SPRACH- UND KULTURWISSENSCHAFTEN
LEITUNG: EGON EICHGRÜN, BERLIN
DAS LITERARISCHE SYMBOL ALS MITTEL DER SOZIALKRITIK
AM BEISPIEL DER ERZÄHLUNG „HARRAN" VON BEKIR YILDIZ
Von Gisela Kraft, Berlin
Die 1972 geschriebene 90-seitige Erzählung ,Harran' von Bekir Yildiz wurde im
Wintersemester 1978/79 an der Freien Universität Berlin von den Teilnehmern der
Übung ,Türkische Lektüre' und mir gemeinsam untersucht. Ich möchte den Studen¬
ten an dieser Stelle fur ihre Mitarbeit danken. Die Zeichen und Symbole, auf die ich
heute näher eingehen möchte, sind genau diejenigen, deren Bedeutung im Textzu¬
sammenhang wir damals im Team herausgefunden hatten.
Bekir Yildiz, geb. 1933 in Urfa, hat in die türkische Prosaliteratur die Gattung der
Reportagen-Erzählung eingebracht. Der Reportagen-Teh des Textes ,Harran' teilt
Beobachtungen einer mit Bus, Dolmu? und Lastwagen unternommenen Reise des
Ich-Erzählers von Istanbul bis Harran (früher: Carrhae) in Südostanatolien mit. Diese
Textschicht braucht nicht Gegenstand literarischer Untersuchung zu sein, die mit
textinterner Methode auch gar nicht zu führen wäre. Hier interessiert vielmehr, wie der Autor seinen Anspruch, durch die Beifügung der Kategorie hikaye/Erzählung die Reportage zur Literatur zu erheben, erfüUt.
Er löst diese an sich selbst gestellte Aufgabe nicht auf äußerliche Weise, indem etwa realistischer Report mit reflektierenden Einschüben versetzt würde. Der Text
enthält zwar Träume, Gedanken und in Form von Binnenerzählung eingestreutes
Legendengut, doch sind sie mit den Beobachtungsinhalten zu homogenem Sprach-
fah teüs montiert, teüs verschmolzen. In die Mitteilung des Reiseverlaufs bis in eins der rückständigsten Elendsgebiete Anatoliens flechten sich Entwicklungen einzelner semantischer Zeichenfamüien, die wiederum unter sich verschwistert oder verschwä¬
gert sind und insgesamt in die gleiche Aussage zusammenmünden wie die Realien
der Reportage. Nicht selten liefern sie ümen das Vokabular.
Die Reise, in der Mystik als Lebensreise des Ich durch die irdische Stofflichkeit
thematisiert, ist eine Art Ursymbol für den Vorgang der Bewegung bzw. den Zu¬
stand der Veränderlichkeit. Von Entfernen j Trennen j Verfremden sprechen etwa
400 Textbelege mittels
1. Wortbüdungen oder Wortfolgen mit den Nomen
ayn - boj - eksik - geri - parca - sonra - sürgün - uzak - yakin (degil) - yarim (arabischer Herkunft):
fark - gurbet - hareket - ihtiläl - kayib - ma|lup - tarih - terk - veda
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2. Formen und Ableitungen der Verben
aktarmak - almak - asmak - atlamak - buakmak - bölmek - ^almak- pikmak -
dagdmak - degismek - dökmek - dönmek - tirlamak - ge9mek - gitmek - gÖ9mek -
göndermek - götürmek - ilerlemek - itelemek - kagmak - kalkmak - kapmak -
kari^mak - kojmak - olmak - sapmak - satmak - si9mak sollamak - sökmek -
ta^fimak - yeginmek - yürümek
Ferner gehören hierher die Instrumente der Fortbewegung, wie Busse, Wagen,
Lastwagen, Reitpferde.
Dazu kommen weitere Verben, die den Vorgang des Verfremdens in die Richtung
Stillstand / Ende j Tod definieren:
asmak - atmak - batmak - bayilmak - bozmak - yignemek - 9Ökmek - devirmek -
dü^mek - (yere) girmek - gömmek - kalmak - kesmek - kiimak - kurumak - ölmek
- sörtmek - topraklamak - tükenmek - unutmak ~ vurmak - yakmak - yikmak -
yirtmak
Diese Verben schließen die Felder Entfernen/Trennen und Ende/Tod zusammen.
Das letztere ist mit folgenden Nomen besetzt:
bi9ak - kafatasi - kan - kemik - son - tabänca (fremdsprachlicher Herkunft):
ceset - enkaz - ezrail - fosil - harabe - intihar - iskelet - lej - mayin - mezar - rahmeth - jehit - tabut
Auf den Zustand des Todes nehmen mehr als 100 Textbelege bezug.
In einigen davon ist auch die Substanz Stein herangezogen, wodurch der Zustand des Todes, als Abwesenheit von Leben, eine Verhärtung erfährt:
Zerbrochene Mauern (S. 5,6), Grabsteine, auch umgestürzte (S. 5,80), zerfahene
Burgen (S. 88), ein Stein, der ein Kind erschlägt (S. 46), die steinerne GrabkapeUe Abrahams (S. 82).
Die von Menschen errichteten Steinwerke sind todbezogen oder dem Untergang
preisgegeben:
duvar - kale - mezar taji - saray - sur - türbe
Ihre Zukunft, oder bereits Gegenwart, ist die Ruine:
enkaz - harabe
Zum unveränderlichen Szenarium dagegen zählen die SteingebUde der Natur:
dag - magara - tepe
- die Gebirgszüge zu Seiten des Reiseweges, als Widerlager der Fortbewegung, d. h.
aller unendhch vielfältigen Aktionen des Entfernens, Trennens und Verfremdens.
Die Feste Stein wird nicht zerstört, wohl aber verlassen. Abraham weilt nicht mehr
in der Höhle seiner Geburt (S. 84). Die Dörfler der Gavur-Berge sind in die Städte gezogen, wo sie nun ihrerseits „die leeren Grundstücke mit eimerweis geschlepptem Zement in den Himmel hinaufziehen" (S. 47/48), doch derlei Bergkopien in Form
von Hochhäusern gehören der ersteren, zerbrechlichen Kategorie von Steinen an.
Die Betrachtung des von seinen Bewohnern nach und nach verlassenen Gavur-
Gebirges (d.i. das Amanos-Gebirge) bildet die Mitte des Reiseberichtes. Die Höhen¬
züge des Gavur sind bewaldet. Aber der Wald ist ebenfalls dem Prozeß des Entfer¬
nens und Trennens unterworfen — eine in der Geographie Anatoliens seit Jahr¬
tausenden bekannte Tatsache. Der Ich-Erzähler redet zum Berg, „dessen Spitze im
Dunst liegt", und konstatiert:
„Die Bäume, die bis in die siebente Schiebt deines Lebens herabreichten, haben sie mit den Wurzeln ausgerissen und fortgetragen. Nun gut, sei's drum, sagtest du vielleicht. Sol¬
len mir Arm und Flügel abhanden kommen, wenn nur meine Menschen, die von hier fortziehen, ein bequemes Leben fmden."
Die Wendung „kolum kanadim azalsin" erinnert an Figuren der VoUcsdichtung, z. B. Yunus Emre's Gedicht vom Wasserrad:
beni bir dagda buldular kolum kanadim yoldular dolaba layik gördüler derdim vardu inilerim / fanden sie mich im Gebirge rissen zweig und flügel aus machten mieh zum Wasserrad weil ich leide muß ich seufzen
Das Sem und Symbol des Holzes wird bis zu dieser Evokation des Lebensbaumes
- mit Wurzeln/kök und Ästen/kol kanad - als Inhalt assoziativer VorsteUungen
des Ich-Erzählers eingeführt, nicht als Außenbeobachtung. Ein vorgestellter Baum an der Istanbuler Stadtmauer (S. 6), sodann Pappel, Buche, Rot- und Weißfichte
(kavak, kayin, kizdcam, akcam), die in Blöcke/kütük gehauen, im Kessel zu Teig
und weiter zu Papier verarbeitet werden. Der Leser mag vieUeicht den rituell be¬
deutsamen Kessel der Bekta^i-Gastmähler assoziieren. Der Ich-Erzähler faßt das BUd als Reaktion auf den Anblick eines mit Papierrollen beladenen Lastwagens. Er spult
in Gedanken den Produktionsprozeß zurück und siedelt die Bäume an ihrem Platz
un Walde wieder an.
Außenbeobachtete Formen des Holzes sind nur die bereits vom Menschen bear¬
beiteten:
Särge/tabut mit semantischer Beziehung zum Tod (S. 5,79), eine Kiste/sandUc als
Transportmittel — somit in Beziehung zu Trennen/Entfernen —, an die sogleich die
Aussteuertruhe/ceyiz heranassoziiert wird, auch diese ein Zeichen folgenschweren
Trennens: der Braut von ihrem Elternhaus (S. 11). Einer der Reisenden hat ein
Holzbein (S. 46). Nach der oben zitierten Figur über den Lebensbaum, die Abster¬
ben und Entfernen gleichermaßen umschreibt, folgt nur noch einmal ein Anblick
heüen, naturwüchsigen Holzes, beim Passieren eines Olivenhaines (S. 55) — es sei
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denn, der Leser interpretiere das Bild der „wie aneinanderklebenden Bäume" als eine Art Implodieren, somit wiederum als Verlust. Der letzte Holz-Beleg des Textes definiert die Kinder von Harran als solche, die „nicht wissen, was ein Baum ist"
(S.91).
Hauptgrund der Abholzung der Waldbestandes ist der Bedarf an Brennholz/
odun. Das Holz geht in Flammen auf Umgekehrt: als einst der legendäre Diktator
Nemrut Abraham auf dem Scheiterhaufen hinrichten wollte, wurden die Scheite zu
Fischen (die Jieiligen' Fische Urfa's), und Abraham war gerettet (S. 85). Im Brenn¬
holz treffen die Felder Holz und Feuer zusammen. Im Kontext erscheint Feuer der
Grundbewegung Entfernen/Trennen/Verfremden, als der Reise von Zustand zu Zu¬
stand, zugeordnet.
Feuer im weitesten Wortsinn, Licht und Wärme inbegriffen, zeichnet in den
Verben
agarmak - erimek - isinmak - i^imak - parlamak - tutu^mak - yakmak/yanmak
— wobei die beiden letztgenannten Aktionsarten wiederum den Todeszustand zur
Folge haben. Die zugehörigen Nomen lassen sich in sechs Gruppen einteilen:
1. undifferenzierte: alev, atej, aydinlik, duman, i^ik, sicak 2. natürliche Licht-Wärme-Quellen: güne?, yildiz
3. aus Naturprodukten gewonnene Licht-Wärme-Quellen: odun, tezek
4. mit Hilfe der Technik erschlossene Licht-Wärme-Quellen: benzin, elektrik, gaz,
mazot, petrol
5. Geräte oder Gerätteüe der Licht-Wärme-Gewinnung: baca, far, firin, lamba,
motor, mum, piston, silindir
6. Rauchwerk und Zubehör: yakmak, nargile, sigara, tütün
Bermerkenswert zu 2. ist, daß der Stern/yildiz auch in der Kopie als Mercedes- Stern, als Emblem schnellen Fortbewegens, die Reise begleitet. Die Sonne/güne?, wird einmal der Zerbrechlichkeit der Steingebilde unterworfen, in der Figur: „Wände, die die Sonne hinter sich herunterfallen ließen" (S. 76). Ein weiterer Angriff auf deren naturgegebene Verläßlichkeit erfolgt in der Figur: „Vor Jahren begann gleich¬
sam die Sonne, im Westen auf- und unterzugehen ...", ein eschatologisches Zeichen,
hier eine Paraphrase auf die Wünsche von Anatoliern nach einem Aufenthalt in
Deutschland (S. 81).
Das Feuer ist das Endschicksal des Menschen wie der organischen und anorga¬
nischen Natur, es wird bereits in den Einleitungssätzen evoziert:
„Die Menschen, die vor Hunderttausenden von Jahren lebten, sind gleichsam mit dem Wäldern zusammen zu Erdöl geworden. Jetzt brennen sie in den Zylindern (des Motors) . . . Der alte Stiefel läßt das Gaspedal los. Fiir einige Sekunden ist das Brennen lausender Menschen unterbrochen." (S. 5)
Soweit der Beginn der Reise in Istanbul. Beim Anblick der im Ankaraner Bus-
bahiüiof resigniert dahindösenden Arbeits- und Obdachlosen wird das BUd abgewan¬
delt wiederholt:
„Diese haben sich seit langem damit abgefunden, in nieht allzu ferner Zeit für einen Mer¬
cedes oder Magirus Backofenbrot zu werden." (S. 30)
Im Südosten, der syrischen Grenze zu, wo die Sonne im Sommer „nichts als ein Feuer ist, das Berg und Stein ausdörrt" (S. 81), und die „Hitze der Steppe den Asphalt zum Schmelzen gebracht hat" (S. 67), spielt der einzige, bereits erwähnte
Ausnahmefall, der Hoffnung verheißt: Abraham entkam dem Scheiterhaufen des
Nemrut, die Scheite hatten sich in Fische verwandelt (S. 45, 85/85). Doch das ist
Legende.
Durch die bisher angegebenen Semketten und Symbole wird der Report der
Reiseeindrücke — Symptome defekter Sozialstruktur, ökologische Schäden, Tradi¬
tions- und Identitätsverlust infolge lokal wie global betriebener Fremdbestimmung — begleitet, und ihre Vermittlung an den Leser nachdrücklich gesteigert. Ein weiteres Symbol grenzt diese für viele Länder der sogenannten Dritten Welt zutreffenden
Befunde auf die Türken oder zumindest diejenigen Völker ein, die sich mit ihnen
den Topos Pferd als eine Art Wahrzeichen teüen. Man sollte denken, daß in dem Be¬
richt einer Busreise das Pferd wenig zu suchen hat. Tatsächlich aber durchläuft auch das Zeichen Pferd aUe Stadien der Resignation und Auflösung, die MitteUungssinn des Werkes sind.
Im Einleitungskapitel, das das Feuer im Büd der in den Motoren verbrennenden
Menschen beschwört, folgt eine Vision, die die übrigen genannten semantischen
Zentren — Trennen, Tod, Holz und Stein — mit dem Pferd zusammenfügt:
„Einst war da jemand, der sctilief im Sehatten eines Baumes in einer Höhlung der Stadt¬
mauer, neben ihm sein Pferd. Da nahen Räuber mit Messern in den Händen. Der Schlaf des Besitzers ist ihnen günstig. Sie töten des Pferd mit einem Streich. Sein Fleisch füllen sie in Säcke. Und wenn der Besitzer aufwachen wird, kann er noch ein mit den Zügeln am Baum festgebundenes Pferdeskelett sehen, kurz hinter der Mauer von Topkapi, wo Tausende von Wagen vorüberfahren ..."
Im weiteren Textgang wird das Pferd zunächst durch verklemerte Kopien im Ge¬
dächtnis gehalten: durch das Firmenzeichen des aufgebäumten Pferdes/^aha kalkmi^f at der Busgesellschaft fayiragasi (S. 9), sogar durch Pferdebüdchen auf Bonbonpa¬
pieren (S. 17) und nicht zuletzt durch die häufige Verwendung des Wortes beygir
= PS bei Erörterungen über die Motorstärke. Auch in der Erzählung der Nemrut-
Legende an den Sitznachbarn kommt das Pferd vor (S. 44). Das erste reale Pferd
hätte der Reisende zu sehen bekommen, wenn sein Schwager in Nizip, nahe der
syrischen Grenze, das seinige nicht abgeschafft und stattdessen, unter Anzahlung seiner gesamten Lebensrente, einen fahruntauglichen Ford angeschafft hätte (S. 57).
Doch in Südostanatohen (schon vor 4000 Jahren ein Zentrum der Pferdezucht)
gibt es durchaus noch Pferde. Zwei Männer steigen in ein Dohnu^ nicht ein, weü
seine Karosserie so niedrig wie ein Esel sei und nicht so hoch wie ein Pferd (S. 55).
In Nizip dann schließlich ein lebendes Pferd, und zwar ein Schmugglerpferd/kapakQi
beygir (ka(;ak9i enthält das Sem Trennen/Entfernen). Es wird zum Durchqueren der
Grenzminenfelder benutzt (S. 68). Wird eine Mine berührt, stirbt das Pferd, der
Reiter bleibt möglicherweise am Leben. — Im Stadtgewühl von Urfa verkehren
Autos, Esel und Pferdewagen (S. 82), und das letzte Pferd des Buches gehört dem
Muhtar von Harran. Es ist schwarz. Im Haus des Muhtar liest der Ich-Erzähler eine
Textrolle über den Glanz vergangener Tage des Wüstendorfes Harran = Carrhae als
Tempelzentrum, später Universitätszentrum, von altsemitischer, assyrischer, baby-
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Ionischer, seleukidischer, römischer bis zu frühislamischer Zeit.
Die Textroüe endet mit dem Satz:
„Heute ist von dieser alten Zivilisation nichts weiter übriggeblieben als ein Haufen zerbro¬
chener Steine." (S. 94).
Das Kapitel und damit die Erzählung ,Harran' endet mit dem Absatz:
„Wir brechen gleichzeitig auf. Die Sonnenhitze hat nachgelassen. Straßen wie Fäden.
Fern, seht fern wird etwas sichtbar. Ich denke, vielleicht ein Lastwagen. Der Staub nimmt langsam Form an. Schließlich ähnelt et einem Lastwagen. Jetzt tritt der Muhtar aus einem der Kuppelhäuser. Er hält die Zügel eines schwarzen Pferdes in der Hand. Er sitzt auf Der Lastwagen nähert sich. Ich hätte noch etwas herumgehen sollen, sage ich mir, während ich auf den Lastwagen zulaufe. Steine schleudern mir gegen die Füße, Steine der Universität . . . Aus den Kuppelhäusern kommen Klagelaute. Kinder schreien hinter mir her. Ich laufe. Ich bleibe stehen. Ich renne ..."
TÜRKEI ÄM BEISPIEL EINIGER NEOLOGISMEN (E^GÜDÜM, ÖZVERI, iVEDi)
Von Klaus Kreiser, Istanbul/München
Eine neuere Arbeit über Morphologie und Substitution türkeitürkischer Neolo¬
gismen' klammert die „Rolle der Spracherneuerung im politischen Bereich der
Türkei" aus, „teils weil sich bereits vorhandene Literatur mit diesem Thema be¬
schäftigt". Lediglich über den Stand der letzten Jahre liege keine „umfassende Bear¬
beitung" vor.
Untersuchungen zur türkischen Sprach(lenkungs)politik in zusammenfassender
Weise sind u. a. die Werke von Steuerwald (1963-1966)', Agäh Sirri Levend
('1972)' und Zeynep Korkmaz (1974)". Bekanntermaßen ist die von Steuerwald untersuchte „türkische Sprache der Gegenwart" die der Presse und erzählenden Li¬
teratur der dreißiger und vierziger Jahre, während seine Ausblicke in die Zeit bis zur
Mai-Revolution 1960 auf einer schwachen Beleggrundlage ruhen. Die Steuerwald-
schen Wertungen des Geschehenen, Empfehlungen für Zukünftiges und seine Be¬
gründungen dieser Wertungen und Empfehlungen sind sicherlich die ernsthaftesten
Auseinandersetzungen mit der türkischen Sprachreform/revolution. In der Türkei
ohne jedes Echo geblieben, fehlen eindringliche Untersuchungen dort und für die
letzten zwei bis drei Jahrzehnte ganz. Levends seit 1949 mehrfach erweitert aufge¬
legtes Werk widmet sich vor allem der vorrepublikanischen Epoche; für die Zeit
nach 1923 ist der 1894 geborene Verfasser als Inhaber höchster Ämter der Türk
Dil Kurumu Partei. Zeynep Korkmaz' Buch Cumhuriyet Döneminde Türk Dili hat
zu sehr den Charakter einer für Studenten gemachten Bestandsaufnahme des von
den meisten am Sprachstreit beteiligten Gruppen mehr oder weniger Akzeptierten, um als besonders ergiebig zu gelten.
Auch wenn in den letzten Jahren keine wirklich neuen Argumente zwischen den
Gegnern und Befürwortern der türkischen Sprachreform/revolution ausgetauscht
wurden, scheint es mir dennoch sinnvoll, einmal an drei vielumstrittenen Neolo¬
gismen - esgüdüm, özveri, ivedi - zu zeigen, in welchen Formen sich Substitu¬
tionsversuche und Ablehnungshaltungen ausdrücken. Meine Beispiele stammen
aus den Jahren 1979 und 1980.
Einleitend möchte ich jedoch auf das allgemeine sprachpolitische Klima der
letzten Jahre zu sprechen kommen.
1 W.-E. Scharlipp, Untersuchungen zur Morphologie und Substitution tiirkeitürkischer Neolo¬
gismen, Hamburg 1978, 3.
2 Karl Steuerwald, Untersuchungen zur türkischen Sprache der Gegenwart, T. 1-3, Berlin 1963-1966.
3 Türk Dilinde Gelifme ve Sadelesme Evreleri, Ü9Üncü Baski, Ankara 1972.
4 Cumhuriyet Döneminde Türk Dili, Ankara 1974.