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Info Dienst für Gesundheitsförderung

Zeitschrift von Gesundheit Berlin 6. Jahrgang 4. Ausgabe 2006

Editorial

Am 1. und 2. Dezember werden 1.500 Vertre- ter/innen aus Politik, Wissenschaft und Praxis auf dem diesjährigen Kongress Armut und Gesund- heit zusammen kommen, um gemeinsam Wege zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten zu diskutieren. Wie ein roter Faden zieht sich durch alle bisherigen Kongresse die Erkenntnis, dass Armut auch in Deutschland das größte Gesundheitsrisiko ist. In den ersten Jahren, als die Kongresse organisiert wurden, haben Politi- ker/innen diese Aussage noch geleugnet. Heute ist das Thema in der tagespolitischen Auseinan- dersetzung angekommen.

Dass Armut, Ausgrenzung und soziale Benachtei- ligung die gesundheitlichen Chancen der Men- schen beeinträchtigen, wurde seit dem ersten Kongress 1995 vielfach belegt. Was seinerzeit nicht zu erwarten war, ist das Ausmaß, in dem Armut nunmehr den Alltag vieler Menschen bestimmt. In Berlin lebt jedes dritte Kind von Hartz IV. Armut und Ausgrenzung prägen in immer größerem Umfang die Lebenserfahrungen vor allem von Kindern und Jugendlichen. Und Kin- derarmut wächst in Deutschland schneller als der Anteil armer Menschen an der Gesamtbevölke- rung.

Die Einkommensarmut in den Familien geht viel- fach einher mit kultureller und sozialer Armut.

Betroffene brauchen deshalb besondere Unter- stützung und fördernde Angebote. Nicht im Sinne

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Aus dem Inhalt

Gesunde Bundespolitik ...2

Soziales Kapital ...5

Kinder und Jugendliche ...9

Altern und Gesundheit ...14

Soziale, gesunde Stadt ...16

Betriebliche Gesundheits- förderung ...18

Suchtprävention ...21

Patienteninteressen ...22

Veranstaltungen / Termine ....26

Publikationen...28

einer bevormundenden Fürsorge, sondern als ressourcenstärkenden Ansatz, der die Betroffe- nen ermächtigt ihre Lebenswelten gesundheits- förderlich zu gestalten.

Dies ist nicht nur eine Frage des Geldes. Die För- derung sozialer Netzwerke in der Nachbarschaft, Partizipation im Betrieb oder Bildungsangebote im Kiez tragen dazu bei, soziale Beziehungen so zu gestalten, dass sie eine gesundheitsfördernde Wirkung entfalten können. Wenn es gelingt diese Ansätze ressortübergreifend durch eine gesund- heitsorientierte Gesamtpolitik zu befördern, wird dies Gesundheit und Allgemeinwohl der gesam- ten Bevölkerung verbessern.

Gemeinsam werden wir dazu auf dem 12. Kon- gress Armut und Gesundheit und der am Vortag stattfindenden Satellitentagung über Möglichkei- ten, Ansätze und Strategien diskutieren. Projekte werden ihre Erfahrungen einbringen, wie soziale Netze gestärkt und gesundheitsförderliche Wir- kungen entfaltet werden können. Und mit Blick auf das Konzept des Sozialen Kapitals wird zu fra- gen sein, was befördert denn diese gemeinsa- men Wertvorstellungen und sozialen Regeln? Wie kann dieses Soziale Kapital generiert werden?

Und welche Gemeinsamkeiten zeigen sich mit andern Präventionsbereichen, wie etwa der Ge- waltprävention oder der Anti-Diskriminierungs- arbeit?

„Präventionen für gesunde Lebenswelten“ ist das Motto des diesjährigen Kongresses und zu dieser Diskussion möchte ich Sie alle herzlich einladen.

Ihre Carola Gold

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Gesunde Bundespolitik Info_Dienst für Gesundheitsförderung 4_06

Gesunde Bundespolitik

G e n d e r i n G e s u n d h e i t s f ö r d e r u n g u n d P r ä v e n t i o n / Q u a l i t ä t e n d e r G e s u n d h e i t s f ö r d e r u n g / R e g i o n a l e K n o tt e n i n f a s t a l l e n B u n d e s l ä n d e r n

In diesem Info-Dienst

Gesunde Bundespolitik ...2

Interview mit Petra Kolip...2

Qualitäten der Gesundheits- förderung ...4

Regionale Knoten in fast allen Bundesländern ...5

Soziales Kapital ...5

Interview mit Kamrul Islam ...5

Bilanz der Tagung am WZB...7

Gemeinsam kegeln?...8

Kinder und Jugendliche ...9

Soziallagen und Gesundheit ...9

Kinder- und Jugendgesundheitsstudie (KiGGS)...10

Ergebnisse der Shell Jugendstudie 2006 ...12

Good Practice Projekte für sozial benachteiligte Kinder ...13

Projekt zu Vorsorgeunter- suchungen ...13

Altern und Gesundheit ...14

Potentiale und Ressourcen im Alter ...14

Arbeitskreis „Altern und Gesundheit“ ...15

Alzheimer Kongress ...15

Projekt Pflegebegleiter...16

Soziale, gesunde Stadt...16

Programmplattform E&C ...16

Stadtteilmütter in Berlin...17

Berliner Präventionspreis 2006...18

Betriebliche Gesundheitsförderung ....18

Arbeitskreis betriebliche Gesundheitsförderung ...18

Arbeitskreis Gesunde Schule ...19

Buchtipp: KKH-Weißbuch ‚Stress?‘ ....20

Zunahme psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz...20

Suchtprävention ...21

Interview mit Kerstin Jüngling von der Fachstelle Suchtprävention ...21

Patienteninteressen ...22

Interview mit Peter T. Sawicki ...22

Qualität in der Arzneimittelversorgung ...23

Gesundheitsfaktor Umwelt ...24

Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen ...25

Veranstaltungen / Termine ...26

Publikationen ...28

H e r a u s f o r d e r u n g e n i n d e r P r a x i s I n t e r v i e w m i t P e t r a K o l i p

Gender als Qualitätsmerkmal in

Gesundheitsförderung und Prävention

Konzepte qualitätsorientierter Gesundheitsför- derungs- und Präventionsprojekte umfassen heutzutage Kriterien wie niedrigschwellige Arbeitsweise, Partizipation und Evalua- tion – Kriterien, wie sie sich etwa im Good Practice Ansatz des Kooperationsverbundes

„Gesundheitsförderung bei sozial Benachtei- ligten“ wiederfinden. Die Berücksichtigung des Genderaspekts stellt in diesem Zusammen- hang ein wichtiges Qualitäts-Erfordernis dar.

Der aus dem Englischen stammende Begriff bezeichnet nicht nur das biologische Ge- schlecht, sondern auch das sozial konstruierte Geschlecht. Damit sind die Zuschreibungen der Geschlechter gemeint, welche sich historisch entwickelt haben und somit auch veränderbar sind: etwa die Stereotypen „Frauen sind pas- siv“, „Männer sind aktiv“. Diese Zuschreibun- gen sind nicht als festgeschrieben anzusehen und sind auch nicht in allen Kulturen gleich. Sie werden ständig neu ausgehandelt und von vie- len unterschiedlichen Faktoren beeinflusst.

Eine Differenzierung lediglich in Männer oder Frauen ist auf Grund dessen oftmals nicht ziel- führend. Die Gruppe der Frauen, ebenso wie jene der Männer, kann wesentlich heterogener sein als zuvor angenommen. Am Beispiel der Migration wird dies verständlicher. Wenn ver- schiedenste Kulturen zusammenkommen, ist nicht nur die Sprache unterschiedlich, sondern auch das Selbstverständnis als Frau oder Mann. Aus diesem Grund ist die Verknüpfung

verschiedener Kriterien mit Gen- deraspekten in der Planung von Gesundheitsför- derungs- und Präventionskon- zepten von hoher Relevanz.

Für den Info_Dienst sprach Stephanie Ander- gassen mit Professorin Petra Kolip. Sie ist Inha- berin eines Lehrstuhls für das Fach Sozialepi- demiologie mit dem Schwerpunkt Geschlecht und Gesundheit am Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Frau- en- und geschlechtervergleichende Gesund- heitsforschung; insbesondere die Medikalisie- rung körperlicher Umbruchpasen von Frauen, Jugendgesundheitsforschung und Evaluations- forschung.

Info_Dienst: Sie machen sich stark, damit Gen- der durchgängig in der Gesundheitsförderung berücksichtigt wird. Wo sehen Sie derzeit für die Praxis die größten Herausforderungen?

Petra Kolip: In den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass die Berücksichtigung der Geschlechterperspektive dazu beiträgt, die Maßnahmen passgenauer auf die Zielgruppen zuzuschneiden. Durch die Berücksichtigung der Genderperspektive werden Praktiker und

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Praktikerinnen für die Notwendigkeit sozialer Differenzierung sensibilisiert. Allerdings fehlt es noch an Instrumenten wie Checklisten oder Kriterienkatalogen, die einfach zu handhaben und praxistauglich sind. Wir beobachten ein Interesse an dem Thema, aber viele, die in der Praxis arbeiten, wissen nicht, wie sie das The- ma konkret angehen können.

Info_Dienst: Eine der großen Herausforderun- gen für die Entwicklung von Gesundheitsförde- rung und Prävention liegt in der Qualitätsent- wicklung. Welchen Stellenwert nimmt dabei die Umsetzung der Gendererfordernisse ein?

Petra Kolip: Bislang sind das zwei eher getrennte Diskussionen, dabei liegt es auf der Hand, dass durch die Berücksichtigung der Genderperspektive, wie auch die Berücksichti- gung anderer Dimensionen sozialer Differen- zierung, die Qualität von Projekten erhöht wer- den kann. Ich wünsche mir integrierte Ansätze, in der diejenigen, die sich um die Qualitätsent- wicklung bemühen, die Genderdimension

„automatisch“ mitdenken.

Info_Dienst: Gibt es international aus Ihrer Sicht Erfahrungen mit der Etablierung von Gender in der Gesundheitsförderung die unse- rer Arbeit wichtige Impulse geben könnten?

Petra Kolip: Die Stiftung Gesundheitsförde- rung Schweiz hat viele Ressourcen investiert, um Projektanbieter/innen, die bislang wenig

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Gesunde Bundespolitik Info_Dienst für Gesundheitsförderung 4_06

Satellitenveranstaltung

am Do., 30. 11. 2006 in Berlin

„ M e h r G e s u n d h e i t f ü r a l l e –

e i n e g e s a m t g e s e l l s c h a f t l i c h e H e r a u s f o r d e r u n g “

Programm der Satellitenveranstaltung zum 12. Kongress „Armut und Gesundheit“

1. Teil Fachveranstaltung

11.00 – 13.00 Uhr Eröffnungspodium und Diskussion – Präventionsansätze im Dialog 14.00 – 16.00 Uhr Arbeitsgruppen zu...

... Vorsorge und Früherkennung bei Kindern

... Gesundheitsförderung bei Familien mit besonderem Unterstützungsbedarf ... Mehr gesundheitliche Chancengleichheit durch Bildung

... Gesundheitsverträglichkeitsprüfung ... Gesundheitsförderliche Integrationspolitik bis 17.30 Uhr abschließende Podiumsdiskussion

Dieser 1. Teil der Fachveranstaltung findet im Berliner Rathaus Schöneberg statt 2. Teil Abendveranstaltung mit Preisverleihung

ab 19.00 Uhr Auszeichnung von Projekten guter Praxis

Dieser festliche 2. Teil der Veranstaltung findet im Roten Rathaus (Wappensaal) statt.

Die Veranstaltung wird gemeinsam vom BKK Bundesverband und von Gesundheit Berlin organisiert. Die Teilnahme ist kostenlos. Ausführliches Programm unter:

www.gesundheitberlin.de/download/SatellitentagungBKK2006.pdf

mit Gender Mainstreaming in Berührung gekommen sind, für das Thema zu sensibilisie- ren. Ziel war es, dass alle Personen, die der Stiftung ein Projekt zur Förderung vorschla- gen, dieses gendersensibel entwickeln.

Aber es war auch klar, dass nur die wenigsten diese Anforderung gut umsetzen können. Des- halb wurden verschiedene Instrumente ein- schließlich Fragenkatalogen entwickelt, die wirklich hilfreich sind und zu einer Qualitäts- verbesserung der Anträge und Projekte beige- tragen haben. Die Stiftung bietet zudem eine Internetseite zur Qualitätsentwicklung für Praktiker und Praktikerinnen an, mit der diese sich im Bereich Qualitätsentwicklung qualifi-

zieren können. Die Genderdimension ist hier in viele Bereiche mit eingebaut (www.quint- essenz.ch).

Info_Dienst: Laufen in Deutschland Projekte oder Initiativen zu Gender in Prävention und Gesundheitsförderung, die Sie aktuell als besonders bemerkenswert einschätzen?

Petra Kolip: In dem Entwurf zum Präventions- gesetz war ja vorgesehen, dass Projekte gen- dersensibel entwickelt werden müssen. Hier- durch ist eine erfreuliche Diskussion in Gang gekommen und zahlreiche Anbieter sind sen- sibler für das Thema. Auch die Gesundheitsbe- richterstattung hat sich in diese Richtung weiter Stimmen zum Kongress

Gibt es in Deutschland eine „Unterschicht“ und darf man diese als solche bezeichnen? Diese Dis- kussion bewegt derzeit die Gemüter. Auch deshalb, weil sie den Anspruch einer „gerechten Gesellschaft“ kri- tisch hinterfragt und sie auf ihren Wahrheits- gehalt abklopft. Denn in der Tat sind die Chancen, gesund zu bleiben und ein langes Leben zu genießen, heutzutage immer noch sehr ungleich verteilt. Der Kongress „Armut und Gesundheit“ trägt seit langem dazu bei, die Öffentlichkeit aufzurütteln und den Blick auf diese Problematik zu lenken. Um dies zu ändern, brauchen wir nicht nur zielgruppen- orientierte (spezifische) medizinische Versor- gungsangebote für sozial Benachteiligte, sondern vor allem den Ausbau und die rich- tigen Zugangswege der primären Prävention und Gesundheitsförderung.

Dr. Hans Jürgen Ahrens,

promovierter Jurist, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes

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werment“ und „Partizipation“. Vertikal kann zwischen den Oberbegriffen Gesundheitsförde- rung und den einzelnen Projektphasen Begrün- dung, Planung, Organisation, Steuerung und Wirkungen gewählt werden. Zu den Oberbegrif- fen sind die jeweils relevanten Themen und Qualitätskriterien einsehbar. So stehen für die einzelnen Schritte eines Projektes phasenspe- zifische Indikatoren bereit, durch die das eige- ne Projekt sehr gezielt anhand der zugeordne- ten Qualitätskriterien durchdekliniert werden kann. Die so ermöglichte Selbstevaluation für die Grob- und Feinplanung sowie Durchführung und den Abschluss eines Projektes wird durch Instrumente wie Strukturpläne und Planungs- tabellen ergänzt.

Zusätzlich stellt die Seite zahlreiche einführen- de Texte und Arbeitshilfen zur Ansicht und zum Download bereit. Wenn man sich mit der fein- gliedrigen Struktur der Webseite zurechtgefun- den hat, ist eine systematische Reflexion und Ausrichtung des Projektes anhand der Quali- tätskriterien möglich.

Für die Zukunft ist ein neues Projektmanage- ment-Tool geplant, dass die verschiedenen, einzelnen Instrumente für die Planung und Steuerung von Projekten in ein kohärentes Gesamtsystem integriert. Auf dem 12. Kongress Armut und Gesundheit wird Hubert Studer vom Büro für Qualitätsentwicklung das neue Tool für die onlinebasierte Qualitätsentwicklung von „quint-essenz.ch“ vorstellen.

Stefan Pospiech Wie die Qualität von Interventionen in der

Gesundheitsförderung und Prävention ange- messen erfasst und beurteilt werden kann, nimmt in der aktuellen Diskussion in Deutsch- land einen breiten Raum ein. Bereits in der Pla-

nungsphase stellt sich die Frage, wie sich Krite- rien guter Praxis ader Gesundheitsförderung systematisch integrieren lassen. Dabei kann ein Blick in unser Nachbarland Schweiz wert- volle Anregungen liefern. Während Deutsch- land noch an einem Präventionsgesetz arbei- tet, existiert in der Schweiz bereits seit 1998 die Stiftung „Gesundheitsförderung Schweiz“. Die- se regt nach §19 des Krankenversicherungsge- setzes Maßnahmen zur Förderung der Gesund- heit und Verhütung von Krankheiten an, fördert die Umsetzung und Finanzierung entsprechen- der Projekte von nationaler und regionaler Bedeutung, führt Evaluationen durch und beur-

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Gesunde Bundespolitik Info_Dienst für Gesundheitsförderung 4_06

Zum Begriff Gender Mainstreaming

„Gender Mainstreaming besteht in der (Re-) Organisation, Verbesserung, Entwicklung und Evaluierung politischer Prozesse mit dem Ziel, eine geschlechterbezogene Sichtweise in alle politischen Konzepte auf allen Ebenen und in allen Phasen durch alle an politischen Ent-

scheidungen beteiligten Akteure und Akteu- rinnen einzubeziehen.“ Diese Definition des Europarates wird als allgemein gültige Defini- tion in der EU betrachtet.

„Mainstreaming“ steht dafür, dass etwas, bei- spielsweise die Genderperspektive, ins Zen- trum der Aufmerksamkeit gerückt wird. „Gen-

der“ bezieht sich auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung der sozialen Lebensbedin- gungen der Geschlechter. Nach dem Amster- damer Vertrag sind alle Mitglieder der Europäi- schen Union verpflichtet, Gender Mainstrea- ming in ihre Politik aufzunehmen.

Weitere Informationen unter:

www.gesundheitsfoerderung.ch

Q u a l i t ä t s e n t w i c k l u n g m i t q u i n t - e s s e n z . c h

Qualitäten der Gesundheitsförderung

teilt die Wirkung entsprechender Maßnahmen.

Die Etablierung von Qualitätskriterien nimmt innerhalb der Aktivitäten von „Gesundheitsför- derung Schweiz“ einen hohen Stellenwert ein.

Mit der Web-Seite www.quint-essenz.ch wurde

eine Plattform entwickelt, die Hilfestellung bei der Planung und Umsetzung von Projekten der Gesundheitsförderung gibt und wichtige Anre- gungen liefert, um Gesundheitsförderungspro- jekte an Qualitätskriterien auszurichten. Wer ein Interventionsprojekt in der Gesundheitsför- derung plant, kann frei auf die Informationen zurückgreifen, die auf der Webseite zur Verfü- gung gestellt werden. Das Herzstück des Schweizer Modells sind 23 Qualitätskriterien, die von Fachleuten aus Wissenschaft und Pra- xis in einem mehrjährigen Prozess entwickelt wurden. Qualitätskriterien sind zum Beispiel

„Gesundheitliche Chancengleichheit“, „Empo- entwickelt, so dass wir inzwischen über einen

guten Datenbestand verfügen, der auch gen- dersensibel und nicht nur geschlechterverglei- chend aufbereitet wurde. In den letzten Jahren wurde die Palette frauenspezifischer Projekte auch um einige männerspezifische Projekte ergänzt, die deutlich machen, mit welchen Methoden Männer erreicht werden können.

Die Landkarte wird immer bunter, und der Kon- gress Armut und Gesundheit bietet ja die Mög- lichkeit, sich über einige Projekte zu informie-

ren, nicht nur, aber auch in den Workshops zu Gender Mainstreaming.

Info_Dienst: Sie werden beim 12. Kongress Armut und Gesundheit einen Beitrag zum The- ma Gender als Qualitätskriterium in der Gesundheitsförderung einbringen. Welche Erwartungen verbinden Sie mit dem Kongress?

Petra Kolip: Der Kongress ist ja immer eine gute Gelegenheit, sich über den Stand der Dis- kussion aus der Sicht der Praxis zu informie-

ren. Das gibt viele Anregungen, an welchen Punkten die Wissenschaft die laufenden Pro- zesse unterstützen kann. Ich freue mich auf die vielfältigen Diskussionen, weil sie auch zei- gen, dass sich die Gesundheitsförderung wirk- lich weiter bewegt.

Info_Dienst: Vielen Dank für das Gespräch.

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Gesunde Bundespolitik / Soziales Kapital Info_Dienst für Gesundheitsförderung 4_06

Im Rahmen des Verbundprojektes der Bundes- zentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), den Bundes- und Landesvereinigungen für Gesundheit, von Krankenkassen, Ärzten, Wohl- fahrtsverbänden und anderen Partnerorganisa- tionen sind in vier weiteren Bundesländern Regionale Knoten zur Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten entstanden. Mit Unterstützung des Bundesverbandes der Ange- stellten-Krankenkassen/ Arbeiter-Ersatzkas- senverbandes (VdAK/ AEV) wurden zum Juni Knoten in Bremen, Hessen und Mecklenburg- Vorpommern eingerichtet. Im Oktober startete der Regionale Knoten in Rheinland-Pfalz, der finanziert wird aus Landesmitteln, einem ein- heitlichen und kassenübergreifenden Anteil der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und aus Beiträgen der Unfallkasse Rheinland Pfalz. Träger aller vier Knoten sind jeweils die Landesvereinigungen für Gesundheit, die darü- ber hinaus ebenfalls an der Finanzierung betei- ligt sind.

Erste Aktivitäten

Die Arbeitsstrukturen in Hessen und Rhein- land-Pfalz befinden sich derzeit im Aufbau; in den Regionalen Knoten Bremen und Mecklen- burg-Vorpommern sind bereits Aktivitäten angelaufen. Zu Beginn der Knotenarbeit stehen insbesondere die Orientierung hinsichtlich der sozialen Hintergrundsituation im Bundesland sowie die Recherche und Kontaktaufnahme zu Projekten, Angeboten und relevanten Akteuren mit Bezug zur Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten im Mittelpunkt. So wird es möglich, einen Überblick über zentrale Aktivitä- ten in der Region zu erhalten, den Knoten lang- fristig als „Informationsdrehscheibe“ im Hand- lungsfeld zu etablieren und ressortübergrei- fend tragfähige Netzwerkstrukturen zu entwi- ckeln.

Kinder und Jugendliche im Fokus der Knotenarbeit

Inhaltlicher Schwerpunkt des Regionalen Kno- tens in Mecklenburg-Vorpommern ist die Gesundheitsförderung sozial benachteiligter Kinder und ihrer Familien, insbesondere hin- sichtlich einer Umsetzung der Landes-Gesund- heitsziele für Kinder und Jugendliche. Diese wurden 2003 auf einer landesweiten Kinderge- sundheitskonferenz verabschiedet und sollen als Selbstverpflichtung allen zuständigen Akteuren helfen, Aktivitäten zu bündeln, Syner- gieeffekte zu nutzen und Effizienz zu steigern.

So wird zum Beispiel beabsichtigt, mehr Bewe-

beeinträchtigen und den weiteren Lebensweg erheblich beeinflussen können. Aus diesem Grund konzentriert sich der Regionale Knoten Bremen vor allem auf die Zielgruppe der Jugendlichen in sozial schwierigen Lebensla- gen und will Aktivitäten zur Ressourcenförde- rung bei Heranwachsenden zum Beispiel in den Bereichen Bewegung, Ernährung und Stressbe- wältigung unterstützen. Ein weiterer Fokus der Knotenarbeit richtet sich auf die Region Bre- merhaven, die im bundesweiten Vergleich der Sozialgelddichte eine Spitzenposition ein- nimmt. Dort liegt das Armutsrisiko für Kinder doppelt so hoch wie im Bevölkerungsdurch- schnitt. Angestrebt wird eine konstruktive Zusammenarbeit mit den Quartiersmanage- mentstrukturen.

Mehr Informationen zum Kooperationsverbund

„Gesundheitsförderung bei sozial Benachtei- ligten“ und zur Arbeit der Regionalen Knoten finden Sie im Internet unter:

www.gesundheitliche-chancengleichheit.de.

Judith Steinkühler, Sabine Treichel

Regionale Knoten des Kooperationsverbundes

„Gesundheitsförderung bei sozial

Benachteiligten“ in fast allen Bundesländern

Soziales Kapital in der Gesundheitsförderung

W o s t e h t d i e f a c h l i c h e D i s k u s s i o n ?

Der Begriff Soziales Kapital wird in der Gesund- heitsförderung zunehmend diskutiert. Auf dem 12. Kongress „Armut und Gesundheit“ wird der Wissenschaftler Kamrul Islam dazu das Einfüh- rungsreferat halten. Er forscht derzeit zu die- sem Thema an der Lund Universität in Malmö / Schweden. Für den Info_Dienst beantwortete er vorab einige Fragen zur aktuellen wissen- schaftlichen Diskussion.

Info_Dienst: Der Begriff ‘Soziales Kapital’ ist nicht leicht zu erfassen. Was wird in der aktuel- len wissenschaftlichen Diskussion unter

„Sozialem Kapital“ verstanden?

Kamrul Islam:

Soziales Kapital ist ein vielschichti- ger Begriff der, und das ist ein Problem, nicht einheitlich defi- niert wird. Wis-

senschaftler mit unterschiedlichem Hinter- grund mögen den Begriff auch aus unter- schiedlichen intellektuellen Ursprüngen herlei- ten. Im Überblick lassen sich vier theoretische Komponenten in der Definition von Sozialem Kapital identifizieren: Soziales Vertrauen gungsangebote für Kinder und Jugendliche zu

entwickeln, ein gesundes Ernährungsverhalten zu unterstützen, Fähigkeiten zur Stressbewälti- gung zu stärken oder auch die Rahmenbedin- gungen für Gesundheitsförderung und Sucht- prävention in den Lebensräumen zu verbes- sern. Unter diesem Aspekt führt der Regionale Knoten ein Setting-Projekt in Kindertagesstät- ten zur Umsetzung der Gesundheitsziele durch, in dem neue Zugangswege zu sozial benachtei- ligten Familien ermittelt werden. Der Entwick- lung von Frühwarnsystemen kommt hier besondere Bedeutung zu.

Eine Studie des Gesundheitsamtes Bremen von 2003 belegt erneut, dass ungünstige Lebens- umstände wie Armut, Erfahrungen mit Gewalt oder ein niedriges Bildungsniveau die Gesund- heit und Lebensqualität gerade im Jugendalter

Soziales Kapital

S o z i a l e s K a p i t a l – I n t e r v i e w m i t K a m r u l I s l a m /

B i l a n z d e r T a g u n g a m W Z B / G e m e i n s a m k e g e l n ?

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und/oder Gegenseitigkeit, kollektive Wirksam- keit, Partizipation in freiwilligen/ehrenamtli- chen Strukturen und soziale Integration zum gegenseitigen Nutzen. Ich denke, um diesen komplexen Sachverhalt zu erfassen, ist es nütz- lich, den Begriff in diesen unterschiedlichen Formen wahrzunehmen: Kognitive und struktu- relle Komponenten und horizontale wie vertika- le Dimensionen. Das kognitive soziale Kapital enthält Normen, Werte, Einstellungen und Mei- nungen. Die strukturellen Komponenten des sozialen Kapitals beinhalten extern beobacht- bare Aspekte gesellschaftlicher Organisation, etwa die Dichte sozialer Netzwerke oder die Strukturen bürgerschaftlichen Engagements.

Horizontales soziales Kapital reflektiert die Bin- dungen zwischen Individuen oder Gruppen gleicher oder fast gleicher Individuen (Bon- ding). Vertikales soziales Kapital umfasst hie- rarchische oder ungleiche Beziehungen, die in ungleichem Macht- oder Ressourcenzugang begründet sind (Bridging).

Info_Dienst: Soziales Kapital kann auf der indi- viduellen Ebene in Form von sozialer Unterstüt- zung und auf der Ebene von Gemeinschaft und Organisationen verortet werden. Welche Bedeutung haben diese beiden Ebenen im Hin- blick auf die Gesundheitsförderung?

Kamrul Islam: Die Frage, ob soziales Kapital eine individuelle Eigenschaft oder ein Merkmal von Gemeinschaften ist, ist nicht abschließend beantwortet. Einige Autoren denken, dass die Literatur im Anschluss an Coleman soziales Kapital üblicherweise als Eigenschaft von Gemeinschaften betrachtet, die durch soziale Interaktion entsteht. Interaktion ermöglicht Menschen die Bildung von Gemeinschaften und sich einander anzuvertrauen. Das lässt den Schluss zu, dass soziales Kapital auf zwei Ebe- nen operationalisiert werden kann: als indivi- duelles soziales Kapital und als soziales Kapital einer Gemeinschaft oder eines Gebietes.

Individuelles soziales Kapital kann als soziales Merkmal eines Individuums betrachtet und als Vertrauensniveau, die Mitgliedschaft in Netz- werken, bürgerschaftliches Engagement, Parti- zipation oder Partizipation in verschiedenen Gruppen und gemeinschaftlichen Aktivitäten operationalisiert werden.

Gemeinschaftliches soziales Kapital kann als Dichte von Netzwerken, Gruppen, Partizipation oder Vertrauen in einer bestimmten Gemein- schaft oder einem bestimmten Gebiet definiert werden.

Im Hinblick auf die Gesundheitsförderung den- ke ich, dass gemeinschaftliches Soziales Kapi- tal besonders bedeutsam ist. Ich glaube aber nicht, dass alle Formen und Dimensionen von sozialem Kapital in gleicher Weise nützlich oder effektiv sind. Die vertikale oder vernetzende

Dimension sozialen Kapitals mag die nützliche- re sein. Es wäre sicher lohnenswert, diese Hypothese empirisch zu überprüfen.

Info_Dienst: Ist die Steigerung sozialen Kapi- tals ein wichtiges Ziel für die Gesundheitsförde- rung in der Praxis?

Kamrul Islam: In der Gesundheitsförderungs- praxis gibt es gegenwärtig hauptsächlich zwei konkurrierende Ansätze, wie die gesundheitli- che Wirkung auf die Bevölkerung erhöht und gesundheitliche Ungleichheiten reduziert wer- den können.

Die Ungleichheitsschule versteht soziales Kapi- tal als erklärende Variable der Zusammenhän- ge zwischen Ungleichheit und Gesundheit;

danach haben Veränderungen in der sozioöko- nomischen Ungleichheit einen starken Einfluss auf die Gesundheit.

Die Neo-Materialisten andererseits haben dem Konzept bzw. den Vertretern der Theorie des sozialen Kapitals vorgeworfen, die Gemein- schaft für ihre eigenen Probleme – die geringen Erfolge der Gesundheitsförderung in der Ver- besserung der Gesundheit – verantwortlich zu machen. Diese Kritik gegenüber der Ungleich- heitsschule argumentiert damit, dass gesund- heitliche Ungleichheit in unterschiedlichem Zugang zu materiellen Ressourcen wie Wohn- umfeld und -qualität, Zugang zu Nahrungsmit- teln, Nachbarschaftsbeziehungen und Umwelt- verschmutzung begründet sei. Die Verteilung dieser materiellen Ressourcen sei letztlich das Ergebnis politischer oder ideologischer Ent- scheidungen.

Bevor man also soziales Kapital als bedeuten- de Determinante für Gesundheit und gesund- heitliche Ungleichheit ansehen kann, sind sorg- fältige und ausgewogene empirische Untersu- chungen nötig.

Info_Dienst: Welche politischen Strategien auf nationaler Ebene sind besonders geeignet, das Soziale Kapital von Menschen in schwieriger sozialer Lage zu stärken?

Kamrul Islam: Der Bereich, in dem die national- staatliche Politik die möglicherweise direkteste Möglichkeit hat, soziales Kapital zu stärken, ist der Bildungsbereich. Bildungsinstitutionen sind nicht nur dazu da, um Humankapital zu erweitern, sondern beeinflussen auch soziales Kapital in Form sozialer Regeln und Normen.

Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass Bildung auch gemeinschaftlichen Nutzen her- vorbringt, der über individuellen privaten Nut- zen durch steigende Einkommen hinausgeht.

Viel empirische Literatur aus verschiedenen Wissenschaften fokussiert auf den Zusammen- hang von gesellschaftlicher Partizipation und Bildung und bestätigt, dass durch die positiven

externen Effekte höherer Bildung und Qualifi- kation das Niveau individuellen bürgerschaftli- chen Engagements beeinflusst wird (zum Bei- spiel Wahlbeteiligung in den USA). Höhere Bil- dung kann Kriminalität senken; ein beträchtli- cher Teil des sozialen Gewinns von Bildung schlägt sich in der Verminderung von Kriminali- tätsraten nieder. Francis Fukuyama weist darauf hin, dass der Staat indirekt das Niveau sozialen Kapitals herstellen oder erhöhen kann, indem er effizient öffentliche Güter anbietet (zum Beispiel Eigentumsrechte und öffentliche Sicherheit). Man kann sich leicht vorstellen, dass Menschen sicht nicht beteili- gen, ehrenamtlich arbeiten, wählen, oder ge- genseitig füreinander sorgen können, wenn sie auf den Straßen um ihr Leben fürchten müssen.

Info_Dienst: In der sozialwissenschaftlichen Diskussion spielt die These von der ‚Individua- lisierung’ und ‚Pluralisierung’ der Gesellschaft nach wie vor eine große Rolle. In der Ottawa- Charta werden Empowerment und Partizipati- on als entscheidend bezeichnet, um eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik zu errei- chen. Welche Bedeutung sehen Sie vor diesem Hintergrund für soziales Kapital?

Kamrul Islam: Dies ist ein weites Feld. Im spe- ziellen zeigt die Literatur Empowerment als soziale Handlung, die Menschen, Institutionen und Gemeinschaften bestärkt, sich an Bestre- bungen zur Verbesserung der Lebensqualität, der Steuerung des Gemeinwesens, Politikwirk- samkeit und sozialen Gerechtigkeit zu beteili- gen. Wenn soziales Kapital als integrierendes Moment verstanden wird, also als Bindungen zwischen Individuen oder Gruppen gleicher oder fast gleicher Individuen (Bonding), kann das Ergebnis ein eher „psychologisches“ als

„tatsächliches Empowerment“ sein. In diesem Kontext kann die vertikale Dimension die wich- tigere Rolle spielen.

Info_Dienst: Sie haben zum Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und der Verfüg- barkeit von Sozialem Kapital geforscht und dabei die Informationen aus so unterschiedli- chen Ländern wie Finnland, Russland und den USA verglichen. Welche Entwicklungen sehen Sie in diesen Ländern?

Kamrul Islam: Wir können einen positiven Zusammenhang zwischen sozialem Kapital und besserer Gesundheit nachweisen, gleich in wel- chem ökonomischen und sozialen Kontext ein Land steht. Wir haben aber auch festgestellt, dass lokale gesundheitliche Unterschiede in egalitärer ausgerichteten Ländern wie Schwe- den niedriger sind als in Ländern wie den USA und Russland. Wir folgern, dass der Zusam- menhang zwischen sozialem Kapital und indivi-

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Soziales Kapital Info_Dienst für Gesundheitsförderung 4_06

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Soziales Kapital Info_Dienst für Gesundheitsförderung 4_06

Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut.

Dies ist oft gleichbedeutend mit schlechteren Bildungschancen, einem höheren Krankheitsri- siko und einer deutlich geringeren Lebenser- wartung. Am Dienstag, 19. September 2006 hatten Gesundheit Berlin, die Landesarbeitsge- meinschaft für Gesundheitsförderung, der AOK-Bundesverband und die Forschungsgrup- pe Public Health des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung zu der Fachtagung

„Mehr Gesundheit durch ‚Soziales Kapital' – Strategien und Handlungsansätze für eine nachhaltige Präventionspolitik“ eingeladen.

Die Veranstaltung beschäftigte sich mit Alter- nativen zu dieser Spirale der Armut. Expert/in- nen aus Wissenschaft und Praxis diskutierten, wie sich nachhaltige Präventions- und Gesund- heitsförderungsansätze etablieren lassen und welche Schlussfolgerungen sich für die Praxis ergeben. Die Stärkung sozialer Beziehungen und Netzwerke leistet dem Konzept des Sozia- len Kapitals entsprechend einen wichtigen Bei- trag für Gesundheit und Wohlbefinden.

Auf der Veranstaltung wurden, aus verschiede- nen Akteursperspektiven, die Potentiale zur Förderung von Gesundheit durch Generierung Sozialen Kapitals diskutiert. In seinem Gruß- wort entwickelte der Berliner Staatssekretär für Gesundheit Dr. Hermann Schulte-Sasse das politische Konzept einer solidarischen, auf die Förderung von Gesundheit orientierten Stadt- entwicklung. Ressortübergreifend sollen priori- täre Ziele formuliert und, im Einvernehmen mit den bezirklichen Aktivitäten, umgesetzt wer- den. Ausgangspunkt der Analyse wird die Berli- ner Sozial- und Gesundheitsberichterstattung sein. Dem Öffentlichen Gesundheitsdienst kommt in diesem Konzept, gerade bezogen auf die Gesundheitsförderung bei sozial Benach- teiligten, eine besondere Verantwortung zu.

Aber auch die Landesgesundheitskonferenz und die bezirklichen Gesundheitskonferenzen haben als Foren und Abstimmungsgremien eine wichtige Funktion.

Präventionsgesetz nicht mehr nötig?

Dr. Hans Jürgen Ahrens, Vorstandsvorsitzender der AOK, gab einen Einblick in die umfangrei- chen Leistungen der Gesetzlichen Krankenver- sicherung (GKV) zur Stärkung von Prävention.

Er erläuterte noch einmal die Position der GKV, wonach die mittlerweile entstandenen Struktu- ren im Bereich der Prävention gute Ansätze zur Förderung von Transparenz und weiterer Ver- besserung der Koordinierung darstellen; Rege- lungen im Rahmen eines Präventionsgesetzes somit überflüssig sind. Er betonte auch, dass Gesundheitsförderung und Prävention eine

gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, an der sich neben der GKV alle Sozialversicherungs- träger, die öffentliche Hand und die Private Krankenversicherung beteiligen müssen. Hans Jürgen Ahrens forderte, dass sich dieser Aufga- be alle politischen Ressorts fachübergreifend verpflichten müssen. Mit Blick auf diese umfas- sende Prämisse konnte er sich in der Diskussi- on mit Rolf Rosenbrock dann doch noch auf die Vision einer Stiftung Prävention verständigen, die alle politischen Handlungsfelder für die Ent- wicklung einer nachhaltigen Präventionspolitik bündelt.

Kultur der Intervention

Rolf Rosenbrock hob in seinem Beitrag noch einmal den Stellenwert eines Präventionsge- setzes als Basis einer verbindlichen Stärkung der Prävention durch alle Sozialversicherungs- zweige unter Einbeziehung der Privaten Kran- kenversicherung hervor. Die von ihm geforder- te „Kultur der Intervention“ bedarf einer Stif- tung oder Dachorganisation, die zum Beispiel auch den Rahmen für ein demokratisches Ver- fahren zur Verständigung über Gesundheitszie- le, zur Förderung der Transparenz oder Ausrich- tung von Kampagnen geben kann. Die im Kooperationsverbund Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten mittlerweile auf den Weg gebrachten Regionalen Knoten bei den Landesvereinigungen für Gesundheit sind für ihn fester Bestandteil eines solchen Systems.

Im Bezug auf die Perspektiven des Konzepts Soziales Kapital für Prävention und Gesund- heitsförderung verwies Rolf Rosenbrock auf immer noch bestehenden Untersuchungsbe- darf. Als soziologisches Konzept, vor allem von Bourdieu entwickelt, wurde es zwar vielfach aufgegriffen. Die Zusammenhänge zu den gesundheitsförderlichen Ressourcen, wie zum Beispiel Zugang zu sozialen Netzen, Partizipati- on, Selbstbewusstsein, Bildung und Einkom- men sind jedoch noch unklar. Eine direkte Wir- kung zwischen Sozialem Kapital und Gesund- heitsförderung kann wohl nicht erwartet wer- den. Aber nahe liegt, dass über Soziales Kapital die Fähigkeit erhöht werden kann gesundheitli- che Ziele zu erreichen oder auch entsprechen-

F a c h t a g u n g z u S t r a t e g i e n f ü r

e i n e n a c h h a l t i g e P r ä v e n t i o n s p o l i t i k

Mehr Gesundheit durch Soziales Kapital

Stimmen zum Kongress Durch meine Berufsbio- grafie zieht sich ein roter Faden vom ersten Ge- sundheitstag 1980 zum 12. Kongress Armut und Gesundheit in Berlin. Damals wie heute ent- scheidet mehr als alles andere die Zugehörig- keit zu einer sozialen Schicht über Gesund- heit und Krankheit einzelner Menschen. Mit dem Anwachsen der Armut in Deutschland haben sich in diesen 26 Jahren die Probleme verschärft. Der Kongress bildet die, meiner Meinung nach, wichtigste Plattform zur Dis- kussion von politischen Strategien und zum Austausch über Präventionsansätze und Kooperationen.

Angelika Zollmann, Soziologin, Geschäfts- führung Landesvereinigung für Gesundheit Bremen e.V.

dueller Gesundheit statistisch belastbar mit dem Maß an Gleichheit in einem Land zusam- menhängt. Gesundheitliche Ungleichheiten zwischen verschiedenen Gebieten hängen innerhalb der eher egalitär ausgerichteten Län- der weniger deutlich zusammen.

Info_Dienst: In der Praxis der Gesundheitsför- derung gewinnt der Setting-Ansatz immer mehr an Bedeutung. Wie sollten settingbezo-

gene Interventionen gestaltet sein, damit sie besonders wirkungsvoll zur Schaffung und zum Ausbau von Sozialem Kapital beitragen?

Kamrul Islam: Ich verstehe das so: Das Ergeb- nis des Setting-Ansatzes kann auch von dem in einer Gemeinschaft ursprünglich vorhandenen Sozialen Kapital abhängig sein. Soziales Kapi- tal kann als Vermittler für den Erfolg settingori- entierter Maßnahmen nützlich sein. Zusam-

menfassend: Soziales Kapital kann als eine Begleiterscheinung von Religion, Tradition, gemeinsamer historischer Erfahrung und ande- rer Faktoren betrachtet werden. Daher glaube ich, dass settingorientierte Maßnahmen unbe- dingt unter Beachtung der gegebenen kulturel- len Normen und Werte entwickelt werden soll- ten.

Übersetzung aus dem Englischen:

René Riedel

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Info_Dienst für Gesundheitsförderung 4_06 Soziales Kapital

de Ressourcen zu stärken. Neben den US-ame- rikanischen Untersuchungen und Beiträgen, die zum Beispiel von Kawachi wichtige Impulse bekommen haben, lohnt sich ein Blick nach Schweden. Denn die schwedische Regierung hat sich der Schaffung Sozialen Kapitals auch in ihrem Zieleprozess verpflichtet. Entspre- chende Erkenntnisse zur Förderung Sozialen Kapitals zum Beispiel in sozialen Brennpunkten wäre auch für Deutschland ein großer Fort- schritt. Aber auch hier wird die Entwicklung eines konzeptionell durchdachten Rahmens nur im Austausch mit den Projekten vor Ort und unter Beteiligung der Zielgruppe gelingen.

Netzwerke knüpfen und Synergien nutzen Im zweiten Block der Tagung wurden in einem von Ulrike Maschewsky-Schneider moderierten Fachgespräch gesundheitsfördernde Strate- gien für drei Zielgruppen diskutiert. Dr. Rai- mund Geene von der Hochschule Magdeburg- Stendal plädierte in seinem Beitrag zur Gesundheitsförderung bei Kindern und Famili- en in schwieriger sozialer Lage für die Stärkung sozialer, kinderintegrierender Netzwerke. Mit- tels Methoden wie Peer Education, die helfen, die Selbstwirksamkeit zu erhöhen und Kompe- tenzen zu stärken, können bedarfsgerechte Angebote gestaltet werden. Im Mittelpunkt sollte die soziale Unterstützung der Zielgruppe stehen. Versuche, gleichzeitig die soziale Kon- trolle zu erhöhen, werden jedoch den ressour- censtärkenden Ansatz unterlaufen.

Rainer Schwarz von der Stiftung SPI verband die Präsentation von Erfahrungen der Regie- stelle mit der Umsetzung des E+C Programms mit dem Plädoyer, die Gemeinsamkeiten ver- schiedener Präventionsansätze in den Vorder- grund zu stellen. Egal ob das Konzept der inte- grierten Stadtentwicklung, der Sozialarbeit oder der Gesundheitsförderung verfolgt wird, es sollten die gemeinsamen Faktoren genutzt werden, um Jugendliche stark zu machen.

Dr. Christina Ding-Greiner vom Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg setzte sich mit den verschiedenen Faktoren auseinan- der, die ein gesundes Altern befördern.

Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten

Ein Beispiel für das erfolgreiche Zusammenwir- ken vieler Partner stellte auf der Tagung die Direktorin der Bundeszentrale für Gesundheitli- che Aufklärung (BZgA), Dr. Elisabeth Pott, vor:

Der von der BZgA initiierte Kooperationsver- bund „Gesundheitsförderung bei sozial Be- nachteiligten“ hat als zentrales Ziel die Stär- kung und Verbreitung guter Praxis in Projekten und Maßnahmen der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten. Zum Zeitpunkt der Tagung tragen bereits 37 Partner den Koopera- tionsverbund: Die BZgA, Bundes- und Landes-

vereinigungen für Gesundheit, Krankenkassen und Ärzte, Wohlfahrtsverbände und weitere Kooperationspartner.

Chancen, Erwartungen und Erfahrungen einer nachhaltigen Präventionspolitik wurden im Abschlusspodium diskutiert. Bundesebene, Landesebene, das Programm Soziale Stadt und die Ebene der GKV waren vertreten. Für die Bundespolitik referierte Dr. Petra Drohsel zu den Hoffnungen und Erwartungen an das noch ausstehende Präventionsgesetz. Die Erfahrun- gen mit der Entwicklung übergreifender Prä- ventionskonzepte auf Landesebene stellte Dr.

Sigrun Steppuhn vom Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie Brandenburg vor. Obwohl oder gerade weil die Umsetzung von Gesundheitszielen sich in den Ländern viel- fach als ein sehr mühseliger Prozess darstellt, plädierte sie für die Weiterentwicklung eines nationalen Gesundheitszieleprozesses. Die Verständigung über erfolgreiche Faktoren und Erfordernisse kann für alle eine wichtige Berei- cherung darstellen. Auch hierbei kommt den Regionalen Knoten eine wichtige Rolle im Bezug auf die Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten zu. Dr. Gudrun Eberle vom AOK

Ein Teil der gehaltenen Vorträge ist unter http: //www.gesundheitberlin.de/

download/Doku_Fachtagung_Soziales_

Kapital_2006.pdf als PDF-Dokument (2,3 MB) zum Download verfügbar.

Der Begriff soziales Kapital hat Konjunktur;

Hochkonjunktur. Seit James Coleman und Robert Putnam das Konzept Ende der 1980 auf- gegriffen und soziales Kapital zum Schlüssel- merkmal von Gemeinschaften erklärt haben, hat es sich allmählich und sehr erfolgreich durchgesetzt (Coleman, 1988; Putnam, 2001).

Putnam, Coleman und weitere Autoren stellten soziale Bindungen ins Zentrum ihrer Ansätze von sozialem Kapital, wobei soziales Kapital bei Coleman und Putnam konzeptionell auf der Existenz und Wirkungsweise sozialer Netzwer- ke beruht oder wie bei Nan Lin auf der Beto- nung sozialer Netzwerke als individueller Res- source (Lin, 1999). Beide Richtungen erschei- nen hinsichtlich anwendungsorientierter Hand- lungsansätze vor allem im Bereich der Gesund- heitsförderung als sehr attraktiv, knüpfen ihre Begriffe doch explizit an einer wichtigen, in der Ottawa-Charta formulierten Handlungsstrate- gie der Gesundheitsförderung an, dem Vermit- teln und Vernetzen.

Dass die Idee der Vernetzung und Förderung sozialer Bindungen in einer Zeit große Bedeu-

tung gewinnt, die sich durch eine Herauslösung der Individuen aus traditionellen Bindungen, durch die Forderung nach immer größerer Flexi- bilität und Mobilität charakterisieren lässt, ist wohl nicht verwunderlich. Was aber damit nicht gelingt, ist zu erklären, warum Familien nicht mehr gemeinsam essen, Kinder sich nicht rich- tig bewegen und keinen Ball mehr fangen kön- nen, nicht wissen, dass Speisen auch jenseits vorgefertigter und künstlich aromatisierter Dosen- und Tiefkühlkost genießbar sind.

Für dieses Wissen und Können beziehungswei- se Nichtwissen und Nichtkönnen brachte Pierre Bourdieu den Begriff des kulturellen Kapitals ins Spiel (Bourdieu, 1983). Neben der Diskussi- on zum sozialen Kapital, die sich zum Beispiel auf Bourdieu bezieht und dem ebenfalls etab- lierten Begriff des ökonomischen Kapitals, jenes Kapital also, dass entweder Geld ist oder sich umwandeln lässt in Geld wie Grund und Boden, Aktien, Immobilien oder Kunstwerke, finden sich in den Überlegungen zum kulturel- len Kapital Anknüpfungspunkte, die zur Erklä- rung von Gesundheitshandeln von Bedeutung

D i e D i s k u s s i o n ü b e r s o z i a l e s K a p i t a l u n d w a r u m e s n o t w e n d i g i s t , a u c h k u l t u r e l l e s u n d ö k o n o m i s c h e s K K a p i t a l z u f ö r d e r n

Gemeinsam kegeln?

Bundesverband sprach sich in diesem Zusam- menhang für die Bildung einer Transparenz- und Koordinierungsstelle für die Gesundheits- förderung bei sozial Benachteiligten auf Bun- desebene aus. Damit könnten Erkenntnisse über erfolgreiche Konzepte und Maßnahmen allen Ländern zu gute kommen und die Quali- täts- und Strukturentwicklung in diesem Bereich nachhaltig befördert werden. Dr. Ralf Peter Löhr vom Deutschen Institut für Urbanis- tik brachte die Erfahrungen aus dem Bund-Län- der-Programm Soziale Stadt ein. Zur Stärkung von Partizipation und Bürgerengagement in sozialen Brennpunkten braucht es nach seinen Erfahrungen verlässliche Strukturen. Nur in der Zusammenarbeit aller Beteiligten lassen sich nachhaltig Erfolge sichern und Menschen zu eigenem Handeln motivieren.

Carola Gold

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Soziales Kapital / Kinder und Jugendliche Info_Dienst für Gesundheitsförderung 4_06

Literatur:

Boltanski, L. (1976), 'Die soziale Verwendung des Körpers', in Dietmar Kamper, V.R. (ed.), Zur Geschichte des Körpers, München, Han- ser.

Bourdieu, P. (1983), 'Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital', in Kre- ckel, R. (ed.), Soziale Ungleichheiten, Göttin- gen, Schwartz.

Coleman, J.S. (1988), 'Social capital in the creation of human capital', American Journal of Sociology, 94, 95-120.

Dölling, I. (2002), 'Habitus', in Haug, W.F.

(ed.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 5, Gegenöffentlichkeit bis Hegemonialapparate, Hamburg, Argument.

Krais, B. and Gebauer, G. (2002), Habitus, Bielefeld, transkript.

Lin, N. (1999), 'Building a Network Theory of Social Capital', Connections, 22, 1, 28-51.

Putnam, R. (2001), Bowling alone. The Col- lapse and Revival of American Community, New York, Touchstone.

sind und damit auch für Gesundheitsförderung.

Einen frühen Versuch in diese Richtung unter- nahm Luc Boltanski in seinem bereits 1976 ver- öffentlichten Text, in dem er den Begriff der

„somatischen Kultur“ prägte und in dem er sich konzeptionell auf Bourdieu berief (Boltanski, 1976). Boltanski untersuchte die Zusammen- hänge zwischen Gesellschaft, sozialer Position und körperlichen Verhaltensweisen. Er be- schrieb die Ernährungsvorlieben der Oberklas- senmitglieder, die gesunde und leichte Kost wie Gemüse und Gegrilltes bevorzugen sowie deren präferierte Sportarten; er konstatierte, dass Frauen der Oberschicht in den 60er Jahren

„Form halten“ und „Zellulitis“ vermeiden woll- ten oder Männer unterer sozialer Schichten nicht mehr tanzen gehen, nachdem sie verhei- ratet sind (Boltanski, 1976). Ihm ging es darum zu zeigen, das sich Mitglieder einer Gesell- schaft in Bezug auf ihren Körper aufgrund von Dispositionen, die durch soziale Faktoren beeinflusst sind, in einer bestimmten Art und Weise verhalten, d.h. dass sich Menschen die soziale Ordnung in der sie leben quasi einver- leiben (Dölling, 2002; Krais & Gebauer, 2002).

Pierre Bourdieu hat in seinem Text „Ökonomi- sches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapi- tal“ eine Differenzierung des Begriffes kulturel- les Kapital vorgenommen. Sein Kapitalkonzept und hierbei insbesondere die Differenzierung des Begriffes kulturelles Kapital in drei Unter- formen lässt sich als analytisches Instrument einsetzten, um den empirisch vielfach konsta- tierten unterschiedlichen Umgang mit dem Kör- per zu verstehen (Bourdieu, 1983). Bourdieu unterscheidet 1. kulturelles Kapital, dass in ver- innerlichtem, inkorportiertem Zustand vorliegt.

Darin sind jene Zustände oder Dispositionen eingeschlossen, die dazu führen, dass die eine Person Tiefkühlpizza präferiert, während die andere auf dem Wochenmarkt frisches Gemüse vom Biobauern erwirbt. Ebenso ist darunter zu verstehen, in welchem Umfang Menschen glau- ben, eigenverantwortlich und vorausblickend ihre Gesundheit beeinflussen zu können. Es ist dass Wissen darüber, was förderlich oder schädlich ist, aber auch die Fähigkeit, entspre- chend zu handeln. Als 2. Unterform benennt er kulturelles Kapital in objektiviertem Zustand, in Form von Büchern, Instrumenten sowie 3. in institutionalisiertem Zustand als Bildungsab- schlüsse und Titel, die einer Person soziales Prestige verleihen, sich gleichzeitig im Einkom- men widerspiegeln und – wie aus der Gesund- heitsforschung gut bekannt ist – sehr eng damit verbunden ist, wie alt jemand wird, wel- che Krankheiten jemand hat oder wie Krankhei- ten bewältigt werden können.

All diese Kapitalformen interagieren miteinan- der. Soziales Kapital ist an ökonomisches wie an kulturelles geknüpft. Was den Begriff und

Kinder und Jugendliche

S o z i a l l a g e n u n d G e s u n d h e i t / K I G G S – I n t e r v i e w m i t D r . B ä r b e l - M a r i a K u r t h / S h e l l - J u g e n d s t u d i e

Soziallagenorientierung in der Arbeit mit Kindern und jungen Familien

Zunächst die gute Nachricht: Kinder sind die gesündeste Bevölkerungsgruppe, und ihre Aussicht auf ein langes, gesundes Leben ist so gut wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Junge Eltern und insbesondere (werdende) Mütter können heute voller Zuver- sicht ihrer Familiengründung entgegen sehen.

Nie zuvor war die Kinder- und Müttersterblich- keit so gering wie heute.

Doch weil wir uns üblicherweise – auch in der auf positive Ressourcen orientierten Gesund- heitswissenschaft – nicht all zu lange mit guten Nachrichten aufhalten wollen, wenden wir uns schnell den Problemen zu. Diese werden gera- de mit Begriffen wie „Unterschicht“ oder „Pre-

kariat“ als neue Sau durchs Medien-Dorf getrieben.

Dahinter stehen erste Anzeichen einer gesell- schaftlichen Einsicht über die Benachteiligung der Kinder, die zu Sorgen Anlass gibt. Kinder statt Job und daher Armutsrisiko oder Karriere- hindernis, Übergewicht von Kindern wegen Bewegungsmangel in der autogerechten Stadt, Probleme von Gewalt und Vernachlässigung und zu guter Letzt die Bildungsmisere werden schlaglichtartig beleuchtet. Geführt wird die Debatte nicht nur in den kleiner werdenden Kreisen der Eltern und Familien, sondern auch darüber hinaus – ist sie doch auch im Interesse der kinderlosen Generation der mutmaßlich dessen Einbeziehung in die Gesundheitsfor-

schung ebenso wie in Überlegungen zur Gesundheitsförderung so attraktiv macht ist, dass er neben der Möglichkeit soziale Prozesse differenziert zu analysieren auch das Potenzial für Handlungsansätze enthält. Sollen Gesund- heitschancen für benachteiligte soziale Gruppe verbessert, muss auch kulturelles Kapital gefördert werden. Zur Förderung institutionali- sierten kulturellen Kapitals muss in Bildung investiert werden, für inkorporiertes kulturelles Kapital muss dort angesetzt werden, wo Dispo- sitionen geprägt werden. Das aber bedeutet, Möglichkeiten zu schaffen, die Menschen in die Lage versetzen (können) sich gesundheitsför- derliche Dispositionen anzueignen, was wie- derum einerseits den Zugang zu ökonomi- schem Kapital, andererseits eine Politik auf nationaler wie regionaler Ebene voraussetzt, die genau darauf abzielt.

Daphne Hahn

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Für den Info_Dienst sprach Stefan Pospiech mit Dr. Bärbel-Maria Kurth, Direktorin der Abtei- lung Epidemiologie und Gesundheitsberichter- stattung am Robert-Koch-Institut über Metho- de, Wirkung und Ergebnisse der Studie.

Info_Dienst: Die KiGGS-Studie hat nicht nur durch ihre große Repräsentativität auch inter- national viel Beachtung gefunden. Welche Rah- menbedingungen haben eine solch umfangrei- che Studie zur Kinder- und Jugendgesundheit in Deutschland möglich gemacht und wie nehmen Sie das Feedback zu dieser Studie wahr?

„kinderentwöhnten Gesellschaft“, fürchtet die- se doch um die eigenen Rente.

Mit Maßnahmen wie dem neuen Elterngeld, besserer Kleinkindbetreuung und Bildungsför- derung schon im Vorschulalter soll die Lage von Kindern und Eltern verbessert werden. Ob dies jedoch Wirkung zeigt, kann bislang nur bedingt beantwortet werden aus der Perspektive ein- zelner Fachdisziplinen wie der Pädagogik (die für ein Mehr an Pädagogik eintritt), der Pädia- trie (die für lückenlose Vorsorgeuntersuchun- gen plädiert) oder der Psychologie (die in der Entwicklungspsychologie den Schlüssel sieht).

Doch wie steht es um die Selbstwahrnehmung der Eltern und insbesondere auch der Kinder?

Welche Interessen verfolgen sie, welche Schwerpunkte setzen sie?

Schon im Ansatz zeigt sich hier die Problema- tik, dass eine gebündelte Perspektive nicht nur fehlt, ihr wird sogar implizit die Berechtigung abgesprochen. Denn wie alle Fachdisziplinen ihren eigenen Gesetzen folgen, so sehen auch die kindheitsbezogenen sich selbst als Maß- stab. Pädagogische, psychologische oder medizinische Anforderungen werden als Para- meter der Beschreibung des Zustandes der Kin- der und Jugendlichen genommen. Kinder wer- den noch immer kaum als selbstständige Per- sonen wahrgenommen, sondern als zu betreu- ende. Solch wohlmeinender Paternalismus übersieht aber die Vielfalt kindlicher Sozialisa- tionsprozesse und die unterschiedlichen Mög- lichkeiten, sich dieser zu stellen. Sie geht aus von einem eher mittelständischen Blick, der die subjektiven Rationalismen von Kindern oder auch Eltern, die gerade in sozial benachteilig- ten Lebenslagen als unselbstständig und erzie- hungsunfähig diskreditiert werden, nicht zu verstehen mag.

Dabei stößt diese Wahrnehmung auf ein besonderes Paradox: gerade die Mittel- und Oberschichten, die die (ver)öffentlich(t)e Mei- nung repräsentieren, leiden unter dieser von Frank Schirrmacher beschriebenen „Kinderent- wöhnung“. Doch gleichzeitig prägen sie die Bil- der und Anforderungen einer Kindheit, der sie sich in ihren eigenen Lebenswelten bereits weitgehend entledigt haben. Den sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen, die – wie beispielsweise türkische Familien oder auch die aus Russland ausgesiedelten – weiter- hin Kinder bekommen und dies in fast unverän- derter Anzahl, wird das bildungsbürgerliche Kindheitsbild hingegen übergestülpt. Diese Diskrepanz zwischen erlebter Realität und bür- gerlichem Anspruch setzt nicht nur die sozial benachteiligten Eltern, sondern auch die Kinder unter enorme Spannung und ist letztendlich kaum auflösbar.

Daher befremdet es, wenn sich auch Gesund- heitswissenschaftler für Zwangsmaßnahmen bei jungen, sozial benachteiligten Müttern aus- sprechen. Vordergründig geht es dabei um die jüngsten Fälle der Kinderverwahrlosung. So sehr das gewachsene öffentliche Bewusstsein darüber zu begrüßen ist, muss gleichzeitig fest- gestellt werden, dass Verwahrlosung schon immer existiert hat – die Kindern und Jugendli- chen zugeschriebene Devianz ist ein jahrhun- dertealtes Bild, ursprünglich gar davon ausge- hend, dass Kinder und Jugendliche per se schlecht und verwahrlost seien, bis sie in eng- maschigen Kontrollen von Heimen und Militär diszipliniert werden. Tatsächlich stellt der Kri- minologe Christian Pfeiffer in seinen Studien heraus, dass Verwahrlosung nicht zunimmt, sondern sogar rückläufig ist. Grund dafür ist vor allem, dass die noch vor 30 Jahren weit ver- breitete Gewalt in den Familien stark abnimmt, ausgelöst nicht durch Repression, sondern durch gesellschaftliche Lernprozesse.

Auf der anderen Seite – welche Unterstützung liefert das Versorgungssystem? Die Vorsorge- untersuchungen beim Kinderarzt werden zunächst von den Eltern aller sozialen Schich- ten wahrgenommen. Während Mittel- und Oberschichten die Ratschläge des Kinderarztes gut aufnehmen und umsetzen können, fühlen sich sozial Benachteiligte vielfach nicht ver- standen und akzeptiert, die Tipps und Anwei- sungen sind mit ihrer Lebensrealität oft nicht vereinbar. In Anbetracht solcher Qualitätsmän- gel der fachlichen Unterstützung – und anders ist diese Diskrepanz nicht zu bewerten – rea- gieren Eltern wie alle kritischen Konsumenten:

sie verzichten auf die weitere Inanspruchnah- me. Dies ist ihr gutes Recht und im Übrigen auch eine legitime Antwort auf eine diffuse, vollkommen unüberschaubare Ansammlung

moralischer Verhaltensbotschaften und War- nungen zu Ernährung und plötzlichem Kinds- tod, Vitaminen und Impfungen, Prophylaxen und Therapien. Für die Sozial- und Gesund- heitsversorgung sollte es Anlass sein, die eige- ne Leistungserbringung grundsätzlich in Frage zu stellen und den Anforderungen anzupassen.

Dass dies nicht allein ein bundesdeutsches Problem ist, zeigt die von Meurer und Siegrist für die BZgA erstellte internationale Überblicks- studie zu Determinanten der Inanspruchnah- me. In Skandinavien und anderen Ländern ist die Versorgung inzwischen stärker auf die Pro- blemlagen der jungen Mütter und Väter und ihrer schwierigen sozialen Situation abge- stimmt, mit höherer Betreuungsdichte und lebensnäheren Unterstützungssystemen. Auch in Deutschland gibt es hier erste Ansätze mit Familienhebammen, wie sie gerade in Branden- burg in größerem Umfang etabliert werden, oder den Eltern-AGs in Sachsen-Anhalt, in denen die Lebensrealität der jungen Familien zum Ausgangspunkt genommen wird und in der Folge eine Selbstorganisation unterstützt wird. In der professionellen Arbeit mit und für Kinder und Eltern muss ein solches empathi- sches, Empowerment förderndes Konzept etab- liert werden, um fachlichen Ansprüchen der Förderung des Kinder- und Elternwohls gerecht zu werden.

Raimund Geene

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Kinder und Jugendliche Info_Dienst für Gesundheitsförderung 4_06

Wie gesund sind unsere Kinder?

D i e K i n d e r - u n d J u g e n d - g e s u n d h e i t s s t u d i e ( K i G G S ) l i e f e r t u m f a s s e n d e D a t e n z u r L a g e i n D e u t s c h l a n d

Stimmen zum Kongress Seit 12 Jahren gibt es den Kongress „Armut und Gesundheit“. Wir konnten nicht verhindern, dass heute offenbar in man- chen Bundesländern ein Viertel der Bevölkerung zu den Armen und Chancenlosen gehört. Dann sollten wir jetzt wenigstens versuchen, die neue Aufmerk- samkeit zu nutzen und die Forderung nach Verbesserung ihrer Lage laut und deutlich hinausschreien. Gesundheit ist laut WHO nicht nur körperliches, sondern auch seeli- sches und soziales Wohlsein (well-being)!

Christoph Kranich, Dipl-Päd.,

Fachabteilung Gesundheitsdienstleistungen, Verbraucherzentrale Hamburg e.V

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Bärbel-Maria Kurth: Sowohl die Gesundheits- berichterstattung für Deutschland, die in Ver- antwortung des Robert Koch-Instituts liegt, als auch die zunehmende Tendenz der Gesund- heitspolitik, „evidenzbasiert“ zu agieren, hat die vorhandenen Informationslücken zur Kin- der- und Jugendgesundheit sehr deutlich wer- den lassen. Der Umstand, dass insgesamt fünf verschiedene Ministerien, das BMG, das BMBF, das BMU, das BMELV und das BMFSSJ gemein- sam finanziert haben, worauf wir noch immer stolz sind, zeugt vom gesamtgesellschaftlichen Interesse an der Gesundheit unserer heran- wachsenden Generation. Aber auch das Feed- back, das wir schon auf die ersten Ergebnisse von den verschiedensten Akteuren des Gesundheitswesens und aus allen Bevölke- rungsschichten erhalten haben, bestätigt dies.

Info_Dienst: Viele Bundesländer und andere öffentliche Institutionen erheben bereits Daten zur Kindergesundheit. Wie können die Ergeb- nisse von KiGGS mit der bisherigen Gesund- heitsberichterstattung verzahnt werden?

Bärbel-Maria Kurth: Bei der Konzipierung unse- rer Studie haben wir ganz gezielt Informations- lücken schließen und Doppelerhebungen ver- meiden wollen. Sie werden bei uns keinen The- menbereich finden, der in einzelnen Bundes- ländern bereits flächendeckend und über alle Altersgruppen erhoben wurde. Außer den Schuleingangsuntersuchungen der 5-6Jähri- gen, die thematisch eingeschränkt und oftmals zwischen den Bundesländern kaum vergleich- bar sind, gibt es kaum Daten zur Kindergesund- heit, die sich für eine aussagekräftige Gesund- heitsberichterstattung verwerten lassen.

Unsere Stichprobe von fast 18 000 Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 0 und 18 Jahren wurde so gezogen, dass sie repräsentativ für die gesamte Bundesrepublik und jeweils noch für Ost- und Westdeutschland ist. Auf Bundes- landebene können wir diesen Anspruch nicht mehr erheben, dafür ist diese große Stichprobe noch immer zu klein. Insbesondere in den klei- neren und dünner besiedelten Bundesländern haben wir manchmal weniger als 10 Orte für unsere Studie ausgewählt, die dann natürlich keinen Anspruch auf Repräsentativität mehr stellen können. Aus diesem Grunde haben wir den Bundesländern im Vorfeld angeboten, auf eigene Kosten die Stichprobe in ihrem Bundes- land aufzustocken, so dass die Datenlage dann ausreichend für belastbare Aussagen auf Lan- desebene geworden wäre. Dieser Vorschlag ist auf großes Interesse bei den Ländern gesto- ßen, allerdings scheiterte die Aufstockung in den meisten Fällen an den damit verbundenen Kosten. Lediglich Schleswig- Holstein hat es geschafft, in seinen Haushalt die Mittel für

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Kinder und Jugendliche Info_Dienst für Gesundheitsförderung 4_06

zusätzliche Erhebungen im Rahmen von KiGGS einzustellen. Wir haben ein Ländermodul Schleswig Holstein, mit dessen Daten nunmehr ein Landes-Gesundheitsbericht über die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in Schleswig-Holstein erstellt wird. Der Charme dieser Verzahnung von Gesundheitsberichter- stattung besteht darin, dass jeweils der Ver- gleich auf Bundesebene gezogen werden kann.

Wir sind ganz sicher, dass dieses Beispiel bei künftigen Erhebungen unseres Instituts Schule machen wird.

Info_Dienst: Sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene werden Prozesse angestrengt, um die Entwicklung und Umsetzung von Gesundheitszielen und prioritären Handlungs- zielen zu fördern. Welchen Beitrag kann KiGGS in dieser Hinsicht leisten und gibt es Überle- gungen, durch Folgestudien in den nächsten Jahren diesen Prozess zu begleiten?

Bärbel-Maria Kurth: In fast allen Bundeslän- dern gibt es Gesundheitsziele bzw. prioritäre Handlungsfelder, die sich mit Komponenten der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen befassen. Auf Bundesebene geht es um die Ernährung, die Bewegung und die psychischen Belastungen von Kindern und Jugendlichen, in mehreren Bundesländern ist dies ebenfalls so, aber auch die Verringerung von Unfällen, der Konsum von Alkohol, Zigaretten und auch Dro- gen stehen im Mittelpunkt der Aktivitäten. Bei der Arbeit mit solchen Zielstellungen ist es immer wichtig, die Ausgangssituation zu ken- nen und hinterher das Erreichte messbar zu machen. Dafür liefert KiGGS zum einen gute Voraussetzungen: Wir können die Ausgangsla- ge, Risikogruppen, Schutzfaktoren präzise bestimmen. Wir würden sehr gern unserer Stu- dienteilnehmer zum einen weiter beobachten, um Entwicklungsverläufe beschreiben zu kön- nen und auch weiterhin Querschnittsstudien durchführen, um Veränderung feststellen zu können. Wir streben am RKI die Etablierung eines Gesundheitsmonitoring an, das die Mög- lichkeit der Begleitung und Evaluation von Gesundheitszielen als eigenständigen Schwer- punkt in sich birgt.

Info_Dienst: Die Studie war nicht nur an der Erhebung medizinischer Daten interessiert, sondern blickte auch auf das „soziale Kapital“

der Kinder und Jugendlichen. Welche Erkennt- nisse haben sie durch die Berücksichtigung der Lebensumstände gewonnen und wie kann das soziale Kapital von Kindern und Jugendlichen gestärkt werden?

Bärbel-Maria Kurth: Wir haben der Erfassung der „sozialen Lebenslage“ der Kinder und Jugendlichen sehr große Aufmerksamkeit

geschenkt. Dabei haben wir zum einen die Bil- dung, den beruflichen Status und das Einkom- men der Familien erfasst. Aber auch die soziale Einbettung der Kinder, wie viele verlässliche Bezugspersonen und Annsprechpartner bei Problemen zur Verfügung stehen, wie die Fami- lie als Schutzfaktor für die gesunde Entwick- lung des Kindes funktioniert, welchen Freun- deskreis die Kinder haben, wie zufrieden, glücklich und geborgen sie sind, wurde erfragt.

Die Feststellung, die auch wir machen, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien auch gesundheitlich schlechter dran sind, wird in keinem Einzelfall wirklich überraschen, in sei- ner Komplexität und Ausnahmslosigkeit ist die- ser Umstand wiederum alarmierend. Um so wichtiger erscheinen uns die Ergebnisse unse- rer noch andauernden Auswertungen, was denn Kinder schützt, was wir am besten tun können , um Kinder und jugendliche gesund- heitlich und darüber hinaus zu stärken.

Info_Dienst: Die Studie hat nochmals verdeut- licht, dass Armut eine der größten Gefährdun- gen für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist. Es bestehen erhebliche Diffe- renzen im Gesundheitszustand von Kindern aus sozial benachteiligten Schichten oder Kin- dern mit Migrationshintergrund. Wo sehen sie angesichts dieser Ergebnisse den größten Handlungsbedarf und welche Akteure sollten dabei eingebunden werden?

Bärbel-Maria Kurth: Wichtig erscheint uns, dass „Armut“ in Deutschland nicht als aus- schließlich materielle Armut zu sehen ist. Es geht auch um Bildungsarmut, um Armut, die von der Teilhabe an Kultur, Sport, Wissen aus- grenzt. Hier ist die Gesellschaft insgesamt gefordert. Das Konzept der Ganztagsschulen gibt Kindern aus sozial benachteiligten Schich- ten gleiche Chancen wie den anderen. Auch das Wissen um gesunde Ernährung, die Wichtigkeit von Bewegung, die Freude an sportlicher Betä- tigung, alles das würde nicht mehr allein auf den Schultern der Familien lasten. Vor diesem generellen Hintergrund ist jede einzelne Aktivi- tät in der Kommune, die sich mit der Freizeitge- staltung der Kinder und Jugendlichen befasst nicht hoch genug zu bewerten.

Info_Dienst: Vielen Dank für das Gespräch.

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jedoch nicht nur als Angebot bestehen, son- dern fest in den Tagesablauf der Schüler/innen integriert werden. Ähnlich verhält es sich mit Maßnahmen gegen das Rauchen. Wenn an der Schule nicht geraucht und das Nichtrauchen als wertvoll erachtet wird, sich die Schüler/

innen gemeinsam um diejenigen bemühen, welche mit dem Rauchen wieder aufhören möchten, dann entstehen laut Hurrelmann soziale Strukturen, welche gesundheitsförder- liches Verhalten unterstützen: „Einen solchen Zugzwang durch das Zusammenleben, durch Gemeinschaftsstrukturen, durch soziale Re- geln entstehen zu lassen, das ist wohl das Geheimnis dieses spezifischen […] Zuganges zum Thema“.

Einen Bedarf an neuen Formen der Gesund- heitsförderung sieht Hurrelmann hingegen nicht. Das Spektrum von Möglichkeiten sei bereits bekannt und die Forschung zur Wir- kung verschiedener Ansätze so weit, dass sie die einzelnen Maßnahmenansätze ganz gut einschätzen könne. Laut Hurrelmann komme es auf etwas anderes an: „Meiner Meinung nach sind wir in einer Umsetzungsfalle. Wir haben viele Erkenntnisse, wir wissen ziemlich genau, wie wir eigentlich vorgehen müssen und es fehlt jetzt an der Realisierung, an wirkli- Auch die im September veröffentlichte „Shell

Jugendstudie 2006“ bestätigt, dass soziale Herkunft und Lebenslagen einen entscheiden- den Einfluss auf das Gesundheitsverhalten von Jugendlichen haben. Mit dem Leiter der Shell Studie, Professor Klaus Hurrelmann von der Universität Bielefeld, sprach Rike Hertwig für den Info_Dienst über die Forschungsergebnis- se und sein neues Projekt, eine Kinderstudie im Auftrag des Kinderhilfswerk World Vision Deutschland.

Professor Hurrelmann betonte im Gespräch,

„dass die soziale Herkunft nicht nur über den Bildungsgrad und die künftigen Chancen in der Gesellschaft entscheidet [...], sondern auch ganz stark über die gesundheitliche Befind- lichkeit und das Gesundheitsverhalten.“ Die Wahrnehmung der eigenen Situation habe dabei einen starken Einfluss auf die Lebens- führung und das Gesundheitsverhalten, so Hurrelmann weiter: „Wer in schlechten Lebensbedingungen lebt, der gibt sich in einer gewissen Hinsicht auf, er pflegt seinen Körper nicht so stark, kümmert sich nicht um seine seelische und psychische Integrität.“ Konstitu- tiv für die Lebensgestaltung erweist sich laut Hurrelmann das Gefühl von Anerkennung und Sicherheit eines Menschen in seiner Umwelt.

Methodisch spiegelt die Shell Jugendstudie Meinungen und Verhaltensweisen von jungen Menschen wider, insbesondere die subjektive Wahrnehmung ihrer eigenen Situation. Die Studie stützt sich bei der standardisierten Befragung auf eine repräsentativ zusammen- gesetzte Stichprobe von 2.532 Jugendlichen im Alter von zwölf bis 25 Jahren aus den alten und neuen Bundesländern und auf vertiefen- de, qualitative Interviews. Hurrelmann sieht in dieser Methode einen erfolgversprechenden Weg, um über die subjektive Interpretation und Selbstaussage der Jugendlichen abzulei- ten, wie sie mit Präventionsprojekten und Maßnahmen zur Stärkung der Persönlichkeit

und der gesundheitlichen Stabilität erreicht werden können. „Man kommt dann nicht von außen mit mehr oder weniger gut durchdach- ten Konzepten, die am Expertentisch entstan- den sind und die in sich ja meistens außeror- dentlich plausibel sind. Sondern man kommt von innen und spricht die Menschen da an, wo sie sich selbst verankern. Dies setzt voraus, dass diese Methode wirklich zielsicher die Selbstinterpretation auch erfasst hat.“ Das jedoch „ist methodisch knifflig. Denn Men- schen artikulieren manchmal nicht haargenau ihre eigenen Interessen und können auch Ver- drängungs-, Verschiebungs- und Verwechs- lungsprozessen oder Erkenntnisfehlern aufsit- zen.“

Klaus Hurrelmann plädiert für die Etablierung fester Gesundheitsförderungsangebote zum Beispiel im Setting Schule. Es solle ein Rhyth- mus festgelegt werden, den die Kinder und Jugendlichen mitgestalten. Diese sollten

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Kinder und Jugendliche Info_Dienst für Gesundheitsförderung 4_06

E r g e b n i s s e d e r S h e l l J u g e n d s t u d i e 2 0 0 6

Gesundheitsverhalten variiert nach sozialer Herkunft

Jugend und Gesundheit in der Shell Studie Aus einem Abstract der Shell Jugendstudie zu Freizeit und Gesundheit geht hervor, dass Jugendliche aus den oberen Sozialschichten sich in ihrer Freizeit besonders häufig mit Lesen, mit kreativen oder künstlerischen Akti- vitäten beschäftigen und ihre sozialen Kontak- te pflegen. Diese Gruppe wird in der Studie als

»kreative Freizeitelite« bezeichnet. Bei Jugendlichen aus sozial benachteiligten Fami- lien hingegen wird für die Gleichaltrigengrup- pe mit ihrer spezifischen Freizeitkultur eine andere Bedeutung herausgestellt. Insbeson- dere männliche Jugendliche aus der Unter- schicht bilden demnach die Gruppe der Tech- nikfreaks, die ihre Freizeit vorrangig mit Com- puterspielen und Fernsehen verbringen.

Sofern sich dies mit einer Abwendung von Schule und Berufsausbildung verbindet, liegt laut Studie ein riskantes Abrücken von gesell- schaftlichen Konditionen vor.

Um das Gesundheitsverhalten zu charakteri- sieren, verwendete die Studie mehrere Indika- toren aus dem Bereich der Verhaltenspräventi- on. Gesundheitsgefährdende Verhaltenswei- sen wie ungesunde Ernährung, mangelnde körperliche Bewegung und regelmäßiges Zigarettenrauchen sind dabei unter Jugendli- chen aus der Unterschicht weit häufiger ver- breitet als in mittleren und oberen Sozial- schichten, so die Shell Studie 2006. Während in der höheren sozialen Schicht der tägliche

Konsum von Cola und Limonade bei 12 Prozent liegt, sind es in der niedrigeren sozialen Schicht 46 Prozent, die täglich solche Geträn- ke konsumieren. Ähnlich verhält es sich mit dem regelmäßigen Zigarettenkonsum. Dieser ist mit 37 Prozent bei den Jugendlichen in der niedrigeren sozialen Schicht höher ausge- prägt, als in der höheren sozialen Schicht, wo er bei 15 Prozent liegt. Mangelnde körperliche Betätigung lässt sich bei 14 Prozent der besser situierten Jugendlichen nachweisen, wären sich bei den niedriger situierten bereits 38 Prozent zu wenig bewegen.

Insgesamt konstatiert die Studie wachsenden Druck auf die Jugendlichen durch eine Zunah- me kultureller und sozialer Spannungsfelder, zunehmende relative Armut und gleichzeitig hohe gesellschaftliche Erwartungen an Leis- tung und Qualifikationen. Die Studie sieht für die Zukunft eher noch wachsende Probleme:

„Es ist zu erwarten, dass sich drohende Arbeitslosigkeit, eingeschränkte Bildungs- chancen und schlechte Wohnverhältnisse wei- terhin negativ auf die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten Jugendlicher auswirken werden“.

Die 15. Shell Jugendstudie ist im Fischer Taschenbuch Verlag unter dem Titel „Jugend 2006 – Eine pragmatische Generation unter Druck“ erschienen.

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