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Archiv "Wann sagt man Tanz?" (04.07.1984)

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Wann

sagt man Tanz?

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Kulturmagazin

Die permanenten Grenzüberschreitungen der Choreographin Pina Bausch

Jochen Schmidt

p

ina Bausch hat jahrelang alle Einladungen nach Nordamerika abgelehnt.

Ihr Wuppertaler Tanzthea- ter ist inArgentinien und Brasilien aufgetreten, in Australien und in Israel, in Indien und auf Java, zum Teil unter sehr bescheidenen äu- ßeren Bedingungen. Doch für New York und die USA wollte sie immer ein großes Entree, das sie in diesem Frühsommer auch be-

kam. Als die Wuppertaler Tänzer Ende Mai über den Atlantik flo- gen, standen Auftritte in den kul- turellen Zentren des nordameri- kanischen Kontinents auf ihrem Programm: beim kulturellen Teil der Olympischen Spiele in LosAn- geles, in der BrooklynAcademy of Music in New York und beim To- ronto International Festival — der angemessene Rahmen für eine Choreographin und ihr Ensem-

ble, die im letzten Jahrzehnt die Welt des neuen Tanzes revolutio- niert haben.

1973, als die damals 33jährige Wirtstochter aus Solingen (nach einer Ausbildung an der Folk- wang-Hochschule und einem fast dreijährigen Arbeitsaufent- halt in New York) ihre Arbeit im Tal der Wupper begann, war das Wuppertaler Ballett allenfalls auf Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 27 vom 4. Juli 1984 (65) 2105

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Pina Bausch

regionalen Kunstlandkarten ver- zeichnet. Zwei Jahre später hatte sich das neue „Tanztheater Wup- pertal" schon in die Spitzengrup- pe des deutschen Balletts ge- schoben, und Ende der siebziger Jahre begann der unaufhaltsame Aufstieg in den Weltruhm. Ein paar Gastspiele bei Avantgarde- Festspielen, in Nancy etwa, ent- fachten ein Gerücht, das sich bei den Auftritten in den Metropolen und bei den wochenlangen Tour- neen zur Gewißheit verdichtete:

hier gab es für das Theaterpubli- kum Erfahrungen zu machen wie niemals zuvor und nirgendwo sonst; Pina Bausch und das Tanz- theater Wuppertal wurden zum gefragtesten Exportartikel der bundesdeutschen Kulturszene.

Immer umstritten

Dabei blieb die Choreographin immer umstritten. An ihrem Werk, das die eingefahrenen Bahnen der Tradition rasch ver- ließ und die Mauern der Konven- tion niederriß, schieden und scheiden sich die Geister. Noch im Winter 1982, als ihr Weltruhm längst ein Faktum war, stießen die Gegensätze hart aufeinan-

der. Beim Gastspiel der Wup- pertaler in Rom boten Fans, ver- geblich, bis zum Zehnfachen des offiziellen Kartenpreises im überfüllten Teatro Argentina.

Nach dem Gastspiel in London, unmittelbar zuvor, beschrieb ein Kritiker, wie er die Aufführung von „1980" in der Pause verlas-

Pina Bausch hat für ihre Tanz- stücke eine eigene Körperspra- che entwickelt, die weit über die Form des reinen Tanzes hinausgeht; Foto auf Seite 2105: Marlies Alt in „Sacre du Printemps" (1975); Foto links:

Szene aus „Blaubart" (1977) mit Jan Minarik und Marlies Alt;

Foto rechts: „Die sieben Tod- sünden" (1976), Tänzer: Silvia Kesselheim und Ed Kortland

sen hatte, weil er zu ersticken drohte.

Daß Pina Bausch und ihre Stük- ke derart extreme Reaktionen auslösen, daß sie Lauheit nicht zulassen und Parteinahme er- fordern, ist kein Zufall. Praktisch alle Stücke der Choreographin behandeln Kernfragen mensch- licher Existenz und zwingen das Publikum unerbittlich, sich die-

sen Fragen zu stellen. Sie han- deln von Liebe und Angst, Sehn- sucht und Einsamkeit, Frustra- tion und Terror, vom Geschlech- terkampf und der Ausbeutung des Menschen durch den Men- schen, von Erinnerung und Ver- gessen, von den seligen und schlimmen Gefilden der Kind-

heit, vom Alter, vom Tod. Sie wissen um die Schwierigkeiten menschlicher Partnerschaft und suchen, verzweifelt, aber tapfer, Wege, auf denen sich der Ab- stand zwischen den Menschen verkürzen ließe.

Begonnen freilich hat Pina Bausch ihre Wuppertaler Arbeit zwar nicht mit klassischer Har-

monie, aber doch mit Stücken, die weder das traditionelle Formschema des Tanztheaters sprengten, noch seine genrety- pischen Eigenarten außer Kraft zu setzen suchten. Die tiefen- psychologische Etüde „Fritz"

(1974), die Mahler-Choreogra- phie „Adagio — Fünf Lieder"

(1974), die Modern-Dance-Fas- sungen der Gluck-Opern „Iphi- 2106 (66) Heft 27 vom 4. Juli 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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Pina Bausch

genie auf Tauris" (1974) und

„Orpheus und Eurydike" (1975), die unter dem Oberbegriff

„Frühlingsopfer" zusammenge- faßten drei Strawinsky-Ballette mit dem grandiosen „Sacre" als Höhepunkt: das alles waren zwar ungewöhnliche, aber vor allem doch ungewöhnlich gute Tanzstücke. Die Grenzen des Tanztheaters überschritten sie noch nicht. Allen diesen Stük- ken liegt seriöse E-Musik zu- grunde, und der Umgang mit dieser Musik war ebenso tradi- tionell wie die Erzählweise. Pina Bausch leistete ihren Tribut an

die Tradition, indem sie über- kommene Stückformen mit ei- nem Maximum an dramatischer Expression und zärtlicher Hu- manität erfüllte.

Ästhetische Gegensätze

Der Umschwung erfolgte sicht- bar mit dem Brecht-Weill-Abend im Sommer 1976. Er deutete sich aber schon an in dem klei- nen Stück „Ich bring dich um die Ecke" vom Dezember 1974, das sich zunächst wie ein frivo- ler Fehltritt ausnahm: die

Bausch flirtet mit der Show. Zum erstenmal benutzte Pina Bausch eine Collage von Schlagermusi- ken. Vorsichtig prüfte sie die Form der Revue auf ihre Trag- barkeit für ernste Inhalte und so- zialkritische Themen und ließ ih- re Darsteller nicht nur tanzen, sondern auch trällern und sin- gen.

Der neue Ansatz gedieh im zwei- ten Teil des Brecht-Weill- Abends bereits zu voller Blüte.

Ein neuer Stücktyp war gebo- ren: revueartig collagiert mit traumartig verschwimmenden

Bildern, strukturiert nach dem Prinzip des ästhetischen Gegen- satzes von Spannung und Ent- spannung, Laut und Leise, Dun- kel und Hell, Groß und Klein, Traurig und Heiter, verwegen ausbalanciert zwischen Triviali- tät und Kunst, Desillusionierung und Pathos — und die Wiederho- lung zum Stilprinzip erhebend.

Das Erbarmen mit den Frauen als abhängigen, ausgebeuteten Wesen in einer Männerwelt, das auch die früheren Stücke mitlei- dend schon durchzog: hier wur- de es ganz konkret.

Von da an läßt sich das Schaffen der Bausch als ein einziges

„work in progress" betrachten:

eine kluge, teilnahmsvolle Un- tersuchung über die Schwierig-

Foto oben: Aus „Tanzabend II", eine Pina-Bausch-Choreogra- phie noch ohne Titel, die im Mai

I

84 in Wuppertal Premiere hat- te, hier mit Urs Kaufmann und Josephine Ann Endicott; Foto links: Szene aus „Nelken"

(1983) mit Lutz Förster, Anne t, Martin, Dominique Mercy und

Jakob Anderson (v.r.n.l.)

keiten menschlichen Zusam- menlebens, zugleich der Ver- such, eine Körpersprache zu entwickeln, die das aussagt, was das gesprochene Wort — und ge- wiß der reine Tanz — offenbar nicht mehr zu sagen in der Lage sind.

Natürlich bedarf diese neue Kör- persprache einer neuen Gram- matik. Mehr und mehr bezieht die universale Körpersprache der Bausch das Wort ein. Spra- che und Sprechen erhalten eine neue Funktion. In Stücken wie 2108 (68) Heft 27 vom 4. Juli 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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Zehn Jahre Tanztheater Wuppertal haben viel verändert; Foto aus „Walzer" (1982) mit Beatrice Libonati und Meryl Tankerd Fotos: UlIi Weiss (3), Gert Weigelt (3) 2110 (70) Heft 27 vom 4. Juli 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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Pina Bausch

„Keuschheitslegende" (1979),

„1980" oder „Walzer" (1982), deren Themen sich aus perma- nenten Fragen der Choreogra- phin an ihre Tänzer um einen winzigen Kern herum von innen nach außen entwickeln, treten an die Stelle solistischer Tanz- nummern, wie sie im „Blaubart"

(1977) noch vorhanden sind, große Sprecharien, und zu den sparsamen, als Revuetänze aus- gebildeten Ensembleformatio- nen kommen als Ergänzung Sprechfugen, welche die zentra- len Themen der Stücke verbali- sieren. Dennoch sind diese Stücke keine Schauspiele. Ihre Struktur bleibt musikalisch. Pina Bausch arbeitet mit Melodien, Leitmotiven, Themen, Gegen- themen, Wiederholungen, Ver- fugungen, Variationen: eine Art optische Sinfonie.

„Verzweifelte Anstrengun- gen zu tanzen"

Bei alledem wird der Tanz nicht über Bord geworfen. „Ich mach ja immer, immer wieder mach ich ganz verzweifelte Anstren- gungen zu tanzen", sagte Pina Bausch 1978 in einem Interview

— und daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Frage ist nur, was Tanz eigentlich ist. Pina Bausch weiß es nicht, sondern stellt Gegenfragen: „Wo fängt es an zu tanzen, wo nicht? Wo ist der Beginn? Wann sagt man Tanz! Das hat schon etwas mit dem Bewußtsein zu tun, mit dem Körperbewußtsein, und wie man etwas formt. Aber das braucht nicht diese (tradierte) Art von ästhetischer Form zu haben, es kann auch eine ganz andere

sein und trotzdem Tanz blei- ben". Der Dramatiker Heiner Müller hat das sehr genau be- griffen: „Der Raum ist bedroht durch die Besetzung durch die eine oder andere Grammatik, des Balletts oder des Dramas, aber die Fluchtlinie des Tanzes behauptet ihn gegen beide Be- setzungen"! „Die Emanzipation des Tanzes zu seinen eigenen Mitteln"? nennen es die Kölner Theaterwissenschaftler Hedwig Müller und Norbert Servos in ih- rer Bausch-Monographie: „Der Körper ist seiner Sprache be- raubt, entmündigt, zum Schwei- gen gebracht. Die Verständi- gung durch alltägliche Körper- zeichen mißrät, Gesten prallen gewaltsam ab oder laufen ins Leere, werden falsch oder gar nicht verstanden".

... sondern sogar komischer

Der wäre denn — der Vorwurf ist nicht selten — die reine Destruk- tion? Heiner Müller weiß es bes- ser. Er sieht im (Tanz-)Theater der Bausch, zu Recht, ein „neu- es Theater der Freiheit", warnt aber den allzu naiven Zuschau- er: „Daß eine Sphinx uns an- blickt, wenn wir der Freiheit ins Gesicht sehn, sollte uns nicht wundern".

Daß die Sphinx optimistischer geworden ist nach der Geburt ihres Sohnes im Herbst 1981, zeigen Stücke wie „Walzer"

(1982) und „Nelken" (1983). Daß ihr Lächeln generell nicht nur grotesk-ironische, sondern aus- gesprochen heitere Züge unter einem Eispanzer der Trauer hat, entdeckt der am besten, der sich die Stücke der Pina Bausch mehrfach anschaut. Sie werden mit jedem neuen Sehen nicht nur reicher und kurzweiliger, sondern sogar komischer.

Anschrift des Verfassers:

Jochen Schmidt Barmer Straße 19 4000 Düsseldorf 11

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