Soziologie“ in einem strengen und wissenschaftlichen Sinne

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kann aber weder das spätere noch das frühere Werk gelten.

Diese muß in erster Linie die Wirklichkeit, und nicht ein Ideal des sozialen Lebens ins Auge fassen. Sie muß Denkmittel schmieden, um diese Wirklichkeit zu verstehen — dafür ist vor Comte manches, durch ihn wenig geschehen. Die bleibende Bedeutung seiner Soziologie liegt in einer anderen Sphäre. Sie stellt nicht eine Begründung, sondern eine Krönung dar; nicht ein Piédestal, sondern ein Kapitäl.

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