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ÄRZTEBLATT 7/2021 MECKLENBURG-VORPOMMERN

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Academic year: 2022

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MECKLENBURG-VORPOMMERN 7/2021

ÄRZTEBLATT

Mohnblumenfeld bei Niex

Keine Impfpflicht durch die Hintertür Immunität gegen Sars-CoV-2 – Ergebnisse der Surveillance-Studie

#Gesundheit2021

Foto: Dr. G. Rücker

(2)

Veranstaltungen und Kongresse

Impfkurse in Mecklenburg-Vorpommern 269 Veranstaltungen der Ärztekammer M-V 269 Veranstaltungen in unserem Kammerbereich 269 Veranstaltungen in anderen Kammerbereichen 271

Aus der Kammer

Jetzt aufsteigen durch die Fortbildung

„Fachwirt für ambulante medizinische

Versorgung“ 272

Bettina Rosenthal stellt aus 272

Die ärztliche Schweigepflicht 273

NBK Gesundheitswirtschaft

#Gesundheit2021 275

Geschichte der Medizin

Ein Pommer als Leibarzt im Dienst der Kaiserin 283

Personalien

MR Dr. med. Klaus Springfeld – 85 Jahre 287

Rezensionen

Für Sie gelesen 288

Geburtstage

Wir beglückwünschen 289

Impressum 289

Inhalt

Editorial

Keine Impfpflicht durch die Hintertür 253

Wissenschaft und Forschung

Immunität gegen SARS-CoV2 – Ergebnisse der

Rostocker COVID-Surveillance-Studie 254

Junge Ärzte

Klimawandel und Gesundheit – Was bedeutet

das für uns? 260

Leserbriefe

Nach der Pandemie ist vor der Pandemie 262 Leserbrief zum Artikel

„Deutschland und seine (chronisch) kranken

Kinder – wie sieht es in M-V aus? 262

Aktuelles

Zahlen zur Corona-Erkrankung 2020/2021 263 Tragbare Assistenzsysteme zum Monitoring

und zur Unterstützung von Menschen mit

Gedächtnisstörungen 264

Einführung der neuen Zusatzbezeichnung

„Spezielle Kardiologie für Erwachsene mit

angeborenen Herzfehlern (EMAH)“ 280

Fortbildung

29. Interdisziplinäre Seminar- und Fortbildungs woche der Ärztekammer

Mecklenburg-Vorpommern 268

Seite 251 AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG

Genderneutrale Sprache

In der deutschen Sprache sind personenbezogene Pluralformen grundsätzlich geschlechtsneutral. Soweit singuläre Formen wie Arzt, Patient, Gast o.ä. aus Gründen der Flüssigkeit und besseren Lesbar- keit in den Texten des Ärzteblattes Mecklenburg Vorpommern ver- wendet werden, bezeichnen sie wie auch die Pluralformen in jedem Fall sowohl Personen des weiblichen wie des männlichen als auch eines möglichen dritten Geschlechts.

Die Redaktion

(3)

Collage: W. Schimanke

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Seite 253 AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG

EDITORIAL

Bereits kurz nach dem 124. Deutschen Ärztetag online haben uns wie auch andere Kammern und die Bundesärztekammer einige Briefe und Mails erreicht, in denen die Absender er- klärten, dass es „#nichtmeinaerztetag“ sei. Bereits das Hash- tag weist darauf hin, dass es sich um eine Aktion in den (ver- meintlich) sozialen Medien handelt. Hintergrund ist eine YouTube-Kampagne des „Ärzte für eine individuelle Impf- entscheidung e. V.“ – einem Verein, der bereits (vergeblich) versucht hatte, das Masernschutzgesetz zu stoppen.

Mit dieser „Initiative“ wird Stellung gegen den Beschluss I-19 des 124. Deutschen Ärztetags „Notwendige COVID-19-Impf- strategie für Kinder und Jugendliche“ bezogen, der ver- meintlich eine Impfpflicht für Kinder und Jugendliche for- dert. Zwar stellt der Beschluss in seiner Begründung ein Junk- tim zwischen dem Impfen und der Teilnahme am gesell- schaftlichen Leben her, fordert jedoch in erster Linie eine nachhaltige Forschung zu Impfstoffen für Kinder und Jugendliche sowie die Bestellung hinreichender Mengen adäquater Impfstoffe. Von einer Impfpflicht ist keine Rede!

Inzwischen hat der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK) Dr. Klaus Reinhardt klargestellt. dass die Datenlage zu Risi- ken und Nutzen einer möglichen Corona-Impfung bei Kin- dern und Jugendlichen derzeit noch unzureichend ist. Man könne deshalb noch keine Empfehlung abgeben. Es dürfe jetzt auch kein politischer und gesellschaftlicher Druck auf die Eltern ausgeübt werden, ihre Kinder impfen zu lassen.

Obwohl die Europäische Arzneimittelbehörde dem Impfstoff von Biontec-Pfizer für Personen ab 12 Jahre zugelassen hat, hält sich die deutsche Ständige Impfkommission (STIKO) noch deutlich zurück und prüft gegenwärtig das Verhältnis von Nutzen und Risiko bei Kindern und Jugendlichen. Selbst wenn die STIKO den Impfstoff für diese Altersgruppe emp- fehlen sollte, bedeutet dies keine Impfpflicht. Darüber be- steht weitgehender Konsens zwischen Politik, Wissenschaft

Keine Impfpflicht durch die Hintertür

und Medizin, dem sich die Ärztekammer Mecklenburg-Vor- pommern vorbehaltlos anschließt. Es muss und wird die sou- veräne Entscheidung der Eltern unter Abwägung individuel- ler Risiken und unter Mitwirkung der Ärzte ihres Vertrauens bleiben.

Interessanterweise waren die ersten Absender der o.g. Mit- teilungen nicht Ärzte in unserem Bundesland. Inzwischen haben sich einzelne Kollegen auch aus unserem Land in ähn- lichem Sinne geäußert – vielleicht, weil sie den Beschluss in vollem Wortlaut nicht kennen, vielleicht aber auch, weil sie der recht offensiv geführten Kampagne im Glauben, Gutes zu tun, folgen. Nach Einschätzung der Bundesärztekammer ist die Kampagne „#nichtmeinaerztetag“ eng mit der „Quer- denkerszene“ verwoben, was sich ohne große Mühe im In- ternet nachweisen lässt.

Dr. Wilfried Schimanke

(5)

WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

* Abteilung für Tropenmedizin und Infektionskrankheiten, Klinik für Innere Medizin, Universitätsmedizin Rostock

** Institut für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin, Universitätsmedizin Rostock

*** Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, Abteilung Virologie, Hamburg

Immunität gegen SARS-CoV2 – Ergebnisse der Rostocker COVID-Surveillance-Studie

Antikörper sind nach Impfung signifikant höher als nach durchgemachter Infektion Geerdes-Fenge HF

*

, Acksel E

*

, Bastian M

**

, Hemmer CJ

*

, Emmerich P

*, ***

, Löbermann M

*

,

Reisinger EC

*

Einleitung

In Mecklenburg-Vorpommern wurden seit März 2020 – wie in allen deutschen Bundesländern – Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern. Insbeson- dere die Schließung von Kindertagesstätten und Schulen war und ist heftig umstritten. Zunächst gab es wenig verlässliche Daten zur Infektion, zum klinischen Verlauf und zur Infekti- osität bei Kindern, so dass die Wirksamkeit der Schließungen der Kinderbildungseinrichtungen nicht belegt war. Die Zahl der COVID-19-Fälle lag in Mecklenburg-Vorpommern am 31.05.2020 bei 47/100.000 Einwohnern im Vergleich zur bun- desweiten Zahl von 218/100.000 Einwohnern [1]. Am 28.02.2021 lag die Zahl der COVID-19-Fälle in MV bei 1.523/100.000 Einwohnern im Vergleich zu 2.937/100.000 Ein- wohnern bundesweit [2].

Die Dunkelziffer für COVID-19 ist im Rahmen der vermehrten Testungen in Deutschland deutlich gesunken. Zu Beginn der Pandemie zeigten serologische Untersuchungen des Robert Koch-Instituts in Bad Feilnbach im Juli 2020 4,5-mal und in Kupferzell 6-mal mehr Infektionen als vor Beginn ihrer Stu- die bekannt, während in Berlin im Dezember 2020 serolo- gisch nur noch 2,2-mal mehr Infektionen nachgewiesen wur- den als die offiziellen Meldezahlen anzeigten [3].

Für das Niedrigprävalenzgebiet Rostock konnten wir zeigen, dass im April 2020 keine unerkannte COVID-19 Erkrankung bei 401 getesteten Müttern von Kindern im Alter von 1-10 Jahren nachgewiesen wurde [4]. Um die Öffnung der Kitas und Schulen ab Mai 2020 hinsichtlich asymptomatischer CO- VID-19-Infektionen zu begleiten, führten wir diese Studie im Raum Rostock fort mit dem Ziel, Daten zur Prävalenz der SARS-CoV-2 Infektion und zur Immunität gegen SARS-CoV-2 bei Müttern sowie zusätzlich bei Mitarbeitern/-innen von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen zu gewinnen.

Unter der Annahme, dass aufgrund des engen Kontaktes von Eltern zu ihren erkrankten Kindern der Infektionsstatus bzgl.

SARS-CoV-2 von Kindern und deren Müttern kongruent ist, testeten wir Mütter stellvertretend für die Kinder. Die Be- stimmung von Antikörpern gegen SARS-CoV-2 bei Müttern sollte indirekt Auskunft über den Infektionsstatus ihrer Kin- der geben.

Antikörper gegen SARS-CoV 2

Das Coronavirus SARS-CoV2 besitzt als antigene Strukturen unter anderem das Nukleokapsid-Protein (N), das das RNA- Genom umhüllt, sowie drei Strukturproteine, die Bestandtei- le der Virushülle sind: das Membran-Protein (M), das Envelo- pe-Protein (E) und das Spike-Protein (S) [5]. Im Laufe einer Infektion werden Antikörper gegen die unterschiedlichen Virusantigene gebildet, also auch gegen das Spike-Protein und das Virus-Nukleokapsid. Durch die bislang zugelassenen Impfstoffe wird ausschließlich eine Immunantwort gegen das Spike-Protein hervorgerufen.

Dies hat zu Beginn der Impfperiode bei manchen Geimpften zur Verwunderung geführt, da sie im Antikörpertest negativ waren, weil die ersten der verbreiteten Antikörpertests nur Anti-Nukleokapsid-Antikörper nachwiesen.

In der vorliegenden Studie wurden Antikörper-Tests sowohl gegen Nukleokapsid als auch gegen Spike-Protein verwen-

1 Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) 31.05.2020. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavi- rus/Situationsberichte/Archiv_Mai.html

2 Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) 28.02.2021. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavi- rus/Situationsberichte/Feb_2021/Archiv_Feb_2021.html

3 RKI. Studie CORONA-MONITORING lokal. https://www.rki.de/DE/Content/

Gesundheitsmonitoring/Studien/cml-studie/cml-studie_node.html;jsessionid

=390F6A4D8DB82B1347939AF6E9646FD8.internet072

4 Reisinger EC, von Possel R, Warnke P, Geerdes-Fenge HF, Hemmer CJ, Pfef- ferle S, Löbermann M, Littmann M, Emmerich P. Mütter-Screening in einem COVID-19-Niedrig-Pandemiegebiet: Bestimmung SARS-CoV-2-spezifischer Antikörper bei 401 Rostocker Müttern mittels ELISA und Immunfluores- zenz-Bestätigungstest Dtsch Med Wochenschr. 2020 Aug;145(17):e96-e100.

doi: 10.1055/a-1197-4293

5 Wang MY, Zhao R, Gao LJ, Gao XF, Wang DP, Cao JM. SARS-CoV-2: Struc- ture, Biology, and Structure-Based Therapeutics Development. Front Cell Infect Microbiol. 2020 Nov 25;10:587269. doi: 10.3389/fcimb.2020.587269

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Seite 255 AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG

WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

ANZEIGEN

det, so dass eine Unterscheidung zwischen durchgemachter Infektion und Impfung möglich war.

Probanden, Material und Methoden

In einer prospektiven Untersuchung erhoben wir Daten zur Prävalenz der SARS-CoV-2 Infektion und zur Immunität ge- gen SARS-CoV-2 bei Rostocker Müttern mit Kindern im Al- ter von 1–10 Jahren sowie zusätzlich bei Mitarbeitern/-in- nen von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen im Rostocker Raum.

Vom 20. – 22.04.2020 hatten sich 401 Rostocker Mütter mit Kindern im Alter von 1–10 Jahren nach einem Zeitungsaufruf im Kompetenzzentrum für Klinische Studien der Universitäts- medizin Rostock zur Teilnahme an der Studie angemeldet. Die Studienergebnisse wurden bereits publiziert [4]. In dieser ers- ten Untersuchung hatte keine der 401 getesteten Mütter An- tikörper gegen SARS-CoV-2. Diese Mütter wurden in der Folge im Abstand von drei Monaten zu Folgeuntersuchungen einge- laden, die im August 2020, November 2020 und Februar 2021 stattfanden. Zusätzlich wurden im November 2020 sowie Ja- nuar 2021 jeweils 75 pädagogische Mitarbeiter/-innen von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen im Rostocker Raum zur Teilnahme eingeladen. Die Einladung für das päda- gogische Personal an Schulen in Rostock und im Landkreis Ros- tock erfolgte durch das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur; die Einladung für Beschäftigte in ausgewählten Kindertagesstätten in der Hansestadt Rostock erfolgte durch das Ministerium für Soziales, Integration und Gleichstellung.

Alle Studienteilnehmer erklärten schriftlich ihr Einver- ständnis zur Teilnahme an dieser Studie und füllten einen Fragebogen aus mit Angaben zu Person, Beruf, Reiseana- mnese, Kindern, Betreuungssituation der Kinder, Sympto-

men von Atemwegsinfektionen einschließlich Geruchs- und Geschmacksstörungen sowie Angaben zur Impfung gegen SARS-CoV-2. Zusätzlich untersuchten wir Partner und Kinder von Teilnehmerinnen, wenn beide Erziehungsberechtigte ihr Einver ständnis mit der Blutabnahme beim Kind erklärten.

Im ersten Studienzeitraum im April 2020 erfolgte die Anti- körperbestimmung aus dem Serum mit dem Anti-SARS-CoV- 2-ELISA (IgA und IgG) der Fa. Euroimmun, Lübeck, Deutsch- land. Die im ELISA-Test positiv oder grenzwertig getesteten Seren wurden zusätzlich im indirekten Immunfluoreszenztest zur Bestimmung von Antikörpern gegen SARS-CoV-2 unter- sucht [Details siehe 4].

Ab August 2020 erfolgte die Antikörperbestimmung aus dem Serum im Institut für Klinische Chemie und Laboratoriums- medizin der Universitätsmedizin Rostock. Verwendet wurden Antikörpertests gegen SARS-CoV-2 Nukleokapsid und gegen SARS-CoV-2 Spike (Elecsys® anti-N; anti-SARS-CoV-2 nucleo- capsid, und Elecsys® anti-S; anti-SARS-CoV-2 spike ECLIA, Roche Diagnostics). Die Ergebnisse der Antikörperbestim- mung gegen SARS-CoV-2 Nukleokapsid wurden qualitativ als Cut-off index (COI) angegeben. Dieser gibt das Verhältnis des gemessenen Signals im Verhältnis zum Cut-off Signal an.

COI-Werte über 1 werden als positiv für die Anwesenheit von spezifischen Antikörpern gewertet. Die Ergebnisse der Anti- körperbestimmung gegen SARS-CoV2 Spike wurden in U/ml angegeben. Diese Methode wurde gegen den internen Ro- che-Standard für Anti-SARS-CoV-2-S standardisiert. Dieser Standard besteht aus einem äquimolaren Gemisch aus 2 mo- noklonalen Antikörpern, die die Spike-1-RBD an 2 verschie- denen Epitopen binden. 1 nM dieser Antikörper entspricht 20 U/mL des Elecsys Anti-SARS-CoV-2 S Tests. Ein internatio- naler Standard für Anti-SARS-CoV-2-S ist nicht verfügbar (Methodenblatt Elecsys Anti-SARS-CoV-2 S 09289267500V1.0

(7)

WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

2020-09, Roche Diagnostics). Somit sind die Testergebnisse dieses Testes nicht mit Testergebnissen anderer Hersteller vergleichbar. Werte ≥ 0,80 U/ml werden als positiv für die Anwesenheit von spezifischen Anti-SARS-CoV-2 S Antikör- pern gewertet.

Die Datenerfassung, die statistische Auswertung und die Er- stellung der Grafiken erfolgten im Tabellenkalkulationspro- gramm Excel von Microsoft 2016. Für die statistische Analyse wurde der Zweistichproben-t-Test für unabhängige Stichpro- ben verwendet.

Die Ethikkommission an der Universitätsmedizin Rostock er- teilte ein positives Votum zu dieser Studie mit Verlaufskont- rollen der bereits eingeschlossenen Teilnehmerinnen und mit dem zusätzlichen Einschluss von pädagogischem Personal aus Schulen und Kindertagesstätten sowie der Untersuchung von Kindern, falls beide Erziehungsberechtigte einverstanden waren (A2020–0222). Die Studie ist beim Deutschen Re­

gister Klinischer Studien (DRKS) unter der Nummer DRKS00 021 614 erfasst.

Ergebnisse

Der erste Untersuchungszeitraum der Mütterstudie war vom 22.-29.04.2020, der zweite vom 10.08.-08.09.2020, der dritte vom 28.10.-16.11.2020 und der vierte vom 23.02.-03.03.2021.

Der erste Untersuchungszeitraum für das pädagogische Per- sonal war vom 02.-16.11.2020, der zweite vom 04.-05.01.2021.

Die Untersuchung zeigte im April 2020 bei keiner der 401 untersuchten Mütter weder SARS-CoV-2-RNA im Rachenab- strich noch SARS-CoV-2-Antikörper im Blut. Im August/Sep- tember nahmen von den ursprünglich 401 eingeschlossenen Müttern 376 Teilnehmerinnen, im Oktober/November 354 und im Februar/März 2021 noch 322 an der Untersuchung teil (siehe Abbildung 1).

Im Februar/März 2021 waren bereits 22 Frauen gegen CO- VID-19 geimpft, 11 von ihnen zweimalig mit Comirnaty® (Bi- oNTech), 2 Frauen einmalig mit Comirnaty® und 9 Frauen einmalig mit Vaxzevria ® (AstraZeneca) innerhalb der letzten 3 Wochen vor dem Test.

Im April und August/September 2020 konnte bei keiner der Mütter Antikörper nachgewiesen werden. Im November wurden bei 3 Frauen Antikörper gegen SARS-CoV2 Nukleo- kapsid nachgewiesen (bei einer Probandin COI 4,9, der im Verlauf im Februar auf 11,04 anstieg; bei zwei weiteren Frau- en 1,43 bzw. 1,35 mit fehlendem bzw. minimalem Anstieg im Februar auf 1,41 bzw. 1,95). Im Februar 2021 wurden bei 5 weiteren Frauen Antikörper nachgewiesen (COI 1,35; 29,93;

83,11; 124,3; 126,60).

Die drei Frauen mit nur geringen Antikörpern hatten keine bzw. nur leichte Erkältungssymptome, keine von ihnen hatte Geruchs- oder Geschmacksstörungen. Von den 5 Frauen mit hohen Antikörpern hatten vier Erkältungssymptome, eine davon mit Geruchs- und Geschmacksstörung, eine Frau hatte die Infektion nicht bemerkt. Die beiden positiv getesteten Kinder und zwei der drei positiv getesteten Männer hatten die Erkrankung bemerkt. Von den 3 im November positiv ge- testeten Frauen wusste eine, dass sie vorher an COVID-19 er- krankt war. Im Februar gaben 4 von den 8 positiven Proban- dinnen an, dass sie im Vorfeld von ihrer Erkrankung wussten.

Die Familien der positiv getesteten Frauen untersuchten wir ebenfalls auf Antikörper gegen SARS-CoV-2, wenn von den Partnern bzw. bei Kindern von beiden Elternteilen das Ein- verständnis zu einer Blutentnahme vorlag. Insgesamt schlos- sen wir zusätzlich 9 Partner und 11 Kinder der teilnehmen- den Mütter in die Studie ein. Von ihnen wurden 3 Männer und 2 Kinder positiv auf Antikörper gegen SARS-CoV-2 ge- testet.

Abbildung 1. Anteil der serologisch nachgewiesenen COVID-19 Infektionen bei den Teilnehmerinnen der Rostocker Mütterstudie von April 2020 bis Februar 2021

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Seite 257 AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG

WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

ANZEIGEN

Insgesamt wurden 9 Familien der 322 untersuchten Mütter mit mindestens einer serologisch positiven Person gefunden.

■ In zwei Familien waren die Indexerkrankten die Männer, die sich bei der Arbeit angesteckt hatten und die ihre Frauen infiziert hatten. In einer Familie erkrankte eins der beiden Kinder, in der anderen Familie erkrankte das Kind nicht. Bei allen Erkrankten wurden sowohl Nukleokapsid- als auch Spike-Antikörper nachgewiesen.

■ In zwei Familien wurden bei den Müttern hohe Antikörper gegen Nukleokapsid und gegen Spike-Protein nachgewie- sen, ohne dass bei einem anderen Familienmitglied (zwei Männer, drei Kinder) Antikörper nachgewiesen wurden.

■ Bei drei Familien hatten die Frauen nur leicht erhöhte An- tikörper gegen Nukleokapsid (COI 1,35-1,95) ohne Nach- weis von Antikörpern gegen das Spike Protein des SARS- CoV-2, zwei davon bereits im November ohne weiteren Anstieg zum Februar. Bei den getesteten Familienangehö- rigen (drei Männer, vier Kinder) gab es keine Nachweise von Antikörpern.

■ In einer Familie wurden bei beiden Eltern hohe Antikörper nachgewiesen, sie hatten selbst keine Infektion bemerkt, die beiden kleinen Kinder hatten im Januar eine Erkältung gehabt, bei ihnen wurden keine Antikörpertests durchge- führt.

■ In einer Familie war das Kind an COVID-19 erkrankt. Auf Wunsch der Eltern erfolgte die serologische Testung des Kindes und des Vaters. Das Kind hatte hohe Antikörper gegen Nukleokapsid und gegen Spike-Protein. Beide El- tern hatten keine Antikörper.

Bei den Teilnehmer/-innen, die positive Anti-Nukleokapsid- Antikörper hatten, lagen die Antikörperkonzentrationen (lag der Antikörper-Index) gegen das Nukleokapsid des SARS-

CoV-2 im Mittel bei COI 75,9 (±69,2) und die Antikörperkon- zentrationen gegen Spike Protein im Mittel bei 125,7 (±

200,6) U/ml.

Von den insgesamt 22 Geimpften waren 11 Frauen erst ein- mal (1-14 Tage vor dem Test) geimpft worden. Lediglich zwei davon hatten leicht erhöhte Anti-Spike-Antikörper mit einem COI unter 2.

Die 11 zweimalig geimpften Probandinnen hatten Antikör- perkonzentrationen gegen Spike-Protein von 4476 U/ml (±2134; Spannweite 1421 – 8798). Damit waren die Antikör- perkonzentrationen bei den zweimalig geimpften Frauen im Mittel 35-mal höher als bei den Personen, die eine CO- VID-19-Infektion durchgemacht haben (p<0,001; siehe Ab- bildung 2).

Eine an COVID-19 erkrankte Mutter wurde nach der Erkran- kung zweimalig mit Corminaty ® (BioNTech) geimpft. Ihre Antikörper gegen Nukleokapsid (COI 124,3 ) waren vergleich- bar mit den anderen Erkrankten. Ihre Antikörper gegen Spike-Protein waren mit 25.000 U/ml um 199-mal höher als der Mittelwert bei Erkrankten. Da sie sowohl erkrankt als auch geimpft war, wurden ihre Werte nicht in den Vergleich Erkrankter versus Geimpfter einbezogen.

Im November 2020 untersuchten wir außerdem 60 Lehrer/

innen sowie 13 Erzieher/-innen aus dem Raum Rostock. Im Januar 2021 nahmen an der gleichen Studie noch 52 Lehrer und 11 Erzieher teil.

Innerhalb dieser Untersuchungen war bei allen getesteten Personen die PCR aus dem Rachenabstrich negativ für SARS- CoV-2-RNA. Serologisch konnten nur bei einer Lehrerin so-

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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

wohl im November 2020 als auch im Januar 2021 Antikörper gegen SARS-CoV-2 Nukleokapsid nachgewiesen werden (COI 2,08 bzw. 2,02).

Diskussion

Im April und August 2020 hatte keine Teilnehmerin der Müt- terstudie Antikörper gegen SARS-CoV-2. Im November 2020 wurden bei drei von 354 (0,8%) Frauen Antikörper gegen SARS-CoV-2 Nukleokapsid nachgewiesen, wobei die Antikör- per nur mäßig erhöht waren (COI 1,35-4,9), nur eine Frau wusste von einer durchgemachten Infektion. Im Februar/

März 2021 wurden bei 8 von 322 Frauen (2,5%) Antikörper gegen SARS-CoV-2 nachgewiesen, davon wussten 4 nichts von einer Infektion. Damit war die Dunkelziffer vergleichbar mit einer Studie in Berlin-Mitte, die im Dezember 2020 bei 4,4% der 2.287 getesteten Erwachsenen Antikörper gegen

SARS-CoV-2 nachwiesen, 2,2-mal mehr als der Anteil der CO- VID-19-Meldungen [3].

Im April 2020 gingen wir davon aus, dass eine Infektion der Mutter kongruent mit der Infektion der Kinder verläuft. Bei den 9 positiven Familien von 322 untersuchten Müttern, die wir im Rahmen der Studie identifiziert haben, wurde diese generelle Annahme nicht bestätigt. Nur in 2 Fällen waren Kinder infiziert. Ein Kind hatte sich bei den erkrankten Eltern angesteckt. Ein anderes Kind hatte sich außerhalb der Kern- familie angesteckt, beide Eltern hatten keine Antikörper ge- gen SARS-CoV-2.

Auffällig war bei den positiv Getesteten, dass die zwei Kin- der besonders hohe Antikörperindizes gegen SARS-CoV-2 Nukleokapsid hatten (COI 624,5 und 423,3), ohne dass sie über schwere Krankheitssymptome geklagt hatten. Kinder erkranken nach Infektion mit SARS-CoV-2 meist weniger schwer als Erwachsene, bei ihnen sind symptomlose oder symptomarme Verläufe häufiger [6]. Zu bedenken ist jedoch, dass auch bei Kindern schwere Verläufe auftreten können und Langzeitfolgen wie das Multisystem-Inflammations-Syn- drom auftreten können [7].

Der von uns verwendete Antikörper-Test gegen Spike-Prote- in (Elecsys® anti-S; anti-SARS-CoV-2 spike ECLIA, Roche Dia- gnostics) hat laut eines Preprint [8] eine Sensitivität von 97,92% und eine Spezifität von 99,95%, der Test gegen Nuk- leokapsid (Elecsys® anti-N; anti-SARS-CoV-2 nucleocapsid, Roche Diagnostics) hat eine Sensitivität von 96% und eine Spezifität von 100% [9]. Die Anti-Spike-Antikörper korrelie- ren gut mit neutralisierenden Antikörpern [10], so dass bei vorhandenen Anti-Spike-Antikörpern nach Impfung auf eine Immunität geschlossen werden kann.

Aus der Literatur ist bekannt, dass nach einer durchgemach- ten SARS-CoV-2 Infektion und anschließender Impfung die Titer durchschnittlich mehr als 140-mal höher sind als nach Abbildung 2. Antikörper gegen Nukleokapsid- und gegen Spike-

Protein nach durchgemachter Infektion (n=12) und nach zweifa- cher Impfung mit Comirnaty® (n=10), COI = Cut-off Index.

Eine Teilnehmerin, die nach einer durchgemachter Infektion 2-mal mit Comirnaty® geimpft wurde, hatte Spike-Protein-Antikörper von 25.000 U/ml.

6 Mehta NS, Mytton OT, Mullins EWS, Fowler TA, Falconer CL, Murphy OB, Langenberg C, Jayatunga WJP, Eddy DH, Nguyen-Van-Tam JS. SARS-CoV-2 (COVID-19): What Do We Know About Children? A Systematic Review. Clin Infect Dis. 2020 Dec 3;71(9):2469-2479. doi: 10.1093/cid/ciaa556

7 Yasuhara J, Kuno T, Takagi H, Sumitomo N. Clinical characteristics of COVID-19 in children: A systematic review. Pediatr Pulmonol. 2020 Oct;55(10):2565-2575. doi: 10.1002/ppul.24991

8 Riester E, Findeisen P, Hegel JK, Kabesch M, Ambrosch A, Rank CM, Langen F, Laengin T, Niederhauser C. Performance evaluation of the Roche Elecsys Anti-SARS-CoV-2 S immunoassay

Preprint: doi: https://doi.org/10.1101/2021.03.02.21252203

9 Ikegami S, Benirschke RC, Fakhrai-Rad H, Motamedi MH, Hockett R, David S, Lee HK, Kang J, Gniadek TJ. Target specific serologic analysis of COVID-19 convalescent plasma. PLoS One. 2021 Apr 28;16(4):e0249938. doi: 10.1371/

journal.pone.0249938

10 Resman Rus K, Korva M, Knap N, Avšič Županc T, Poljak M. Performance of the rapid high-throughput automated electrochemiluminescence immuno- assay targeting total antibodies to the SARS-CoV-2 spike protein receptor binding domain in comparison to the neutralization assay. J Clin Virol. 2021 Apr 10;139:104820. doi: 10.1016/j.jcv.2021.104820

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Seite 259 AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG

WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

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durchgemachter Infektion allein [11]. Bei der Teilnehmerin unserer Studie, die nach durchgemachter COVID-19 sich zwei- mal mit Cormirnaty® hatte impfen lassen, waren die Spike- Antikörper 199-mal höher als bei den übrigen Teilnehmerin- nen mit durchgemachter Infektion.

Eine Limitation der Studie liegt in der Auswahl der Proban- dinnen, die keinen repräsentativen Durchschnitt darstellt.

Für die Studie meldeten sich im April 2020 vor allem Mütter, die befürchteten, sich bereits unbemerkt infiziert zu haben.

Möglicherweise achteten diese Mütter im Verlauf besonders auf die Einhaltung der AHA-Regeln. Die Motivation zur Teil- nahme an der Studie war hoch. Zum vierten Untersuchungs- zeitraum kamen immer noch 80,3% der ursprünglichen Teil- nehmerinnen. Dass 22 der 322 Frauen im April 2021 bereits ein- oder zweimal geimpft waren, zeigt den hohen Anteil von Teilnehmerinnen aus medizinischen oder pflegerischen Berufen.

Zusammenfassung

■ In dem Niedrigprävalenzgebiet der Stadt Rostock zeigte sich im Februar/März 2021 ein Anteil von 2,5% serologisch nachgewiesenen Infektionen mit SARS-CoV-2 bei den 322 getesteten Müttern.

■ Eine zweimalige Impfung erzielte im Mittel 35-mal höhere Spike-Antikörper als eine durchgemachte Infektion.

■ Nach durchgemachter COVID-19 Erkrankung bewirkt laut Literaturangaben eine Impfung gegen SARS-CoV-2 eine mehr als 100-fache Steigerung der Anti-Spike-Antikörper.

Bei einer Probandin, die nach Erkrankung zweimal mit Co- mirnaty geimpft wurde, waren die Anti-Spike-Antikörper 199-mal höher als der Mittelwert der Erkrankten.

Literatur bei den Autoren:

Kontakt:

Prof. Dr. Emil Reisinger Abt. für Tropenmedizin und Infektionkrankheiten,

Universitätsmedizin Rostock Ernst-Heydemann-Str. 6 18057 Rostock E-Mail: emil.reisinger@uni-rostock.de

11 Manisty C, Otter AD, Treibel TA, McKnight Á, Altmann DM, Brooks T, Noursadeghi M, Boyton RJ, Semper A, Moon JC. Antibody response to first BNT162b2 dose in previously SARS-CoV-2-infected individu- als. Lancet. 2021 Mar 20;397(10279):1057-1058. doi: 10.1016/S0140- 6736(21)00501-8

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JUNGE ÄRZTE

„Wenn die globale Erholung von COVID-19 nicht mit der Antwort auf den Klimawandel in Einklang steht, wird die Welt das im Pariser Abkommen festgelegte Ziel nicht errei- chen und die öffentliche Gesundheit kurz- und langfristig schädigen.“1

Dieses Zitat stammt vom Lancet Countdown 2020 zu Ge- sundheit und Klimawandel: Antworten auf sich überlagern- de Krisen und fasst die aktuelle Situation und die Forderun- gen von verschiedenen Netzwerken und Organisationen in Deutschland zusammen. „Klimaschutz ist Gesundheits- schutz“ sollte als eines der wichtigsten Themen unserer Zeit eigentlich das Hauptthema beim 124. Ärztetag in Rostock sein. Doch leider fand es beim Online-Ärztetag keinen Platz, wurde kurzfristig von der Tagesordnung genommen und auf die Tagung im Herbst verschoben. Warum es den- noch für jeden Einzelnen schon jetzt wichtig ist, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzten, soll dieser Artikel darstellen.

Nach Einschätzungen der WHO werden die Folgen des Kli- mawandels zwischen 2030 und 2050 weltweit jährlich 250.000 zusätzliche Todesfälle verursachen.2 Mit der Appro- bation verpflichten wir uns als Ärztinnen und Ärzte Leben zu erhalten und zu schützen. Das bedeutet umgekehrt, dass auch die Herausforderung des Klimaschutzes eine ärztliche Aufgabe sein muss. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin formulierte 2021 bei ihrem 127. Jahreskongress da- her treffend, dass Umwelt- und Klimaschutz mit Gesund- heitsschutz gleichzusetzen ist.3 In vielen Bereichen der Me- dizin hinterlässt der Klimawandel bereits jetzt deutliche Spuren. Um diese gesundheitlichen Folgen des Klimawan- dels jedes Jahr zu dokumentieren und die Folgen eines ver- zögerten Handelns zu beschreiben, wurde 2016 der Lancet Countdown ins Leben gerufen. Der Lancet Countdown ist eine unabhängige internationale Kooperation aus 120 füh- renden Expertinnen und Experten aus den Klimawissen- schaften, der Medizin, des öffentlichen Gesundheitswesens und vielen weiteren Bereichen. Der letzte, im Dezember 2020 veröffentlichte Bericht, zeigte eine besonders besorg- niserregende Entwicklung. Gerade die vulnerablen Gruppen (z.B. ältere Menschen, Kinder) waren weltweit zusätzlich 475 Millionen Hitzewellenereignissen ausgesetzt. Hitzewel- lenereignisse sind Phasen aufeinander folgender, unge- wöhnlich heißer Tage. So stieg die Mortalität bei über 65-Jährigen, in Zusammenhang mit Hitze, in den letzten 20

Klimawandel und Gesundheit – Was bedeutet das für uns?

Jahren um 53,7 %, was im Jahr 2018 zu 20.200 Todesfällen allein in Deutschland führte.4,1 Die finanziellen Kos-

ten der hitzebedingten Sterblichkeit entsprachen 2018 dem Durchschnittseinkommen von 11 Millionen europäischen Bürgerinnen und Bürgern.1 Auch zum Thema Luftver- schmutzung äußerte sich der Lancet Countdown mit beun- ruhigenden Zahlen: „(…) jedes Jahr sterben mehr als eine Million Menschen infolge der Luftverschmutzung durch Kohlekraftwerke und rund 390.000 dieser Todesfälle waren 2018 auf Feinstaub zurückzuführen.“1 Das Verhängnisvollste ist aber, dass diese massiven gesundheitlichen Folgen des Klimawandels häufig diejenigen trifft, die für diese Ent- wicklungen am wenigsten ursächlich sind: Kinder. Denn durch ein Fortschreiten der Klimakrise sind Kinder am meis- ten gefährdet.5

2017 sorgte der Gesundheitssektor selbst für 4,6 % des weltweiten Ausstoßes von Klimagasen.1 In welchem Verhält- nis diese 4,6 % stehen, beschreibt ein Artikel von Matthias Wallenfels in der Ärzte-Zeitung 2019, in dem es heißt: „Ge- sundheitswesen klimaschädlicher als Flugverkehr“.6 Die gute Nachricht ist aber, dass bereits erste Schritte unter- nommen werden, die Emissionen in unserer Branche zu re- duzieren. Nicht nur das Bundesministerium für Gesundheit hat mittlerweile eine eigene Abteilung für Gesundheits- schutz und Nachhaltigkeit eingerichtet, sondern auch ver- schiedene Fachgesellschaften und Kammern positionieren sich für mehr klimafreundlichen Gesundheitsschutz, bei- spielsweise die AG Klimawandel/Gesundheit der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin. Zusätzlich gründen sich immer mehr Netzwerke und Organisationen, die das Thema Klimawandel und Gesundheit weiter publik machen, Forde- rungen, vor allem an die Politik, stellen oder Lösungsmög- lichkeiten aufzeigen.

Ein Beispiel dafür ist die Initiative KLUG7 (Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit), die sich als Netzwerk von Einzelpersonen, Organisationen und Verbänden aus dem gesamten Gesundheitsbereich im Oktober 2017 gründete (z.B. Eckart von Hirschhausen als prominentes Mitglied).

Ziel von KLUG ist es, alle Gesundheitsberufe aufzurufen, gemeinsam bei der gesamtgesellschaftlichen Transformati- on mitzuwirken und die Erderwärmung zu begrenzen. 2020

(12)

Seite 261 AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG

JUNGE ÄRZTE

wurde von KLUG die Planetary Health Academy8 ins Leben gerufen, um Wissenslücken im Bereich des Klimawandels im Gesundheitswesen zu schließen. Aktuell läuft der dritte Zy- klus der internationalen Vortragsreihe der Academy, der unentgeltlich online angesehen werden kann und in vielen medizinischen Fakultäten sehr erfolgreich als Wahlpflicht- fach für Medizinstudierende etabliert wurde. Weiterhin gründeten sich über KLUG auch lokale Gruppen z. B. in Greifswald und Rostock aus, die unter dem Namen Health for Future9 viele verschiedene Mitglieder der Gesundheits- berufe vereint und sich in unterschiedlichen Aktionen vor Ort für den Klima- und Gesundheitsschutz einsetzen. Kon- krete Ideen, was wir als Ärztinnen und Ärzte schon jetzt zum Thema Klimaschutz beitragen können, kann man auch in den aktuellen Folgen der Podcast-Serie „EvidenzUpdate“

ANZEIGEN

der Ärzte Zeitung mit Prof. Scherer und Denis Nößler anhö- ren. Es gibt also eine Vielzahl von Möglichkeiten sich über den Klimaschutz zu informieren und sich für ihn zu enga- gieren. Denn all die oben beschriebenen Fakten sind uns hinlänglich bekannt. Es ist also nicht mehr die Frage, ob wir etwas tun sollten, sondern was und wie. Und das genau jetzt!

„Gesundheit braucht Klimaschutz – denn gesunde Men- schen gibt es nur auf einem gesunden Planeten.“9

Quellenverzeichnis bei der Autorin:

Theresa Buuck für die Jungen Ärzte Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Rostock Wissenschaftliche Mitarbeiterin

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LESERBRIEFE

Auf den bisherigen Verlauf der SARS-CoV-2-Pandemie bli- ckend, sehe ich leider nicht die Medizin, sondern die Medien in einer führenden Rolle. Die große Pressefreiheit bedeutete zugleich das Freisein von Kompetenz im Umgang mit einem sensiblen Thema immenser gesellschaftlicher Bedeutung. Wie schnell wurden vermeintliche Fakten, deren Genesis keine Rol- le mehr spielte, unreflektiert in einen Pool geworfen, wo sie nicht mehr sachlich informierten, sondern Ängste und Verun- sicherungen schürten. Begriffe wie „Inzidenz“ und „R-Wert“

verselbständigten sich nicht etwa evidenzbasiert, sondern al- lein durch ihre gebetsmühlenartige Wiederholung und ewige Präsenz in den Nachrichten zu isolierten Markern einer Bedro- hungslage. Die Politik zeigte sich weitgehend überfordert und verlor sich in einem aktionistischen Zirkus. Aus meiner Wahr- nehmung ist unserem Berufsstand vorzuwerfen, dass er die Deutungshoheit einer medizinischen Befundlage abgegeben hat. Die Medien transportierten sogar weitgehend unwider- sprochen die Indikationen des speziellen Impfstoffeinsatzes

Nach der Pandemie ist vor der Pandemie

als Empfehlungen (Freigaben) politischer Entscheidungsträ- ger. Daran konnten die noch so ehrlich und gut gemeinten medizinischen Beratungen einiger weniger nichts mehr än- dern. Für die Zukunft kann ich mir am Beispiel der etablierten Sachverständigenräte, auf einer medizinischen Ebene, unter der Schirmherrschaft der Ärztekammern, interdisziplinäre Gremien vorstellen, die in der Lage sind, gesichertes Wissen für die Politik zusammenzufassen. Gremien, die nicht zu über- hören sind und wahrgenommen werden müssen. Gremien, die Nutzen und Risiken restriktiver Maßnahmen austarieren und Kollateralschäden kalkulieren können. Wenn wir aus der bis- herigen Erfahrung der Pandemiebekämpfung wissen, dass parlamentarisches Potential für das Management einer Krise nicht reicht, muss der medizinisch-wissenschaftliche Hinter- grund einer Epidemie/Pandemie wesentlich stärker und kont- rolliert in politische Entscheidungen einfließen.

PD Dr. Ulrich Hammer, Bad Doberan

Der sehr ausführliche, für den Leser recht lange Beitrag von Herrn Radke zum o.g. Thema gleicht de facto einem Offenba- rungseid. Als ehemaliger Oberarzt der Uni-Kinderklinik Ros- tock bin ich über deren Niedergang in den letzten 15 bis 20 Jahren extrem irritiert. Man fragt sich, wie es zu diesem deso- laten Zustand kommen konnte. Insbesondere, wenn man be- rücksichtigt, dass diese Klinik in „Ost-Zeiten“ zu den leistungs- stärksten in der ehemaligen DDR gehörte (noch vor der Cha- rité in Berlin). Auch in den 90er-Jahren war die Klinik allseitig noch bestens aufgestellt. Nach meiner Auffassung folgt der von Herrn Radke beschriebene Zustand ja keinem Naturge- setz. Er ist vielmehr Folge menschlichen (Fehl-)Handelns. Lei- der versäumt es Herr Radke, Roß und Reiter zu nennen und darauf hinzuweisen, wer die schweren Strukturverwerfungen in Rostock mit Zerschlagung des Fachgebiets zu verantworten hat. Auch müsste man ihn fragen, welchen Beitrag er selbst zur Verbesserung der Situation der Klinik während seines Di- rektorats von 2015 bis 2018 geleistet hat.

Aus der Ferne betrachtet scheint es derzeit so zu sein, dass weder die Medizinische Fakultät der Universität Rostock noch

Leserbrief zum Artikel

„Deutschland und seine (chronisch) kranken Kinder – wie sieht es in M­V aus?, Ausgabe 5/2021, S. 187ff.

die Leitung des Südstadt-Krankenhauses ein nachhaltiges In- teresse an einer funktionierenden stationären Kinder- und Jugendmedizin in Rostock haben. Zudem fehlt der Landesre- gierung offenbar der politische Wille, hier regulierend einzu- greifen und das seit mehr als 10 Jahren diskutierte Konzept eines Eltern-Kind-Zentrums endlich umzusetzen. Man über- lässt dieses Thema den konkurrierenden Partikularinteressen – und das auf dem Rücken kranker Kinder.

Diese werden dieses Versagen bezahlen müssen. lhnen wird der im Jahr 2021 geltende medizinische Qualitätsstandard vor- enthalten – und zwar vom Frühgeborenen bis zum Jugendli- chen.

Die Landesregierung sollte nicht warten, bis Rostock ein zwei- tes Wolgast wird.

Dr. Manfred Müller ehem. Chefarzt der Kinderklinik Stralsund

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Seite 263 AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG

AKTUELLES

Meldepflichtige Corona-Fälle in den Branchen der BG Gesundheits- dienst und Wohlfahrtspflege in 2020

Melde- pflichtige Fälle

Anerkann- te Fälle

KW 11 1 0

KW 12 20 3

KW 13 54 29

KW 14 160 77

KW 15 314 205

KW 16 457 337

KW 17 693 504

KW 18 647 525

KW 19 665 527

KW 20 958 760

KW 21 855 701

KW 22 723 540

KW 23 514 427

KW 24 282 236

KW 25 483 393

KW 26 416 304

KW 27 478 376

KW 28 297 214

KW 29 357 262

KW 30 212 145

KW 31 214 131

KW 32 215 151

KW 33 181 114

KW 34 234 180

KW 35 195 136

KW 36 111 83

KW 37 124 95

KW 38 187 121

KW 39 196 157

KW 40 128 62

KW 41 166 114

KW 42 161 122

KW 43 180 132

KW 44 191 131

KW 45 423 322

KW 46 572 441

KW 47 741 584

KW 48 953 756

KW 49 1.195 923

KW 50 1.509 1.155 KW 51 2.170 1.609

KW 52 1.179 818

KW 53 1.085 699

Corona-Fälle nach Branche und Anzahl der Vollbeschäftigten in 2020:

1) In der Zahl der Vollbeschäftigten sind enthalten auf Vollbeschäftigte umgerechnete: Arbeitnehmer, versicherte Unternehmer, ehrenamtlich Tätige (sofern das meldende Unternehmen der Wohlfahrtspflege zugehörig ist). Quelle bildet die Umlagerechnung 2020 (Stand März 2021)

Alle Daten mit freundlicher Unterstützung der BGW (Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege) à diesen Hinweis bitte am Ende der Tabellen und rechtsbündig als Abschluss

Daten für 2020

Meldepflichtige Corona-Fälle in den Branchen der BG Gesundheits- dienst und Wohlfahrtspflege bis Mai 2021

Corona-Fälle nach Branche und Anzahl der Vollbeschäftigten in 2020:

Alle Daten mit freundlicher Unterstützung der BGW (Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege)

1) In der Zahl der Vollbe- schäftigten sind enthal- ten auf Vollbeschäftigte umgerechnete: Arbeit- nehmer, versicherte Un- ternehmer, ehrenamt- lich Tätige (sofern das meldende Unterneh- men der Wohlfahrts- pflege zugehörig ist).

Quelle bildet die Umla- gerechnung 2020 (Stand März 2021)

0 500 1000 1500 2000 2500

KW 11 KW 12 KW 13 KW 14 KW 15 KW 16 KW 17 KW 18 KW 19 KW 20 KW 21 KW 22 KW 23 KW 24 KW 25 KW 26 KW 27 KW 28 KW 29 KW 30 KW 31 KW 32 KW 33 KW 34 KW 35 KW 36 KW 37 KW 38 KW 39 KW 40 KW 41 KW 42 KW 43 KW 44 KW 45 KW 46 KW 47 KW 48 KW 49 KW 50 KW 51 KW 52 KW 53

Meldepflichtige Fälle Anerkannte Fälle

KW 1 KW 2 KW 3 KW 4 KW 5 KW 6 KW 7 KW 8 KW 9 KW 10 KW 11 KW 12 KW 13 KW 14 KW 15 KW 16 KW 17 Meldepflichtige Fälle 2.605 3.487 3.602 4.182 4.046 4.634 5.437 5.256 3.978 3.662 4.804 3.344 2.984 2.065 3.087 3.366 3.291 Anerkannte Fälle 1.896 2.645 2.703 3.141 3.051 3.354 4.019 3.719 2.465 2.067 1.971 1.609 1.460 915 1.305 935 616

0 1000 2000 3000 4000 5000 6000

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AKTUELLES

Hintergrund

Intelligente assistive Technologien bergen großes Potenzial bei der innovativen Versorgung von Demenzkranken. Sie kön- nen zur Verbesserung der Lebensqualität von Betroffenen führen, als auch die Belastung von Pflegenden und Angehöri- gen von Menschen mit Gedächtnisstörungen mindern.1 Mobi- le technische Assistenten sind in der Allgemeinbevölkerung weit verbreitet. Nicht nur Smartphones, sondern auch Smart- watches sind heute zu bezahlbaren Preisen verfügbar und werden von immer mehr Menschen in ihrem Alltag einge- setzt. Doch die zunehmende Anzahl „intelligenter“ Alltags- helfer findet bislang kaum Anwendung bei der Unterstützung von Menschen mit Gedächtnisstörungen.2 Diese können von der stetigen Weiterentwicklung mobiler assistiver Technologi- en weniger profitieren.

Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Hauptproblem ist, dass die Bedürfnisse von Menschen mit Gedächtnisstörung von den verfügbaren Geräten nicht abgedeckt werden. Der übliche Funktionsumfang richtet sich an gedächtnisgesunde Nutzer und beinhaltet selten Applikationen, die für Menschen mit Einschränkungen des Gedächtnisses von Interesse sind. Ein weiteres großes Problem ist die Bedienbarkeit der Geräte. Die Nutzergruppe von Menschen mit Gedächtnisproblemen ist mehrheitlich über 60 Jahre alt und den Umgang mit moder- nen Technologien nicht gewohnt. Der Wegfall von Knöpfen

Tragbare Assistenzsysteme zum Monitoring und zur Unterstützung von Menschen mit Gedächtnisstörungen

Doreen Görß*

und Schaltern, also Hardware mit unmittelbar haptischem Feedback, bereitet vielen älteren Techniknutzern Probleme.

Die Zielgruppe ist mit dem Gebrauch kapazitiver Oberflächen nicht vertraut und muss sich das Design und die Logik der ver- wendeten Benutzeroberflächen neu erschließen. Auch ist die Anwendung sehr komplex und muss Schritt für Schritt erlernt werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Mensch mit Gedächtnisstörung tendenziell Probleme hat, neue Dinge zu erlernen bzw. Erlerntes zu behalten und die neu erlernten Ab- läufe selbständig abzurufen. Darüber hinaus bestehen geriat- rische Komorbiditäten, bspw. sind Sehen und Hören reduziert oder die Feinmotorik gestört, was den Umgang mit aktuell verfügbaren Technologien zusätzlich erschwert. Zur Verbesse- rung der Versorgung von Menschen mit Demenz arbeitet Dr.

med. Doreen Görß im Rahmen des Clinician Scientist Program- mes an der Universitätsmedizin Rostock in der Sektion Geron- topsychosomatik.

Forschungsfragen

Wie Technik zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Gedächtnisstörungen eingesetzt werden kann, ist ein weites Feld. Dabei sind spezifische Domänen zu adressieren, welche interdisziplinär und partizipativ erforscht werden müssen, um nachhaltig einen Technologietransfer zu ermöglichen und die Rückführung des Wissens zum Anwender zu gewährleisten. Zu- sammenfassend werden mit der Arbeit diese Ziele verfolgt:

■ Anwendung eines Nutzer-zentrierten Ansatzes mit fortwäh- render, iterativer Einbindung von Nutzer-Feedback in den Entwicklungsprozess von Technologien

■ Messung und Analyse von Vital- und Aktivitätsdaten, aufge- zeichnet mit mobilen Geräten, zur Identifizierung von Situa- tionen mit Hilfsbedarf

* Ärztin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Clinican Scientists Programm der Universitätsmedizin Rostock

1 Ienca M, Jotterand F, Elger B et al. (2017) Intelligent Assistive Technology for Alzheimer‘s Disease and Other Dementias: A Systematic Review. Journal of Alzheimer‘s disease : JAD 60(1):333

2 Vollmer Dahlke D, Ory MG. Emerging Issues of Intelligent Assistive Tech- nology Use Among People With Dementia and Their Caregivers: A U.S.

Perspective. Front Public Health. 2020;8:191. Published 2020 May 21.

(16)

AKTUELLES

■ Weiterentwicklung neuro-kognitiver Modelle von räumlicher Desorientierung, anhand von Daten aus der realen Welt

■ Entwicklung von Interventionsszenarien mit Beschreibung geeigneter automatisierter Aktionen von technischen Syste- men basierend auf der Erkennung bestimmter Situationen Nutzerzentrierte Designansätze werden in der Produktent- wicklung bereits seit vielen Jahren verfolgt. Voraussetzung für ihre Implementation ist die suffiziente Kommunikation über die Bedürfnisse der zukünftigen Nutzer. Die Feststellung der Bedürfnisse von Menschen mit Gedächtnisstörungen z.B. mit retrospektiven Befragungen kann schwierig sein. Daher wer- den verschiedene Methoden der partizipativen Forschung und Nutzerzentrierung bei Menschen mit Demenz erprobt und wissenschaftlich überprüft, ob und welche Verfahren erfolg- reich angewendet werden können.

Seit einigen Jahren gibt es eine Vielzahl von tragbaren Senso- ren, welche z.B. die Aktivität ihrer Träger m.H. von Akzelero- metern quantifizieren. Obwohl die Sensoren relativ klein und kabellos sind, ist ihre Akzeptanz insbesondere bei Menschen in fortgeschrittenen Stadien der Demenz nicht immer gege- ben. Die neueren sog. „Wearables“ haben hier einige Vorteile.

Bei Smartwatches entsteht durch Einblenden eines analogen Ziffernblattes der Eindruck einer herkömmlichen Uhr. Darüber hinaus ermöglichen Smartwatches (je nach Hard- und Soft- wareausstattung) ggf. die Aufzeichnung weiterer Vitaldaten (neben Akzelerometrie z.B. Herzrate, Hautleitwiderstand), die Bestimmung des Aufenthaltsortes (Indoor und Outdoor) und erlauben eine Echtzeitübertragung der Daten auf leistungsfä- higere Systeme (abhängig von Schnittstellen, wie z.B. LTE oder BLE). In gemeinsamen Forschungsprojekten mit Partnern aus der Informationstechnik und Informatik wird erforscht, wel- che Parameter erfasst werden müssen, um relevante Informa- tionen über das Verhalten (z. B. räumliche Desorientierung) bzw. den Hilfsbedarf einer Person automatisiert ermitteln zu können und welche Plattformen und technische Infrastruktur hierfür eingesetzt werden können.

Aus der Praxis und aus Voruntersuchungen3 ist bekannt, dass räumliche Desorientierung eines der häufigsten Probleme von Menschen mit Demenz ist, welches als technisch adressierbar gilt. Interdisziplinäre Arbeiten von Neuropsychologen und In- formatikern haben bereits kognitive Modelle bspw. von Weg- findung konzipiert.4 Diese theoretischen Konzepte sind jedoch für gedächtnisgesunde Menschen entwickelt worden und be- dürfen einer Anreicherung bzw. Weiterentwicklung durch Erfahrungen aus der Praxis von Menschen mit Demenz. Aus diesem Grund ist die explizite Beobachtung von Menschen mit Gedächtnisstörung bei einer Wegfindungsaufgabe in einer Krankenhausumgebung ein weiterer Forschungsaspekt.

Wenn durch am Körper getragene Sensoren bei einem Men- schen ein Hilfsbedarf festgestellt wurde, so wäre es wünschens- Matthias Nali und Doreen Görß bei der Vorstellung des Projektes gegenüber Bewohnern, Angehörigen und Mitarbeitern des Pflege- heims Pinnow.

3 Schaat S, Koldrack P, Yordanova K, Kirste T, Teipel S. Real-Time Detection of Spatial Disorientation in Persons with Mild Cognitive Impairment and Dementia. Gerontology. 2020;66(1):85-94. doi: 10.1159/000500971.

4 Manning JR, Lew TF, Li N, Sekuler R, Kahana MJ. MAGELLAN: a cogni- tive map-based model of human wayfinding. J Exp Psychol Gen. 2014 Jun;143(3):1314-1330. doi: 10.1037/a0035542. Epub 2014 Feb 3.

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AKTUELLES

Darstellung der Wegfindungsstudie: oben: Sensorisch erfasster Aufenthaltsort und Gehgeschwindigkeit des Probanden bei der Wegfindung. Unten links: von der Smartwatch erfasste Vitalpara- meter (von oben nach unten: Elektrodermale Aktivität, Blood Vo- lume Pressure zur Kalkulation der Herzrate und Akzelerometrie).

Unten rechts: Digitale Annotation des Verhaltens in Echtzeit durch einen Studienmitarbeiter während der Untersuchung.

wert, wenn situationsadaptiv von dem technischen Gerät eben- falls eine Hilfestellung erfolgt. Dabei ist es zur Erhöhung der Akzeptanz und der Effektivität der Intervention von Bedeu- tung, dass solche Interventionen individualisiert erfolgen, d.h.

an den Zustand und die Ressourcen des Nutzers angepasst sind.

Technisch wird diese Entscheidungsfindung durch komplexe Algorithmen realisiert, welche basierend auf Ausgangswerten (z.B. Sehvermögen des Nutzers, Grad der Gedächtniseinschrän- kung, etc.) und aktuellen Parametern (von Sensoren gelieferte Vitaldaten, Aufenthaltsort, etc.) Erfolgswahrscheinlichkeiten für alle potenziell zur Verfügung stehenden Interventionen in dieser Situation berechnen und schließlich eine Intervention auswählen. Bspw. kommt in Realumgebungen, in denen immer auch Messunsicherheiten berücksichtigt werden müssen, POMDP (partially observable Markov decision process) zur An- wendung.5

Das SAMi Projekt

SAMi steht für „Sensorbasierter persönlicher Aktivitätsmanage- mentassistent für die individualisierte stationäre Betreuung von Menschen mit Demenz“. Es ist ein seit 2017 bestehendes Ver- bundprojekt wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Partner aus M-V und wird durch das Land Mecklenburg-Vorpommern im Rahmen des Technologieförderprogramms und aus Mitteln des

EFRE Fonds (Europäischer Fonds für regionale Entwicklung) fi- nanziert. SAMi soll ein interaktives Sensorarmband sein, das Aktivitäten von Menschen mit Demenz (MmD) in Echtzeit ana- lysiert. Über integrierte Sensoren können objektive Daten über die täglichen Aktivitäten des MmD erhalten werden. Es ist ein Werkzeug für die Realisierung aktivitätsbasierter Interventio- nen bei der Betreuung und Pflege von MmD und beruht auf dem Prinzip der aktivierenden Pflege. Allerdings ist es so konzi- piert, dass sich das System nicht nur an den eigentlichen Träger richtet, sondern im Bedarfsfall auch Betreuer, Pfleger oder An- gehörige informiert. Innerhalb des Projektes gibt es diverse Teilaspekte, die technisch realisiert, wissenschaftlich analysiert und hinsichtlich des wirtschaftlichen Potenzials evaluiert wer- den. Die Universitätsmedizin Rostock als ein klinischer und wis- senschaftlicher Partner übernimmt maßgeblich die Anforde- rungsanalyse, welche durch Hospitationen und semi-struktu- rierte Interviews mit anschließender qualitativer Inhaltsanalyse realisiert wird. Des Weiteren wurde unter Leitung der UMR eine Feldstudie zur Verhaltenserfassung durchgeführt, bei der MmD im Pflegeheim in ihrem Alltag beobachtet wurden, parallel zur Ausstattung mit einer Smartwatch und der Instrumentierung der Umgebung zur Lokalisationsbestimmung indoor. In einer weiteren Teilstudie wurde gezielt räumliche Desorientierung im Krankenhaus mit einer Wegfindungsaufgabe bei ähnlicher Sen- sorausstattung untersucht. Im letzten Studienabschnitt wurde mit einer Interventionsstudie begonnen, in der die Reaktion und der Effekt von Interventionen der Smartwatch auf dessen Träger analysiert werden. Damit die Reaktion möglichst unbe- einflusst vom Beobachter ist, erfolgt die Beobachtung der Ka- mera bzw. Analyse per Videoaufzeichnung. Anschließend wer- den die Teilnehmer zu ihren Erfahrungen mit der Smartwatch im Rahmen der nutzerzentrierten Ausrichtung des Projektes befragt. Im SAMi Projekt arbeitet die UMR eng zusammen mit anderen Projektpartnern, u.a. dem DZNE (s.u.), dem Institut für Informatik der Universität Rostock oder dem Fraunhofer Insti- tut für grafische Datenverarbeitung (IGD) Rostock.

Ergebnisse

Initial wurde untersucht, ob das Verhalten von Menschen mit Demenz mit Hilfe von Sensoren erfasst werden kann. Dafür wurde eine multimodale Feldstudie mit insgesamt 17 Men- schen, wohnhaft in zwei Pflegeheimen, durchgeführt. Alle Teil- nehmer waren bereits mittelgradig bis schwergradig dementiell erkrankt. Die Einwilligungen wurden von ihren gesetzlichen Vertretern unterzeichnet. Zum Einsatz kamen Sensoren, welche paarweise am Handgelenk und am kontralateralen Fußgelenk getragen wurden und das Aktivitätsniveau mittels Linearbe- schleuniger (3-achsige Akzelerometer) gemessen haben. Als besonderes Kriterium bei der Studiendurchführung gilt die Dauer der Aufzeichnung, denn pro Teilnehmer wurden etwa vier Wochen seines normalen Verhaltens aufgezeichnet. Tags-

5 Schröder M, Bader S, Bieber G, Kirste T. IT-basiertes Aktivitätsmanage- ment in der Individualisierten Stationären Betreuung von Menschen mit Demenz. Conference Paper. Zukunft Lebensräume 2016. Frankfurt

(18)

AKTUELLES

Seite 267 AUSGABE 7/2021 31. JAHRGANG

über wurde das Verhalten der Probanden durch einen Studien- mitarbeiter beobachtet und in Echtzeit nach einem festgeleg- ten Schema annotiert. Bei der Studie kam heraus, dass es mög- lich ist, die Sensorausstattung, -messung und Datenübertra- gung in Routineabläufe eines Pflegeheims zu integrieren.6 Die Auswertung der Akzelerometriedaten lieferte Informationen über Verhaltensprofile der Bewohner. Eine Spezifizierung der unterschiedlichen Verhaltensweisen allein anhand der Sensor- daten war mit diesem Setup jedoch nicht möglich. Allerdings zeigen die Ergebnisse dieser und anderer Studien, dass Akzele- rometrie potenziell dazu genutzt werden kann, Agitation von Menschen mit Demenz zu erfassen.7

Mit Hilfe von semistrukturierten Interviews erfolgt eine syste- matische Bedarfsanalyse bezüglich der Anforderung an ein technisches Assistenzsystem. Es wurden drei Interessensgrup- pen befragt: Patienten, Angehörige und medizinische Exper- ten. Insgesamt wurden über 32 Interviews geführt, die aufge- zeichnet und anschließend transkribiert wurden. Die Befragten wurden zu Problemen bei der stationären Behandlung befragt, zum Umgang mit herausforderndem Verhalten von Menschen mit Demenz, zum Status quo ihrer Techniknutzung, zu Ideen für technische Innovationen und deren Anforderungen. Die Transkripte wurden der qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen.

Im Resultat konnten Werte von potenziellen Nutzern abgeleitet werden, die in den Value-sensitive-design Ansatz des Vorha- bens eingebettet werden. Insbesondere Werte wie Sicherheit, Autonomie, Privatsphäre, Einfachheit oder Informationsbedürf- nis konnten herausgearbeitet werden. Ihre unterschiedliche Gewichtung und Divergenz bei den verschiedenen Interessens- gruppen zeigen die Komplexität und teilweise Inkonsistenz auf, mit der man bei der Entwicklung von technischer Assistenz in diesem Umfeld konfrontiert wird. Darüber hinaus konnten funktionelle und nicht-funktionelle Anforderungen aus den Interviews abgeleitet werden, denen unter dem Mantel von Benutzerfreundlichkeit (usability) und Nutzer-Erlebnis (user- experience) Rechnung getragen werden sollte. Als funktionelle Anforderungen formulierten die Interviewten bspw. Navigati- onsassistenz, verschiedene Alarm-Funktionen (z.B. beim Verlas- sen einer Station), Sturzerkennung, Schlafdetektion oder Erin- nerungen und Benachrichtigungen. Nicht-funktionelle Anfor- derungen waren z.B. das Vorhandensein von Knöpfen, fehlen- de Bewegungseinschränkung, eine lange Batterielaufzeit, Tra- gekomfort oder eine ansprechende Optik. Obwohl viele der genannten Aspekte nicht überraschend sind, ist anzumerken,

6 Goerss, D., Hein, A., Bader, S., Halek, M., Kernebeck, S., Kirste, T., Teipel, S.

Automated sensor-based detection of challenging behaviors in advanced stages of dementia in nursing homes. Alzheimer’s & Dementia (2019).

7 Bankole, A., Anderson, M., Smith-Jackson, T., Knight, A., Oh, K. et al.

(2012): Validation of noninvasive body sensor network technology in the detection of agitation in dementia. In: American journal of Alzheimer‘s disease and other dementias 27 (5), S. 346–354.

8 Görß, D., Kilimann, I., Dyrba, M. et al. LATE: Nicht jede Demenz ist Alzhei- mer – Diskussion einer neuen Krankheitsentität am Fallbeispiel. Nervenarzt 92, 18–26 (2021). https://doi.org/10.1007/s00115-020-00922-z

dass mit der Bedarfsanalyse gezeigt werden konnte, dass Me- thoden der partizipativen Forschung und des nutzerzentrierten Forschungsansatzes auch bei Menschen mit Gedächtnisproble- men angewandt werden können, was bisher in der Wissen- schaft nicht unbezweifelt ist.

Wie wichtig die Einbeziehung von Wissen um krankheitsspezi- fische Veränderungen der Kognition und des Verhaltens von betroffenen Menschen zur Entwicklung nachhaltig nutzbarer technischer Assistenten ist, wurde bereits dargestellt. Die Diffe- renzierung von verschiedenen dementiellen Erkrankungen ist jedoch nicht nur für die zukünftigen Hilfssysteme von Bedeu- tung, sondern bereits heute bei der optimierten Behandlung und Beratung von Betroffenen. Um die Transformation von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Ontologien in die Praxis zu unterstützen, wurde von der Arbeitsgruppe an einem Fall- beispiel die neue Krankheitsentität der limbisch prädominan- ten, altersassoziierten TDP-43-Enzephalopathie (LATE) disku- tiert. In dem kürzlich erschienen Artikel in „Der Nervenarzt“

werden differentialdiagnostische Überlegungen bei einer 55-jährigen Patientin mit V.a. Alzheimer-Krankheit vorgestellt und aktuelle diagnostische Verfahren, neuropsychologische Be- funde und therapeutische Konsequenzen beschrieben.8

Mehr Informationen über das Clinician Scientist Programm der Universitätsmedizin Rostock erhalten Sie unter www.med.uni- rostock.de/forschung-lehre/forschung/clinician-scientists-ent- wurf

Dr. med. Doreen Görß Zentrum für Nervenheilkunde Sektion Gerontopsychosomatik,

Leitung Prof. Teipel Gehlsheimer Straße 20, 18147 Rostock E-Mail: doreen.goerss@med.uni-rostock.de

Telefon: 0381/494 9480

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