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Prof. Dr. Carel van Schaik: Moral: Evolution oder Religion? Ethik-Höck vom 4. März 2020 mit

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Januar 2020 Alumni ASAE Universität Zürich c/o UZH Alumni

Schönberggasse 15a 8001 Zürich asae@alumni.uzh.ch

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Ethik-Höck vom 4. März 2020 mit

Prof. Dr. Carel van Schaik:

Moral: Evolution oder Religion?

Carel van Schaick

Carel van Schaik, geboren 1953 in Rotterdam, ist

Verhaltensforscher und Evolutions- Biologe. Er erforscht die Wurzeln der menschlichen Kultur und Intelligenz bei Menschenaffen. Er war Professor an der Duke University in den USA und von 2004 bis 2018 Professor für

biologische Anthropologie an der Universität Zürich, wo er als Direktor dem Anthropologischen Institut und Museum vorstand. Unlängst legte er das Standardwerk "The Primate Origins of Human Nature" vor. Carel van Schaik ist ein korrespondierendes Mitglied der Royal Netherlands Academy of Sciences. Er lebt in Zürich. Quelle: Verlag / vlb

Carel van Schaik: "Mich interessiert herauszufinden, was uns zu Menschen gemacht hat."

Noch etwas Info:

https://www.youtube.com/watch?v=6Y0M8md_-5o https://de.wikipedia.org/wiki/Carel_van_Schaik Publications

Zurich Open Repository and Archive (ZORA) Publications (older)

Universität Zürich

Raum KOL-G-202 (Zentrum Uni Zürich) 4. März 2020, 18.45 – 21.00 Uhr

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Moral: Evolution oder Religion?

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Rückblick

Moral ist eine Folge der Evolution an unseren Lifestyle in der Steinzeit

1

Die Menschen lebten während Jahrtausenden in egalitären Gruppen, die sehr kooperativ und konform waren, die Kinder gemeinsam aufzogen, Nahrung zusammen beschafften und verteilten. Individuen, die sich abweichend egoistisch verhielten, wurden aus den Gruppen ausgeschlossen. Dies schuf die genetische Basis für die heutige Moral2.

Wie es dazu kam, erzählte uns am Ethik-Höck vom 4. März Prof. Dr. Carel van Schaik; hier ein kleiner Einblick in seine Präsentation und meinen Bericht:

- Jäger-Sammler vor 50'000 Jahren: Warum lebten sie in egalitären Gruppen?

- Das Leben der Jäger-Sammler in der Steinzeit: Woher wissen wir das?

- Die Moral steckt in den Genen: Was ist damit gemeint?

- Die Reputation in der Gruppe stand über allem: Weshalb?

- Das Aufkommen der Landwirtschaft: Was waren die Folgen für die Moral?

- Der grosse Gott erscheint im Holozän: Warum erst dann?

- Wir sind alle Mischlinge: Was ist damit gemeint?

- Die Entwicklung der Moral in Zukunft: Welches Orakel weiss die Antwort?

Präsentation von Carel van Schaik, Bericht und ergänzende Paper

Es empfiehlt sich, zuerst die Folien der Präsentation zu studieren, um einen wissenschaftlich fundierten Überblick zu gewinnen.

Carel van Schaik stellt uns zudem einen Vorabdruck des Kapitels 22, "Morality" (vgl.

Attachment), aus seinem Buch zur Verfügung (The Primate Origins of Human Nature, Wiley 2016). Darin sind die wichtigen Punkte der Argumentation dargestellt. Auch weitere Themen werden ausgeführt, beispielsweise Religion (Kap 23) oder Krieg (Kap. 21, Warfare).3

Im Bericht habe ich einzelne Aspekte aus dem Ethik-Höck herausgegriffen.

In einem Anhang gehe ich spezifisch auf den Mechanismus der Evolution ein.

Schliesslich möchte ich diesmal speziell den Disclaimer am Schluss erwähnen. Dort steht es jeweils, doch für gelegentliche LeserInnen möchte ich es hier nochmals betonen: Die Berichte haben nicht dieselbe wissenschaftliche Exaktheit der Vorträge und Unterlagen der

DozentInnen. In Ausnahmefällen füge ich dem Bericht einen Anhang hinzu, der einen Aspekt

1Korrekter: im Pleistozän bis zum Holozän, d.h. von ca. 2.5 Mio bis vor ca.10'000 Jahren.

2 Auf Unterschiede bei der Definition und auf Begriffsabgrenzungen von Moral und Ethik gehe ich im Bericht nicht ein. So werden beispielsweise auch Fragen, inwieweit es auf die Motive oder auf die Pflicht ankommt, nicht aufgenommen. Der Fokus liegt hier mehr auf der Quelle und der Ursache von Moral.

3Empfehlenswert ist auch ein Paper, das Carel van Schaik zusammen mit Judith M. Burkart, seiner Nachfolgerin im Departement of Anthropology der Uni Zürich, publiziert hat: Judith Burkart et al.: "Evolutionary Origins of Morality:

Insights From Non-human Primates" (Link1). Schliesslich sei noch erwähnt, dass das Buch, welches ich am Ethik- Höck erwähnt habe, wegen Corona evtl. ein wenig später als geplant (30.6.20) erscheint: Carel van Schaik, Kai Michel, "Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern."

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beleuchten soll, welcher am Ethik-Höck nicht vertieft werden konnte. Gelegentlich füge ich Links zu Zeitschriften hinzu, da ich annehme und von einigen Alumni weiss, dass sie auf Interesse stossen. Allgemein bitte ich bei Zweifeln, Unklarheiten etc. die Unterlagen der DozentInnen zu konsultieren und mir dies mitzuteilen.

Moral als göttliche Überlieferung oder als kulturelle Innovation

Für Theorien, dass die Moral durch einen allwissenden Schöpfer den Menschen überliefert wurde und für die Überlegung, dass Moral eine kürzliche erst gemachte kulturelle Erfindung oder eine soziale Konstruktion sei, wird auf die ersten Seiten der Präsentation und auf das Buch von Carel van Schaik verwiesen.

Leben in der Steinzeit: Warum glauben wir zu wissen, wie es damals war?

Die Basis der menschlichen Moral, d.h. der Kern der Moral ist evolutionär als Folge unserer Lebensweise als Jäger-Sammler entstanden. Natürlich gibt es keine Aufzeichnungen, welche diese Aussage beweisen und selbstverständlich wäre es spannend, mit einer Zeitmaschine 50'000 oder 500'000 Jahre4 zurück zu gehen (zum Beispiel als Journalistin für die Recherche,

4 Auch wenn der moderne Mensch ca. seit 200'000 – 300'000 Jahren existierte, kann man auf Grund der Funde von Knochen, Werkzeugen und anderen Überresten eine ähnliche und nicht komplett andere Lebensweise der frühen Menschen in den paar hunderttausend Jahren vorher annehmen.

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aber vorzugsweise nur für ganz kurze Zeit…), um mitzuerleben, ob Menschen wirklich so lebten, wie wir es heute annehmen.

Es gibt allerdings Möglichkeiten, das menschliche Steinzeit-Leben zu "rekonstruieren". Im Vordergrund stehen hierfür Vergleiche mit heutigen Jäger-Sammler Gesellschaften und Analysen der zahlreichen archäologischen Funde von Knochen und Werkzeugen aus der fraglichen Zeit.

Allgemein geht die Forschung davon aus, dass wir Jäger-Sammler waren und zwar während 95% oder - wenn man auch die frühen Menschen dazuzählt - während 99% unserer Existenz.

Die Umgebungen und das Leben haben uns in den Hunderttausenden von Jahren so geprägt und evolutionär so "gemacht" wie wir heute sind. Da spielen die letzten paar 100 und auch 1000 Jahre eine vergleichbar kleine Rolle.

Berichte von Missionaren5 und früheren Forschern, vor allem aber wissenschaftliche Untersuchungen zeigen auf, wie nomadische Jäger- Sammler heute, bzw. vor Jahrzehnten oder sogar vor hundert und mehr Jahren) leben und gelebt haben. Alle diese Gesellschaften

verhielten und verhalten sich sehr homogen, obwohl sie geografisch sehr weit entfernt (Amerika-Afrika-Asien-

Australien) voneinander lebten und leben. Viele hatten seit Tausenden von Jahren keine gemeinsamen Vorfahren und abgesehen von einzelnen Forschern auch wenig oder keinen Kontakt mit anderen Gesellschaften. Elemente der Moral sind sowohl in Bezug auf die Mechanismen als auch auf den Inhalt weitgehend gleich. Man kann sagen, ihre Moral sei in vielen Aspekten universell. So scheint es plausibel, dass heutige Jäger-Sammler

Gesellschaften ein repräsentatives Abbild darstellen für den evolutionären Kontext vor dem Aufkommen der Landwirtschaft und den ersten Städten. Natürlich sind die grössten Gefahren für heutige Jäger-Sammler nicht Löwen (nur als Beispiel gedacht) und sie leben nicht

unbedingt in Gegenden, die wir als Savanne bezeichnen würden. Aber die Herausforderungen allgemein sind heute prinzipiell ähnlich rau und gross wie "damals": Das Überleben bzw.

speziell die Nahrungsbeschaffung erfordert grosse Kooperation unter den Gruppenmitgliedern mit entsprechenden Anforderungen an das Einhalten von Gruppenregeln (Anpassung,

5 Es gibt Missionare, die haben anscheinend bis zu 40 Jahre bei einem Stamm gelebt und deren Lebensweise beschrieben. Die Frustration war oft gross, weil die Erfolge der Missionierung klein waren. Die Jäger-Sammler blieben bei ihrer bewährten Lebensweise.

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Konformität). Typischerweise geht man von Kleingruppen ("bands“) von rund 30 Personen6 aus, wobei allerdings andere solche Kleingruppen in "Reichweite" leben. Das ist beispielsweise wichtig, wenn es darum geht, PartnerInnen zu finden und sich sonst zu unterstützen. Diese verwandten und einander bekannten Kleingruppen sind in sogenannten "communities“

organisiert. Die Community entspricht dem, was wir eine Gesellschaft nennen.

Lebensstil in der Steinzeit: Reputation ist entscheidend

Ein wesentliches Charakteristikum der Jäger-Sammler ist deren egalitäre Gesellschaftsform.

Typisch sind intensive Kooperation, weitgehend ohne Dominanz und ohne Hierarchie.

Wichtige Entscheidungen werden in aller Regel gemeinsam gefasst und auch die meisten Tätigkeiten erfolgen gemeinsam: Jagen, Fischen, Sammeln. Die Nahrung wird geteilt und auch bei der Aufzucht/Erziehung (cooperative breeding) unterstützen sich die Mitglieder einer Gruppe gegenseitig. Für Unterstützung muss nicht speziell gebeten werden, wenn Not besteht.

Der "Schlüssel" für das Funktionieren dieser gegenseitigen Hilfe ist die Reputation. Alle sind besorgt, dass sie den Ruf kooperativer, guter Gruppenmitglieder haben. Die Gruppe sieht und überwacht, wer hilft und teilt. Dies zeigt sich z.B. wenn Jäger nach Tagen ohne Beute

heimkehren, wenn jemand während Wochen oder Monaten krank oder verletzt ist und wenn Familien Nahrung benötigen, um alle Kinder zu ernähren. Die rauen Bedingungen machen es z.B. für eine Mutter unmöglich, die Kinder alleine mit genügend Nahrung zu versorgen. Da braucht es gegenseitige Unterstützung.7

Bezogen auf unsere heutigen Moralvorstellungen zeigt sich in der gemeinsamen Aufzucht/Erziehung eine starke prosoziale Motivation (Gutes tun, Empathie) und im gemeinsamen Jagen und Sammeln eine intensive Gruppenidentität für Unterstützung und Schutz. All dies mündet zudem in starke Unterstützung für Mitglieder in Not. Hier zeigt sich die Bedeutung der Reputation, da der/die Helfende von den andern beobachtet wird.

Die Regeln sind eindeutig: Mitlieder, die sich nicht an die Normen halten, verlieren ihren guten Ruf. Schuld- und Schamgefühle (z.B. Erröten) sind typische Reaktionen, wenn ein Mitglied ertappt wird. Uneinsichtige werden gemieden, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen oder sogar umgebracht. Die Bestrafung ist zentral für das Durchsetzen der Normen. Das Signal an die anderen wirkt. Da ein Überleben allein praktisch nicht möglich ist, bedeutet der Ausschluss oft den Tod. Ein Zurück nach dem Ausschluss ist meist nur möglich, wenn das Mitglied grosse Reue zeigt bzw. zu Kreuze kriecht. Unmissverständlich ist die Aussage einer Jäger-Sammler Volksgruppe in Tanzania: “Hadza say people who do not share are bad people and that they will move away from them. Punishment comes in the form of gossip and exile.” (Vgl. Folie 15).

6 Das kann unterschiedlich sein und je nach Situation auch 20 oder 100 Menschen umfassen.

7 Das ist ein Unterschied z.B. zu den Menschenaffen, welche kein cooperative breeding praktizieren. Allgemein entwickelte sich die gemeinsame Aufzucht in einer Spezies dann, wenn die Bedingungen so schwierig waren, dass eine Mutter (und allenfalls der Vater alleine ihre Kinder nicht ernähren konnten. Eine Reihe von anderen Tieren praktiziert auch cooperative breeding.

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Was genau beinhaltet die Moral der Jäger/Sammler?

Die Regeln der Jäger und Sammler betonen auf individueller Basis Fürsorge, Nichtschaden, Fairness (Gerechtigkeit/Gleichbehandlung/Gleichstellung) bzw. die goldene Regel (Reziprozität). Man kann von einem prosozialen, altruistischen Verhalten sprechen. In Bezug auf die Gemeinschaft ist Konformität mit der Gruppe zentral und ebenso Loyalität. Man tut, was die anderen tun und was der Gruppe hilft und nicht nur dem einzelnen Individuum. Ebenso sind sowohl Autorität und Respekt als auch Reinheit und Unverletzlichkeit wesentliche Aspekte des Verhaltens. All diese Werte, Prinzipien und Regeln bilden die Basis.

Die Moral funktioniert intrinsisch auf lokaler Basis zwischen Partnern, die interagieren und innerhalb der Gruppe. Sie entwickelte sich nicht für grosse, anonyme, komplexe

Gesellschaften.

Die Normen sind das Mittel für Kooperation bei gleichzeitigen Interessenkonflikten. Sie stellen sicher, dass das Überleben gelingt und sie schützen beispielsweise auch vor

egoistischem Trittbrettfahren Einzelner. Die Konformität stärkt das Vertrauen untereinander.

Viele der moralischen Handlungen erfolgen unmittelbar, intuitiv und ohne langes Abwägen. Zweifellos gibt es auch Reflexion, aber die Motivation gründet nicht auf Pflicht gegenüber dem Prinzip oder Wert, sondern die Regeln haben sich als wirkungsvoll und letztlich unabdingbar erwiesen für das Überleben der Gruppe. Dazu gehört als wesentliches Element die harte Bestrafung nach einer Normverletzung.

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Die biologische Hypothese der Moral

Mit der These "Die Basis unserer Moral ist entstanden als evolutionäre Adaption an unseren Lebensstil als Jäger - Sammler" wird behauptet, dass es sich um eine genetische Anpassung handelt. Korrekter müsste man sagen, dass die Adaption Emotionen und Dispositionen begünstigt, welche moralischen Handlungen zugrunde liegen. Diese Neigung, bzw. der Kern für die Moral entstand, um die Art des kooperativen Jäger-Sammler-Lebensstils zu

unterstützen bzw. zu ermöglichen. Es war die Gesellschaftsform, welche sich evolutionär unter den gegebenen

Umgebungsbedingungen als vorteilhaft gegenüber anderen Verhaltensweisen durchsetzen konnte.

Die moralischen Emotionen zeichnen sich zudem dadurch aus, dass sie unmittelbar bzw.

dringend aufkommen und etwas Zwingendes beinhalten. Oft ist ein Gefühl der Empörung dabei.

Typischerweise wird auch

erwartet, dass andere sich daran halten. Damit wird eine

Vorstellung universeller Gültigkeit impliziert.

Es geht jedoch "nur" um den Kern der Moral, denn

selbstverständlich gibt es zeitliche und örtliche Ausprägungen, die stark von den jeweiligen

Umgebungsbedingungen und kulturellen Einflüssen abhängen.

Resultate aus Experimenten

Dass wir einen angeborenen Kern moralischen Verhaltens haben, kann in Tests überprüft werden. In der Präsentation erwähnt Carel van Schaik einige Experimente, in denen die Reaktionen von Neugeborenen und Kleinkindern die Zusammenhänge bestätigen.

Ebenso gibt es eine Reihe von Experimenten, welche die moralischen Prinzipien und Werte und das daraus folgende Verhalten bei modernen Menschen und bei den noch existierenden Jäger-Sammler Gesellschaften zeigen (vgl. Folien 13-21). Ein interessantes Beispiel sind die Experimente mit Augen-Plakaten in der Kaffeeküche von Studenten. Wer sie nicht kennt, sollte den kurzen Artikel im Spiegel lesen (Link). Er zeigt die Bedeutung, welche wir unserem guten Ruf zumessen.

Andere Experimente zeigen z.B. das prosoziale Verhalten in sogenannten Diktator-Spielen, die

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Bedeutung des In-Group und Out-Group Verhaltens, die sogenannte indirekte Reziprozität für die Reputation, die starke Neigung zur Konformität (fast alles zu machen, damit man in der Gruppe akzeptiert ist).

Allgemein bestätigen zahlreiche Untersuchungen der Ethnografie, der Verhaltensökonomie und der Entwicklungspsychologie die These eines angeborenen Kerns der Moral.

Der grosse Gott erscheint im Holozän

8

Nach vielen Tausenden von Jahren als Jäger-Sammler erfolgte vor 15 – 10'000 Jahren eine erdgeschichtlich revolutionär schnelle, aber aus der Sicht eines heutigen Menschen eine

langsame Veränderung, die unsere Art zu leben in grossem Stil beeinflusste. Die gezielte Zucht und Domestizierung von Tieren und von ertragreichen Pflanzen führte zu sesshaften, landwirtschaftlichen Kulturen. Lebten wir vorher in kleinen egalitären Gruppen, so wurden vor ca.3 bis 6000 Jahren

zunehmend grössere Gesellschaften (Städte) möglich, da die Nahrungsbeschaffung "einfacher" und effizienter wurde. So konnten auch mehr Menschen andere Tätigkeiten als Nahrungsbeschaffung ausüben.

Die kleinen Jäger-Sammler Gemeinschaften waren egalitär organisiert und die soziale Kontrolle bzw.

Kooperation war entscheidend fürs Überleben. In grossen Gesellschaften funktionierte dies nicht mehr in gleichem Masse und es entwickelten sich geschichtete, hierarchische Organisationen. Diese konnten Nahrung wirkungsvoll organisieren und sie waren stärker in der Verteidigung von Nahrungsmittelgebieten bzw. in der Eroberung von Weideland, Sklaven etc.

Auch die Eigentumsbildung wurde zunehmend wichtiger. Die grössere Anonymität unter vielen Menschen mit unbekannter Reputation sowie mehr Ungleichheit und weniger Fairness in der Verteilung schufen die Basis für die "Erfindung" und Verbreitung grosser Götter und Religionen, welche halfen, die Gesellschaft zusammen zu halten. Nicht die

Gemeinschaft aller (Jäger-Sammler), sondern die Götter und stellvertretende Obrigkeiten sorgten dafür, dass Abweichler in grossen Gesellschaften bestraft wurden.

Die Grafik (vgl. Folie 27) zeigt den Zusammenhang zwischen der Grösse einer Gesellschaft und dem Glauben an einen moralisierenden Gott. Mit 1 sind Stammesgesellschaften dargestellt.

8 Max Frisch möge verzeihen…

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Eine Funktion der Religion war in der Folge während Jahrhunderten eine je nach Ansicht erfolgreiche oder weniger erfolgreiche Ideologie mit transzendentem Hintergrund, um moralische Regeln durchzusetzen und um grosse Gesellschaften zusammen zu halten.

Selbstverständlich änderte sich die Lebensweise nicht für alle schlagartig. Viele Gruppen lebten noch Tausende von Jahren als Jäger-Sammler und es gab viele Mischformen mit halb sesshaften Gesellschaften, welche auch etwas Landwirtschaft betrieben.

Führt der Verlust der Religiosität

9

zum Verschwinden der Moral?

Säkulare demokratische Staaten trennen die Macht (Legislative, Executive, Justiz) und schaffen soziale Institutionen, welche dafür beitragen, dass Gesellschaften weitgehend ohne Religion und Götter moralisch leben können. Normen und Gesetze sowie die staatliche Sanktionsgewalt stützen Moral.

Interessant sind in diesem Zusammenhang Untersuchungen zwischen der Religiosität einer Gesellschaft und deren Einkommens- bzw. Vermögensverteilung. (Vgl. Folie 33). So korreliert z.B. hohe Einkommensungleichheit mit hoher Religiosität. Da es nur eine Korrelation ist, kann Gleichheit im Einkommen zur Abnahme von Religiosität führen oder die Abnahme von

Religiosität kann zu mehr Gleichheit führen oder der Zusammenhang ist komplexer.

Vertieft wird die Rolle der Religion im Kapitel 23 des Buches von Carel van Schaik diskutiert.

9Auf Fragen, was denn genau mit Religion oder mit Gott gemeint sei, wird hier nicht eingegangen. Man kann natürlich die Begriffe so weit fassen, dass fast alles darunterfällt. In diesem Bericht geht es um Gott und Religion im engeren Sinne, insbesondere um das Heilige und Transzendente der grossen Religionen.

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Neandertaler und andere Menschen

Ein Alumnus fragt in der Diskussion nach der Bedeutung der Neandertaler und deren Lebensweise. Carel van Schaik erklärt, dass es sich um Menschen handelt, die bis etwa vor ca. 40'000 Jahren und über eine lange Zeit gleichzeitig mit uns auf dem Planeten waren10. Offensichtlich lebten sie ähnlich wie Jäger-Sammler.

Man spreche seit einigen Jahren zudem von Hybridisierung zwischen Menschenpopulationen, doch sei da die Forschung und auch die Interpretation der Resultate nicht einheitlich. Während noch vor 10 Jahren einige Forscher glaubten, es habe keine sexuellen Verbindungen mit dem Homo Sapiens gegeben, sei man anschliessend und bis vor Kurzem davon ausgegangen, dass bei Nichtafrikanern ca. 2% der Gene ihren Ursprung bei den Neandertalern hätten. Und nun seien gerade kürzlich auch Neandertal-Gene bei Afrikanern gefunden worden. Interessant sei im Übrigen, dass ähnliche Hybridisierungen mit Denisova-Menschen in Neuguinea zu finden seien, mit ca. 5% Anteil am Genom. Die Genetiker sprächen zudem in neuester Zeit von sogenannten Ghost-Populationen, da man auch bei anderen Menschen, z.B. beim Stamm der Yoruba in Nigeria, ca. 8 % der Gene einer verschwundenen Population zuordne, von der man bisher keine Funde habe. Heute gehe man davon aus, dass wir während ein paar hundert- tausend Jahren bis zum Verschwinden (ca. vor 40'000 Jahren) der Neandertaler und der Denisova-Menschen gleichzeitig mit anderen Menschenpopulationen lebten und dass es da offensichtlich zu Vermischungen kam. Natürlich könne man über die Moral all der Menschen, die gleichzeitig mit "uns" gelebt hätten, nicht viel aussagen, aber es sei zumindest naheliegend, dass sie sehr ähnlich war, da nach allem, was man weiss, die Lebensweise auch ähnlich war.

Moral bei anderen Spezies

Nur ein Randthema waren Fragen der Moral bei anderen Spezies. Nachgewiesen wurde, dass zumindest bei unseren nächsten Verwandten Vorstufen von Moral (genauer: von moralischen Emotionen) vorhanden sind. Experimente und Wildbeobachtungen zeigen dies. So protestieren

"aussenstehende" Schimpansen lautstark, wenn z.B. ein Schimpansenmann auf Frauen und Kinder losgeht. Gemeinsames Aufziehen der Kinder wird bei einigen Tieren beobachtet, nicht aber bei Menschenaffen. Für weitere Vergleiche siehe den Artikel von J. Burkart et. al. (Link ) und das Buch von Carel van Schaik.

10 Gemeinsame Vorfahren so ca. vor 700'000 Jahren.

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Heute bessere Moral: Weniger Kriege – Weniger Brutalität?

Ob wir Menschen denn heute moralischer seien, möchte eine Alumna wissen. Carel van Schaik: "Wie will man das messen?" Es gebe nicht objektive Kriterien. Beispielsweise habe der Evolutionspsychologe Steven Pinker in seinem Buch "Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit" nachzuweisen versucht, dass heute weniger gemordet und getötet werde als in früheren Zeiten. Insbesondere gebe es weniger Kriege.

Da müsse man vorsichtig sein mit Vergleichen. Auch aus Funden von Knochen mit Verletzungen lasse sich nicht alles herauslesen.

Wer mehr wissen möchte, findet hierzu im Kapitel 21 Warfare des Buches von Carel van Schaik eine wissenschaftliche Analyse.11

Eine Alumna erwähnt in diesem Zusammenhang die Verbrechen in Nazideutschland. Da sei es ja schon erstaunlich, wie die Menschen mitgemacht hätten. Carel van Schaik will keine

11Im Spektrum Heft 4 / 2019, p77 ist ein Artikel des Anthropologen B. Brian Ferguson zu finden: "Krieg, Warum wir kämpfen" zu finden. Schliesslich gibt es ein Interview in Die Republik mit dem niederländischen Historiker Rutger Bregman, der anscheinend als guter Erzähler gilt und der in seinem Buch "Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit" auch das Leben in der Steinzeit beleuchtet und auf Grund seines Studiums der Forschungsergebnisse zum Schluss kommt, dass Kriege vor allem ab der Zeit der ersten Städte auftraten.

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abschliessende Analyse geben, betont aber, dass dabei die Frage von In-Group und Out- Group entscheidend sei, umso mehr als wir Menschen auch zur Konformität neigen würden.

Joseph Goebbels habe sinngemäss über Nichtarier gesagt: "Sie bedrohen uns. Sie wollen uns töten. Sie sind keine Menschen. Wir müssen ihnen zuvorkommen. Wir müssen sie angreifen und töten." Das habe funktioniert und funktioniere leider auch heute noch.

Wie geht es weiter mit der Moral?

Nur kurz streifen können wir die Frage nach der Zukunft: Wie geht es weiter mit der Moral?

Unser "Problem" bleibt, dass unsere Moral für kleine Gruppen und nicht für grosse Gesellschaften adaptiert wurde.

Immerhin haben wir in demokratischen Ländern Strukturen und Institutionen geschaffen, welche Schutz bieten und das Zusammenleben grösstenteils akzeptabel regulieren.

Jedoch, wie lösen es Gesellschaften, bei denen der

Gottesglaube bzw. die Religion heute noch dominierend das Gesellschaftsleben strukturiert und bestimmt?

All diese Fragen und viele andere können wir mangels Zeit nicht diskutieren.

März 2020, Fritz Fuchs

Disclaimer: Die Notizen basieren auf dem gesprochenen Wort (teilweise auch Schweizer-Dialekt) und zwar so, wie ich die Aussagen verstanden und interpretiert habe. Korrektheit ist nicht garantiert, obwohl ich die beste Absicht hierfür habe. Vollständigkeit ist aus Platzgründen nicht möglich und Ausgewogenheit strebe ich zumindest teilweise an. Zudem unterscheide ich nicht immer klar, was reine Information (der Dozierenden) war bzw. was sich aus der Diskussion ergab oder Interpretation ist. Schliesslich nehme ich mir die Freiheit heraus, zum (hoffentlich) besseren Verständnis bei einigen Punkten Ergänzungen anzubringen. Schliesslich möchte ich betonen, dass der Bericht nicht die wissenschaftliche Differenziertheit der Unterlagen der DozentInnen aufweist und gelegentlich Vereinfachungen vorgenommen werden.

In der Regel wird der Rückblick der Ethik-Höcks von ca. 2 Teilnehmenden und gelegentlich von der Dozentin oder dem Dozenten gegengelesen. So erhalte ich wertvolle Anregungen und Hinweise, die ich einbauen kann. Die Verantwortung für Fehler, Unklarheiten, etc. liegt aber ganz bei mir.

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Anhang

Was ist gemeint mit "evolutionär entstanden" bzw. mit "Adaption"?

(Ein kurzer Exkurs zum Prozess der Evolution als Ergänzung)

Man könnte erwarten, dass die Menschen ausschliesslich egoistisch ihren persönlichen Vorteil gesucht hätten. Diese Charaktereigenschaft hätte sich dann auch evolutionär durchgesetzt, ganz im Sinne von "der Stärkere überlebt" oder "survival of the fittest". Allerdings, nur so funktionierte es nicht. Fürs erfolgreiche Überleben von Jäger-Sammlern war die Kooperation und eben das moralische Verhalten, wie oben beschrieben, entscheidend. Offensichtlich haben sich andere Lebensstile in der Steinzeit nicht durchsetzen können. Es waren nicht

Einzelfamilien und auch nicht Gesellschaften von 1000 oder mehr Menschen. Wer sich wie die Jäger-Sammler in Gruppen organisierte, hatte mehr Nachwuchs und es überlebten mehr Menschen als solche, die andere Gesellschaftsformen anstrebten.

Selbstverständlich spielten in dem Prozess die kulturellen Vorschriften und die Erziehung bzw.

der soziale Druck und die Sanktionen die entscheidende Rolle, damit das Leben überhaupt funktionierte. Es kann jedoch nicht genug betont werden, dass mit noch so viel Training und Druck allein nicht einfach eine Anpassung erfolgt und die Gene sich verändern.

Eine grundsätzliche Voraussetzung für evolutionäre Anpassung ist, dass unser moralisches Verhalten in starkem Masse durch unsere Gene beeinflusst wird. Wäre alles nur antrainiert und nicht durch die Gene geprägt, käme es zu keiner Adaption. Das Verhalten könnte unter anderen Umgebungsbedingungen vergessen gehen. Vor allem aber würden sich in

verschiedenen Regionen und zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedliche Verhaltensweisen entwickeln und sie würden keinen oder höchstens zufällig einen gemeinsamen Kern aufweisen.

Entscheidend für die evolutionäre Adaption ist zudem, dass Menschen, die sich moralisch verhalten, mehr Kinder haben als solche, die es nicht tun. Dies kann beispielsweise geschehen, indem Normverletzer (solche, die grosse Mühe haben, die Regeln wie z.B.

"Nahrung teilen" einzuhalten) umgebracht werden und zwar "vorzugsweise" bevor sie

Nachwuchs haben oder indem sie ausgeschlossen werden oder indem die Frauen kooperative Männer auswählen und an den fruchtbaren Tagen nicht mit "unmoralischen" Männern

kopulieren etc. Entscheidend ist ganz einfach, dass es mehr Nachwuchs von "moralischen"

Menschen gibt, sonst funktioniert die Adaption bzw. die Evolution der Moral nicht. Natürlich kann ein Mensch moralisches Verhalten vortäuschen, aber bei genügender Kontrolle, wird er/sie doch ab und zu gleichwohl ertappt.

Zusätzlich besteht eine Wechselwirkung mit der Kultur. Sie ist sogar entscheidend: Je besser eine Gruppe kooperiert, desto erfolgreicher ist sie bei der Jagd, bei der Erziehung und Ernährung der Kinder. Es überleben mehr Kinder und es gibt letztlich mehr Menschen, die sich für Kooperation einsetzen und der "Feedback-Loop" ist geschlossen. Die sozialen Normen bewirken die "richtige" Selektion der Menschen mit "mehr moralischen Genen" bei der Fortpflanzung. Selbstverständlich kann man Kultur und Biologie (Gene) nicht komplett

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auseinanderhalten, denn sie beeinflussen sich gegenseitig. Es sind nicht zwei Legoteile, die man zusammensetzen und auseinandernehmen kann. Die Wechselwirkung ist entscheidend.

Die Darstellung hier ist zugegebenermassen etwas flapsig und vereinfacht. So hat es nicht einzelne wenige Gene, die beteiligt sind, sondern es geht um Charaktereigenschaften, die durch sehr viele Gene beeinflusst werden. Es geht nicht wie bei einigen genetisch bedingten Krankheiten um eine einzelne Genmutation, sondern um viele Mutationen mit kleinen

Einflüssen. Man spricht gelegentlich von einer Neigung ("propensity") des Kerns von Eigenschaften wie Kooperation etc. Deshalb ist es auch nicht ein determiniertes Verhalten, sondern eine Tendenz, die durch die Umgebung verstärkt oder unterdrückt werden kann.

Häufig sind solche Verhaltenseigenschaften in einer Gemeinschaft annähernd normalverteilt mit vielen Menschen im Durchschnitt und wenigen an den Rändern. In der Tier- und

Pflanzenzucht kann die Selektion relativ "rasch" erfolgen, wenn nur wenige am "positiv"

gewünschten Rand für die Fortpflanzung eingesetzt werden. Bei Menschen ohne gezielte Zucht (und ohne gravierenden Selektionsdruck durch grosse Änderungen der

Umgebungsbedingungen) dauert es Tausende von Jahren, denn es werden nur wenige bzw.

nur solche am Rande der Verteilungskurve für die Fortpflanzung ausgeschlossen.

Es soll nochmals betont werden: Es wird nicht einfach das moralische Verhalten vererbt, sondern es sind moralische Emotionen und Präferenzen bzw. Dispositionen12. Diese führen kombiniert mit den sozialen Normen der Gemeinschaft, mit Reflexion und vielen andern äusseren Einflüssen dazu, dass das Verhalten mehr oder weniger moralisch sein wird (Vgl.

Folie 22). Die angeborenen Präferenzen können durch kulturelle Regeln (gelegentlich genügen Nudges/Stupser) "übertönt" bzw. flexibilisiert werden. Diese Veränderung gelingt nur in beschränktem Masse und nur wenn die Kultur, d.h. Zwang bzw. Sanktionen diese Flexibilisierung unterstützen.

Wem diese Beschreibung zu oberflächlich ist, findet präzisere Erläuterungen zum Prozess der Evolution natürlich auch im Internet und wissenschaftlich fundiert im Buch von Carel van Schaik.

12 Gene codieren die Aminosäuren für die Proteine (Enzyme etc.) und sie Regulieren das An- und Abschalten von anderen Genen. Letztlich beeinflussen diese Enzyme, Neurotransmitter, Hormone etc. unseren Organismus und damit auch die Wechselwirkung mit der Umwelt in der Art, dass wir z.B. Emotionen erleben.

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