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Die Alten und die Jungen im Deutschen Reich Literatursoziologische Anmerkungen zum Verhältnis der Generationen

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Die Alten und die Jungen im Deutschen Reich

Literatursoziologische Anmerkungen zum Verhältnis der Generationen 1871

-

19181

Torsten Bügner und Gerhard Wagner

Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, Postfach 8640, D-4800 Bielefeld 1

Z u s a m m e n fa s s u n g : Um die Frage nach den Determinanten der Ausdifferenzierung der Jugendbewegung be­

antworten zu können, ist u. a. eine präzise Klärung der zeitgenössischen Generationenverhältnisse erforderlich. Die vorliegenden Anmerkungen versuchen, einen Beitrag zu dieser Klärung zu leisten, indem sie eine bislang unberück­

sichtigte Perspektive einnehmen und, Mannheims Erörterungen zum Problem der Generationen folgend, literaturso­

ziologisch verfahren. Die in der Zeit zwischen 1871 und 1918 entstandene deutsche Literatur wird entlang der vier literaturwissenschaftlichen Kategorien Realismus, Naturalismus, Fin-de-siecle-Literatur und Expressionismus soziolo­

gisch als eine serie libre konzipiert. Die in den einzelnen Kategorien jeweils konstituierte soziale Realität wird auf die Frage hin untersucht, wie das Verhältnis der Erwachsenen zu den Jugendlichen gestaltet ist, was, auf die Zeitreihe gebracht, ein Bild der sich verändernden Lagen zwischen den Generationen ergibt und Aussagen zur Genese der Jugendbewegung ermöglicht.

I.

Der Zusammenhang zwischen den strukturellen und kulturellen Determinanten des sich rasch in­

dustrialisierenden und verstädternden Deutsch­

lands einerseits und der um die Jahrhundertwende immer manifester werdende Ausdifferenzierungs­

prozeß von Jugend als einer eigenständigen, zuvor noch nie so prägnant in Erscheinung getretenen sozialen Lebensform (Schäfer 1988: 64) anderer­

seits gilt mittlerweile als „gut dokumentiert“

(Schäfers 1983: 110). Tatsächlich haben zahlreiche Untersuchungen unser Wissen über diesen Gegen­

standsbereich vermehrt (Hornstein 1966; Henning 1972; Rüegg 1974; Gillis 1980, Jaide 1988; Knoll 1988); so konnte beispielsweise plausibel begrün­

det werden (Aufmuth 1979: 86; Schäfers 1983:

113), daß es sich bei der Jugendbewegung um ein genuin (bildungs-)bürgerliches Phänomen handelt:

„It was almost exclusively ,bourgeois‘ in its social composition“ (Laqueur 1962: xi).1 2 Trotz dieses Konsensus kann jedoch u.E. von einer befriedi­

genden Erklärung der Genese der Jugendbewe­

1 Für Anregungen und Kritik danken wir Otthein Rammstedt und der Georg Simmel-Forschungsgruppe an der Universität Bielefeld. Diese Anmerkungen die­

nen zur Vorbereitung eines Projektes, das im Rahmen des SFB 177 (Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bür­

gertums. Deutschland im internationalen Vergleich) an der Universität Bielefeld durchgeführt werden soll.

2 Zum Begriff und zu den Fraktionen des Bürgertums vgl. Lepsius (1987: 79ff, 86ff).

gung kaum gesprochen werden. Bei näherer Be­

trachtung des von der Forschung benannten Ursa­

chenbündels fällt nämlich die Inkompatibilität, ja Disjunktivität einzelner, den Erklärungsansätzen zugrundeliegender Prämissen auf. Grobgespro­

chen lassen sich in der Sekundärliteratur zwei La­

ger ausmachen:

(1) Jugend als Lebensform wird zum einen als Emanation eines Jugendkultes begriffen, der in den Köpfen von Zeitgeist- und Deutungsexperten entwickelt und vom Bildungsbürgertum aufgegrif­

fen wurde, um der eigenen „Krise“,3 über eine bloß kulturpessimistische Attitüde hinausgehend, ein Positives entgegenzusetzen (Aufmuth 1979:

134). Autoren wie Lagarde, Langbehn und Nietz-

3 Zu den Ursachen der Krise, in der sich das Bildungs­

bürgertum in den letzten Dezennien des 19. Jahrhun­

derts befand, vgl. Aufmuth (1979: 120f): „Gegen Ende des Jahrhunderts war Deutschland in die Reihe der mächtigsten und respektiertesten Nationen der Welt aufgerückt, und es war sich dessen auch jeder Deutsche bewußt. Es lag jedoch ganz klar auf der Hand, daß die (äußere) Größe und Macht des deutschen Reiches, die ihm in der Welt Respekt verschaffte, ganz und gar auf das Wirken von Prinzipien, Normen und Leistungen zurückging, die nicht jene der Gebildeten waren, ja mit deren Vorstellungen unmittelbar in Konflikt standen.

Denn worauf gründete Deutschlands internationaler Rang? Auf der gewaltigen Leistungskraft seiner Wirt­

schaft und auf seinem militärischen Potential. Geistige, sittliche, künstlerische Qualitäten, die wogen dagegen gering.“

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sehe,4 die man in Anlehnung an Kett (1988: 37) als

„Architekten der Adoleszenz“ bezeichnen könnte, werden als Erfinder eines Begriffs von Jugend gehandelt, der dann in der Jugendbewegung eine soziale Trägerschicht fand, nachdem er von den Erwachsenen um seiner Konstruktivität willen re­

zipiert und an deren Nachkommen weitergegeben worden war: „Bevor die Jugendbewegung Wirk­

lichkeit wurde, war sie als Vorstellung insoweit da, daß man von der Jugend etwas Besonderes erwar­

tete“ (Schäfers 1983: 111) - nämlich: „die Bewälti­

gung der Krise“ (Aufmuth 1979: 132) und so „eine bessere Zukunft Deutschlands“ (Schäfers 1983:

111). Nur diese Erwartungshaltung seitens des Bil­

dungsbürgertums mache erklärlich, warum sich die Jugendbewegung so schnell ausbreiten konnte, verfügten doch Eltern und Schule über „genügend Sanktionsmittel“ (Schäfers 1983: 112), um deren Entfaltung zu unterbinden.

(2) Jugend wird zum anderen als Resultat eines Emanzipationsprozesses von der Erwachsenenwelt verstanden (Doerry 1986: 177ff); dieser begann sich Mitte der neunziger Jahre abzuzeichnen und nahm nach der Jahrhundertwende in Form von Gruppenbildungen konkrete Gestalt an: „young people wanted to lead their own lives and de­

manded a partial release from the tutelage of the parental home and the Oberlehrer“ (Laqueur 1962:

5). Der Begriff Jugend wird „zum Oppositionsbe­

griff schlechthin. Die Gegenbegriffe sind Bürger­

tum und Liberalismus“ (Koebner/Janz/Trommler 1985: 11). Wie Clausen (1976: 48f) hervorhebt, waren Konflikte zwischen den Generationen gera­

dezu strukturell vorprogrammiert. So waren so­

wohl der Herr-im-Hause-Standpunkt der Väter und Lehrer als auch deren sprichwörtliche Doppel­

moral mit dafür verantwortlich, daß der Nach­

wuchs „unter dem Schlagwort der Jugendbewe­

gung4 mit der Erwachsenenwelt zu brechen“

(Doerry 1986: 104) begann. Neben einem „pedan­

tischen Autoritätsfimmel“ war es die „Plüschmö­

bel-Behaglichkeit“ der Erwachsenen (Becker 1949: 63, 65), die zu einem „Aufstand der Jugend“

führte. Gerade im „Protest gegen Familie und Schule“ sollte sich „das Jugendliche“ offenbaren, nämlich „die Empörung: gegen das Elternhaus, das die Gemüter verdumpft, gegen die Schule, die den Geist auspeitscht“ (Benjamin 1977: 67).

4 Es handelt sich in erster Linie um Lagardes Deutsche Schriften von 1886, Langbehns im Jahre 1890 erschie­

nenes Buch Rembrandt als Erzieher sowie Nietzsches einschlägige Publikationen.

Einerseits Förderung durch Elternhaus und Schu­

le, andererseits Widerstand und Auflehnung gegen parentale Bevormundungen und Fürsorglichkei­

ten: Die Gegensätzlichkeit der den beiden Inter­

pretationsmustern zugrundegelegten Prämissen ist offensichtlich. Zwar werden sich zuspitzende Un­

stimmigkeiten zwischen den Generationen von der ersten Position nicht gerade geleugnet.5 In ihrer Erklärungsrelevanz werden diese jedoch allemal marginalisiert, und man unterstellt „mehr Einver­

nehmen als Konflikt“ (Schäfers 1983: 112). Die Rede ist denn auch von „Liberalität und Verste­

hen, von geradezu kameradschaftlichem Umgang“

(Schäfers 1983: 113) miteinander; gerade zur Jahr­

hundertwende sollen sich bereits Veränderungen im elterlichen Erziehungsverhalten sowie Humani­

sierungstendenzen an den Schulen bemerkbar ge­

macht haben.6 Andererseits bringen auch Vertre­

ter der zweiten Position die Genese der Jugendbe­

wegung in einen inneren Zusammenhang mit der kulturpessimistischen Literatur der Zeitgeistexper­

ten (Laqueur 1962: 8f; Schäfer 1988: 102). Und obwohl man auch hier „vereinzelte Stimmen“ ver­

nimmt, welche die Prügelpädagogik für schädlich hielten, ist man sich darin einig, daß das Autori­

tätsprinzip in Schule und Elternhaus niemals ange­

tastet und kompromißlos durchgesetzt wurde (Doerry 1986:178).

In der Tat können sich die beiden Positionen zur Stützung ihrer Argumentation auf Aussagen von Zeitgenossen berufen, die dem jeweiligen Ansatz Recht zu geben scheinen. In diesem Kontext ist es interessant zu sehen, daß sich die erste Position vorwiegend auf Äußerungen von Erwachsenen be­

zieht, die zweite sich hingegen auf die von Jugend­

lichen (Aufmuth 1979: 140, 145f; Benjamin 1985:

80). Wohl aufgrund dieser heterogenen Quellen­

lage neigen Übersichtswerke zur Geschichte des Deutschen Reiches dazu, beide Prämissen gleich­

wertig, gleichsam in einem dialektischen Span­

nungsverhältnis, nebeneinander stehen zu lassen.

So konstatiert etwa Wehler (1973 a: 123), die unan­

gefochtene autoritäre Binnenstruktur der Familie weise gleichwohl auf eine „schichteigentümliche Auflockerung“ hin.7 Bei dieser Dialektik des so­

5 So spricht z.B. auch Schäfers (1983: 111) von einer

„Verschärfung des Vater-Sohn-Konfliktes.“

6 Zu diesen Ansätzen einer Reformpädagogik, wie sie von Ludwig Gurlitt, Paul Natorp, Gustav Wyneken oder Ferdinand Avenarius vertreten wurde, vgl. Auf­

muth (1979:140ff).

7 Vgl. dasselbe bei Nipperdey (1990:123).

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wohl/als auch glauben wird jedoch nicht stehen bleiben zu dürfen. Vielmehr wollen wir die Fra­

gen, ob „die Jugend zu einem Gedanken herge­

richtet“ wurde, wie es ein Zeitzeuge (Blüher 1912:

80f) pointiert formulierte, oder ob sie sich, wie dies Rammstedt (1978: 130) für soziale Bewegun­

gen allgemein postulierte, in einem „Prozeß des Protestes gegen bestehende soziale Verhältnisse“

konstituierte, vermittels einer Erörterung der Ge­

nerationenverhältnisse im Deutschen Reich zwi­

schen 1871 und 1918 beantworten. Damit ist der Gegenstand dieser Untersuchung benannt.

II.

Obschon die Erforschung der Kultur des Deut­

schen Reiches und die der Mentalität seiner Be­

wohner gegenwärtig mit Vehemenz vorangetrie­

ben wird, stellt die Klärung der zeitgenössischen Generationenverhältnisse immer noch ein Deside­

rat dar. Der Grund hierfür dürfte darin zu sehen sein, daß sich Generationenverhältnisse in nahezu allen sozialen Institutionen widerspiegeln und von einem intern ausdifferenzierten Wissenschaftsbe­

trieb gar nicht mehr als ein Ganzes wahrgenom­

men werden. Natürlich beanspruchen wir nicht, mit unseren Anmerkungen eine umfassende Klä­

rung der Generationenverhältnisse im Deutschen Reich beizubringen. Das ist allein schon deswegen nicht möglich, weil wir uns zur Klärung des ein­

gangs formulierten Problems auf die Verhältnisse von Erwachsenen und Jugendlichen konzentrieren wollen.8 Dennoch meinen wir, den Gegenstand aus einer Perspektive beleuchten zu können, die wir, wiewohl ihr bislang nur wenig Aufmerksam­

keit zuteil wurde, in systematischer Hinsicht für privilegiert erachten.

Einige Gedanken Mannheims zum Generationen­

problem aufnehmend, wollen wir unsere Entschei­

dung, die im Deutschen Reich entstandene schöne Literatur als vorrangiges Objekt der Untersuchung heranzuziehen, im folgenden begründen. Mann­

heim (1928: 160f, 328 f) trifft die Unterscheidung zwischen einer wandelbaren Kultursphäre (series libres) und einer weniger wandelbaren Zivilisa­

tionssphäre (institutions), und ihm scheint das Ver­

hältnis der Generationen zueinander „eher in den

8 Eine weitere Einschränkung ergibt sich durch die Kon­

zentration unserer Analyse auf Vater-Sohn-Verhält- nisse.

series, also in der Abfolge freier Gruppierungen der Menschen (Salons, literarische Gruppen usw.) wahrnehmbar zu sein, als etwa im Schoße der Institutionen, die Habitus, Aktionsweise durch Bestimmungen oder durch gemeinsame Werklei­

stungen im voraus weitgehend festlegen und da­

durch das Neue der heranwachsenden Generatio­

nen verdecken“ (Mannheim 1928: 160 f). Eine neue „Generationsentelechie“ (Mannheim 1928:

328) habe nicht in allen Sphären dieselbe Chance durchzubrechen. Tatsächlich ist Mannheim (1928:

326) der Auffassung, daß die Sphäre der Literatur am geeignetsten sei, den „Totalwandel des Gei­

stes“ (Mannheim 1928: 161) wiederzugeben: „Nur die Literatenschicht, die in unserer Gesellschaft relativ sozialfreischwebend ist, hat die Möglich­

keit, zu schwanken, bald dieser, bald jener Strö­

mung sich anzuschließen.“ Mit diesen Gedanken unterstreicht Mannheim, daß im Unterschied zu Institutionen wie etwa Familie, Parteien oder Ver­

eine die Sphäre der Literatur ein adäquates Objekt der Untersuchung bildet, an dem sich Konkretes über das Verhältnis der Generationen ablesen läßt.

Freilich gibt es mehrere Möglichkeiten, die Sphäre der Literatur mit Blick auf das Problem der Gene­

rationen fruchtbar zu machen. So wäre es etwa denkbar, Formen literarischer Gruppenbildungen anhand von Strukturdaten nach Alter und Genera­

tionszugehörigkeit zu gliedern. Eine weitere Mög­

lichkeit bestünde darin, die Selbstaussagen der Literaten mit dem Instrumentarium der Autobio­

graphieforschung generationsspezifisch zu analy­

sieren. Während dem Verhältnis von Alten und Jungen - neben dem der Geschlechter (Back/Poli- sar 1983: 282 ff) - im ersten Fall traditionell das Interesse der Gruppen- und Literatursoziologie gilt,9 werden im Zuge des gegenwärtigen Booms, dessen sich die Autobiographieforschung erfreut (Tenorth 1988), auch Lebensläufe von Schriftstel­

lern auf die Generationenproblematik hin beleuch­

tet.10 Beide Verfahrensweisen scheinen uns jedoch für die Klärung der hier zu verhandelnden Thema­

tik als wenig erfolgversprechend. Bedingt durch den chronischen Mangel an validen Strukturdaten, verbunden mit nur geringer Aussagekraft, geriete die Analyse im ersten Fall in die Nähe purer

9 Zur literarischen Gruppenbildung im Berlin des ausge­

henden 19. Jahrhunderts vgl. Günther (1972).

10 So zieht z. B. Doerry (1986) bei seiner Suche nach der Generation der Wilhelminer u. a. den Lebenslauf des Schriftstellers Max Halbe heran.

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180 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 20, Heft 3, Juni 1991, S. 1 7 7 -1 9 0

Spekulation.11 Ohnehin wäre durch diesen Ansatz das Verhältnis von Erwachsenen und Jugendlichen wenig tangiert. Im zweiten Fall wären Stilisie- rungs- und Kultivierungstendenzen in den Auto­

biographien von Schriftstellern zu gewärtigen, die deren Äußerungen in die Nähe jener Fiktionalität rücken, welche gemeinhin als Charakteristikum der schönen Literatur angesehen wird.11 12

Eingedenk dieser Defizite plädieren wir für eine dritte Vorgehensweise, indem wir die literarischen Werke selbst als Quelle unserer Studie behandeln wollen. Auch dies läßt sich mit Mannheim begrün­

den. Weil die literarische Artikulation Mannheim zufolge leichter und natürlicher an konkrete histo­

rische Veränderungen anzuknüpfen vermag als an­

dere Mittel des Ausdrucks, kann man in ihr eine Art „Oberflächenkräuselung“ (Jaeger 1977: 446) des gesellschaftlichen Prozesses erblicken. Der Abfolge literarischer Themen, Motive und Dar­

stellungsformen kommt demzufolge in soziologi­

scher Hinsicht eine Art seismographische Funktion zu, nämlich die sich auf der Strukturebene verän­

dernden „generationsbildenden Grundtatsachen“

(Jaeger 1977: 446) auf der Ebene der Semantik nachzuzeichnen bzw. vorwegzunehmen. Darüber hinaus können wir literarische Äußerungen in An­

lehnung an Wellershoff (1973: 57) als einen gleich­

sam exterritorialen - eben: freischwebenden - Be­

reich verstehen, der es dem Autor gestattet, auf semantischer Ebene Simulationsräume zu schaf­

fen, die bei reduziertem eigenen Risiko Welt er­

fahrbar machen und somit tatsächlich valider sein können als es die res fictae mancher Autobiogra­

phien sind. Daß zudem auch Analysen im Bereich der Zivilisationssphäre gezwungen sind, auf litera­

rische Werke zu rekurrieren - so etwa Rosenbaum (1982: 366) auf Fontanes Roman Jenny Treibei-,13 rundet das Bild nur noch weiter ab. Von daher

11 Dies freilich ist kein Charakteristikum der historisch­

soziologischen Beschäftigung mit den Schöpfern der Literatur; so bemerkt z.B . Rosenbaum (1982: 365) gelegentlich ihres Versuches, die generative Zusam­

mensetzung der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhun­

derts zu bestimmen, daß sich ihre Ausführungen „vor­

nehmlich auf - m.E. plausible - Vermutungen“ stüt­

zen müßten.

12 Zum Wahrheitsgehalt von Autobiographien vgl. Bu­

chan an/ToIli son (1986: 517).

13 Auch Untersuchungen zur Jugendbewegung ziehen die Literatur als Quelle zu Rate; vgl. etwa Aufmuth (1979:113,118,148).

dürfte eine literatursoziologische Analyse der Werke der Literatur des Deutschen Reiches von einigem Wert sein für die Klärung der Determi­

nanten der Ausdifferenzierung der Jugendbewe­

gung - und damit einen Beitrag liefern zur Erfor­

schung der Kultur und Mentalität des Kaiserreichs.

Mit dieser Begründung ist nicht nur unser Interes­

se an der Literatur des Deutschen Reiches plausi­

bel gemacht, sondern auch ein zentraler Topos der Literatursoziologie seit Louis de Bonald berührt, nämlich „die im Text dokumentierte soziale Reali­

tät als Spiegel sozialhistorischer Wirklichkeit zu verwenden“ (Camartin 1977: 31). Diesen Topos wollen wir für unsere Belange mit folgender Hypo­

these operationalisieren: Ist das gesellschaftliche Stratum eher durch Einvernehmen als Konflikt charakterisiert, werden wir auf der literarischen Ebene entweder dies oder, in Ermanglung kultu­

reller Relevanz, überhaupt nichts mit Bezug auf das Verhältnis der Generationen gestaltet antref­

fen. Ist es von Gegensatz und Widerstreit gekenn­

zeichnet, der zwischen weniger artikulierten Wol- lungen, etwa dem Verhältnis der Generationen, ausgetragen wird, so wird sich dies auch auf die eine oder andere Weise literarisch thematisiert finden. Dabei soll uns nicht jeder beliebige Streit zwischen den Generationen als Generationenkon­

flikt gelten, ist ein Streit doch „ein Einzelfall, ein Privatproblem, solange nicht in der Auseinander­

setzung der Gegensatz zweier Welten, zweier Er­

lebnisweisen sichtbar wird. Erst wenn sich der Sohn gegen seinen Vater wendet, weil dieser die Welt der Väter vertritt, und wenn der Vater in seinem Sohn die Vorstellungen und Forderungen aller Söhne bekämpft, wenn sich also beide als Repräsentanten je ihrer Generation gegenüberste­

hen, kann man von einem Generationskonflikt sprechen“ (Wellershoff 1957:15).14

14 Es gilt hier anzumerken, daß Wellershoff den Konflikt zwischen Vätern und Söhnen als stellvertretend für Generationenkonflikte überhaupt anführt. Auch auf literarischer Ebene hat sich die Beziehung zwischen Vater und Sohn als Motivkonstante etabliert. So kon­

statieren Boose/Flowers (1989: 2) in einem neueren Versuch, sich des Vater-Tochter-Verhältnisses im an- glophonen Sprachraum anzunehmen: „It says some­

thing telling for example that of the possible structural permutations of parent-child relationships inscribed in our literacy, mythic, historical, psychoanalytic texts, the father and son are the first pair most frequently in focus, and the mother and son the second.“

(5)

III.

Als ein universales Moment des Sozialisationspro­

zesses findet sich das Motiv des Generationenver­

hältnisses in unterschiedlichen Formen und Aus­

prägungen in nahezu jeder Epoche jeder National­

literatur; es wird bei Klassikern wie Shakespeare, Schiller, Racine und Moliere ebenso verhandelt wie bei zahllosen zweit- und drittklassigen Auto­

ren. In bestimmten Perioden der Nationalliteratu­

ren erlebt das Motiv jedoch regelrechte Blütezei­

ten, so etwa in der Literatur des Goldenen Zeital­

ters in Spanien, in der französischen Literatur in der Mitte des 18. Jahrhunderts und in der deut­

schen Literatur des Sturm und Drang. Die große Zahl von Motivsegmenten, die unter die Rubrik des Generationenverhältnisses gefaßt werden kön­

nen, belegt den Facettenreichtum des Motivs auf synchroner Ebene und dessen Wandlungsfähigkeit in diachroner Hinsicht.15 Nach den oben erwähn­

ten nationalen Blütezeiten wird das Verhältnis der Generationen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahr­

hunderts zu einem dominanten Thema in nahezu allen europäischen Literaturen, ein Faktum, wel­

ches sich kaum mehr innerliterarisch begründen läßt.16

In der deutschen Literatur gehört das Generatio­

nenverhältnis seit jeher zum festen Motivinventar.

Doch fällt bezüglich der quantitativen Verteilung des Motivkomplexes in diachroner Hinsicht fol­

gendes auf: Zwar steht mit dem Hildebrandslied (810/820) ein Kampf zwischen Vater und Sohn mit

15 Bewußter/unbewußter Vater-Sohn-Kampf, Parrizid und Sohnesmord, tyrannischer Vater und pietätloser Sohn, Antagonismen zwischen alter und neuer Ord­

nung, Erbkampf und Thronfolge, Liebesrivalität und Verheiratung sind Beispiele für die negative Auffas­

sung des Generationenverhältnisses; auf der positiven Seite stehen Elternkult, Verständigungsversuche trotz Gegensätzlichkeiten, Bekundung von Seelen- und Blutsverwandtschaft. Darüber hinaus werden Schilde­

rungen von Erziehungsmethoden ebenso an das Gene­

rationenmotiv angeschlossen wie Geschwister- und Fa­

miliendarstellungen .

16 Von daher müßte eine weitergehende Untersuchung der Generationenverhältnisse im Deutschen Reich im Grunde vergleichend verfahren. Anknüpfungspunkte hierfür, insbesondere mit Blick auf Frankreich, bieten Mannheim (1928: 161, 329f), Fischer (1963) und Tur­

ner (1966). In diesem Kontext wäre auch zu klären, warum es nur in Deutschland zu dem gekommen ist, was wir Jugendbewegung nennen. Daß die Erfor­

schung dieser Frage immer noch ein Desiderat dar­

stellt, bemerkt auch Nipperdey (1990:118).

am Anfang der deutschen Literaturgeschichte, zwar finden sich positive und negative Generatio­

nenverhältnisse, zuweilen kombiniert mit Bruder­

kampf, Vatersuche oder dem neutestamentari­

schen Motiv des verlorenen Sohnes, als individual- oder sozialpsychologischer Ausdruck vermehrt in bestimmten Epochen wie etwa dem Sturm und Drang oder der Aufklärung, eine derartige Häu­

fung des Motivs, wie sie in der Zeit zwischen Reichsgründung und dem Ende des Ersten Welt­

krieges auftritt, ist jedoch in der deutschen Litera­

turgeschichte ohne Beispiel. Das Motiv wird in der deutschen Literatur zwischen 1871 und 1918 auf Dauer gestellt, und es steht in der Tat zu vermu­

ten, daß dieses gleichsam einen semantischen Re­

flex sozialer Lagen darstellt und deren Verände­

rungen wiedergibt. Nähern wir uns also der Litera­

tur des Kaiserreiches, insofern sie Aussagen zum Verhältnis der Generationen macht.

Auf den ersten Blick erscheint die zwischen 1871 und 1918 entstandene deutsche Literatur als äu­

ßerst heterogen. Verschiedene Strömungen und Stilrichtungen wechseln sich ab oder existieren ne­

beneinander. Trotz der Problematisierung des Epochenbegriffs in der Literatur- und Geschichts­

wissenschaft bietet sich für unsere Fragestellung eine eher traditionelle Einteilung der politischen Epoche der „Übergangsmenschen“ (Doerry 1986) in eine Abfolge von vier literaturgeschichtlichen Perioden als „Verständigungsbegriffe“ (Voßkamp 1981: 68) an.17 Die Endphase des sogenannten Poetischen Realismus (1840-1880) leitet über in den Naturalismus (1880-1895); als Gegenbewe­

gung entstehen neben zahlreichen Personalstilen eine Fülle von literarischen Strömungen, die als Impressionismus, Symbolismus, Neuromantik oder mangels einer besseren Bezeichnung einfach als Fin-de-siecle-Literatur (1890-1910) gehandelt werden; der Beginn des Ersten Weltkrieges fällt dann bereits in die Frühphase des Expressionismus

17 Literaturgeschichtliche Epochenbezeichnungen wer­

den sowohl von literaturinternen Spezifika (Sturm und Drang, Klassik) als auch von außerliterarischen Perio- disierungen etwa der Politik (Nachkriegsliteratur), der Kunst- und Musikgeschichte (Jugendstil, Impressionis­

mus), der Sprachgeschichte (althochdeutsche und mit­

telhochdeutsche Literatur) und der Philosophie (Auf­

klärung) hergeleitet; Voßkamp (1981) verweist auf die Ähnlichkeit der literaturwissenschaftlichen Diskussion mit der vor allem durch die französische Sozialhisto­

riographie (Braudel 1958) ausgelöste Epochenproble- matisierung in den Geschichts- und Sozialwissenschaf­

ten, etwa bei Wehler (1973 b) und Groh (1977).

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182 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 20, Heft 3, Juni 1991, S. 1 7 7 -1 9 0

(1910-1925).18 Die literarischen Werke dieser vier literaturgeschichtlichen Kategorien wollen wir nun für unsere Zwecke soziologisch als eine serie libre im Sinne Mannheims begreifen. Eine literaturso- ziologische Analyse dieser serie müßte uns sowohl über das spezifische Verhältnis der wilhelmini­

schen Generationen zueinander als auch über die Veränderungen desselben über fünfzig Jahre hin­

weg einigen Aufschluß geben.

Im Rahmen dieser Anmerkung können wir freilich weder die Grundgesamtheit der unter diese vier Kategorien subsumierbaren literarischen Werke analysieren noch einen umfassenden Fragenkata­

log und eine elaborierte Analysetechnik zu diesem Behufe entwickeln. Diese Aufgabe soll weiteren Forschungsarbeiten Vorbehalten bleiben.19 Für die Beantwortung unserer eingangs formulierten Fra­

ge hinsichtlich der Genese der Jugendbewegung genügt es, anhand einer nach wenigen Kernfragen gegliederten Durchsicht einiger Werke dieser serie herauszufinden, ob sich in der sozialen Realität, die in den jeweiligen Texten konstituiert wird, tatsächlich ein grundlegender Trend im Sinne eines Emanzipationsprozesses eruieren läßt, für den ja bereits - unserer oben formulierten Hypothese zufolge - das gehäufte Auftauchen des Motivs spricht. Ließe sich dieser Eindruck erhärten, wä­

ren wir in der Lage, „die bis heute strittige Frage“, ob die Jugendbewegung „ein ,Ventil4 im Hinblick auf den sich verschärfenden Vater-Sohn-Konflikt war“ (Schäfers 1983: 112) positiv zu beantworten.

Neben der durch die Eckdaten der politischen Epoche vorgegebenen zeitlichen Eingrenzung, welche Werke des frühen Realismus und des Spät­

expressionismus von vorneherein ausschließt, muß demzufolge für die Belange dieser Anmerkung auch eine Auswahl bezüglich der im Untersu­

chungszeitraum entstandenen Texte getroffen wer­

den. Daß eine derartige Selektion nicht gänzlich objektiv sein kann, soll hier noch einmal betont werden. Indem wir jedoch unsere Auswahl an einem breiten, bereits existenten Textkorpus orientieren und dadurch für den Leser nachvoll­

ziehbar machen, hoffen wir, weder der Willkür das

18 Diese Einteilung in vier Epochen legt auch Nipperdey (1990: 758ff, 770ff, 774ff, 790ff) seinem Portrait der Literatur des Deutschen Reiches zugrunde, freilich ohne auf das Generationenmotiv einzugehen.

19 Dabei könnte zur Dekodierung der sozialen Textreali­

tät als Analysetechnik das von Camartin (1977: 21 ff) favorisierte, auf Mukarovsky (1970) zurückgehende, semiologische Verfahren Anwendung finden.

Wort zu reden noch der „fallacy of the lonely fact“

(Stark 1990: 24) anheimzufallen, sondern mit unse­

rem Textmaterial gerade das (im Max Weberschen Sinne) Typische der jeweiligen Kategorien zu er­

fassen.20 Im Unterschied zu Luhmann (1983: 12), der sich als Quellen seiner Untersuchung zur Co­

dierung von Intimität bewußt zweit- und drittrangi- ger Literatur bedient, wollen wir im folgenden zur Offenlegung von Leitlinien und Entwicklungsten­

denzen die Behandlung des Generationenverhält­

nisses in Werken einiger bekannterer Autoren, die uns vor dem Hintergrund eines breiteren Textkor­

pus als besonders typisch und damit repräsentativ erscheinen, referieren und systematisieren.

Die Fragen, die wir dabei an diese Texte stellen wollen, lauten: Welcher Art ist das Verhältnis der Generationen? Ist es positiv als Einvernehmen oder negativ als Konflikt gestaltet? Und, im Kon­

fliktfall: Wer wird als Auslöser dargestellt, wer obsiegt? In welchen Motivausprägungen und - V a ­

rianten schlägt sich die literarische Gestaltung des Verhältnisses nieder? Darüber hinaus werden wir nach der sozialstrukturellen Differenzierung der Verhältnisse fragen. Und schließlich soll ausfindig gemacht werden, von wem und zu welchem Zwek- ke Autoren des Kulturpessimismus rezipiert wurden.

IV.

(1) Realismus: Der Sieg des Vaters über den Sohn und/oder die negative Charakterisierung des Soh­

nes stehen im Mittelpunkt der Darstellung des Generationenverhältnisses im Poetischen Realis­

mus, der in seinen letzten Ausläufern noch bis in die Kaiserzeit hineinreicht. In Theodor Storms Novelle Carsten Curator (1878) ist es der haltlose Sohn, der den auf Ehre bedachten Vater in den Ruin treibt. Hier dominiert wie in Storms späterer Novelle Hans und Heinz Kirch (1882) das Motiv des verlorenen Sohnes und des zu tragischer Größe emporgewachsenen Vaters. Die Ähnlichkeit der Begabungen von Vater und Sohn ist ein Motiv, das sich nach Storm auch um die Jahrhundertwende bei Gerhart Hauptmann (Michael Kramer 1900)

20 Orientieren wollen wir uns bezüglich des Textkorpus’

an Wais (1931) nebst einiger Ergänzungen aus heuti­

ger Sicht von Frenzei (1987), da die übrigen Studien entweder von einer Begrenzung auf die Konfliktva­

riante des Generationenverhältnisses ausgehen oder nur eine Epoche, eine Gattung oder einzelne Autoren berücksichtigen.

(7)

und Emil Strauß (Freund Hein 1902) wiederfindet.

Bei Hauptmann und Strauß wählt der Sohn den Freitod, und auch in Storms Novelle Der Herr Etatsrat (1881) wird der Sohn trotz großer Bega­

bung von den beruflichen Erfolgen des Vaters erdrückt. Der physische Sieg des Vaters als eher traditioneller Ausgang des Generationenkonflikts wird schließlich thematisiert in Theodor Fontanes Novelle Ellernklipp (1881), in der ein skrupelloser Vater den Konkurrenzkampf mit dem Sohn um eine Frau durch dessen Ermordung beendet.

(2) Naturalismus:21 Die Auseinandersetzung des Generationenverhältnisses in der Literatur des Na­

turalismus wird eingeleitet von Konrad Albertis Roman mit dem programmatischen Titel Die Alten und die Jungen (1889), in dem der Sohn die Vor­

bildhaftigkeit des Vaters ablehnt und sein Recht auf Selbstbestimmung einklagt. Der Generatio­

nenkonflikt, der sich auch in den naturalistischen Zeitschriften wie den Kritischen Waffengängen, der Freien Bühne für modernes Leben oder der Gesellschaft nachlesen läßt, wird im durch Milieu- und Vererbungstheorien beeinflußten Naturalis­

mus zum Zeitthema. Der Mensch ist Produkt von race, milieu und temps, und die bei den einzelnen Autoren unterschiedliche Gewichtung von Verer­

bung und Milieu sorgt für die Darstellungsbreite des Motivs. Generationenkonflikte werden als so­

ziale Konflikte gezeichnet, deren Entstehungsbe­

dingungen in der Industrialisierung und der damit verbundenen Proletarisierung des Kleinbürger­

tums liegen. So in Max Kretzers Gründerzeit-Ro­

man Meister Timpe (1888). In Gerhart Haupt­

manns naturalistischen Dramen ist der Generatio­

nenkonflikt einerseits Signum für die Krise der Familie schlechthin - dies wird u. a. auch in Suder- manns Ehre (1889), Schlafs Meister Oelze (1892) und Holz/Schlafs Familie Selicke (1890) themati­

siert -, andererseits aber auch archetypische Aus­

einandersetzung im Sinne seiner Theorie von Ur- drama und Urschuld, eine Auseinandersetzung, deren Gründe rational nicht mehr zu entschlüsseln sind und die, beeinflußt durch die aufkommende Psychoanalyse, zwanzig Jahre später im Expressio­

nismus wieder virulent werden sollte. Familienkri­

se und Urdrama finden sich in Hauptmanns Frie­

21 Auf den eine „Annäherung von Darstellung und ,Dar­

gestelltem4“ (Nipperdey 1990: 773) favorisierenden Naturalismus angewandt, wird der Topos, Literatur als Ausdruck der Gesellschaft aufzufassen, beinahe schon zur Platitüde. Um so gehaltvoller sind freilich die Texte in soziologischer Hinsicht. Vgl. auch Stark (1990: 22).

densfest (1890) ebenso wie in Einsame Menschen (1891). Im zuletzt genannten Stück führen die Antagonismen zwischen dem von Haeckel und Darwin beeinflußten Sohn und dem pietistischen Vater den Generationenkonflikt auf eine abstrak­

tere Ebene; im Friedensfest ist der Verfall der Familie durch genetische Bestimmung bereits vor­

gezeichnet. Dieselbe von zeitgenössischen Theo­

rien beeinflußte deterministische Weitsicht zeigt sich auch in Hauptmanns Künstlerdrama Michael Kramer (1900), in dem einem eher durchschnittli­

chen Maler sein genialischer, aber zügellos-undis­

ziplinierter Sohn gegenübergestellt wird, wobei letzterer, zu keiner künstlerischen Leistung mehr fähig, in den Tod getrieben wird.

(3) Fin de Siecle-Literatur: So unterschiedlich die verschiedenen Gegenströmungen zum Naturalis­

mus zwischen Impressionismus, Symbolismus, Neuromantik/Neuklassik und Heimatdichtung wa­

ren, so vielgestaltig erscheint auch die Behandlung des Generationsverhältnisses um die Jahrhundert­

wende. Positive Vater-Darstellungen finden sich vor allem in der Lyrik der Jahrhundertwende (Ge­

orge, Rilke, Beer-Hofmann), während dem Groß­

teil der epischen und dramatischen Werke ein ver­

ändertes Vater-Sohn-Verständnis gemein ist. So stehen in der Fin-de-siecle-Literatur Elternkult ne­

ben Emanzipationsbestrebungen und Beschwörun­

gen von Seelen- und Blutsverwandtschaft neben kategorischer Ablehnung parentaler Autorität.

Traditionelle Motive des Generationenkonflikts wie Erbkampf, Ähnlichkeiten und Gegensätze zwischen Vater und Sohn werden neu gedeutet, aber noch nicht in die Radikalität des Expressio­

nismus überführt. Der Vertrauenskrise zwischen Jungen und Alten entspricht die Sprachkrise, wie sie sich in Hugo von Hofmannsthals berühmtem Lord Chandos-Brief artikuliert. Wie der Konflikt zwischen den Generationen thematisiert die Sprachkrise die Unangemessenheit überkomme­

ner Ansichten und Lebensweisen angesichts sich völlig verändernder gesellschaftlicher Zustände und des Zerfalls einer früher noch als Ganzheit erfahrenen, Tradition und Gegenwart verbinden­

den Welt. In der Motivgeschichte der Vater-Sohn- Auseinandersetzungen kann die Fin de Siecle-Lite­

ratur in ihrem Oszillieren zwischen Handeln und Erleiden, Auflösen und Bewahren als Periode des Übergangs begriffen werden. Auf der einen Seite finden sich Stefan Georges Vaterpreisungen und Emil Strauß’ noch deutlich in der Tradition des Poetischen Realismus stehender Roman Freund Hein (1902). Auf der anderen Seite steht mit Tho­

mas Manns Buddenbrooks (1901) die Verfallsge­

(8)

184 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 20, Heft 3, Juni 1991, S. 177-1 9 0

schichte eines hanseatischen Geschlechts zwischen Bürgertum und Künstlertum, zwischen den lebens­

philosophischen Antinomien von Geist und Le­

ben. Rainer Maria Rilke deutet in den Aufzeich­

nungen des Malte Laurids Brigge (1910) die neute­

stamentarische Geschichte vom verlorenen Sohn um zum Gleichnis „dessen, der nicht geliebt wer­

den will.“ Richard Dehmel schließlich fordert in seinem Lied an meinen Sohn (1893) die junge Generation zum Ungehorsam auf: „Und wenn dir einst von Sohnespflicht, / mein Sohn, dein alter Vater spricht, / gehorch ihm nicht, gehorch ihm nicht.“ In den Veränderungen des Erbkampf-Mo- tivs werden die Phasenverschiebungen innerhalb der Vater-Sohn-Auseinandersetzungen auch in der Heimatdichtung des beginnenden 20. Jahrhunderts deutlich; in dem Roman Die Wittiber (1911), Lud­

wig Thomas unsentimentaler Schilderung des Ver­

falls einer Bauernfamilie, tötet der um sein Erbe besorgte Sohn die Geliebte des Vaters, der darauf­

hin zum Trinker wird. In Frank Wedekinds Drama Frühlings Erwachen (1891) hingegen zeigt sich die Entwicklung der Jungen vom Leiden zum Han­

deln, von der Passivität zur Aggressivität nur im Titel. In Wedekinds Drama der Adoleszenz schei­

tern die Kinder noch an der Tyrannei und Unver­

ständigkeit der Erwachsenen: „Lehrerschaft und Elternschaft in Frühlings Erwachen sind nur milde Abbilder, weil sich hier als Karikatur gibt, was beklemmende Wirklichkeit war. Tausend Bro­

schüren von damals über Schülerselbstmorde und das Elternhaus können die Historiker unterrich­

ten“ (Marcuse 1975: 21 f). Ex negativo läßt die groteske Darstellung der feindlichen Erwachse­

nenwelt in Frühlings Erwachen jedoch einen Vor­

läufer der Jugendbewegung und eine Antizipation der in aller Härte ausgetragenen Generationen­

konflikte des Expressionismus erkennen.

(4) Expressionismus: Auch in neueren literaturwis­

senschaftlichen Darstellungen wird das Motiv des Vater-Sohn-Konflikts hauptsächlich mit der Lite­

ratur des Expressionismus in Verbindung gebracht (Beckermann 1981; Kröhnke 1981).22 Wir hoffen jedoch deutlich gemacht zu haben, daß das Motiv in vielfältigen Formen bereits im ausgehenden 19.

Jahrhundert verbreitet war. Die Abhängigkeit von dieser Tradition bezeugen die verschiedenartigen Varianten des Generationenmotivs im Expressio­

nismus. Sicherlich stehen die bis zu letzter Konse­

quenz ausgetragenen Auseinandersetzungen zwi­

schen Vater und Sohn in diesem Zeitraum so sehr

22 Vgl. in diesem Kontext auch Körte (1988).

im Vordergrund wie in keiner anderen deutschen Literaturperiode; die spektakulär-extremen Kon­

fliktmomente wie in Walter Hasenclevers Sohn (entstanden 1913) und Arnolt Bronnens Vater­

mord (ebenfalls um 1913 entstanden) verdecken jedoch allzu leicht die konventionellen Ausprägun­

gen des Motivs, die parallel zu den expressionisti­

schen Ausbruchsversuchen weiterhin existieren.

Eine erste Motivvariante, die bereits im Zusam­

menhang mit dem Poetischen Realismus erwähnt wurde, ist der Suizid des schwächlichen Sohnes, der vor der übermächtigen Vaterfigur kapituliert oder nicht in der Lage ist, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Diese Lesart des Motivs findet sich gleichwohl auch bei Autoren, die einer wilhelministischen Prägung gewiß unverdächtig sind, etwa in Anton Wildgans Drama Dies Irae (1918) ebenso wie in Franz Kafkas Erzählungen Das Urteil (entstanden 1913) und Die Verwandlung (entstanden 1912). In der ersten Erzählung wird der Gedankenmord des Sohnes am Vater durch das Todesurteil, das der Vater über den Sohn verhängt und das dieser sogleich gehorsam an sich selbst vollstreckt, gerächt, und auch in der Ver­

wandlung fügt sich der aus dem Familienbunde ausgestoßene Gregor Samsa willfährig dem Ur­

teilsspruch seiner Familie und verhungert.

Eine zweite Motivvariante zeigt insbesondere die weltanschaulichen Auseinandersetzungen zwi­

schen Vater und Sohn. Den Söhnen ist die Ableh­

nung von Materialismus, preußischem Pflicht- und Untertanenbewußtsein, Militarismus und weiteren Ingredienzen eines konservativen Weltbildes ge­

mein. So wird dem Milliardär in Georg Kaisers Drama Die Koralle (1917) ein Sohn gegenüberge­

stellt, der sich für den Sozialismus engagiert und der in Gas I (1918), der Fortsetzung der Koralle, versucht, den vom Vater übernommenen Betrieb nach humaneren Gesichtspunkten zu reorganisie­

ren. Auch in Jakob Wassermanns Christian Wahn­

schaffe (1919), einem Roman, der in formaler Hin­

sicht nur bedingt expressionistische Züge trägt, wird die materialistische Welt der Väter mit dem Altruismus und Gerechtigkeitsstreben der Söhne kontrastiert: Der Fabrikantensohn verläßt sein großbürgerliches Zuhause, um für die Armen zu sorgen, und konstatiert schließlich: „Die Welt der Söhne muß sich gegen die Welt der Väter erheben, anders kann es nicht anders werden.“

Der Höhepunkt der Väter-Söhne-Auseinanderset­

zungen ist erreicht in einer dritten, die Rezeption des Expressionismus nachhaltig beeinflussenden Motivvariante, welche ganz im Zeichen der „angry

(9)

young men“ (Laqueur 1962: 4) steht. Hier ist vom omnipotenten Vater nurmehr wenig zu spüren.

Werktitel wie Stürme (von Unruh), Der Sohn (Ha­

senclever), Vatermord (Bronnen) oder Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig (Werfel) sind an der Tagesordnung und künden vom veränder­

ten Selbstbewußtsein des Sohnes. Der Triumph des Sohnes über den Vater ist hier nicht wie bei Kaiser oder Wassermann ideeller Natur, sondern artikuliert sich in physischer Gewalt, die bis zum Mord reicht. In Nietzscheanischer Manier verkün­

det der Sohn in Hasenclevers gleichnamigem ein­

flußreichen Drama von 1913 seinem Erzeuger:

„Ich muß mich rüsten zu diesem Kampf: jetzt haben wir beide nur den Willen noch zur Macht über unser Blut“, und der tyrannische Vater, der jegliche Freiheits- und Unabhängigkeitsbestrebun­

gen seiner Nachkommenschaft zu unterdrücken sucht, kommt der Ermordung durch einen ihn ereilenden Schlaganfall zuvor. Die Thematik des Sohnes, das Recht auf Selbstbestimmung, zeigt sich bereits in Albertis naturalistischem Roman Die Alten und die Jungen, die Radikalität, mit der hier das Erbe der Väter verworfen wird, ist jedoch genuin expressionistisch. Der Vatermord in Bron­

nens gleichnamigem Stück ist im Konnex mit sei­

nem etwa zur gleichen Zeit konzipierten Drama Geburt der Jugend (um 1914) zu sehen. War Ge­

burt der Jugend mit der szenischen Darstellung einer Schülerrevolte noch einer der seltenen Ver­

suche, den Generationenkonflikt am Beispiel einer spezifischen Gruppe aufzuzeigen, so wird das Va- ter-Sohn-Verhältnis in Vatermord wieder indivi­

dualisiert. Bronnens Stück verdeutlicht - wie auch Hasenclevers Sohn - die Adaptierung und Intensi­

vierung naturalistischer Elemente durch den Ex­

pressionismus; die Verwendung von Umgangs­

sprache und Dialekt in Vatermord gehört ebenso dazu wie die Fundamentierung der Handlung durch Milieu- und Vererbungstheorien oder die Verwendung des im Naturalismus häufigen Inzest- Motivs. In Franz Werfels von der Psychoanalyse beeinflußten Novelle Nicht der Mörder, der Er­

mordete ist schuldig (1920) wird dann bereits im Titel auf die Kausalität der Familientragödie hin­

gewiesen, lösen sich doch unausgelebte Konflikte und aufgestaute Aggressionen in einer Welle von Gewalt. In der „magischen Trilogie“ Der Spiegel­

mensch (1920) verwendet Werfel zudem das Motiv des Doppelgängers, die Antizipation des vom Ex­

pressionismus geforderten „neuen Menschen“.

Die Hoffnung auf den neuen Menschen, besonders ausgeprägt im Werk Georg Kaisers, ist verbunden mit der Hoffnung auf die Katastrophe, die die

verhaßte Zivilisation hinwegraffen soll. Der Gene­

rationenkonflikt der vorangegangenen Perioden weitet sich aus zu einem Zivilisationskonflikt, in dem sich der Emanzipationsprozeß der Jungen nicht mehr nur in dem Wunsch nach Selbstbestim­

mung und Selbstverwirklichung äußert, sondern die Neu-Erschaffung der Welt als Recht und Auf­

gabe für sich reklamiert. In einer Zeit, die durch Untergangsprophetien und Endzeitvisionen be­

stimmt ist (vgl. Vondung 1985), in der Mensch­

heitsdämmerung (so der Titel von Kurt Pinthus’

expressionistischer Lyrik-Anthologie) und Weiten­

de (van Hoddis) beschworen werden, die den Un­

tergang des Abendlandes (Spengler) oder den Un­

tergang der Seele (Klages) antizipiert, macht sich eine Gruppe von jungen Weltfreunden (Werfel) auf die Suche nach der verlorenen Transzendenz.

Erlebnis, Authentizität und Intensität, Schlagwor­

te, die für die Jugendbewegung charakteristisch sind, werden zu Desideraten der expressionisti­

schen Dichtung. Die Sexualität und der dionysi­

sche Rausch, von der Vätergeneration tabuisiert und unter Strafe gestellt, werden neu entdeckt und hymnisch gepriesen. Die Mittel zum Erreichen ihres Zieles werden von dem Unbedingtheitsglau­

ben der Söhne diktiert: Nicht mehr vorsichtiges Einklagen des Rechts auf Selbstbestimmung, son­

dern kompromißloses Durchsetzen eigener An­

sprüche steht jetzt im Mittelpunkt. Damit verbun­

den ist eine Neueinschätzung physischer Gewalt.

Das Recht des Vaters auf Bestrafung des ungehor­

samen Sohnes wird umgedeutet zum Notwehrrecht des Sohnes gegenüber väterlicher Autorität. Unge­

horsam und Revolte werden zu einer „Declaration of Independence“, wie sie G. B. Shaw in Man and Superman als erste Jugendpflicht reklamiert.

V.

Die in den vorangegangenen Ausführungen an einzelnen repräsentativen Werken der jeweiligen literaturgeschichtlichen Epochen exemplifizierten Konstanten und Wandlungen des Generationen­

motivs sollen nun kurz zusammengefaßt werden:

1) Das Verhältnis der Generationen wird im Un­

tersuchungszeitraum in einer stetig steigenden Zahl von Werken verhandelt. Aus einem Motiv, welches ehedem gleichberechtigt neben anderen im literarischen Kontext seinen Platz hatte, wird ein dominantes Thema der Dichtung.

2) Ein Großteil der diskutierten Werke zeigt ein zunehmend negatives Verhältnis von Alten und Jungen zueinander. Besonders augenscheinlich ist

(10)

186 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 20, Heft 3, Juni 1991, S. 1 7 7 -1 9 0

die Abkehr von einem positiven Generationenver­

hältnis in den ersten beiden Dekaden des neuen Jahrhunderts. Zwar finden sich auch nach 1900 noch Texte, in denen Einvernehmen zwischen den Generationen herrscht, jedoch sind diese überwie­

gend in historisch ferner Zeit oder im mythologi­

schen Raum angesiedelt.23 In Texten, die die zeit­

genössische Gesellschaft porträtieren, sind positive Motivsegmente nur noch vereinzelt auszumachen.

Dem entspricht das Ergebnis einer gattungsspezifi­

schen Differenzierung des Textkorpus: Die Domi­

nanz des Dramas, also jener literarischen Gattung, für die die Konflikthandlung conditio sine qua non ist, gegenüber Novelle, Erzählung und Roman ist offensichtlich.

3) Des weiteren ist analog zur quantitativen Steige­

rung eine Ausdifferenzierung von Motivvarianten auf synchroner Ebene zu konstatieren. In dem vergleichsweisen kurzen Zeitraum zwischen 1871 und 1918 scheint die gesamte Bandbreite motivi­

scher Ingredienzen und Schattierungen vertreten zu sein.

4) In sozialstruktureller Hinsicht zeichnet sich ein bias bei den bürgerlichen Konflikten ab. Daß der Konflikt der Generationen keine schichtenunspe­

zifische Erscheinung, sondern vielmehr die Sache bürgerlicher „Generationseliten“ (Wellershoff 1957: 16) war, dokumentieren die bis auf wenige Ausnahmen im bürgerlichen Milieu angesiedelten Texte. Mit Wehler (1973a: 123) kann man deshalb tatsächlich eine gewisse Vorreiterfunktion des Bürgertums konstatieren. Daß dies bereits den Zeitgenossen bewußt gewesen ist, davon künden, wie Koebner (1985: 514f) am Beispiel von Wede­

kinds Frühlings Erwachen, Hasenclevers Sohn und Bronnens Vatermord andeutet, die Thematisie- rung und Reflexion des Generationenkonflikts als bürgerliche Erscheinung in den literarischen Wer­

ken selbst. Dieses Ergebnis stimmt mit dem der eingangs erwähnten sozialgeschichtlichen Untersu­

chungen (Aufmuth 1979: 86; Schäfers 1983: 113;

Laqueur 1962: xi) überein.

5) Bei diachroner Betrachtungsweise läßt sich eine Entwicklung vom starken und dominanten Vater zum starken und sich emanzipierenden Sohn kon­

statieren. Innerhalb der Konfliktvariante steigt die Zahl der Auseinandersetzungen, in denen der Sohn „siegt“, überproportional an; auch das Motiv

23 Literatur sollte hier wohl als Appell fungieren, um der von Konflikt geprägten Welt ein positives Bild gegen­

überzustellen, gleichsam eine Welt „gegen die Welt zu halten“ (Johnson 1984: 35).

des Vatermords nimmt zu. Dennoch finden sich in einzelnen Werken des Frühexpressionismus noch demanzipatorische Motivstrukturen, so daß sich das Zeitalter des Wilhelminismus in der Literatur als Vorstadium einer ab 1915 vehement einsetzen­

den Generationskrise präsentiert. Inwieweit hier neben dem erörterten Ursachenbündel die einset­

zende Psychoanalyse und Werke wie Federns Va­

terlose Gesellschaft eine Vermittlerfunktion über­

nehmen und inwieweit das Kriegserlebnis der jun­

gen Generation im Sinne eines „la guerre, ce sont nos parents“ zur Verschärfung der generativen Konfliktlage beigetragen hat, dies zu untersuchen muß weiteren Studien Vorbehalten bleiben.24 6) Die These vom Einfluß der kulturpessimisti­

schen Schriften Lagardes, Langbehns und Nietz­

sches läßt sich auf der Folie der obigen Erörterung insofern spezifizieren, als die Jugendlichen nicht der in den Jugendkult mündenden Lesart der Er­

wachsenen folgten, sondern sich selbst einen Reim auf die Ideologeme dieser Autoren zu machen suchten. Schäfers (1983: 111) und Aufmuth (1979:

129) weisen demnach zwar zu Recht darauf hin, daß diese Zeitgeist-Autoren zu den meistgelesenen der Jugend gehörten; ihre Annahme aber, daß die Jugendlichen dadurch die Vorstellungen der Er­

wachsenen übernommen hätten, so deren „Erwar­

tungshaltung“ erfüllend, trifft nicht zu.

Das Ergebnis unserer Durchsicht einiger Struktu­

ren der in den Texten konstituierten sozialen Rea­

lität scheint tatsächlich der konfliktorientierten Variante des Generationenverhältnisses Recht zu geben. Die „Geburt der Jugend“ wäre demzufolge als ein Emanzipationsprozeß zu begreifen. Eine eingehende literatursoziologische Analyse der Grundgesamtheit der wilhelminischen Literatur anhand eines differenzierteren Fragenkatalogs und einer präzisen Methodik wird über die Validität unserer bisherigen Ergebnisse zu entscheiden ha­

ben. Sollten sich diese verifizieren lassen, böte sich ein Anknüpfungspunkt, um die zeitgenössischen Konfliktvarianten zu bündeln, an eine allgemeine Sociology of Parent-Youth Conflict (Davis 1940) anzuschließen und dadurch zu generalisieren.25

24 „La guerre, ce sont nos parents“ ist das Motto von Ernst Glaesers Roman Jahrgang 1902 (1928). Ansätze für eine Analyse des Zusammenhangs von Weltkrieg und Generationskrise finden sich bei Tischler (1932).

25 Eine Weiterführung der Gedanken Mannheims durch Davis bietet sich insofern an, als beide das Genera­

tionsverhältnis auf das Moment der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen gründen; vgl. dazu Davis (1940:

525).

(11)

Des weiteren ließen sich die bislang etwa in der Zivilisationssphäre erzielten Forschungsergebnisse auf dieser Folie interpretieren und ggf. integrieren.

Der Forschung eröffnet sich also ein weites Feld.

VI.

Eine Frage muß allerdings noch im Rahmen dieser Anmerkung geklärt werden: Wie ist der vor dem Hintergrund des erzielten Ergebnisses als falsifi­

ziert zu betrachtende konsensorientierte Erklä­

rungsansatz einzuschätzen? Diese Frage bringt uns zum Einfluß der Reformpädagogen und Kultur­

pessimisten zurück. Zu den Reformpädagogen sei hier nur soviel gesagt: „Man mag 10 Ausnahmen und 100 Ausnahmen nennen, trotzdem bleibt das Prinzip, wie es sich in jeder Alltäglichkeit in der Schule äußert, dasselbe - und nicht anders in der Familie“ (Benjamin 1972: 9), und das war unver­

ändert autoritär. So nimmt es denn auch nicht wunder, daß selbst Aufmuth (1979: 149) nach sei­

ner Auflistung der reformpädagogischen Ansätze eingesteht, daß diese „in scharfem Gegensatz zum Gros der damaligen ,Oberlehrer“4 standen.26 * Was den Einfluß der Kulturpessimisten angeht, so gilt es diesen u.E. wesentlich differenzierter zu betrachten, als das bislang in der Forschung ge­

schehen ist. In diesem Zusammenhang schlagen wir vor, Simmels Erörterungen Zur Psychologie des Pessimismus zu Rate zu ziehen; mit ihrer Hilfe lassen sich nämlich die unterschiedlichen Formen der Rezeption pessimistischer Literatur - und da­

mit die unterschiedlichen Einstellungen von Er­

wachsenen und Jugendlichen zum Pessimismus als Lebenshaltung - klären. Simmel (1888: 559) zufol­

ge ist das Charakteristikum des Pessimismus die oppositionelle Stellung, die er der Wirklichkeit ge­

genüber einnimmt. Pessimismus ist somit keine simple Resignation, sondern Negation, und damit läßt sich in der Tat die Grundstimmung umschrei­

ben, in der sich das Bildungsbürgertum - Erwach­

sene wie Jugendliche - um die Jahrhundertwende befand: die mehr oder weniger artikulierte Oppo­

sition gegenüber einer ökonomistisch durch­

herrschten Zivilisation.

26 Diese Einschätzung scheint auch Nipperdey (1990:

560f) zu teilen.

Simmel (1888: 559) nimmt auf der Basis seiner Definition eine interessante Qualifizierung vor, die für unsere Fragestellung von einiger Relevanz ist.

Er differenziert den Pessimismus einerseits in eine Haltung, welche „die Negation als nothwendigen Durchgangspunkt einer aufsteigenden Entwick­

lung“ ansieht, und anderseits in eine Einstellung, welcher „der Reiz, den sie (die Negation; d. Verf.) an sich, ohne eine über sie hinausgehende Bezie­

hung besitzt44, wichtiger ist. Als solche eröffnet die Negation zwar eine „Aussicht auf ein Unendliches;

denn ausser dem, was geleugnet wird, bleibt nun das ganze Feld des Möglichen übrig, auf dem sich bewusste und unbewusste Neigungen, Wünsche, Ueberzeugungen nach Belieben ansiedeln können.“

Zu einem über die bloße Negation hinausgehen­

den, dem Feld der Möglichkeiten abgerungenen Positiven fortzuschreiten, ist jedoch, wie Simmel (1888: 560) betont, nicht jedermanns Sache. Die erwachsenen Bildungsbürger waren dazu durchaus in der Lage, wie auch Aufmuth (1979: 131) konsta­

tiert. Im Unterschied zum Bilcjungsbürger bleibt jedoch der „Halbgebildete“, weil er an dem

„Bruch mit der Autorität, in dem der Pessimismus seinen negirenden Charakter zeigt“, Gefallen fin­

det, bei diesem negativen Charakterzug stehen:

„Aber auch die Jugend disponirt zu dieser Stim­

mung, weil sie gern das All in seiner ganzen Unendlichkeit umfassen möchte und doch noch der positiven Inhalte entbehrt, diesem idealen Trieb wahrhafte Erfüllung zu geben; da wird denn die blosse Negation wegen ihrer ins Unendliche hinaussehnenden psychischen Begleiterscheinun­

gen mit um so grösserer Vorliebe ergriffen, als dem Lebensalter der beginnenden Reflexion die Epoche der Abhängigkeit von äusseren Autoritä­

ten vorhergeht, denen gegenüber nun oft die Mo­

mente des Kritisirens und sich Befreiens sich zu­

nächst als wesentlicher Inhalt aufthun.“ In diesem Kontext nun zu argumentieren, daß die positiven Inhalte von außen, von seiten der Erwachsenen den Jugendlichen nahegebracht werden, zielt ins Leere. Denn Simmel (1888: 559) unterstreicht: „So lange man noch nicht gelernt hat, dass alle wahre Thätigkeit auf praktischem und theoretischem Ge­

biete im Bestimmen, im Begrenzen und Ausschei­

den eines endlichen Bezirkes aus dem Reiche der unendlichen Möglichkeiten besteht - so lange wird jede positive Satzung als drückendes Dogma emp­

funden, nach dessen Aufhebung man sich sehnt, als wäre dann der Weg ins Unendliche eröffnet.“

(12)

188 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 20, Heft 3, Juni 1991, S. 177 -1 9 0

Es ist dieser grundsätzliche „Mangel an positiven Inhalten in der Jugend“ (Simmel 1888: 562),27 der diese zwar die Zivilisations&rift*& der Erwachsenen teilen läßt, nicht aber deren Hoffnungen und posi­

tive Vorstellungen einer möglichen Überwindung der Krise. Mit dem Versuch, ihre Ideale auf die Nachkommen weiterzugeben, dürften die Erwach­

senen demzufolge das genaue Gegenteil ihrer Ab­

sichten erreicht haben. Für diese Interpretation sprechen auch Dokumente zeitgenössischer Ju­

gendlicher, die „von einem elementaren Ausbruch der Jugend aus sich heraus“ sprechen: „ohne sicht­

bares Ziel“ (Thon 1934: 9). Noch nicht einmal rational kritisieren haben die Jugend gewollt: „Die kulturkritische Haltung Nietzsches, Lagardes, Langbehns gab uns hundertmal recht; aber die Jugend wollte nicht akademisch bleibende Einsicht gewinnen und Kritik üben - sie kritisierte gar nicht, sie lehnte ab - , sie fühlte sich in ihrem Dasein bedroht, sie rang um das Leben ihrer Seele“ (Thon 1934: 11). Es ist in diesem Kontext bemerkenswert - was von der Forschung bislang offensichtlich nicht wahrgenommen wurde - , 28 daß der Jugend­

kult des Bildungsbürgertums bereits von einem ihrer kulturpessimistischen Autoren mit heftiger Kritik überzogen wurde. Es war Nietzsche, der schon 1878 in Menschliches, Allzumenschliches

27 Dies trifft insbesondere auf die bürgerlichen Jugendli­

chen zu. Nur sie, von der Notdurft des alltäglichen Lebens entlastet, hatten die Möglichkeit, sich in der kritischen Haltung zu ergehen, waren, mit anderen Worten, zu einem Positiven gar nicht gezwungen. So bemerkt Bertiein (1966: 58) zu Recht, daß nur auf dem Hintergrund der Gesichertheit eines verläßlichen Zu­

hauses die bürgerlichen Jugendlichen um 1900 ihren Protest initiieren konnten.

28 Auf diese Weise könnte man Aufmuths (1979: 126) Gewichtung interpretieren, in Langbehn denjenigen zu sehen, „welcher der Kulturkritik und dem Kultur­

pessimismus des Bildungsbürgertums am genuinsten Stimme und Ausdruck verlieh.“ Nietzsche hingegen soll eine „vergleichsweise untergeordnete Rolle“ ge­

spielt haben. Der Grund, den Aufmuth nennt: „Es klingt böse, aber es stimmt - Nietzsches Werk war der Masse der Bildungsbürger zu ,intellektualistisch‘, es verlangte zu viel Mühe des Denkens, zu viel subtile Reflexion, um recht begriffen und fruchtbar zu wer­

den“ (Aufmuth 1979: 127). Ohne den immensen Ein­

fluß Langbehns schmälern zu wollen, muß mit Nipper- dey (1990: 775) doch betont werden, daß Nietzsche der „Held der Generation der Jahrhundertwende“

war, was auch die Rezeption seiner Ideen im Bereich der Wissenschaft, etwa bei Simmel oder Max Weber, signalisiert.

einsah: „Kritisieren für die Jungen heißt, keinen produktiven Gedanken an sich herankommen las­

sen“ (Nietzsche 1978 a: 321). 1886 wurde er in Jenseits von Gut und Böse noch deutlicher: „Das Zornige und Ehrfürchtige, das der Jugend eignet, scheint sich keine Ruhe zu geben, bevor es nicht Menschen und Dinge so zurechtgefälscht hat, daß es sich an ihnen auslassen kann: - Jugend ist an sich schon etwas Fälschendes und Betrügerisches“

(Nietzsche 1976: 42).29

Wenn demzufolge der Jugendkult nicht zur Aus­

differenzierung der Jugendbewegung führte, bleibt die abschließende Frage, welche Konsequenzen er ansonsten zeitigte. Zum einen muß hier auf die zeitgenössischen Kontroversen zwischen Alten und Jungen - etwa die im Verein für Sozialpolitik (Lindenlaub 1967), im Evangelisch-sozialen Kon­

greß (Schneemelcher 1910) oder in den Parteien (Nipperdey 1961) - hingewiesen werden, in denen sich die Jungen mit einem abstrakten Jugendbe­

griff identifizieren und auf diese Weise solidarisie­

ren konnten. Während in diesem Fall die generati­

ve Verankerung des Jugendbegriffs noch spürbar ist, verschwindet diese im zweiten Fall völlig. Die Rede ist von jenen Bohemes, die unter dem Eti­

kett der Jugend einen gewissen Lebensstil kulti­

vierten, die gleichnamige Münchener Wochenzeit­

schrift herausgaben und in der bildenden Kunst den sogenannten Jugendstil kreierten.30 In diesem Kontext wendet z.B. Nipperdey (1990: 770ff) den Begriff Jugend auf den Naturalismus an, von dem er als einer „jugendlichen Intellektuellenrevolte“

spricht, die eine Bohemeperspektive auf die Ge­

sellschaft richtete. Die »Reihe kleinerer, oft nur lose miteinander verbundener Teilbewegungen“

des Naturalismus der Jugendbewegung als solcher

„zuzuordnen“ (Schäfer 1988: 67) - gar in kausaler Absicht - , scheint uns jedoch nicht angebracht.

Aber auch dieser Punkt bedarf einer weiteren gründlichen Klärung.

29 Auch die bildungsbürgerliche Identifikation des grie­

chischen Wesens mit der Jugend, auf die Schäfers (1983: 111) hinweist, fand Nietzsches (1974: 562) Miß­

fallen, als er 1874 in Wir Philologen rhetorisch danach fragte: „Was eignet sich denn vom griechischen Wesen überhaupt für die Jugend?“ - und keine Antwort fand.

Vgl. zu Nietzsches Begriff der Jugend auch seinen Nachlaß in Nietzsche (1978b: 144, 259f, 286, 345).

Nietzsches Einschätzung trifft sich mit der Wellers- hoffs (1957:16) und Wechsslers (1930).

30 Zu Konzept, Programm und Autoren der Zeitschrift Jugend vgl. Rammstedt (1988), der auch auf den emanzipatorischen Impetus des Organs hinweist.

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