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Figur und Psyche

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Academic year: 2021

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Figur und Psyche

7

Dina De Rentiis

Romanische Literaturen und Kulturen

2., bearbeitete und ergänzte Auflage

Neudefinition des Unheimlichen

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Romanische Literaturen und Kulturen

7

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Romanische Literaturen und Kulturen

hrsg. von Dina De Rentiis, Albert Gier und Enrique Rodrigues-Moura

Band 7

2016

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Figur und Psyche

Dina De Rentiis

2016

Neudefinition des Unheimlichen

2., bearbeitete und ergänzte Auflage

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut- schen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Informationen sind im Internet über http://dnb.ddb.de/ abrufbar.

Dieses Werk ist als freie Onlineversion über den Hochschulschriften-Server (OPUS; http://www.opus-bayern.de/uni-bamberg/) der Universitätsbibliothek Bamberg erreichbar. Kopien und Ausdrucke dürfen nur zum privaten und sons- tigen eigenen Gebrauch angefertigt werden.

Herstellung und Druck: docupoint, Magdeburg Umschlaggestaltung: University of Bamberg Press

© University of Bamberg Press Bamberg 2016 http://www.uni-bamberg.de/ubp/

ISSN: 1867-5042

ISBN: 978-3-86309-389-1 (Druckausgabe) eISBN: 978-3-86309-390-7 (Online-Ausgabe) URN: urn:nbn:de:bvb:473-opus4-460933

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Inhalt

Einleitung ... 7

Wort: Jentsch, Freud ... 11

Diskurs: „Der Sandmann“ ... 19

Wort und Diskurs... 19

Diskurs und Figur ... 30

Bericht ... 30

Wirkung ... 36

Entwicklung ... 44

Konstruktion ... 78

Figuration(en) ... 87

Figur und Psyche ... 93

Psyche: das „Unheimliche“ ... 97

Befunde und Überlegungen ... 97

Thesen ... 100

Phänomen ... 102

Erleben und Wahrnehmung ... 102

Verbalisierung und Diskursivierung ... 107

Wirkung: „Die Verwandlung“ ... 111

Wort und Diskurs... 111

Diskurs und Figur ... 118

Oszillation ... 118

Verflechtung... 139

Kriechen ... 140

Nahrung ... 144

Verbergung und Ausschluss... 148

Geld ... 151

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6

(Nicht-)Vereinigung ... 156

Engführung ... 168

Figur und Psyche ... 186

Darstellung: „Le Horla“ ... 191

Wort und Diskurs ... 191

Figur und Psyche ... 219

Schluss ... 223

Literatur ... 225

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7

Einleitung

„Der Psychoanalytiker verspürt nur selten den Antrieb zu ästhetischen Untersuchungen“, aber „[h]ie und da trifft es sich doch, dass er sich für ein bestimmtes Gebiet der Ästhetik interessieren muß“,1 so Sigmund Freud zu Beginn seines berühmten Aufsatzes über das „Unheimliche“.

Das „Unheimliche“ ist seit Freud eng mit dem Verdrängungsbegriff verknüpft, als „etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist“ (314), bzw. als „etwas wiederkehrendes Verdrängtes“ (297). Dieses Buch schlägt eine Neubetrachtung des Phänomens vor.

Das erste Kapitel ist dem deutschen Begriff „unheimlich“ gewidmet.

Betrachtet werden zunächst noch einmal die Thesen von Ernst Jentsch und die Position Sigmund Freuds,2 sodann Aspekte der Verwendung von

„unheimlich“ im Deutschen.

Auf der Grundlage der so erhobenen Befunde geht es im zweiten Ka- pitel um die Verwendung, Diskursivierung und Figuration von „unheim- lich“ in E. T. A. Hoffmanns „Urtext“ Der Sandmann. Das bedeutet konk- ret: Zuerst wird – mikroskopisch einzeln betrachtend und sodann meso- skopisch vergleichend – untersucht, an welchen Stellen jeweils auf welche Weise „unheimlich“ in Hoffmanns Erzählung verwendet wird. „Diskur- sivierung“ bezeichnet dabei kurz zusammenfassend das Einflechten des

1 Freud 1919, 297.

2 Auf Publikationen aus dem Bereich der Psychologie, in denen das Adjektiv „unheim- lich“ bzw. die substantivierte Form zwar verwendet wird, aber ohne eine neue Defini- tion anzustreben, wird hier nicht weiter eingegangen. Etwa Peter Widmer verwendet das Adjektiv im Rahmen seiner Erläuterung der Theorie Jacques Lacans, allerdings ohne weitere Spezifizierung bzw. Ergründung des „Unheimlichen“ als Begriffs bzw.

als psychischen Phänomens. Siehe etwa „Auch wenn sich eine Sprachgemeinschaft ge- bildet hat, in welcher die Subjekte Anteil an einer gemeinsamen Realität haben, lauert der Nicht-Sinn, das Fremde, Überraschende, auch Unheimliche als Bedrohung. Lacan erkennt darin eine Wirkung des Objekts a, das vom Subjekt in ein Phantasma verwan- delt wird. Um das Unheimliche zu beschwichtigen, versucht das Subjekt, sich zum Objekt für den Andern zu machen, für den es sich entwirrt, um seinen Mangel zu schließen; oder es nimmt es auf sich, daß Sinn und Bedeutung unvollständig sind und ein Rest leer, unerfüllt bleibt.“ (Widmer 1990, 61, siehe auch dort 135 und 153).

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8

Ausdrucks in den Wortlaut der Erzählung. Von der Untersuchung der Diskursivierung schreitet die Analyse fort zur Betrachtung der Figuren- konstellationen bzw. Figureninteraktionen, die nachweislich im Zusam- menhang mit der Verwendung von „unheimlich“ stehen. Die Gestal- tungsart dieser Konstellationen und Interaktionen wird zusammenfas- send „Figuration“ genannt.

Hoffmanns Erzählung Der Sandmann wurde nicht nur deshalb ge- wählt, weil sie schon Jentsch und Freud als Hauptbeleg diente, sondern auch deshalb, weil das „Unheimliche“ darin sowohl als Wort vorkommt als auch thematisiert, in Szene gesetzt und rezeptionsästhetisch entfaltet wird. Die Relation zwischen Verbalisierung, (narrativer) Inszenierung und rezeptionsästhetischer Wirkung lässt sich an Hoffmanns Erzählung paradigmatisch betrachten. Die Analyse wird zeigen, dass sich auch die psychologische Dimension des „Unheimlichen“ präziser erfassen lässt, wenn man die ästhetische Diskursivierung des Ausdrucks „unheimlich“

in Der Sandmann und die Figurationen, in denen sie eingebettet ist, sys- tematisch und eingehend betrachtet.

Die in den ersten zwei Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse bilden die Grundlage für die Neubetrachtung des „Unheimlichen“ als psychologi- schen Phänomens, die im dritten erfolgt und wiederum im Zusammen- hang mit den vorausgehenden Befunden und der Sandmann-Lektüre die Basis für die Analyse des zweiten und dritten Beispiels im vierten Kapitel bildet: Die Verwandlung von Franz Kafka und Le Horla von Guy de Mau- passant.

Die Wahl dieser Werke mag vor allem Lesende überraschen, die es gewohnt sind, das „Phantastische“ und nicht das „Unheimliche“ als Hauptrubrik dafür zu verwenden. Daher sei versichert: Um einen Unan- gemessenheitsnachweis dieser eingebürgerten Rubrizierung soll es hier nicht gehen, sondern um eine Perspektivenerweiterung und einen Denk- anstoß. Zeigen soll die Analyse der beiden Werke, die für die zweite Auf- lage dieses Buchs vor allem aufgrund studentischer Rückfragen in eige- nen Vorlesungen an manchen Punkten einfacher und verständlicher for- muliert wurde, dass der hier entwickelte Ansatz hilft, sowohl die Literari- sierungsformen und die rezeptionsästhetischen Dimensionen als auch die Psychologie jenes Phänomenkomplexes besser zu erfassen, das mit

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9 Hilfen von Rubriken wie „das Unheimliche“ verbalisiert und reflektiert wird.

Auf Psychologen dürfte das Erklärungsmodell, das im mittleren Kapi- tel dieses Buchs vorgeschlagen wird, fremd wirken. In der Tat ist die Art und Weise, wie hier Formen des Erlebens, Wahrnehmens und Verhaltens auf Artefaktgrundlage beschrieben werden, nicht Psychologie im diszip- linär eigentlichen Sinn – und kann es auch nicht sein, geht es doch eben um Wort-Konstrukte, Erzählungen, Kunstwerke, nicht um lebende Men- schen.

Aber diese Kunstwerke sind, schwarz auf weiß, materielle Spuren von Formen kulturbedingten und kulturbildenden, wirkenden sprachlichen Handelns – vor allem: Verbalisierung, Diskursivierung, Figuration –, die, wenn sie in Hinblick auf ihre Gestalt genau betrachtet werden, vielleicht auch Psychologen, die, wie Sigmund Freud sagte, „nur selten den Antrieb zu ästhetischen Untersuchungen“ verspüren, neue Erkenntnismöglich- keiten eröffnen.

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Wort: Jentsch, Freud

Ausgangspunkt der Beschäftigung mit dem „Unheimlichen“ war für Ernst Jentsch das Wort:

Mit dem Worte ‚unheimlich‘ […] scheint unsere deutsche Sprache eine ziemlich glückliche Bildung zu Stande gebracht zu haben. Es scheint dadurch wohl zweifellos ausgedrückt werden zu sollen, dass einer, dem etwas ‚unheimlich‘ vorkommt, in der betreffenden Angelegenheit nicht recht ‚zu Hause‘, nicht ‚heimisch‘ ist, dass ihm die Sache fremd ist oder wenigstens so erscheint, kurzum, das Wort will nahe legen, dass mit dem Eindruck der Unheimlichkeit eines Dinges oder Vorkommnisses ein Mangel an Orientirung verknüpft ist.3

Durch eine „Wahrnehmung“ (195), so Jentsch weiter, werde eine beson- dere Empfindung („Sensation“, 196) bzw. ein „Gefühl“ (197) ausgelöst, eben das „des Unheimlichen“. Freuds Vorgänger nimmt sich vor „zu un- tersuchen, wie die Gefühlserregung des ‚Unheimlichen‘ psychologisch zu Stande kommt, wie die psychischen Bedingungen beschaffen sein müssen, damit die Sensation ‚unheimlich‘ hervortaucht.“ (196).

Von der Wortbetrachtung ausgehend konzentriert sich Ernst Jentsch also auf den Gefühlsaspekt. Sein Ziel ist, die äußeren Bedingungen zu beleuchten, die zur Entstehung des „Gefühl[s] des Unheimlichen“ füh- ren. Sein Erkenntnisweg führt von der Sprache zur psychologischen Sache.

Er beleuchtet das Adjektiv „un-heimlich“ mit Bezug auf die Bedeutung „hei- misch“ des Wortstamms und definiert das „Unheimliche“ über drei The- sen. Die erste lautet: Den Menschen sei im Alltag das „Althergebrachte“, das „Gewohnte“ und das „Angestammte“ nicht nur „vertraut“, sondern auch „lieb“; das „Neue“ und „Außergewöhnliche“ hingegen errege „Miss- trauen, Missbehagen, selbst Feindseligkeit“.4 Ferner:

3 Jentsch 1906, 195.

4 „Es ist eine alte Erfahrung, dass den meisten Menschen das Althergebrachte, Gewohnte, Angestammte lieb und vertraut ist, und dass sie das Neue, Aussergewöhnliche mit Miss- trauen, Missbehagen, selbst Feindseligkeit aufnehmen […].“ Jentsch 1906, 196.

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Das Altgewohnte erscheint nun nicht nur als willkommen, sondern, mag es noch so wunderbar und unerklärlich sein, auch leicht als selbstver- ständlich.5

Das Beispiel, das Jentsch dafür anführt, ist die „altgewohnte“ Vorstel- lung, dass sich die Sonne im Himmel bewege – und nicht die Erde sich revolvierend um die Sonne drehe. Er verwendet dieses Beispiel, um eine Unterscheidung einzuführen, die er nicht explizit benennt: Die zwischen den Tatsachen und dem „Altgewohnten“–“Selbstverständlichen“. Ihm geht es darum, dass Menschen mitunter etwas Altgewohntes für selbst- verständlich halten und also nicht hinterfragen, ja: nicht darüber nach- denken, obwohl es nur ein (freilich: kollektiver) Irrtum ist.

Die dritte These baut auf den vorhergehenden auf und lautet: Wenn man dazu gebracht werde, das Altgewohnte, das man für selbstverständ- lich gehalten habe, auf neue, ungewohnte Weise wahrzunehmen, dann könne sich leicht ein „eigentümliches Unsicherheitsgefühl“ einstellen, auf das „geistig Anspruchsvollere“ mit Forscherdrang reagieren würden,

„naive“ Menschen mit „Mangel an Orientirung“ (196).

Die Schlussfolgerung: Das Unheimliche sei nah, wenn die „Vertau- schung ‚bekannt-selbstverständlich‘ […] in das Bewusstsein des Individu- ums“ trete. So lang diese Verwechslung bestehe, bleibe „das Auftauchen von Unsicherheitsempfindungen […], der Mangel an Orientirung“, der

„leicht die Schattirung des Unheimlichen annehmen“ könne, „ver- kappt“.6

Eine solche Verunsicherung und Desorientierung könne sich in indi- viduell sehr unterschiedlichen Situationen ergeben, aber etwas lasse sie

„ziemlich regelmäßig […], kräftig […] und sehr allgemein […]“7 entstehen:

5 Jentsch 1906, 196.

6 „Es ist also begreiflich, wenn der psychischen Verknüpfung ‚alt-bekannt-vertraut‘ ein Correlat ‚neu-fremd-feindselig‘ entspricht. Im letzteren Fall ist das Auftauchen von Un- sicherheitsempfindungen ganz natürlich, der Mangel an Orientirung wird dann leicht die Schattirung des Unheimlichen annehmen können, im ersteren bleibt er so lange verkappt, als die Vertauschung ‚bekannt-selbstverständlich‘ nicht in das Bewusstsein des Individuums tritt.“ Jentsch 1906, 196.

7 Die Passage vollständig: „Unter allen psychischen Unsicherheiten, die zur Entste- hungsursache des Gefühls des Unheimlichen werden können, ist es ganz besonders

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13 […] der Zweifel an der Beseelung eines anscheinend lebendigen Wesens und umgekehrt darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei, und zwar auch dann, wenn dieser Zweifel sich nur undeutlich im Be- wusstsein bemerklich macht. (197)

Sigmund Freud kritisiert Jentschs Schlussfolgerung in zwei Schritten:

Unter Rückgriff auf einschlägige Wörterbücher weist er darauf hin, […] daß dies Wort heimlich nicht eindeutig ist, sondern zwei Vorstellungs- kreisen zugehört, die, ohne gegensätzlich zu sein, einander doch recht fremd sind, dem des Vertrauten, Behaglichen und dem des Versteckten, Verborgen gehaltenen. Unheimlich sei nur als Gegensatz zur ersten Be- deutung, nicht auch zur zweiten gebräuchlich. (301sq.)

Von dieser Beobachtung ausgehend geht Freud zu einer Betrachtung der Erzählung Der Sandmann von E. T. A. Hoffmann, auf die Jentsch kurz verwiesen hatte, über und kommt zu dem Schluss, dass das Unheimliche in diesem literarischen Werk „auf die Angst des kindlichen Kastrations- komplexes zurückzuführen sei“.8

eine, die eine ziemlich regelmässige, kräftige und sehr allgemeine Wirkung zu entfal- ten im Stande ist, nämlich der Zweifel an der Beseelung eines anscheinend lebendigen Wesens und umgekehrt darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei, und zwar auch dann, wenn dieser Zweifel sich nur undeutlich im Bewusstsein bemerklich macht.“ Jentsch 1906, 197.

8 Freud 1919, 308. Zu Freuds Lektüre des Sandmanns, mit Ergänzungen, Modifikationen bzw. kritischen Anmerkungen, siehe neben den loci classici Hohoff 1988, 318 passim und , 965 vor allem Møller 2005, insbesondere 105sq. und die These, dass „the uncanny effect […] does not derive from any particular content or subject matter“ (107), sondern ist ein „problem of reading“ (97); ebenso hervorzuheben ist Calian 2004, sehr kurz aber auf den Punkt. Siehe ferner Orlowsky 1988, 131 passim, ausführlich und mit Heideg- ger und Lacan vergleichend; Sng 2008, 71 nur kurz zusammenfassend; Dillmann 2007 aus post-freudianischer Sicht; Rosner 2006 provokativ bis hin zur Polemik (siehe etwa 23sq.); Kofman 1973, 2005, eher pointiert als differenziert; Maletta 2003, 31 passim, ansonsten aus Lacan’scher Perspektive; Bönnighausen 1999, 11, 21 passim und 30 pas- sim, mit Verweis auf Aichinger 1976; Würker et al. 1999; Fuchs 2001 mit (ansonsten kritischem, aber die Freudkritik bejahendem) Bezug v. a. auf Rohrwasser 1991; Mail- lard 1992; Schmidt 1988; Kremer 1987; Sommerhage 1987; Mahlendorf 1981; Obermeit 1980, 104 passim; Tatar 1980; Lehmann 1979; Kittler und Turk 1977 unter Einbeziehung Lacans. Siehe ferner Bresnick 1996; sehr kurz Oettinger 1996; Ginsburg 1992 auf der Grundlage von Shoshana Felmans Theorie des Lesens, siehe insbesondere 25; Schneider 1991; Weber 1981 und Uber 1974. Besonders hingewiesen sei auf die

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Sigmund Freuds Definition des „Unheimlichen“ als „etwas wieder- kehrendes Verdrängtes“ (314) ist bald nach Erscheinen seines Artikels grundlegend für die Beschäftigung mit der Thematik geworden und bis heute geblieben – bei aller Kritik an Freuds Interpretation des Sand- manns. Ernst Jentschs Aufsatz über das „Unheimliche“ hingegen ist zwar nicht unbekannt − zumal er von Freud selbst erwähnt wird –; aber auf- merksam rezipiert werden seine Überlegungen kaum.9

Dabei weisen die Ausführungen von Freuds Vorgänger, wenn man sie genau liest und auf ihre Implikationen und Konsequenzen hin auslotet, auf wichtige Aspekte des Phänomens hin.

Die Ansätze von Jentsch und Freud sind nicht so weit voneinander entfernt wie es in Freuds Artikel dargestellt wird. Jentsch beleuchtet in seinem Aufsatz Denkformen des Alltags. Er formuliert dabei apodiktisch und argumentiert deterministisch, was auch zeittypisch ist. Doch seine Thesen bedürfen weder der Apodiktik noch des Determinismus‘, denn

„das Gefühl des Unheimlichen“ – das räumt er selbst eingangs ein und Freud wird es später bestätigen – ist keines, das sich jemals einstellen muss, sondern stets eines, das sich einstellen kann. Überdenkt man die Thesen von Ernst Jentsch unter dieser Prämisse und durchdenkt man ihre Implikationen und Konsequenzen, so kommt man auf weiterbrin- gende Gedanken.

Studie Falkenberg 2005, die erst nach Fertigstellung des Manuskripts für dieses Buch zur Kenntnis genommen und eingearbeitet werden konnte. Siehe auch die folgende Anmerkung.

9 Freud selbst mag einen gewissen Anteil an der Vernachlässigung seines Vorgängers haben, ersetzt er doch in seiner Paraphrase von Jentschs Thesen das Wesentliche durch ein „eigentlich“ und ein „sozusagen“, wenn er schreibt, das „Unheimliche“ sei laut Ernst Jentsch „eigentlich immer etwas, worin man sich sozusagen nicht auskennt“, Freud 1919, 298. Falkenberg 2005 bemerkt richtig: „Freud claims that, for Jentsch, ‚in- tellectual uncertainty‘ is the central cause for the uncanny (SE 17, 221, 7). Jentsch never uses that exact term […]” (20); allerdings reduziert Falkenbergs Argumentation Jentschs Thesen auf die Formel „cognitive uncertainty“ (20). Dennoch: seine Publikation ist wertvoll und regt an zu überprüfen, ob die kognitive Narratologie (siehe etwa Herman 2009a, 2009b) bzw. die Schematheorie bei der Betrachtung des „Unheimlichen“ ver- wendet werden können bzw. sollten – wobei vor einer Verwendung wiederum die Fun- dierung und Operationalisierbarkeit dieser Ansätze noch grundsätzlich zu überprüfen wären – siehe etwa Mandl und Spada 1988, 124 passim und 134 oder Sternberg 2003.

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15 Der erste lautet: In dem Maße, in dem den Menschen im Alltag das

„Althergebrachte“, das „Gewohnte“, das „Angestammte“ nicht nur „ver- traut“, sondern auch „lieb“ ist, das „Neue“ und „Außergewöhnliche“ hin- gegen „Misstrauen, Missbehagen, selbst Feindseligkeit“ erregt,10 in die- sem Maße ist ihnen das Altgewohnte nicht nur vertraut, sondern subjek- tiv im Alltag nötig – auch als Schutz eben vor Missbehagen, Beunruhi- gung bzw. Verunsicherung.

In dem Maße ferner, in dem Menschen das, was für sie im Alltag alt- bekannt ist, nicht nur als vertraut, sondern auch stillschweigend als selbstverständlich betrachten – also die Kopplung „altbekannt-selbstver- ständlich“ erstellen, auf die Jentsch hinweist –, in diesem Maße denken sie eben über das ihnen vertraute Altbekannte-Selbstverständliche nicht nach, sondern handeln ohne bewusste Reflexion entsprechend Denkfor- men und Handlungsweisen11 (Erwartungshaltungen, Erklärungsmus- tern, Wahrnehmungsgewohnheiten, Verhaltensformen usw.), die sie er- lernt bzw. vom Erlernten ausgehend (weiter-)entwickelt haben.

Gerät ein Mensch nun in eine Situation, in der er das Altbekannte- Selbstverständliche einmal anders wahrnimmt, als es für ihn eben selbst- verständlich ist, so kann Verunsicherung, auch Angst entstehen, wobei in solchen Situationen nicht nur individuelle und situative Faktoren wie Al- ter, Intelligenz, Bildung, Sensibilität, Ort/Zeitpunkt, augenblickliche Ver- fassung usw. eine Rolle spielen, sondern auch Faktoren wie z. B. die Wer- tungs- und Handlungsmuster, die in einer gegebenen Kultur beim Um- gang mit Fremdem und Neuem üblich sind.

Das Fruchtbare an den Thesen von Ernst Jentsch besteht vor allem auch darin, dass er das „Unheimliche“ nicht als einfaches Gegenteil von

„heimisch“/“vertraut“/“altbekannt“ und als Synonym von „neu“/“fremd“

begreift, sondern in den Blick nimmt, dass das, was den Menschen altbe- kannt ist, für sie selbstverständlich werden kann und sie dadurch in Situ- ationen kommen können, in denen sie verunsichert bzw. ängstlich sind,

10 Jentsch 1906, 196. Siehe oben, Anmerkung 4.

11 „Handeln“ schließt hier auch das sprachliche Handeln, also etwa das Rubrizieren ein.

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weil das Selbstverständliche, das eben nur selbstverständlich, weil altbe- kannt war, aus ihrer Perspektive plötzlich ein fremdes Gesicht zeigt und ein „Altbekanntes-Fremdes“, ein „Altbekanntes-Neuartiges“ wird.

Entsteht im Umgang mit Altbekanntem-Selbstverständlichem eine Si- tuation, die eine solche Verunsicherung verursacht, so ist das Ergebnis nicht unbedingt – wie Freud Jentsch unterstellt – „intellektuelle Unsicher- heit“, sondern ggf. eine unreflektierte kognitive und emotionale Destabi- lisierung, die bis zur existentiellen Erschütterung und Angst gehen kann.

Ernst Jentsch konzentriert sich, wie bereits erwähnt, auf den Gefühls- aspekt und untersucht, unter welchen Bedingungen das „Gefühl des Un- heimlichen“ entstehen kann bzw. wodurch es in der Regel hervorgerufen wird. Sigmund Freud wiederum konzentriert sich auf die Verwendung von „unheimlich“ als Attribut für wahrgenommene Objekte, Personen bzw. Situationen und arbeitet heraus, dass das, was man „unheimlich“

nennt, vielfältige Erscheinungsformen, aber – als „wiederkehrendes Ver- drängtes“ – einen gleichen tiefenpsychologischen Kern habe.

In der Tat kann das Adjektiv „unheimlich“ subjektzentriert, objekt- zentriert, oder simultan subjekt- und objektzentriert verwendet werden, worin eine beachtenswerte Besonderheit dieses Ausdrucks gegenüber

„uncanny“ oder etwa „étrange“ bzw. „inquiétant“ liegt.12 Systematisch aufgelistet bietet die deutsche Sprache die Möglichkeit

1.) nur den Zustand des wahrnehmenden Subjekts zu bezeichnen, ohne die Objekt- und Wirkungsebene zu benennen bzw. näher zu charakterisieren („jetzt ist mir unheimlich“, „mir wurde (ganz) unheimlich“),

2.) nur ein Wahrnehmungsobjekt samt seinem Wirkungspotential zu bezeichnen, ohne den Aspekt des inneren Zustands des wahr- nehmenden bzw. des sprechenden Subjekts („unheimliche Be- gegnung“) zu fokussieren, oder

3.) Objekt, Wirkung und Zustand durch Formulierungen zu bezeich- nen, die darauf hinweisen, dass das Wahrnehmungsobjekt nicht

12 Die kolloquiale Verwendung von „unheimlich“ als Verstärkungsform (etwa „er hat un- heimlich viel Geld“) wird hier vorerst ausgeklammert. Siehe unten, Seite 93.

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17 nur bzw. nicht unbedingt an und für sich „unheimlich“ ist, son- dern auch speziell das wahrnehmende bzw. sprechende Subjekt in den Zustand versetzt, dass ihm „unheimlich zumute“ wird („Mein Kind ist mir unheimlich“13).

Mittels Verwendungen des ersten Typs wird der Zustand, in dem sich eine Person befindet, als „unheimlich“ bezeichnet. Ob und inwiefern die- ser Zustand objektiv begründet ist und wovon er ausgelöst wurde, kann der Interpretation und Beurteilung durch den Zuhörer bzw. Leser wiede- rum zum Teil oder ganz überlassen werden.

Mit Verwendungen des zweiten Typs wird einem Objekt die Eigen- schaft „unheimlich“ zugesprochen – ob und inwiefern diese Eigenschaft zum Teil oder ganz im Auge des Betrachters bzw. des Sprechers liegt, muss der Zuhörer bzw. der Leser dann noch entscheiden.

Bei Verwendungen des dritten Typs wird geäußert, dass etwas aus je- mandes Perspektive „unheimlich“ sei und ihn in den Zustand versetze, in dem ihm „unheimlich“ zumute sei – dem Zuhörer bzw. dem Leser bleibt freilich auch in diesem Fall überlassen, die Anteile des Subjektiven und des Objektiven zu bestimmen.

Das bedeutet im Kern: Die Aspekte der Wortbildung und Wortge- schichte, auf die sich Jentsch und Freud konzentrieren, sind wichtig; aber geht es um die Relation zwischen „Sprache“, „Denken“ und „Sache“ beim Adjektiv „unheimlich“, so müssen auch seine Verwendungs- und Diskur- sivierungsformen beachtet und mitbedacht werden.

Die Betrachtung der von beiden Autoren als „Urtext des Unheimli- chen“ herangezogenen und seitdem als solcher allgemein geltenden Er- zählung Der Sandmann ist in Hinblick auf die Verwendung von „unheim- lich“ erhellend.

13 Artikelüberschrift in Der Spiegel 32/1998. Vgl. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-79 56517.html (Abruf 11.11.2012). Zahlreiche weitere Fundstellen wie „Religion ist mir un- heimlich“, „Facebook ist mir unheimlich“, „Mein Nachbar…“, „Mein PC…“ usw. usf.

ergibt eine einfache Startpage-Suche auf Anhieb. Bei Jentsch finden sich analoge Satzkon- struktionen, etwa „Menschen, denen überhaupt gar nichts unheimlich ist“ (195). Vgl. im Sandmann etwa: „Uns ist diese Olimpia ganz unheimlich geworden“ (Hohoff 1988, 42.3).

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Diskurs: „Der Sandmann“

Wort und Diskurs

Die erste Verwendung von „unheimlich“ in E. T. A. Hoffmanns Der Sand- mann findet sich kurz nach Beginn des Werks, in Nathanaels erstem Brief an Lothar:14

Jahre lang dauerte das, und nicht gewöhnen konnte ich mich an den un- heimlichen Spuk, nicht bleicher wurde in mir das Bild des grausigen Sandmanns. (13.36-14.2)

14 Zitiert wird aus der Deutsche-Klassiker-Ausgabe, herangezogen wurde Latifi 2011. Zu E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann vgl. neben den loci classici Hohoff 1988, Steinecke und Segebrecht 1985 und Preisendanz 1970 sowie Segebrecht 1996 (und natürlich Freud 1919 sowie Jentsch 1906); Latifi 2011, 146-178; Paefgen 2009; Tepe et al. 2009, rezensiert in Steinecke 2010; Geltinger 2008; Dillmann 2007; Brune und Kraemer 2006;

Drux 2006; Tabbert 2006; Küpper 2005; Møller 2005; Neumeyr 2005; Calian 2004; Saße 2004; Engelstein 2003; Fuchs 2001; Schroeder 2001; Bönnighausen 1999; Schmidt 1999a, 1999b; Würker et al. 1999; Bresnick 1996; Clason 1996; Loquai 1996; Andriano 1993; Deterding 1991; Fernandez Bravo 1990; Harnischfeger 1988; Orlowsky 1988; Kre- mer 1987; Anz 1984, v. a. 302 passim; Brantly 1982; Mahlendorf 1981; Schmidt 1981;

Weber 1981; Obermeit 1980; Tatar 1980; Vietta 1980; Kittler und Turk 1977; Uber 1974;

Matt 1971. Überholt, aber nicht bar jeder Nützlichkeit sind Hartung 1977; Elling 1972, 1976; Aichinger 1976; Motekat 1973; Lawson 1968. Nützlich ist Teil II der Dissertation von Orlowsky 1988, 70 passim. Mit Bezug zur Unterrichtspraxis interessant sind Pfeif- fer 2006; Grobe 2005. Nicht uninteressant sind Sng 2008; Weitz 2008; Sagliocca 2007;

Muller 2006; Rosner 2006, zum „Unheimlichen“ siehe insbesondere 229; Ponnau 1998;

Pastušenko 1996; Slavgorodskaja 1996; Vinardell Puig 1995; Ginsburg 1992; Maillard 1992; Waldmann 1992; Schneider 1991; Freund 1990; Lehmann 1979; Pikulik 1975;

Schumm 1974; Wöllner 1971; Belgardt 1969; ohne direkten Bezug zum Sandmann Se- gebrecht 1992 und Reuchlein 1985. Von eher anekdotischem Interesse sind Steinlein 2009; Wetzel 2008; Innerhofer 2006 (siehe etwa 123); Kofman 1973, 2005 bei aller Poin- tierung; Kormann 2006; Lohr 2000; Neymeyr 1997; Danow 1996; Oettinger 1996; Merkl 1988 (siehe etwa 193); Schmidt 1988 mit Rückbezug auf Hélène Cixous; Krech 1992;

Brüggemann 1989; Sommerhage 1987; Miller 1978 in Bezug auf den Sandmann; Steg- mann 1976; Hayes 1972; Köhler 1971. Hervorzuheben sind der Aufsatz Ellis 1981 und die Monographie Maletta 2003, die erst nach Fertigstellung dieses Buchs konsultiert werden konnten: Sie enthalten viele gute inhaltliche Einzelbeobachtungen. Ebenso her- vorzuheben ist, wie erwähnt, Falkenberg 2005, siehe die Anmerkungen 8 und 9 sowie 55 und 57 in diesem Buch.

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Innerhalb der Erzählung re-konstruiert und berichtet Nathanael in einem Brief Ereignisse aus der eigenen Kindheit. „[U]nheimlichen Spuk“15 wird dabei als zusammenfassende Bezeichnung, als Rubrik verwendet. Die Narration präsentiert die literarische Figur Nathanael als Erwachsenen, der schriftlich und nachträglich, also aus zeitlicher, räumlicher und sprachlicher Distanz, einen Ereigniszusammenhang, den er zuvor als komplex, mysteriös und mit negativen Emotionen sowie bedrohlichen Bildern aufgeladen geschildert hat,16 mit einer kurzen Überschrift ver- sieht.

Das, was das Kind vor, nach und beim Kommen des „Sandmanns“

beobachtet, gehört, in einem Wort: wahrgenommen habe, kategorisiert und etikettiert der erwachsene Briefschreiber als „unheimlichen Spuk“.

Die Rubrik bringt also die zusammenfassende Sicht des Erwachsenen, nicht unbedingt eine vergangene kindliche Rubrizierung zum Ausdruck.

Sie besagt nicht, ob und inwiefern dem Kind „unheimlich“ gewesen sei, sondern bezeichnet nur das, was das Kind wahrgenommen habe, aus er- eignisexterner Perspektive als „Spuk“, und charakterisiert – ebenfalls aus ereignisexterner Perspektive – den „Spuk“ als „unheimlich“.

Zusammenfassend das Wichtigste:

1. „Unheimlich“ ist Teil einer Rubrik, die aus räumlicher Distanz, aus zeitlichem Abstand und aus externer Perspektive formuliert wird.

2. Das Adjektiv wird nicht verwendet, um ein Gefühl zu charakteri- sieren, sondern – als Spezifizierung von „Spuk“ – um einen als komplex und mysteriös charakterisierten Ereigniszusammen- hang zusammenfassend zu bezeichnen, dessen Natur dem Wahr- nehmenden unklar war und dem Berichtenden unklar ist.

Die zweite Verwendung des Adjektivs „unheimlich“ findet sich in Cla- ras Brief an Nathanael:

Das unheimliche Treiben mit Deinem Vater zur Nachtzeit war wohl nichts anders, als daß beide insgeheim alchymistische Versuche machten, womit

15 Wenn Ausschnitte einer zitierten Stelle unmittelbar vor oder nach dem Zitat in der Analyse wiederholt werden, wird der Verweis auf die zitierte Seite nicht wiederholt.

16 Auf die Schilderung wird später ausführlich zurückzukommen sein.

(22)

21 die Mutter nicht zufrieden sein konnte, da gewiß viel Geld unnütz verschleu- dert und obendrein, wie es immer mit solchen Laboranten der Fall sein soll, des Vaters Gemüt ganz von dem trügerischen Drange nach hoher Weis- heit erfüllt, der Familie abwendig gemacht wurde. (21.29-37, Hervorhe- bungen von mir)

In Claras Brief wird eine mit Signalen der Vermutung und des Rück- griffs auf Gemeinplätze versehene Erklärung einiger Elemente des von Nathanael Geschriebenen formuliert. Auch sie schreibt aus ereignisexter- ner Perspektive und in der Sprache der Distanz – ihr Brief ist primär ein Belehrungs- und Überredungsbrief – über einen komplexen und (durch den Verbrennungstod von Nathanaels Vater auch objektiv) mit negativen Emotionen (Trauer, Angst/ Schrecken/Grauen) verknüpften Ereigniszu- sammenhang. Ebenso wie in Nathanaels Brief „de[r] unheimlich[e] Spuk“

wird in Claras „das unheimliche Treiben“ als zusammenfassende Be- zeichnung verwendet, wobei „unheimlich“ nicht primär einen inneren Zustand, sondern „das Treiben“ charakterisiert und die Wendung „das unheimliche Treiben“ dazu dient, etwas fassbar zu machen und in einem Wort zu greifen, das von Nathanael beschrieben wurde und von Clara − laut eigener Äußerung – beim Lesen als „widerwärtig“, „entsetzlich“, ja:

„fatal“ wahrgenommen worden ist.

„Unheimlich“ wird in den Briefen beider literarischer Gestalten in gleicher Weise verwendet: Als zusammenfassende Charakterisierung für etwas als komplex, undurchdringlich und bedrohlich Dargestelltes.

Wichtig ist dabei, dass Nathanael und Clara innerhalb der Erzählung nicht nur die Rollen von zwei Protagonisten innehaben, sondern bekannt- lich auch als Antagonisten präsentiert werden. Das Werk zeigt Nathanael klar als davon überzeugt, dass ihn ein realer Mensch bedrohe, und Clara als Verfechterin der Meinung, dass alles „Entsetzliche und Schreckliche“

(21), das Nathanael schildere, nur in seinem Inneren vorgegangen sei.

Ihre Erklärung des „unheimlichen Treibens“ wird mit den Worten einge- leitet:

Gerade heraus will ich es Dir nur gestehen, daß, wie ich meine, alles Ent- setzliche und Schreckliche, wovon Du sprichst, nur in Deinem Innern vor- ging, die wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl wenig Teil hatte.

(21.18-21)

(23)

22

Die Kernpassage ihres Belehrungs- und Überredungsbriefs wiederum lautet:

Gibt es eine dunkle Macht, die so recht feindlich und verräterisch einen Faden in unser Inneres legt, woran sie uns dann festpackt und fortzieht auf einem gefahrvollen verderblichen Wege, den wir sonst nicht betreten haben würden – gibt es eine solche Macht, so muß sie in uns sich, wie wir selbst gestalten, ja unser Selbst werden; denn nur so glauben wir an sie und räumen ihr den Platz ein, dessen sie bedarf, um jenes geheime Werk zu vollbringen. Haben wir festen, durch das heitre Leben gestärkten, Sinn genug, um fremdes feindliches Einwirken als solches stets zu erkennen und den Weg, in den uns Neigung und Beruf geschoben, ruhigen Schrit- tes zu verfolgen, so geht wohl jene unheimliche Macht unter in dem ver- geblichen Ringen nach der Gestaltung, die unser eignes Spiegelbild sein sollte. (22.26-23.2)

Claras Argumentation umfasst drei Schritte. Im ersten wird eine aus Nathanaels Äußerungen übernommene Aussage („Gibt es eine dunkle Macht“) mit einer zweiten Annahme (die „dunkle Macht“ wirkt so, dass sie „einen Faden in unser Inneres legt“) verbunden. Nathanaels Position wird so in Claras Argumentation aufgenommen und durch Hinzufügen eines fremden Bausteins modifiziert:

1. Wenn es eine „dunkle Macht“ gebe (Nathanaels Position),17 2. dann (Claras Hinzufügung) wirke sie so, dass sie „feindlich und

verräterisch einen Faden in unser Inneres“ lege, „woran sie uns dann festpackt und fortzieht auf einem gefahrvollen verderbli- chen Wege, den wir sonst nicht betreten haben würden“.

Die Folgerung in Claras Brief: Das könne die „dunkle Macht“ nur in dem Maße, in dem man sie in das eigene Innere hereinlasse. Halte man sie nur draußen und lasse man sie nicht „unser Selbst werden“, dann könne sie ihre böse Wirkung nicht mehr entfalten.

17 Ulrich Hohoffs Kommentar, dass Clara „die Genese“ von Nathanaels „Bewusstseins- störung als Eingriff einer fremden Größe von außen in das Individuum dar[stellt]“

Hohoff 1988, 249 lässt den Aspekt der argumentativen Interaktion unbeachtet, über- schreibt mit der Rubrik „Bewusstseinsstörung“ den Wortlaut der Erzählung und be- leuchtet sodann auf dieser Grundlage den Kontext.

(24)

23 Die „dunkle Macht“ – bzw. „dunkle physische Macht“ – wird in Claras Brief auch als „unheimliche Macht“ rubriziert.18 Dadurch wird Nathana- els Position im Sinn des Ersetzens überschrieben: Nicht eine undurch- schaubare, „dunkle“, aber konkrete, existierende Person (der Advokat Co- ppelius) bedrohe Nathanael, sondern eine nicht weiter konkret beschrie- bene – also „dunkle“ nicht nur insofern als böse, sondern auch insofern als letztlich undurchschaubare – „Macht“, deren Ursprung und Wesen nicht genauer spezifiziert werden, sondern von der lediglich behauptet wird, dass sie nur dann wirke, wenn man sie im Inneren wirken lasse.

Die in Claras Brief formulierte Lösung von Nathanaels Problem ergibt sich unmittelbar aus der Logik der Argumentation:

schlage Dir den häßlichen Advokaten Coppelius und den Wetterglasmann Giuseppe Coppola ganz aus dem Sinn. (23.18-20)

Nathanael solle das aus seinem Inneren verbannen, wovon er sich be- droht fühle, dann werde alles wieder gut. Das bedeutet: Clara und Natha- nael werden bei aller klar präsentierten Gegensätzlichkeit ihrer Auffas- sungen zugleich als Figuren dargestellt, die in einem wesentlichen Punkt dasselbe Ziel verfolgen: Schutz zu finden bzw. finden zu helfen vor (er sagt: äußeren; sie sagt: inneren) bedrohlichen Einwirkungen.

Das Adjektiv „unheimlich“ wird in den Briefen Nathanaels und Claras mit der gleichen Funktion verwendet: Als Charakterisierung für eine

18 Interessant ist in diesem Zusammenhang – siehe Latifi 2011, 34sq. und 94 – die Erset- zung der Formulierung „Es ist auch gewiß, fügt Lothar hinzu, daß die unheimliche psy- chische Gewalt, haben wir uns durch uns Selbst ihr hingegeben, oft fremde Gestalten, die die Außenwelt uns in den Weg wirft, in unser Inneres hineinzieht [...]“durch „Es ist auch gewiß, fügt Lothar hinzu, daß die dunkle physische Macht, haben wir uns durch uns selbst ihr hingegeben, oft fremde Gestalten, die die Außenwelt uns in den Weg wirft, in unser Inneres hineinzieht […]“ (Hervorhebungen an beiden Stellen von mir).

Die Umformulierung im Erstdruck deutet zum einen darauf hin, dass der unmittelbar zuvor bereits verwendete Ausdruck „unheimlich“ Hoffmann nicht unerlässlich er- schien. Zum einen ermöglicht sie die Beobachtung, dass „psychische Gewalt“ die Ver- ortung der wirkenden Instanz im Inneren vorausgesetzt hätte (Claras Annahme), wo- hingegen „dunkle physische Macht“ Nathanaels Überzeugung – die wirkende Macht existiere physisch und personenhaft – widerspiegelt, was besser zur argumentativen Strategie von Claras Brief passt, Nathanaels Position zu übernehmen, um sie zu wider- legen.

(25)

24

komplexe, undurchdringliche und bedrohliche Sache, die benennend eti- kettiert, rubriziert und so in ihrer Unklarheit und Bedrohlichkeit greifbar, beherrschbar gemacht wird, um sich ihr gegenüber angemessen zu posi- tionieren und (in Nathanaels Brief) das eigene Verhalten zu erklären bzw.

(in Claras Brief) eine angemessene Handlungsweise zu entwickeln.19 Über die Sache selbst ist viel geschrieben worden;20 aber über die Ver- wendungsformen des Adjektivs „unheimlich“ und seine Diskursivierung in Hoffmanns Erzählung noch nichts über punktuelle Erwähnungen Hinausgehendes.21 Verfolgt man diesen Aspekt weiter, so findet man nach den ersten drei homogenen Verwendungen weitere drei.

Die erste befindet sich unmittelbar nach Claras Brief, in Nathanaels zweitem Brief an Lothar. Nathanael fasst zunächst Claras Position zusam- men:

19 Die Sache, die benennend greifbar und beherrschbar gemacht wird, ist freilich jeweils eine andere, doch dazu weiter unten, Seite 83.

20 Etwa Bönnighausen zu Recht: „Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem SANDMANN bietet einen Überblick über sämtliche methodologische Möglichkeiten einer Textinterpretation. Da von der Frage nach der Identität des Coppelius bis zur Er- klärung der motivischen Ebene die Erzählung offen ist für die verschiedensten Deu- tungen, stehen in der wissenschaftlichen Rezeption textimmanente Interpretationen neben poststrukturalen, geistesgeschichtliche Betrachtungen neben tiefenpsychologi- schen Ansätzen.“ Bönnighausen 1999, 11. Siehe etwa auch Loquai 1996, 12 passim und Latifi 2011, 149-151. Die Heterogenität und teils Gegensätzlichkeit der Interpretationen ist mittlerweile ein allgemein anerkanntes Merkmal der Sandmann-Forschung.

21 Anerkannt sei Ulrich Hohoffs Kommentar: „Das Unheimliche im ‚Sandmann’ hängt unmittelbar vom Erzählen aus wechselnden Perspektiven ab“ Hohoff 1988, 357, und seine Feststellung, dass „subjektive und objektive Elemente der Erzählwirklichkeit un- unterscheidbar [sind] – zumindest für einen Moment der Irritation“ (357) sowie dass das „Unheimliche […] im ‚Sandmann‘ wesentlich als Phänomen der Wirkung, nicht als ontologische Größe dargestellt [wird]“ (362). Hohoffs Überlegungen gehen allerdings sodann in eine ganz andere Richtung als in die einer systematischen Betrachtung des

„Unheimlichen“, weil ihm darum zu tun ist, das Etikett „Gespensterautor“ (363) zu widerlegen. So führt er aus: „Wie im ‚Goldnen Topf‘ haben die ‚wunderbaren‘ Erschei- nungen und Gespenster keinen festgelegten Realitätsstatus, weil Hoffmann mit unter- schiedlichen Erklärungsmodellen spielt.“ (363).

(26)

25 Sie hat mir einen sehr tiefsinnigen philosophischen Brief geschrieben, worin sie ausführlich beweiset, daß Coppelius und Coppola nur in mei- nem Innern existieren und Fantome meines Ich’s sind, die augenblicklich zerstäuben, wenn ich sie als solche, erkenne. (24.4-8)

Wichtiger als die Ironie, die Betroffenheit, ja: Kränkung und somit emotionale Vertiefung des sachlichen Gegensatzes signalisiert, ist die Ar- gumentationsstrategie: Clara – das kann der Leser von Hoffmanns Erzäh- lung durch die unmittelbare Nähe der Briefe leicht erinnern bzw. nach- prüfen – hat zum einen nachzuweisen versucht, dass die Ereignisse, die Nathanael berichtet hatte, nur in seinem Inneren existieren, und sie hat ihn zum anderen aufgefordert, sich Coppelius und Coppola „ganz aus dem Sinn“ zu „schlagen“. In Nathanaels Zusammenfassung werden Cla- ras Formulierungen verkürzend so modifiziert, dass ihre Position als ab- surd präsentiert wird – so, als habe sie die Existenz von Coppelius und Coppola geleugnet.

Durch Nathanaels zweiten Brief wird allerdings nicht nur die Gegen- sätzlichkeit seiner und Claras Position besiegelt; die Darstellung seines inneren Zustands wird auch um einen neuen Aspekt ergänzt: Aus dem

„[N]icht gewöhnen konnte ich mich“ (13.37) des ersten Briefs wird nun – man beachte den syntaktischen Parallelismus – ein „[N]icht los kann ich den Eindruck werden“ (24.25-26). Der Feststellung, dass sich inzwischen erwiesen habe, dass Coppola nicht Coppelius und Coppelius „aus der Stadt“ (24.27) sei, folgt ohne Übergang die Aussage:

Ganz beruhigt bin ich nicht. Haltet Ihr, Du und Clara, mich immerhin für einen düstern Träumer, aber nicht los kann ich den Eindruck werden, den Coppelius verfluchtes Gesicht auf mich macht. Ich bin froh, daß er fort ist aus der Stadt, wie mir Spalanzani sagt. (24.23-28)

Wurde Nathanael durch den eigenen Bericht im ersten Brief als je- mand präsentiert, der sich mit dem, was er von Mutter und Kinderfrau hörte, nicht zufrieden geben konnte, sondern mit eigenen Augen sehen musste, so wird er nun durch die eigenen Worte als jemand präsentiert, der die Existenz einer Person, von der er sich bedroht fühlt, nicht aus- blenden kann. Ob der Leser von Hoffmanns Erzählung Nathanaels Äu- ßerungen als Ausdruck eines Wahns oder der „Unfreiheit des Menschen“

(27)

26

und seines „Ausgeliefertsein[s] an das ‚Nächtliche‘„ begreift22 oder (ent- gegen der großen Mehrheit der Interpreten) daran glaubt, dass Coppelius Nathanael tatsächlich verfolgt und bedroht: Nathanaels Rede präsentiert die Figur klar als schutz- und hilfebedürftigen Menschen, der allerdings nicht nur unwillig, sondern auch unfähig ist, die von Clara vorgeschla- gene Schutzmaßnahme – sich Coppelius „ganz aus dem Sinn“ zu „schla- gen – zu ergreifen.

Vor diesem Hintergrund entwickelt sich der zweite Teil des Briefs.

Darin schildert Nathanael bekanntlich vor allem eine Begegnung, die erste mit Olimpia:

Neulich steige ich die Treppe herauf und nehme wahr, daß die sonst einer Glastüre dicht vorgezogene Gardine zur Seite einen kleinen Spalt läßt.

Selbst weiß ich nicht, wie ich dazu kam, neugierig durchzublicken. Ein hohes, sehr schlank im reinsten Ebenmaß gewachsenes, herrlich geklei- detes Frauenzimmer saß im Zimmer vor einem kleinen Tisch, auf den sie beide Arme, die Hände zusammengefaltet, gelegt hatte. Sie saß der Türe gegenüber, so, daß ich ihr engelschönes Gesicht ganz erblickte. Sie schien mich nicht zu bemerken, und überhaupt hatten ihre Augen etwas Starres, beinahe möcht’ ich sagen, keine Sehkraft, es war mir so, als schliefe sie mit offnen Augen. Mir wurde ganz unheimlich und deshalb schlich ich leise fort ins Auditorium, das daneben gelegen. Nachher erfuhr ich, daß die Gestalt, die ich gesehen, Spalanzani’s Tochter, Olimpia war, die er son- derbarer und schlechter Weise einsperrt, so, daß durchaus kein Mensch in ihre Nähe kommen darf. – Am Ende hat es eine Bewandtnis mit ihr, sie ist vielleicht blödsinnig oder sonst. (24.34-35.26)

Im Zentrum der Schilderung steht wieder das Adjektiv „unheimlich“, das diesmal allerdings nicht verwendet wird, um einen komplexen, un- durchdringlichen und bedrohlichen Ereigniszusammenhang zusam- menfassend zu charakterisieren, sondern um einen inneren Zustand Na- thanaels zu benennen.

Weshalb Nathanael „ganz unheimlich“ geworden sei, kann der Sand- mann-Leser durch Interpretation seines Berichts zu verstehen versuchen, 22 Steinecke und Segebrecht 1985, 957.

(28)

27 die Augen als zentrales Element deutend.23 Doch vor den Inhalten, die Form: Im Werk wird Nathanaels innerer Zustand, nicht Olimpia als „un- heimlich“ bezeichnet. Die zusammenfassende Beurteilung Olimpias, die Nathanael am Ende des Berichts formuliert, besteht vielmehr aus einer von vagen Ausdrücken umfassten harmlosen Vermutung: „Am Ende hat es eine Bewandtnis mit ihr, sie ist vielleicht blödsinnig oder sonst“ (25.26- 27).

Die Beschreibung Olimpias, die Nathanaels „mir wurde ganz unheim- lich“ vorausgeht, enthält nichts mit den Beschreibungen des Coppelius und der Ereignisse aus dem ersten Brief Vergleichbares. Ungewissheits- signale („etwas Starres“, „beinahe möcht’ ich sagen“, „es war mir so, als“) sind enthalten, aber kein Hinweis auf etwas, das als komplex, undurch- dringlich und bedrohlich wahrgenommen worden sei. Doch auf die Wahrnehmung „es war mir so, als schliefe sie mit offnen Augen“ folgt laut Bericht unmittelbar ein innerer Zustand, der retrospektiv mit der Ka- tegorie versehen wird, mit der im ersten Brief das Komplexe, Undurch- dringliche und Bedrohliche zusammenfassend benannt wurde und der als Grund für eine unmittelbare Fluchtreaktion angegeben wird: „mir wurde ganz unheimlich und deshalb schlich ich“ (25.11-12).

Die Kontiguität der Reflexion „es war mir so, als schliefe sie mit offnen Augen“ und der Rubrizierung „mir wurde ganz unheimlich“ kann vom Leser des Sandmanns als Kausalität gelesen werden. Aber sie liegt, ob- gleich nahegelegt, letztlich in seiner Verantwortung. Im Wortlaut sind die Aussagen nicht durch einen expliziten Kausalnexus verbunden. Gezeigt wird lediglich, dass Nathanael aus zeitlicher, räumlicher und sprachlicher Distanz, in einem Bericht, der im Unterschied zum ersten Teil des Briefs sehr wenige Emotionalisierungssignale enthält, einen plötzlich aufgetre- tenen inneren Zustand, dessen Auftreten ihn zu unmittelbarer Fluchtre- aktion veranlasste, als „unheimlich“ bezeichnet. Durch das Fehlen eines expliziten Kausalnexus bleibt die Ursache für den Zustand im Dunkeln einer Leerstelle, die der Leser von Hoffmanns Erzählung füllen kann, die aber innerhalb der Erzählung weder vom Berichtenden selbst noch von den Gestalten, die er mit dem Brief anspricht bzw. erreicht, gefüllt wird.

23 Vgl. hierzu etwa Hohoff 1988, 277 passim.

(29)

28

Die Rubrik „mir wurde ganz unheimlich“ bezeichnet innerhalb der Er- zählung etwas letztlich im Dunklen Bleibendes, Undurchdringliches und zu unmittelbarer Fluchtreaktion Veranlassendes. Die Dunkelheit betrifft nun allerdings in erster Linie den Leser, nicht die Gestalten.

Die Funktion des Adjektivs ist mutatis mutandis die gleiche wie im ers- ten Brief Nathanaels und ergänzt komplementär: Ob es um etwas Äuße- res (den Ereigniszusammenhang um Coppelius) oder um etwas Inneres (Nathanaels Zustand beim Betrachten der Olimpia) geht, „unheimlich“

wird als zusammenfassende Charakterisierung für etwas verwendet, das im Rückblick zugleich als komplex bzw. undurchdringlich und bedroh- lich bzw. sofortige Flucht veranlassend wahrgenommen wird, und dient dazu, das Bezeichnete in einem Wort zu fassen, um das eigene Verhalten zu erklären – der Kausalnexus „mir wurde ganz unheimlich und deshalb schlich ich leise fort“ (25.11-12) ist bei aller Subjektivität explizit und ein- deutig.

Der Vergleich mit der dritten und vierten Verwendung von „unheim- lich“ vervollständigt das Bild. Auch dort geht es um Olimpia, die aller- dings inzwischen von Nathanael abgöttisch geliebt wird. Geschildert wird bekanntlich, wie ein Freund, Siegmund, Nathanael vor Olimpia warnt:

Uns ist diese Olimpia ganz unheimlich geworden, wir mochten nichts mit ihr zu schaffen haben, es war uns als tue sie nur so wie ein lebendiges Wesen und doch habe es mit ihr eine eigne Bewandtnis. (42.3-6)

In Siegmunds Rede wird „unheimlich“ – zum ersten Mal in der Er- zählung – simultan objekt-, wirkungs- und subjektzentriert verwendet:

Als zusammenfassende Charakterisierung für Olimpia, für ihre Wirkung und für den inneren Zustand, den sie auslöse. Ziel der Charakterisierung ist es, Nathanael damit zu konfrontieren, dass „viele“ (41.30) einschließ- lich Siegmund selbst nichts mit Olimpia zu tun haben wollen, und ihn dazu zu bewegen, seine Einstellung zu ihr zu revidieren. Siegmunds Ab- schiedsworte am Schluss des Dialogs zeigen, dass er seinen Freund als hilfe- und schutzbedürftig betrachtet:

„Behüte dich Gott, Herr Bruder“, sagte Siegmund sehr sanft, beinahe weh- mütig, „aber mir scheint es, du seist auf bösem Wege. Auf mich kannst du rechnen, wenn alles – Nein, ich mag nichts weiter sagen! –“ (42.21-24)

(30)

29 Siegmunds Beschreibung der Olimpia ähnelt derjenigen aus Natha- naels Bericht – ebenso die am Ende verwendete Formulierung, mit ihr habe es „eine eigne Bewandtnis“ (42.6). Die Rede des Freundes charakte- risiert Olimpia, wie zuvor Nathanaels Bericht, als „auf seltsame Weise starr und seelenlos“ (41.22) und ihren „Blick“ als „so ganz ohne Lebens- strahl, ich möchte sagen, ohne Sehkraft“ (41.34-35). Siegmunds Beobach- tungen sind zwar detaillierter als Nathanaels und enthalten mehr Hin- weise auf einen Automaten: „[i]hr Schritt“, sagt er, sei „sonderbar abge- messen, jede Bewegung“ scheine „durch den Gang eines aufgezogenen Räderwerks bedingt“, „ihr Spiel, ihr Singen“ habe „den unangenehm richtigen geistlosen Takt der singenden Maschine und eben so“ sei „ihr Tanz“ (42.3). Aber die Ungewissheitssignale sind nicht weniger stark als zuvor bei Nathanael („es war uns als“, „auf seltsame Weise“, „ich möchte sagen“, „scheint“ usw.), und auch Siegmund kommt nicht zu einer klaren Benennung dessen, was an Olimpia nicht stimme. Nur in einem – aller- dings wesentlichen – Punkt formuliert der Freund wesentlich klarer als Nathanael: Das Gefühl des „Unheimlichen“, das in ihm selbst und in „vie- len“ anderen durch die Wahrnehmung der Olimpia entstanden sei, und der Wunsch, „nichts mit ihr zu schaffen“ zu haben, schreibt er klar und explizit der Wirkung Olimpias zu.

Die zusammenfassende Aussage „uns ist diese Olimpia ganz unheim- lich geworden“ (42.3) dient in Siegmunds Rede nicht nur dazu, das We- sentliche der Erscheinung Olimpias, ihrer Wirkung und des inneren Zu- stands, in den ihre Wahrnehmung die Wahrnehmenden versetze, in ei- nem Wort greifbar zu machen, sondern vor allem auch dazu, dem Freund, auf den die Rede ja wirken soll, klar zu machen, dass Olimpia zu meiden sei – abstrakt formuliert: dem Freund zu helfen, sich zu Olimpia und ihrer Wirkung anders zu positionieren und eine angemessenere Handlungsweise zu entwickeln, sprich: sich von ihr zu distanzieren.

Nathanaels Reaktion nimmt das Schlüsselwort des Freundes lediglich wieder auf, um eine Wertung und Haltung zu formulieren, die denjeni- gen Siegmunds geäußerten diametral entgegenstehen:

Wohl mag euch, ihr kalten prosaischen Menschen, Olimpia unheimlich sein. Nur dem poetischen Gemüt entfaltet sich das gleich organisierte! –

(31)

30

Nur mir ging ihr Liebesblick auf und durchstrahlte Sinn und Gedanken, nur in Olimpia’s Liebe finde ich mein Selbst wieder. (42.9-14)

Eine neue Funktion hat „unheimlich“ in dieser Passage nicht.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass „unheimlich“ an sechs wich- tigen Stellen der Erzählung insgesamt sechs Mal verwendet wird – drei- mal objektzentriert, einmal subjektzentriert und zweimal objekt-, wir- kungs- und subjektzentriert −, in allen Verwendungen mit der gleichen Funktion: Das Adjektiv „unheimlich“ dient als Charakterisierung für ei- nen äußeren Ereigniszusammenhang und/oder einen inneren Zustand, der zuvor als komplex, unklar, undurchdringlich bzw. unverständlich und potentiell oder realiter bedrohlich bzw. sofortige Flucht veranlassend bzw.

Distanzierung erfordernd geschildert wurde, und dient in allen Fällen dazu, diesen äußeren Ereigniszusammenhang und/oder inneren Zu- stand in seiner Komplexität, Unklarheit, Undurchdringlichkeit bzw. Un- verständlichkeit und Bedrohlichkeit in einem Wort zu fassen und diskur- siv zu beherrschen.

In Nathanaels erster („unheimlichen Spuk“, 14.1) und zweiter Ver- wendung („mir wurde ganz unheimlich“, 25.11) hat das zusammenfas- sende Rubrizieren das Ziel, das eigene Verhalten zu erklären. In Claras und Siegmunds Verwendungen – sowie in Nathanaels dritter, als negati- vem Echo zu Siegmunds gestalteter Verwendung – hat die Rubrizierung das Ziel, dem Adressaten dabei zu helfen, sich gegenüber einem in we- sentlicher Hinsicht unklaren, aber klar als bedrohlich eingestuften Ereig- niszusammenhang oder inneren Zustand richtig zu positionieren und angemessene Handlungsweisen zu wählen.

Diskurs und Figur Bericht

Alle Verwendungen des Adjektivs „unheimlich“ im Sandmann sind den Schilderungen nachgestellt, die sie zusammenfassend rubrizieren. Die ersten zwei finden sich, wie gesagt, in Nathanaels erstem Brief an Lothar.

(32)

31 Die Passage gehört zu den vielinterpretierten Stellen der deutschen Literatur. Für die Betrachtung des „Unheimlichen“ sind zwei Aspekte be- sonders wichtig: Der genaue Wortlaut und die im Werk angelegte unmit- telbare Wirkungsdimension.

Beschrieben wird bekanntlich zunächst das abendliche Beisammen- sein der Familie, der vertraute Abschluss des Tages:

Nach dem Abendessen, das alter Sitte gemäß schon um sieben Uhr auf- getragen wurde, gingen wir alle, die Mutter mit uns, in des Vaters Arbeits- zimmer und setzten uns um einen runden Tisch. Der Vater rauchte Tabak und trank ein großes Glas Bier dazu. (12.17-21)

Für den Familienabend habe es zwei verschiedene Abläufe gegeben, einen heiteren und einen düsteren: „Oft“ habe der Vater der Familie

„viele wunderbare Geschichten“ erzählt und sei „darüber so in Eifer“ ge- raten, so Nathanaels Bericht, „daß ihm die Pfeife immer ausging, die ich, ihm brennend Papier hinhaltend, wieder anzünden mußte, welches mir denn ein Hauptspaß war“ (12.23-25).24

Oft gab er uns aber Bilderbücher in die Hände, saß stumm und starr in seinem Lehnstuhl und blies starke Dampfwolken von sich, daß wir alle wie im Nebel schwammen. An solchen Abenden war die Mutter sehr traurig und kaum schlug die Uhr neun, so sprach sie: Nun Kinder! − zu Bette! zu Bette! der Sandmann kommt, ich merk’ es schon. (12.21-28)25

Der Höhepunkt der Schilderung, das Kommen des „Sandmanns“, wird mit den Worten beschrieben:

Wirklich hörte ich dann jedesmal Etwas schweren langsamen Tritts die Treppe heraufpoltern; das mußte der Sandmann sein. (12.31-32)

24 „Oft erzählte er [scil. der Vater, D. R.] uns viele wunderbare Geschichten und geriet dar- über so in Eifer, daß ihm die Pfeife immer ausging, die ich, ihm brennend Papier hinhal- tend, wieder anzünden mußte, welches mir denn ein Hauptspaß war.“ (12.21-25).

25 Hervorhebungen von mir. Man ist versucht, den Verweis auf das im Nebel-Schwim- men als signalhaft zu lesen, wenn man die diskursive Bedeutsamkeit der Intransparenz bzw. der Opazität und des Nebels im Sandmann bedenkt – siehe etwa unten Seiten 45 und 46.

(33)

32

Das Ereignis wird so ins Zeichen der Beunruhigung des Kindes Na- thanael wegen der Veränderung der Eltern und seiner Verunsicherung aufgrund Wahrnehmungseinschränkung (nur hören, nicht sehen) und damit einhergehendem Nichtwissen („Etwas […] das mußte“).

Gleich darauf wird Nathanael als Kind dargestellt, das, den Grund der Beunruhigung (Kommen des Sandmanns) nicht beheben könnend, zu- mindest die Ursachen der Verunsicherung (Wahrnehmungseinschrän- kung, Nichtwissen) zu beseitigen versucht:

Einmal war mir jenes dumpfe Treten und Poltern besonders graulich; ich frug die Mutter, indem sie uns fortführte: Ei Mama! wer ist denn der böse Sandmann, der uns immer von Papa forttreibt? – wie sieht er denn aus?

(12.33-37)

Geschildert wird nun, dass die Mutter weder auf die erste noch auf die zweite Frage des Kindes geantwortet habe, sondern die Ankündigung

„der Sandmann kommt“ für eine Redensart erklärt habe, die Schritte auf der Treppe somit unerklärt lassend:

„Es gibt keinen Sandmann, mein liebes Kind, erwiderte die Mutter: wenn ich sage, der Sandmann kommt, so will das nur heißen, ihr seid schläfrig und könnt die Augen nicht offen behalten, als hätte man euch Sand hin- eingestreut.“ – Der Mutter Antwort befriedigte mich nicht, ja in meinem kindischen Gemüt entfaltete sich deutlich der Gedanke, daß die Mutter den Sandmann nur verleugne, damit wir uns vor ihm nicht fürchten soll- ten, ich hörte ihn ja immer die Treppe heraufkommen. (12.37-13.9)

Die ausdrücklich als unbefriedigend bezeichnete Antwort der Mutter habe das Kind veranlasst, weiter zu Fragen, wobei es vom Kindermädchen der Schwester eine Beschreibung des Manns im Mond erhalten habe, die es nicht geglaubt habe – es sei „schon alt genug“ (13.28) gewesen, „einzu- sehen, daß das mit dem Sandmann und seinem Kindernest im Halb- monde, so wie es mir die Wartefrau erzählt hatte, wohl nicht ganz seine Richtigkeit haben könne“ (13.27-31) –, aber die seine Imagination ange- feuert habe:

Abbildung

Figur und Psyche

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