KOMMENTAR
Prof. Dr. med. Arnold Honig, emeritierter Ordinarius für Physiologie, Universität Greifswald
W
issenschaft kommt von „Wis- sen schaffen“, betonten im- mer wieder meine Lehrer, als ich vor 50 Jahren als junger Assistent an der Charité in die Forschung wollte. Heute ist das Ziel unserer medizinischen For- schung aber nicht mehr das Schaffen von Wissen, sondern die Jagd auf Im- pact-Faktor und Drittmittel – mit dem Ziel der internationalen Konkurrenzfä- higkeit. Die heutigen und angeblich ob- jektiven Kriterien sind für ihre Anwen- der sehr bequem. Man muss sich zumBeispiel nicht mehr mühselig sachkun- dig machen, wenn man die Arbeit von Kollegen beurteilt. Es reicht zu erklä- ren, es passe einem das Journal nicht, in dem der andere publiziert hat, und deshalb könne die Arbeit des anderen auch nichts wert sein.
Für eine Zeitschrift ist es einfacher, einen hohen Impact-Faktor zu erreichen, wenn es auf ihrem Themengebiet sehr viele weitere Journale gibt. Das ist der Fall bei der Riesenanzahl von zell- und molekularbiologischen Zeitschriften.
Andere Fächer werden benachteiligt.
Was die Zahl der Veröffentlichungen angeht, so haben am ganzen Men- schen und praxisnah arbeitende Grup- pen in vorklinischen Instituten, wie zum Beispiel in der Humanphysiologie, kei- ne Chance auf eine faire Bewertung.
Impact-Faktor und Drittmittel spielen eine wichtige Rolle bei Berufungsver- fahren. Die Einsatzbereitschaft in der Lehre ist zweitrangig. Dem gemäß be- steht der akademische Lehrkörper an den vorklinischen Instituten in Deutsch- land fast nur noch aus Zell- und Mole- kularbiologen sowie Genetikern – und somit aus Nichtmedizinern. Die Lehrer wissen aus eigenem Erleben nicht, was später im Beruf auf die jungen Medizi- nerinnen und Mediziner zukommt.
Noch mehr als für Vorlesungen und Seminare ist das in der Physiologie für
die praktischen Übungen ein Problem.
Das physiologische Praktikum ist im Prinzip eine sehr gute Möglichkeit, den Studenten Erkenntnisse am Menschen zu demonstrieren, die für ihre spätere Arbeit wichtig sind. Das Gesetz aber verlangt, dass humanphysiologische Tests nur von approbierten Ärzten vor- genommen werden dürfen. Das hat gu- te Gründe: Ein simpler Belastungstest auf einem Fahrradergometer kann für die Universität schwerwiegende juristi- sche Folgen haben, wenn zum Beispiel
ein Proband abstürzt, zu Schaden kommt und kein Arzt anwesend war.
Moderne Experimente mit Frischblut, etwa das Reagieren von Gerinnungs- faktoren oder auch von Ionenbewegun- gen unmittelbar nach Blutabnahme, sind heute technisch mühelos zu be- werkstelligen. Aber sie setzen voraus, dass ein Arzt da ist, der Blut aus einer Armvene abnehmen oder dies anord- nen und überwachen darf. Gibt es kei- ne Ärztinnen und Ärzte am Institut, dann können solche Experimente eben nicht stattfinden. Was macht also ein Physiologisches Institut, das keine Ärz- te mehr hat? Man ersetzt die human- physiologischen Experimente durch Si- mulationen am Computer und verkauft das als moderne Lehrform.
Dozenten, die sich mit vollem Ein- satz der Lehre widmen, fördern damit nicht ihre Karriere. Würde ein Physiolo- ge im Verlauf von Jahren ein moder- nes Experiment entwickeln und in das Praktikum einführen, dann wäre das keine Leistung, und er wäre ein Versa- ger. Würde er aber in dieser Zeit einen Leserbrief von etwa 20 Zeilen in einem Journal mit hohem Impact-Faktor pu- blizieren, dann wäre er ein Held.
Startet man heute seinen Berufsweg als junger Mediziner an einem vorklini- schen Institut, dann hat man, gerade wegen jahrelanger engagierter Arbeit in
der Lehre, keine Perspektive und auch kaum eine Chance, eine Professur zu bekommen. Größere Chancen haben Bewerber, die aus nichtuniversitären Instituten kommen. Nicht gestört von Lehre und Studenten war es ihnen möglich, sich als Impact-Faktor- und Drittmittelhelden zu profilieren.
Mit der immer wieder beschwore- nen „internationalen Konkurrenzfähig- keit“ unserer Fakultäten kann ich als altmodischer Physiologe leider nichts anfangen. Wer ist international konkur-
renzfähig? Ein ägyptischer Forscher, der einen Fortschritt bei der Bekämp- fung von Wurmkrankheiten erzielt hat, oder ein Wissenschaftler in Deutsch- land, der neue Erkenntnisse über Alz- heimer gewonnen hat? Meine Genera- tion hat sich mit solchen Fragen nicht beschäftigen müssen. Wir sind einfach und naiv davon ausgegangen, dass unsere Arbeit den Menschen zu dienen hat, die uns und unsere Fakultäten finanzieren.
Die Impact-Faktor- und Drittmittel- Ideologen haben Jahrzehnte gebraucht, um aus unseren vorklinischen Einrich- tungen „medizinische Institute ohne Mediziner“ zu machen. Eine praxisnahe Forschung und Lehre ist nicht mehr möglich. Das zu korrigieren wird wie- derum Jahrzehnte brauchen, denn da- zu ist zielstrebige und geduldige Nach- wuchsarbeit nötig. Trotzdem müssen wir versuchen, wieder junge Medizine- rinnen und Mediziner in die vorklini- schen Institute zu locken. Dazu sollte man den jungen Leuten anwendungs- orientierte und interessante Themen in der Forschung anbieten, ihren Einsatz in der Lehre als Arbeit anerkennen und ihnen glaubhafte Perspektiven bieten.
Und vielleicht könnten dann irgend- wann unsere Professoren wieder zu ihren Studenten sagen: Wissenschaft kommt von „Wissen schaffen“.
FORSCHUNG UND LEHRE
Vorklinik ohne Mediziner
Deutsches Ärzteblatt