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Archiv "Als Stipendiat in Peru: Gesichter der Armut" (06.06.2008)

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A1282 Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 236. Juni 2008

T H E M E N D E R Z E I T

D

ie alte Dame weint leise, als ich sie nach ihrem Befinden frage. Man sieht an ihrer Lumpen- kleidung, dass sie arm ist und wo- möglich nicht jeden Tag etwas zu essen bekommt. Sie hustet stark, an- scheinend schon seit Längerem. Zum Arzt gegangen sei sie noch nicht, sie habe ja kein Geld für so etwas. „Hast du kein Antibiotikum für mich, Dok- torchen?“, sagt sie mit nun etwas krächzender Stimme. Es ist Mittag, die Hitze im Zelt treibt mir den Schweiß ins Gesicht.

Draußen scheint die Sonne, und ein blauer Himmel spannt sich an diesem Sonntag über die peruanische Andenstadt Arequipa. Ihre von ver- fallenen einstöckigen Häusern im al- ten kolonialen Stil gesäumten Gas- sen sind menschenleer. Auf dem klei- nen Platz vor dem Gebäude des Me- dizinzentrums hat sich eine Men- schenmenge versammelt und steht dicht gedrängt um ein paar gelbe Zel- te herum, die dort nachts zuvor auf- gebaut worden sind. In der Ferne er-

heben sich die drei mächtigen, mit Schnee bedeckten Vulkane über die Dächer der aus weißem Tuffstein er- richteten Großstadt.

Fahrt ins Ungewisse

„Ich habe nach dem Erdbeben nichts von meiner Tochter gehört, sie wohnt mit ihrem Mann in Pisco, und nun ist dort alles zerstört“, sagt die alte Da- me leise. Die Schwester schaut ins Zelt, lächelt uns herzlich zu und deu- tet mir an, dass sich draußen immer noch eine lange Schlange von Pati- enten befindet und ich mich beeilen möge. Seit sieben Uhr morgens be- handele ich im Rahmen einer kosten- freien medizinischen Kampagne in einem der drei allgemeinmedizini- schen Zelte Patienten im Zehnminu- tentakt und bin wesentlich langsamer als meine beiden anderen Kollegen.

Ich denke daran, dass ich in den kommenden Tagen nur wenig Schlaf bekommen werde. Morgen werde ich um vier Uhr morgens mit einer kleinen Gruppe von Ärzten, Schwe-

stern und Helfern sowie zwei be- waffneten Wachleuten des Medizin- zentrums, für das ich seit acht Mona- ten arbeite, mit einer kleinen Ladung von Medikamenten, Nahrungsmit- teln und anderen Hilfsgütern zu ei- nem fünftägigen Katastrophenein- satz an die Küste aufbrechen. Es wird eine Fahrt ins Ungewisse, nach Pis- co. Dort hat vier Tage zuvor die Erde fast drei Minuten lang so heftig ge- bebt, dass man es auch noch im 700 Kilometer entfernten Arequipa deut- lich spüren konnte.

Chaos im Erdbebengebiet

Erste Fernsehübertragungen zeigen eine Stadt, die in Ruinen liegt. Der Strom ist ausgefallen, und fließendes Wasser gibt es auch nicht. Auch die Telefonleitungen sind unterbrochen.

Das Erdbeben war mit einer Stärke von 8,0 auf der Richterskala das schwerste seit 60 Jahren in Peru. Die Zahl der Toten und Verletzten ist vier Tage nach dem Beben noch unbe- kannt. Ersten Berichten zufolge wer- den die Leichen der Erdbebenopfer auf dem Rathausplatz, der Plaza de Armas, aufgebahrt und müssen nun von den Angehörigen identifiziert werden. Es gibt nicht genügend Sär- ge, und die Menschen streiten sich auf dem kleinen Friedhof um die ver- bliebenen Plätze. Man befürchtet den Ausbruch von Seuchen. Trinkwasser und Nahrungsmittel sind knapp ge- worden. Erste Berichte über Plünde- rungen und überfallene Hilfskonvois treffen ein. Man bekommt die chaoti- sche Lage anscheinend nicht unter Kontrolle. Später in Pisco sollte man uns während eines schweren Nach- bebens in Panik die Wasserkanister und Thunfischdosen aus den Händen reißen, und ich würde ein sehr inten- sives Gefühl der Hilflosigkeit erle- ben, welches man verspürt, wenn man zusehen muss, wie sich Men- schen um etwas so Grundlegendes wie Nahrungsmittel streiten müssen.

Ich reiche der alten Frau wortlos ein Taschentuch und trete vor das Zelt, um mir einen Überblick über die Lage zu verschaffen, und sehe Edgard, den Chef der Klinik. Er wirkt gehetzt, begrüßt mich jedoch kurz mit einem freundlichen Lächeln und schüttelt beim Anblick der vielen Menschen auf dem Platz den Kopf.

ALS STIPENDIAT IN PERU

Gesichter der Armut

Das Centro Medico Parroquial Aleman Espiritu Santo versorgt in Arequipa Patienten, die sich die Regelversorgung nicht leisten können. Das ursprünglich deutsch-peruanische Hilfsprojekt wird inzwischen in Eigenregie von Peruanern betrieben.

Foto:dpa

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Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 236. Juni 2008 A1283

T H E M E N D E R Z E I T

„Es sind zu viele, wir hätten keine Werbung im Radio machen dürfen.

Hör mal, vergiss nicht die Bespre- chung um 15 Uhr in der Pfarrei we- gen morgen“, sagt er. Den zweiten Satz höre ich nur noch undeutlich, denn er hat sich schon wieder abge- wandt und läuft eiligen Schrittes zu dem Zelt, in dem die Medikamente ausgegeben werden. Dort ist es zu ei- ner Rangelei zwischen den ungedul- dig wartenden Menschen gekommen.

Warten auf die Therapie

Es ist 11.50 Uhr. Die Kampagne en- det offiziell in zehn Minuten. Daraus wird wohl nichts. Vor meinem Zelt drängt sich eine Menschenmenge, man beschimpft sich gegenseitig, die Schwestern versuchen, die aufge- brachten Menschen zu beruhigen.

Dann wird wieder gelacht und dar- aufhin wieder geschimpft. Heute sind die Behandlungen und die Me- dikamente kostenfrei, deshalb sind diese Menschen hier. Sie könnten sich den regulären Preis für eine Grundkonsultation von umgerech- net zwei Euro nicht leisten. Versi- chert sind in Peru nur wenige. Die Patienten aus den ärmeren Bevölke- rungsschichten leiden in erster Linie an Atemwegserkrankungen, Infekti- onskrankheiten des Gastrointestinal- trakts und an Folgen der Unterernäh- rung. Schwerer Wurmbefall und Tu- berkulose sind keine Seltenheit. Ich schaue mir die Menschen auf dem Platz an. Fast alle Wartenden sehen verwahrlost aus. Ein Straßenverkäu- fer, ein älterer, etwas dürrer zahnlo- ser Herr mit gebückter Statur bietet den Wartenden mit einem heiteren Lächeln Bonbons an. Woanders spie- len einige der wartenden Kinder mit einem herbeigelaufenen Hund, und ein junger Mann mit verschmitztem Gesichtsausdruck albert ein wenig mit den Schwestern herum, welche nach einer seiner Bemerkungen plötzlich anfangen, herzlich zu la- chen. Doch die meisten der Warten- den verhalten sich auffällig still. Es sind jene Menschen indigenen Ur- sprungs, die aus den Dörfern in den Bergen außerhalb der Stadt gekom- men sind, wo sie in der kargen Step- pe versuchen, von den bescheidenen Erträgen der Landwirtschaft zu über- leben. Mit ihrem eigentümlich ver-

steinerten Gesichtsausdruck, der sonnengegerbten Haut und den ein- gefallenen Wangen wirken sie ausge- mergelt und verbraucht. Die meisten sind zu Fuß hierher gekommen. Mit ihren leeren Blicken scheinen sie vor sich hin zu dämmern. Um den Hun- ger zu stillen, kauen einige von ihnen Kokablätter. Nur wenige können le- sen und schreiben, und manche spre- chen nicht einmal spanisch, sondern nur quechua, die Sprache der alten Inkas. Heute ist sie die Sprache der Armen. Einige der Frauen sind in tra- ditionelle bunte Kleider gehüllt, un- ter dem schief sitzenden schwarzen Hut hängt ihr pechschwarzes, zu zwei Zöpfen geflochtenes Haar her- ab. Manche tragen ein Baby in ein Tuch gewickelt auf dem Rücken.

Auch die Kinder dieser Menschen wirken auffallend apathisch.

Die Schwester bietet mir ein Glas Wasser an, doch ich bin in Gedanken

versunken und höre sie kaum. Diese Menschen tragen den gleichen Pass in der Tasche wie ich, denke ich noch, als ich mich von ihnen abwen- de, um ins Zelt zurückzukehren.

Beklemmende Hilflosigkeit

Die alte Dame hat sich etwas beru- higt. Auch ihr Hustenanfall ist nun vorbei, sie starrt ausdruckslos an sich herab. Ich stelle fest, dass sie Fieber hat und stelle ihr ein paar Fragen. Sie blickt auf. „Doktorchen, ihr fahrt doch morgen nach Pisco. Könnt ihr nicht meine Tochter dort suchen?“, fragt sie, ohne mir zuzuhören. Mir ist etwas unwohl zumute, und ich be- merke ein Engegefühl in meinem Hals. Dann bitte ich sie, auf der Un- tersuchungsliege Platz zu nehmen.

Beim Auskultieren höre ich ein ei- gentümliches Atemgeräusch. „Aus welchem Land kommst du eigent- lich, Doktorchen?“, fragt sie und be- kommt erneut einen starken Husten- anfall. Sie blickt mich mit zusam- mengekniffenen Augen fragend an, ihr Gesicht ist leicht verzerrt. Ich se- he mir das Papiertaschentuch an, das sie in den Händen hält. Es ist rötlich gesprenkelt. Dann fülle ich den Röntgenschein und den Schein für die Sputumanalyse aus und denke an die Menschen in Peru und auch an die Menschen in Deutschland.

Morgen wird ein langer Tag. I Uwe Thiel E-Mail: Uwe.Thiel@lrz.tu-muenchen.de Anlaufstelle für

die Armen:In den gelben Zelten des Medizinzentrums werden an diesem Tag Patienten kos- tenfrei ärztlich ver- sorgt.

Foto:flickr

Foto:Uwe Thiel

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