Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 21⏐⏐26. Mai 2006 AA1411
A K T U E L L
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elche sozialen Folgen sich aus der Praxisgebühr ergeben, ist auch zweieinhalb Jahre nach ihrer Einführung nicht klar messbar. Dies geht aus der neuen Erhebung des Gesundheitsmoni- tors der Bertelsmann-Stiftung hervor, die der Bremer Soziologe Dr. Bernard Braun bei einer Anhörung der Links- fraktion im Bundestag vorstellte: „Sozia- le Unterschiede bei der Wirkung der Pra- xisgebühr sind zwar messbar. Sie sind aber weder eindeutig, noch treten sie zeitlich konstant auf.“So sei die Entwicklung der Anzahl der Praxisbesuche seit Einführung der Ge- bühr Anfang 2004 nicht linear verlaufen.
Seien die Arztbesuche zunächst deutlich zurückgegangen, habe sich der Trend im vergangenen Jahr umgekehrt. Im Frühjahr 2006 sei es dann erneut zu einem Rück- gang der Arztkontakte gekommen, sagte Braun vor den Abgeordneten der Links- partei, die in einem Gesetzentwurf die Ab- schaffung der Praxisgebühr fordern.
Zusätzlicher Verwaltungsaufwand Ebenfalls gegenläufig zu einigen theore- tisch fundierten Erwartungen wirke sich die Praxisgebühr auf die Anzahl der Arztkontakte bei Personen unterschied- licher Einkommensgruppen aus. So finde sich der stärkste Rückgang erwartungs- gemäß bei sozial schlechter gestellten Patienten. Dabei gehe die Steuerungs- wirkung der Gebühr zunächst mit wach- senden Einkommen kontinuierlich zurück. „Dieser Trend setzt sich aber nicht fort, sondern wird durch den eben- falls beträchtlichen Rückgang der Arzt-
kontakte in der Versichertengruppe mit einem monatlichen Nettoeinkommen zwischen 3 000 und 3 999 Euro gebro- chen“, so Braun. Erklären könne er sich dies nicht.
Als Steuerungsinstrument ungeeig- net, bewertete der Gesundheitswissen- schaftler und Internist Dr. med. Jens Holst die Praxisgebühr. „Finger weg von Steuerungsversuchen auf der Nachfra- gerseite“, forderte er bei der Anhörung.
Nicht nur, dass die Erhebung von Selbst- beteiligung und vor allem die Ein-
führung von Befreiungsregelungen zu- sätzlichen Verwaltungsaufwand und Ko- sten erzeuge. „Auch ist die postulierte Unterscheidung zwischen sinnvoller und überflüssiger Inanspruchnahme ärztli- cher Leistungen durch Patienten rea- litätsfremd“, so Holst. Laien könnten beispielsweise bei Kopfschmerzen selbst nicht einschätzen, ob eine leichte Grippe oder gar ein Gehirntumor ursächlich sei.
Deshalb müssten sie „ohne Eintrittsge- bühr“ den Arzt konsultieren können:
„Wenn Steuerungselemente eingesetzt werden, dann sollten sich diese an der Anbieterseite orientieren.“
Nach Meinung des gesundheitspoliti- schen Sprechers der Linksfraktion, Frank Spieth, sollte die Praxisgebühr im Rahmen der nächsten Gesundheitsre- form wieder abgeschafft werden. Die so- zialen Sicherungssysteme seien dazu da, im Bedarfsfall frei von sozialer Ausgren- zung die medizinisch notwendigen Lei- stungen bereitzustellen. „Deshalb wol- len wir die durch das GKV-Modernisie- rungsgesetz erfolgten Einschnitte zurück- schrauben“, so Spieth. SR
Praxisgebühr
Folgen nicht klar messbar
Experten bezweifeln Steuerungswirkung von Zuzahlungen.
Foto:KEYSTONE
Die Praxisgebühr ist auch zweiein- halb Jahre nach ihrer Einführung umstritten.
Die Linksfraktion fordert ihre Abschaffung.