IP • März / April 2016
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© Henning Kettel
Marko Martin | Der britische An thro
pologe John Prideaux, Protagonist von James HamiltonPatersons Th
riller „Manila“, vermochte in weni
gen Worten zu sagen, was die Haupt
stadt der Philippinen charakterisiert – und weshalb man sich für sie inter
essieren solle. „300 Jahre Kloster, ge
folgt von 50 Jahren Hollywood. Aber was ist mit den 10 000 Jahren Asien?
Manila ist ein Museum, eine lebende Ausstellung, um andere Nationen er
nüchternd an ihre eigene Vergangen
heit zu erinnern oder vor ihrer Zu
kunft zu warnen.“
Seit Anfang des Jahres wird – mal mehr, mal minder pompös – der „Re
volution“ vom Februar 1986 gedacht, als „People Power“ den verhassten Diktator Ferdinand Marcos und des
sen diebische Gattin Imelda gestürzt hatte. Die „Revolution“ vor 30 Jahren hatte keine nachhaltige Transforma
tion, sondern lediglich ein theatrali
sches Stühlerücken innerhalb der so genannten „großen Familien“ provo
ziert. Daran hatte auch die Präsident
schaft von Corazon Aquino nichts än
dern können, die das Land von 1986 bis 1992 regierte, hochverehrt als Wit
we jenes Oppositionellen, den Dikta
tor Marcos einst hatte ermorden las
sen. Mittlerweile amtiert ihr Sohn Be
nigno S. Aquino III., von wohlmei
nenden Kommentatoren als „bedingt reformorientiert und kaum korrupt“
beschrieben. Im Mai wird ein neuer Präsident gewählt, der in den feuda
len MalacanangPalast einzieht.
Der Favorit ist Rodrigo Duterte, der übelbeleumdete LangzeitBürger
meister der Hafenstadt Davao, der die Unterstützung des Diktatorensohns Ferdinand „Bongbong“ Marcos Jr.
genießt. Duterte hat angekündigt, im Falle eines Wahlsiegs Zehntausende Kleinkriminelle auf die gleiche „au
ßergerichtliche“ Weise umbringen zu lassen, mit der er bereits „daheim“
für Ordnung gesorgt habe. Während
dessen ist auch ein weiterer Kandi
dat, Aquino Juniors gegenwärtiger Vize Jejomar Binay, gerade in Erklä
rungsnot: Auf 242 (sic!) seiner diver
sen Bankkonten hatte die vermeint
lich „unabhängige Justiz“ nichtdekla
rierte PesoMilliarden gefunden, was jedoch vor allem als Rachefinte einer mit ihm verfeindeten anderen „gro
ßen Familie“ interpretiert wird.
Selbst dies aber taugt für weite
res Schönreden: Seht, wo in Asien Auch 30 Jahre nach Marcos’ Sturz sind die Philippinen ein Sanierungsfall
Revolutionskitsch statt Reformen
Brief aus … Manila
IP • März / April 2016 131 Brief aus … Manila
gibt es eine freiere Presse? In der Tat sind Qualitätszeitungen wie der Phi- lippine Daily Inquirer oder Philippine Star voller Skandalmeldungen über das schamlose Treiben der haupt
städtischen Politiker und die Morde oder Entführungen in deren jeweili
gen ProvinzHinterhöfen. Allerdings:
Diese Analysen erscheinen nicht in der Mehrheitssprache Tagalog, son
dern sind im elitären Englisch einer urbanen Intellektuellenelite verfasst.
Zwischen Aufruhr und Lethargie Der Besucher Manilas kann den Ein
druck haben, sich in einem nach Asi
en versetzten Teil Lateinamerikas zu befinden. In der 1608 erbauten San AugustinKirche wird mit barockem Prunk an die spanischen Augusti
nerMönche erinnert, in den altehr
würdigen Kreuzgängen verkitscht ein rotes Herzchen den hyperpräsen
ten „Gott ist Liebe“Evangeliumsvers.
Im nahe gelegenen „Ristorante Delle Mitre“ kochen die Nonnen, Kellner mit schwappenden Biergläsern eilen an einer lebensgroßen Pappfigur von Papst Franziskus vorbei. Ausgerech
net ihn hat Präsidentschaftsfavorit Duterte während dessen Besuch 2015 als Schuldigen für die desaströse In
frastruktur im Land ausgemacht, als der ohnehin chaotische Straßenver
kehr vollends zusammen zubrechen drohte. Solche VatikanSchelte bringt Sympathiepunkte.
Währenddessen verschleppen die um ihre Pfründe fürchtenden Senats
und Kongressabgeordneten (darunter zahlreiche Millionäre) weiterhin je
des Wettbewerbsgesetz, das ihren oli
garchischen Interessen zuwiderläuft.
So kommt es, dass in Kuala Lumpur, Taipeh oder Bangkok das öffentliche Transportsystem blitzblank schnurrt,
während sich auf Manilas Straßen übervolle, kunterbunt mit Jesus oder Seifenoper Gesichtern bemalte „Jeep
ney“Busse durch schwarze Abgas
schwaden quälen und Bahn und Me
tro ebenfalls vor dem Kollaps stehen.
Angesichts solch allumfasssen
der Schmuddligkeit überrascht die Freundlichkeit und Alltagsgewitzt
heit der Filipinos. Mögen sie trotz ih
rer hispanischen Namen auch nicht mehr die Sprache der bis
1898 dominierenden Ko
lonialmacht sprechen – ihr Amerikanisch ist na
hezu akzentfrei und ein Ticket für ein besseres
Leben. Fast jede Familie schickt ihre wagemutigsten und am besten ausge
bildeten Kinder ins Ausland, wo sie dann als Krankenpfleger in Großbri
tannien und den USA reüssieren, als Englischlehrer in Thailand wirken oder – mit weniger Glück, jedoch im häufigsten Fall – als Hausmädchen in den GolfStaaten ihre Familie fi
nanzieren und Diskriminierung und Schlimmeres erdulden lernen. Auch darüber wird in Manila offen gespro
chen – ohne dass sich das Geringste ändern würde.
Mitunter blinkt in den Kirchen der Stadt auch ein weinendes Herz – ein schmerzend aktuelles Symbol für ein Land, dessen tapfere Bevölkerung wahrlich ein besseres Schicksal ver
dient hätte.
Mitunter blinkt in den Kirchen auch ein weinendes Herz
Marko Martin, lebt als Schriftsteller in Berlin. Soeben erschien von ihm „Tel Aviv. Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt“.