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trat in den vergangenen Jahrzehnten zu- gunsten anderer Forschungsfelder in den Hintergrund historischen Interesses

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© MGFA Potsdam, DOI 10.1524/mgzs.2010.0019

Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Vorgeschichte – Verlauf – Folgen.

Hrsg. von Jan Ganschow, Olaf Haselhorst und Maik Ohnezeit, Graz: Ares 2009, 472 S., EUR 29,90 [ISBN 978-3-902475-69-5]

Die Analyse der politischen und militärischen Ereignisse in den sogenannten Reichseinigungskriegen – obwohl ein Angelpunkt deutscher und europäischer Geschichte im letzten Drittel des 19. Jh. – trat in den vergangenen Jahrzehnten zu- gunsten anderer Forschungsfelder in den Hintergrund historischen Interesses.

Wesentliche Beiträge aus militärhistorischer Sicht lieferte zuletzt aus Anlass der einhundertjährigen Jahrestage das Militärgeschichtliche Forschungsamt – immer- hin fast ein halbes Jahrhundert zurück (Entscheidung 1866. Der Krieg zwischen Österreich und Preußen. Hrsg. vom MGFA durch Wolfgang v. Groote und Ursula v. Gersdorff, Stuttgart 1966; Entscheidung 1870. Der deutsch-französische Krieg.

Hrsg. vom MGFA durch Wolfgang v. Groote und Ursula v. Gersdorff, Stuttgart 1970). Benachbarte Themenfelder, die sich mit politik- und diplomatiegeschicht- lichen Facetten befassen und den lohnenswerten Fragen von Kriegsbeginn und -be- endigung sowie den Problemen der Reichsgründung nachspüren, datieren eben- falls überwiegend aus den 1970er und 1980er Jahren (z.B. Europa vor dem Krieg von 1870. Mächtekonstellation, Konfliktfelder, Kriegsausbruch. Hrsg. von Eber-

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hard Kolb, München 1987). Jüngere Werke nehmen das Wechselspiel von Medien und Gesellschaft und die Frage nach der öffentlichen Deutung der Reichseinigungs- kriege in den Focus (z.B. Nikolaus Buschmann, Einkreisung und Waffenbruder- schaft. Die öffentliche Deutung von Krieg und Nation in Deutschland 1850–1871, Göttingen 2003). Militärgeschichtliche Fragestellungen, die sich auf operationsge- schichtliche oder technische Ausschnitte konzentriert hätten, bilden die Ausnahme, werden aber durch vereinzelte Spezialstudien ergänzt (Christine G. Krüger, »Sind wir denn nicht Brüder?« Deutsche Juden im nationalen Krieg 1870/71, Paderborn 2006).

Im Großen und Ganzen fehlt bislang eine jüngere deutschsprachige Darstel- lung, die die besonderen fachspezifischen militärhistorischen wie kultur- und poli- tikgeschichtlichen Facetten synergetisch vereint und das Große im Kleinen sucht oder doch zumindest einen Überblick über die Ereignisse der Reichseinigungs- kriege vermittelt. So ist zu begrüßen, dass in den letzten Jahren Arbeiten ihren Weg auf den Markt fanden, die sich in erster Linie den kriegerischen Aspekten der Reichseinigungskriege annehmen und Schlacht, Waffe und Kampf in den Mittel- punkt ihrer – bisweilen zu einseitigen – Betrachtung rücken (Karl-Horst Bichler, Ruijun Shen, Der Preußisch-Österreichische Krieg in Böhmen 1866, Berlin 2009;

Klaus Müller, 1866: Bismarcks deutscher Bruderkrieg. Königgrätz und die Schlach- ten auf deutschem Boden, Graz 2007).

In diesen Reigen eher populärwissenschaftlicher Literatur reiht sich das hier zu rezensierende Werk ein. Es versteht sich als ein Überblickswerk, das sich weni- ger an die Fachwelt, als an den (militär-)historisch interessierten Laien richtet. Be- scheiden treten die Herausgeber in ihrer Einleitung auf, wenn sie einräumen, der Band böte keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, »die das bisherige, von der Forschung erarbeitete Bild des Deutsch-Französischen Krieges infrage stellen«

(S. 13). Sie schränken die Reichweite ihres Sammelbandes sogar weiter ein, und verweisen darauf, dass er nicht den Anspruch erhebe, eine Gesamtdarstellung der Jahre 1870/71 sein zu wollen. Gleichwohl sollen die insgesamt zehn Aufsätze dem Leser erlauben, »sich einen Überblick über die politische Vorgeschichte, den militä- rischen Ablauf sowie die Folgen des Konfliktes zu verschaffen« (S. 13). Damit deu- ten die Herausgeber an, dass mit dem vorliegenden Band keine Zusammenschau, sondern »militärische Ereignisse und Fragen« (S. 13) im Vordergrund stehen und durchaus ein operationsgeschichtlicher Blickwinkel im weitesten Sinne eingenom- men wird.

Das Buch, als kompakte Übersicht zu zentralen Gesichtspunkten des Krieges verstanden, ist in vier Abschnitte aufgeteilt: Der erste – zugleich der umfangreichste – versammelt Beiträge zu politischen und militärischen Ereignissen des Krieges von 1870/71, der ein »Paradebeispiel für die Bereiche Kriegsauslösung, Friedens- schluss sowie Kriegsfolgen« (S. 13) darstellt. Der zweite Abschnitt wendet sich den wichtigsten Waffengattungen und Waffensystemen zu und richtet seine Aufmerk- samkeit auf die Einsatzgrundsätze im taktischen Umfeld. Der dritte widmet sich den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Krieges. Der vierte Abschnitt, obwohl nur mit einem Beitrag versehen, ist einer der umfangreichsten.

Er befasst sich mit der Frage der Entwicklung des Völkerrechts im Krieg von 1870/71.

Die Hauptbeiträge fassen überwiegend die ältere und jüngere Literatur zusam- men, was dem gesetzten Ziel, dem interessierten Leser einen Überblick vermitteln zu wollen, nicht entgegensteht. Jedoch versäumen es die Herausgeber, aktuelle

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Fragestellungen aufzugreifen, wie die nach dem Charakter des Krieges als Volks- oder Kabinettskrieg und damit den Versuch, diesen zentralen Krieg des 19. Jh. zu verorten und in ihren operationsgeschichtlichen Zusammenhang einzubetten (On the Road to Total War. The American Civil War and the German Wars of Unifica- tion, 1861–1871. Ed. by Stig Förster and Jörg Nagler, Cambridge 2002). Gerade aber einer breiten Leserschaft hätten Reflexionen im Sinne eines Überblicks über gegen- wärtig diskutierte Fragen der Geschichtswissenschaft helfen können, sich dem Kern des Faches wie auch des Gegenstandes zu nähern. So bleibt durchaus offen, was eine operationsgeschichtlich ausgerichtete Arbeit zu leisten imstande ist. Das Große wurde im Kleinen nicht gefunden, weil es vermutlich nicht gesucht wurde.

Aus Sicht des Rezensenten versäumten es die Herausgeber, sich der Schlachten- geschichte als Totalgeschichte zu nähern. Nicht zuletzt das Fehlen eines zusammen- führenden Ganzen – sei es als roter Faden oder als zusammenfassender und ein- ordnender Beitrag – erschwert das Verständnis.

Der Vorteil des Bandes liegt nach Franz Uhle-Wettlers Vorwort in der Spann- breite der hier präsentierten Themen, die »den an völkerrechtlichen und wirtschaft- lichen Fragen Interessierten, den Freund von Schilderungen der Operationsfüh- rung auf den Schlachtfeldern« (S. 9) ansprechen. Genau in der hier gewählten Spannbreite liegt aber der eigentliche Schwachpunkt des vorliegenden Bandes. Der Ansatz, sich auf eine deskriptive Basis zurückzuziehen und sich darauf zu be- schränken, »verschiedene – bekannte und weniger bekannte – Aspekte des Deutsch- Französischen Krieges noch einmal zu beleuchten« (S. 13), verwehrt den Heraus- gebern die Möglichkeit, eine grundlegende Fragestellung zu entwickeln, die die einzelnen Beiträge und Abschnitte hätte miteinander verbinden können. So ent- steht ungewollt der Eindruck, dass die Zusammenstellung und Ausrichtung der einzelnen Beiträge willkürlich und nach »Lage« ausgerichtet sind. Dieser Eindruck verstärkt sich durch redaktionelle Schwächen, die sich eingeschlichen haben und in Zeichen- und Wortauslassungen gipfeln (S. 8, 230, 298, 344, 350). Ferner verstärkt die unterschiedliche Quantität der einzelnen Beiträge den Eindruck eines nur lose zusammenhängenden Ganzen. Dem umfangreichsten Beitrag von Jan Ganschow zur Entwicklung des Kriegsvölkerrechts mit 147 Seiten steht der kürzeste von Lothar Kuhr mit neun Seiten über die Blankwaffen der deutschen Armeen gegen- über. Auffällig ist zudem, dass der zwölfseitige Beitrag Dirk Schmidts zur wirt- schaftlichen Seite des Krieges im Gegensatz zu den übrigen Aufsätzen ohne einen Anmerkungsapparat auskommt. Beides lässt den Sammelband schon auf den ers- ten Blick inhaltlich wie redaktionell wenig ausgewogen erscheinen.

Dieser Eindruck verstärkt sich durch die Ausrichtung des Bandes, die in der Einleitung der Herausgeber vorgenommen wird. Hier, wie im Vorwort Franz Uhle- Wettlers, erfolgt eine bisweilen zu einseitige Konzentration auf die nationalstaatli- che Überwindung der Zersplitterung Deutschlands (S. 11), die mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches am 18. Januar 1871 erreicht worden sei. Diese Fokussie- rung blendet leichtfertig die historischen Dimensionen der »deutschen« Staatsgrün- dung aus. Die Lösung der Deutschen Frage, die seit den Schlesischen Kriegen das innerdeutsche Verhältnis maßgeblich prägte, zog national die Teilung wie Grund- legung der deutschen Nation nach sich und beeinflusste maßgeblich die gesamt- europäische Sicherheitsarchitektur bis wenigstens in den Ersten Weltkrieg.

Gleichwohl bleibt ein Beitrag hervorzuheben: Jan Ganschows Ausführungen zur Entwicklung des Kriegsvölkerrechts. Der Autor beschreitet mit seinem fundierten rechtshistorischen Beitrag überwiegend unbekanntes Terrain und schlägt eine

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Schneise, die es Militärhistorikern künftig erlauben wird, die Anwendung kriegeri- scher Gewalt in ein historisch rechtlich normatives Koordinatensystem einzuord- nen.Die Stärke des Bandes liegt in seiner operations- und technikgeschichtlichen Ausrichtung. Sein Hauptmangel liegt im Versäumnis, einen umfassenden und pro- blematisierenden Ansatz zu verfolgen und mit einer übergeordneten und die Ein- zelbeiträge verbindenden Fragestellung zu versehen. So bleibt der Band Stück- werk, auch wenn man die Darstellungen zur Operationsgeschichte und vor allem Ganschows Beitrag zum Kriegsvölkerrecht immer wieder zur Hand nehmen wird.

Thorsten Loch

Stewart Lone, Provincial Life and the Military in Imperial Japan. The Phan- tom Samurai, London: Routledge 2010, XII, 164 S., ₤ 75.00 [ISBN 978-0-203- 87235-2]

Stewart Lone zweifelt das herkömmliche Bild von Japan an, wonach dessen Ge- sellschaft vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg durch und durch militaristisch und höchst diszipliniert gewesen sei, kurz: eine Samurai-Na- tion. Er beschränkt sich dabei auf die Jahre 1890–1920, führt allerdings in einem Ausblick auch den Pazifismus und die Abneigung gegen die Streitkräfte nach der Niederlage 1945 auf diese angeblich tief verwurzelte antimilitaristische Grundten- denz in der Zeit um 1900 zurück. Der Autor konzentriert sich in seiner Untersu- chung auf die ländliche Präfektur Gifu, gelegen nördlich der Großstadt Nagoya in der geografischen Mitte Japans.

Lone räumt zwar ein, dass die Streitkräfte in Zeiten nationaler Krisen und Kriege breite Unterstützung erhielten, so vor allem im Krieg mit Russland 1904/05, als das Schicksal der ganzen Nation und damit auch das des Einzelnen auf dem Spiel stand. Er bestreitet hingegen, dass das Militär populär gewesen sei, und führt eine Reihe oppositioneller Aktionen und Unmutsäußerungen auf. Der Autor be- ginnt seine Studie mit dem Jahr 1890, da von diesem Zeitpunkt an ein reformiertes Wehrpflichtgesetz in Kraft war. Zu dem von ihm aufgeführten Ausdruck von Wider- willen gehörte die Abneigung gegen den Wehrdienst, um den sich die Männer in ländlichen Gebieten kaum »drücken« konnten, wohingegen das Bürgertum in den Städten oft dazu Mittel und Wege fand, sei es durch ein Langzeitstudium, einen Auslandsaufenthalt oder ganz einfach durch gute Beziehungen. Das hohe Militär- budget führte zu einer Steuerlast, die zahlreiche Kleinbauern am Hungertuch na- gen ließ. Kriegsbedingt wurden die Abgaben noch erhöht und Druck zur Zeich- nung von Anleihen ausgeübt. Viele Familien verarmten weiter dadurch, dass ihre Ernährer einen dreijährigen Wehrdienst absolvierten, in den Krieg ziehen muss- ten oder gar fielen. Heimkehrer waren oft verstümmelt oder brachten Cholera und Geschlechtskrankheiten mit. Oft fanden sie auch nur schwer ins Berufsleben zu- rück. Um Geld für die Kriegführung einzusparen, wurden in Gifu mehrere Schu- len geschlossen und viele Lehrer entlassen. Die Presse äußerte sich oft erstaunlich freimütig und mitunter ironisch, wenn sie z.B. wegen der Erhöhung der Alkohol- steuer zur Finanzierung des Krieges 1904 gegen Russland die Trinker zu Patrioten erklärte.

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Zwar sieht auch Lone eine Steigerung des Nationalismus durch die Kriege ge- gen China 1894/95 und noch mehr gegen das Zarenreich 1904/05, macht aber ein schnelles Abebben nach dem Sieg und dadurch weiterhin eine starke Skepsis ge- gen das Militär aus. Erst danach erhielt übrigens die Präfektur Gifu Garnisonen und kam dadurch mit der Armee in engeren Kontakt. Die durch die Kriegskosten bedingte erhöhte Steuerlast war noch ein ganzes Jahrzehnt spürbar, ebenso wie die Inflation. Industrie und Gewerbe litten unter dem Konsumrückgang gerade in ärmlichen Regionen wie Gifu, auch wenn die durch Etablierung von Garnisonen erhöhte Kaufkraft in den betreffenden Gemeinden als wohltuend empfunden wurde.

Während des Krieges gegen Russland 1904/05 erlebte die Propaganda für Mili- tär und Kriegführung eine große Steigerung. Auch in der Provinz wie in Gifu wur- den die Lokalverwaltung und patriotisch gesonnene Kreise aktiviert. Mit großen Aufzügen und mit »Dschingderassabumm« brachten sie die Wehrpflichtigen zum Bahnhof und verabschiedeten sie in ein neues Leben – oder auch in den Tod. Dann wieder spielten sie und lokale Honoratioren eine Rolle bei Trauerfeiern. Bei der Begleichung von Kosten für Beerdigungen gab es allerdings oft Reibereien. Auch Frauenorganisationen wurden als Stütze für Soldaten aus der Taufe gehoben, um karitativ tätig zu werden. Nach den im Krieg gemachten Erfahrungen wurde im Jahre 1910 eine »Reservistenorganisation« mit Zweigstellen im ganzen Lande ge- schaffen, in der alle wehrfähigen Männer erfasst waren, um unter ihnen einen militärischen und patriotischen Geist zu erzeugen.

Missstände wie die Unterschlagung von Spenden oder Trinkgelder für Kran- kenschwestern führten auch in Kriegszeiten zu Unmutsäußerungen. Außerdem gingen die oft nicht zu übersehenden Kriegsgewinne an einer strukturschwachen Region wie Gifu vorüber und führten zu Kritik.

Lone hat eine bewundernswerte Fülle von japanischen Quellen untersucht und analysiert und dadurch ein bisher völlig übersehenes Kapitel der japanischen Ge- schichte erhellt. Sein Gesamtresümee von einer grundlegend antimilitaristisch ein- gestellten Gesellschaft erscheint aber überzogen. Zum Beispiel führt er eine Um- frage unter heiratswilligen jungen Frauen in Gifu, die sich einen Ehepartner aus dem städtischen Bürgertum mit Universitätsabschluss und Karriere in Wirtschafts- oder Finanzwelt statt einen Berufssoldaten wünschten, auf eine Abneigung gegen die Streitkräfte zurück. Es handelte sich dabei aber wohl eher um unerfüllbare Jungmädchenträume, denn die anvisierten Männer suchten keine jungen Damen aus der Provinz, sondern höhere Töchter aus dem großstädtischen Bürgerstand oder gar Adel bzw. Ex-Adel, d.h. aus prestigeträchtigen Samurai-Familien. Viel- leicht war ein Korporal oder Offizier für die Mädchen von Gifu letzten Endes doch keine so schlechte Partie, denn die Armee bot verarmten Bauernsöhnen durchaus eine attraktive Chance zum sozialen Aufstieg, wohingegen die Marine sich eher aus dem städtischen Bürgertum rekrutierte. Dieser Aspekt, die Attraktivität einer beruflichen Karriere in den Streitkräften und damit wirtschaftliche Sicherheit für Familien, wird von dem Autor leider überhaupt nicht behandelt.

Gerhard Krebs

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Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918. Hrsg. von Arnd Bauerkämper und Elise Julien, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 285 S., EUR 29,90 [ISBN 978-3-525-36389-8]

Wenn Buchtitel den Zweck verfolgen, den Inhalt präzise wiederzugeben, so ist die mit »Durchhalten!« für den hier zu besprechenden Band getroffene Wahl keine glückliche. Nur ein Teil der (abgesehen von der Einleitung) insgesamt elf Beiträge befasst sich mit der bis heute Rätsel aufgebenden Frage, was die in den Ersten Welt- krieg verstrickten Gesellschaften dazu motivierte, trotz immenser Verluste, trotz rasch geschwundener Siegeshoffnungen und trotz manifester Friedenssehnsüchte den Kampf vier Jahre lang fortzusetzen.

Liest man den Band von Anfang bis Ende, so sticht der abnehmende Grad der Befassung der einzelnen Texte mit dem Generalthema ins Auge, was insbesondere für den letzten, den »Kriegskulturen jenseits der Grenzen Europas« gewidmeten Block gilt. Katja Wüstenbecker bietet eine handbuchartige Darstellung des Weges der USA in den Krieg und deren späte, dafür umso intensivere Mobilmachung für diesen. Der Beitrag handelt von der Definition eines patriotischen Verhaltens der US-Bürger und der verfassungswidrigen Einschränkung der Meinungsfreiheit, in- soweit es um Stellungnahmen gegen die amerikanische Kriegsteilnahme ging. Dem korrespondierten bis zur physischen Gewalt gesteigerte Schikanen gegen deutsch- stämmige Amerikaner. Dies alles hat freilich mit »Durchhalten« im Sinne der auf den europäischen Gesellschaften lastenden Zwänge wenig zu tun. So sehr die Autorin bemüht war, das Beste aus der Themenvorgabe zu machen, so sehr fragt man sich, ob mit Bezug auf die USA das Durchhalte-Konzept sinnvoll anzuwenden ist, trat das Land doch erst 1917 in einen Krieg ein, der das Mutterland nie bedrohte. Zwei- felhaft dürfte daher sein, ob die USA in einen Vergleich der kriegführenden Gesell- schaften einbezogen werden können.

Ebenso aus dem Rahmen fällt der Beitrag von Stefanie Michels, der ausweislich des Titels vom Ersten Weltkrieg in Kamerun und Deutsch-Ostafrika handeln soll, faktisch jedoch die kolonialistische Gewalt im Allgemeinen ins Zentrum rückt. Wie auch in anderen Beiträgen, werden hier frühere Studien der Verfasser herangezo- gen, egal ob sie zum Thema passen oder nicht. Einige Beobachtungen befassen sich mit der Motivation der schwarzen Kolonialtruppen zum Weiterkämpfen, während man über die Motivlage der wenigen, aber tonangebenden, vom Mutterland abge- schnittenen Deutschen so gut wie nichts erfährt.

Oliver Schulz präsentiert einen aus der nicht-türkischen Literatur kompilierten Beitrag über das Osmanische Reich, den die Herausgeber bemerkenswerterweise in der außereuropäischen Sektion platziert haben. Im Mittelpunkt dieses sprung- haften, zwischen 1908 bis 1923 und verschiedenen Themen changierenden Beitrags steht der Genozid an den Armeniern, wohl deshalb, weil es hierzu reichlich Lite- ratur in westlichen Sprachen gibt. Die These, die Massaker hätten zum osmani- schen Durchhalten beigetragen, kann nicht überzeugen, weil eine solche Strategie erfordert hätte, das Morden an die nicht betroffene Bevölkerung zu kommunizie- ren. Wie damit die gängige Leugnung, Vertuschung und Verschweigung dieses Völkermordes harmonieren soll, wird von Schulz nicht angesprochen.

Der Außereuropa gewidmete Beitragsblock wurde referiert, weil er die Frage nach der Konzeption des Bandes aufwirft. Ausweislich der Einleitung geht dieser teilweise auf eine Konferenz von 2007 zurück; Näheres wird nicht mitgeteilt. Zwei- fellos sind transnationale, außereuropäische und globale Geschichte en vogue; dies

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mag die Herausgeber bewogen haben, diesen Trends Tribut zu zollen. Abgesehen davon, dass ein systematischer Vergleich, anders als der Untertitel ankündigt, kaum geleistet wird und vielmehr jeder Beitrag sein einzelstaatliches oder (im Fall Afrikas) regionales Themenfeld separat abhandelt: Wäre nicht zu fragen gewesen, ob ein sinnvoller Vergleich des Durchhaltens ein annähernd vergleichbares Maß an Belastungen der betroffenen Gesellschaften voraussetzt? Ein solcher Maßstab ergibt sich z.B. aus der Zahl der zum Waffendienst eingezogenen Männer und der Gefallenen, Verwundeten; aus den Einschränkungen des Lebensmittelverbrauchs, der Erhöhung der Arbeitszeiten usw. Stellt man die Frage so, müssten die USA aus- scheiden, während unerklärlich bleibt, warum mit Österreich-Ungarn die den Welt- krieg auslösende Großmacht keines Beitrags für würdig befunden wurde. Den Herausgebern scheint nicht bewusst zu sein, dass gerade die Donau-Monarchie dem feindlichen Lager aufgrund ihrer multi-ethnischen Zusammensetzung und ihrer nationalen Spannungen als der Kandidat für einen raschen Zusammenbruch galt, der bekanntlich nicht eintrat. Abgesehen von Russland waren die Belastungen nirgendwo so massiv wie in Österreich-Ungarn. Warum muss ein dem Durchhal- ten gewidmeter Band die peripher betroffenen USA berücksichtigen, während der Habsburgerstaat keine Erwähnung findet, sieht man von Jürgen Angelow ab, der das Kriegsgeschehen auf dem Balkan bei marginaler Einbeziehung Österreich- Ungarns behandelt.

Angelows Aufsatz findet sich in einem Ost- und Südeuropa gewidmeten The- menblock; dieser bringt zunächst einen lesenswerten Text von Dietrich Beyrau und Pavel P. Shcherbinin, der die Gründe für das Nicht-Durchhalten Russlands anspricht.

Angelow widmet sich primär den weit vor 1914 zurückreichenden nationalen Kon- flikten auf dem Balkan und den Defiziten der dortigen Staatsbildung seit dem 19. Jahrhundert. Auch hier wirkt die Erörterung des Durchhaltens aufgesetzt, denn eine naheliegende Frage wie die, was die Serben trotz blutigster Verluste 1914/15 im Krieg hielt, wird mit keinem Wort angeschnitten. Im selben Themenblock geht Oliver Janz kenntnisreich auf die italienische Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg ein, doch handelt es sich eher um einen historiografischen Überblick als um eine themenzentrierte Erörterung.

Der stärkste Themenbezug findet sich im II. Abschnitt, der dem Stellungskrieg im Westen gewidmet ist. Der beste Beitrag stammt von Steffen Bruendel, der die deutsche Kriegsanleihe-Werbung als Strategie der Mobilisierung im Zeichen des zu bekundenden Sieges- und Durchhaltewillens interpretiert und neben der Lite- ratur auf Primärquellen rekurriert. Dies ist ein vorzüglicher Text, der unterstreicht, dass die Kriegsanleihen keineswegs allein als finanztechnische Operation interpre- tiert werden sollten. Zu den gelungenen Beiträgen zählt auch jener von Christoph Jahr über Großbritannien, obwohl ein erheblicher Teil, neben Erörterungen der für das britische Durchhalten maßgeblichen Faktoren, der späteren Geschichtsschrei- bung und der Erinnerungskultur gewidmet ist – dies sind Aspekte, die mit dem Durchhalten während des Krieges wenig zu tun haben. Bruno Benvindo und Benoît Majerus bringen in der Folge einen konventionellen Beitrag über das deutschbe- setzte Belgien, der einige Aspekte der Motivation(en) für den gegen die Okkupan- ten gerichteten Widerstand anspricht.

Themenblock I, »Die Ausgangslange«, geht ausweislich des Untertitels nur auf Frankreich ein. Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich umreißen die von Frankreich ausgehende Diskussion über eine Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges, die in Abgrenzung von älteren militär-, diplomatie- und wirtschaftsgeschichtlichen Frage-

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stellungen Antworten auf die Frage liefern soll, ob das Durchhalten der extrem be- lasteten französischen Gesellschaft eher Zwang oder freiwilliger Zustimmung ge- schuldet war. Ähnliche Perspektiven verfolgt der zweite Beitrag von Nicolas Offenstadt, der keineswegs sine ira et studio den innerfranzösischen Disput zwi- schen verschiedenen »Schulen« rekapituliert.

Als Fazit bleibt der Eindruck, dass interessante Beiträge und gute Überblicks- darstellungen in das Prokrustesbett des Generalthemas »Durchhalten« gezwängt wurden, dem sie nur durch angehängte, bemühte Passagen zu entsprechen glau- ben. Insgesamt ist die Themenwahl sehr unausgewogen und eher Zufälligkeiten bzw. früheren Forschungsinteressen der Beiträger geschuldet. Eine Geschichte des Durchhaltens europäischer Gesellschaften im Ersten Weltkrieg unter verglei- chenden Gesichtspunkten bleibt somit noch zu schreiben.

Martin Moll

In Papiergewittern 1914–1918. Die Kriegssammlungen der Bibliotheken [Be- gleitband zur Ausstellung »Orages de Papier/In Papiergewittern«]. Red.:

Marie Thomas, Katalogtexte: Christian Baechler, Paris: Somogy 2008, 255 S., EUR 35,00 [ISBN 978-2-7572-0225-8]

90 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs sind sowohl der letzte französische als auch der letzte deutsche Kriegsteilnehmer verstorben. Dieser Krieg ist kein zeitge- schichtliches Ereignis mehr, sondern gehört vollständig der Historie an und ist somit Stoff für die Historiografie. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Gegenstand ist seit vielen Jahren und Jahrzehnten ein wichtiger Teil der Militär- geschichtsschreibung. Auch Ausstellungen hat es bereits zahlreiche gegeben; und angesichts der Jahrestage zwischen 2014 und 2018 dürften viele geplant sein. Eine ganz besondere Sammlung wurde 2008 an verschiedenen Orten in Frankreich und Deutschland gezeigt. Kooperationspartner für das Projekt waren die Bibliothèque nationale et universitaire de Strasbourg und die Bibliothek für Zeitgeschichte in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Beteiligt waren zudem die Biblio- thèque nationale de France und die Bibliothèque de documentation internationale contemporaine, beide in Paris. Die Ausstellung selbst war zunächst in der Straßbur- ger, danach in der Stuttgarter Bibliothek und zuletzt im Hôtel des Invalides in Paris zu sehen. Gezeigt wurde erstmals in der Menge und Breite diverses Schrifttum, das im Ersten Weltkrieg entstand, darunter Veröffentlichungsformen, die in ihrer Art neu waren. Paul von Hindenburg formulierte 1918: »Der Feind [...] überschüttet un- sere Front nicht nur mit einem Trommelfeuer der Artillerie, sondern auch mit einem Trommelfeuer von bedrucktem Papier.« (so zit. auf S. 12). Das Zitat, das als Motto dem ersten Kapitel voransteht, wird leider nicht genauer belegt.

Der Erste Weltkrieg kann ohne Zweifel als der erste große Krieg der Medien bezeichnet werden. Sowohl Kriegsbefürworter als auch -gegner arbeiteten mit Tex- ten, Bildern, Ton- und Filmaufnahmen. Bereits während des Krieges entstanden private wie auch institutionelle Kriegssammlungen. Oft gerieten diese Samm- lungen nach 1918 in Vergessenheit, wurden teilweise zerschlagen, vernichtet oder verkauft. Bibliotheken waren und sind Bewahrer im Sinne des schriftlichen Kul- turgutes. Der Bibliothekar ist dabei ein so gewissenhafter Sammler, dass er sogar Vollständigkeit erlangen möchte. So ist es als Glücksfall zu bezeichnen, dass sich sowohl anhand der Kollektionen in Straßburg als auch in Paris und Stuttgart ein

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Bild der Kriegszeit rekonstruieren lässt, das seinesgleichen sucht. Die Vielfalt der Dokumente ist groß. So konnte man in der Ausstellung und kann nun im Ausstel- lungskatalog folgende Publikationen und Exponate anschauen: Bücher, Zeitungen, Plakate, Maueranschläge, Flugblätter, Karikaturen, Briefe, Tagebücher, Bilder, Me- daillen, Vivatbänder, Postkarten, Fotografien, Zeugnisse von Musik und Filmen.

In einem ersten Teil des Katalogs stellen Mitarbeiter der jeweiligen Bibliotheken und Kriegssammlungen ihre spezifische Kollektion aus dem Ersten Weltkrieg un- ter der Überschrift »Sammeln in Zeiten des Krieges« vor. Sowohl die allgemeine Einleitung als auch die Hinführung zum ersten Teil des Bandes ist von Christophe Didier, Leiter der Abteilung Bestandsaufbau und Historische Sammlungen der Bibliothèque nationale et universitaire in Straßburg, verfasst und führt eindrucks- voll vor Augen, welchen Wert die Kriegssammlungen für den heutigen Betrachter besitzen. Die Zeitzeugen selbst können keine Auskunft mehr über das Erlebte ge- ben, aber die schriftlichen Dokumente und künstlerischen Verarbeitungen der Kriegserfahrungen sprechen auch heute noch eine deutliche Sprache. Natürlich wird der Ausstellungsbesucher oder Nutzer der Sammlungen zu erhöhter Auf- merksamkeit aufgerufen, denn zwischen Propaganda, Information und künstleri- scher Verarbeitung des Zeitgeschehens sind die Grenzen zuweilen fließend.

Bereits während des Krieges 1870/71 hatte der spätere Kaiser Wilhelm I. an die Königliche Bibliothek Berlin den Auftrag erteilt, Dokumente rund um den Krieg zu sammeln. So kamen bis Kriegsende bereits 2500 Schriftstücke zusammen, im Nachklang des Krieges bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts sogar 4000 Stücke.

Während des Ersten Weltkriegs erblühte förmlich der Reichtum an neuen Formen von Drucksachen und anderen Medien: Es gab nicht nur Feldzeitungen, sondern sogar Schützengrabenzeitungen, Lazarettzeitungen, darüber hinaus Kriegsausga- ben von Unternehmens-, Gemeinde- und Regionalzeitungen für die Soldaten an der Front. Kaiser Wilhelm II. sammelte selbst etwa 20 000 Fotografien, die den Krieg zum Thema hatten, in seinem Berliner Schloss. Neue Zeitschriften riefen die Sammler ins Leben, so 1918 »Der Kriegssammler« und bereits 1916 »Der Kriegs- erinnerungs-Sammler«. Auch in Straßburg begann man 1914 in der damals be- nannten Kaiserlichen Universitäts- und Landesbibliothek, eine Kriegssammlung aufzubauen. In Frankreich und in anderen an dem Krieg beteiligten Ländern wur- den zwar auch Sammlungen begonnen, aber mit der deutschen Aktivität, die man als flächendeckend und massenhaft bezeichnen muss, kann man diese Bemühun- gen nicht vergleichen. Für den Aufbau offizieller Sammlungen in staatlichen Biblio- theken wurden sogar zusätzliche Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt. Die mit der Aufgabe betrauten Bibliothekare fühlten sich jedoch schnell überfordert, da sie von der Masse und Vielfalt der Schriften überwältigt wurden. Diskussionen gab es auch darüber, wie systematisch und geordnet man erwerben und erschließen sollte. Eine nationale Initiative wurde eingerichtet, um Ordnung in die Sammlungs- bestrebungen zu bringen. Im Mai 1918 wurde der »Verband deutscher Kriegs- sammlungen« gegründet. Dem Führungsgremium gehörten Direktoren der sie- ben größten deutschen Bibliotheken an. Nach Kriegsende war man auf deutscher Seite nicht mehr daran interessiert, mit Dokumenten aus einem verlorenen Krieg zu reüssieren. Aufgrund der Wirren, verursacht durch den nächsten Weltkrieg, wurden nicht nur die hier im Interesse stehenden Kriegssammlungen zerschlagen, aber eben auch gerade diese. Dennoch schätzt man den Bestand der Materialien aus dem Ersten Weltkrieg in der Staatsbibliothek zu Berlin nach 1990 auf immer- hin 40 000 Objekte unter dem Stichwort »Krieg 1914«. Die Zusammenführung der

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zerstreuten Stücke war nach der deutschen Wiedervereinigung erfolgreicher, als man zu hoffen gewagt hatte.

Der Katalog mit zahlreichen farbigen Abbildungen und den ein- und hinfüh- renden Texten ist von außergewöhnlich hoher Qualität. Die Erklärungen zu den Exponaten sind sehr informativ und betten das einzelne Plakat, Foto oder Schrift- stück auf exzellente Weise in den Gesamtzusammenhang ein. Somit ist der Preis von 35 Euro mehr als gerechtfertigt. Wer sich mit der Rolle der Medien im Ersten Weltkrieg und Thematiken rund um die Alltagskultur im Krieg beschäftigt, greift normalerweise nicht zu einem Ausstellungskatalog. Im Falle von »Papiergewitter«

sollten sowohl der Wissenschaftler als auch der interessiere Laie allerdings eine Ausnahme machen, zumal sie nicht nur mit guten Text- und Bildbeiträgen, son- dern auch mit weiterführenden Literaturhinweisen im Anhang versorgt werden.

Gabriele Bosch

Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs. Hrsg. von Jochen Oltmer, Paderborn [u.a.]: Schöningh 2006, 308 S. (= Krieg in der Geschichte, 24), EUR 29,90 [ISBN 3-506-72927-6]

Einen Sammelband zu besprechen, fällt meist schwer, musste doch häufig der Herausgeber manch schwächeren Beitrag in Kauf nehmen – nicht so hier. Den einen oder anderen Autor hervorzuheben, wäre ungerecht; alle Beiträge weisen ein hohes Niveau auf. Wesentlicher Grund für diese positive Enttäuschung mag der Um- stand sein, dass die insgesamt 13 Beiträge von 11 Fachleuten stammen, von denen die meisten ihre Dissertation über die Kriegsgefangenschaft im Ersten Weltkrieg verfasst haben. In der Regel stellen die Aufsätze Zusammenfassungen oder ein- zelne Aspekte der Dissertationen dar, sind also quellengesättigt und wissenschaft- lich fundiert geschrieben. Mit Odon Abbal, Bernard Delpal und Giovanna Procacci ist es Jochen Oltmer dabei auch gelungen, ausländische Spezialisten einzubinden, de- ren Forschungen dem deutschen Publikum bisher noch weitgehend unbekannt waren. Mit anderen Worten – die vorgelegten Ergebnisse sind nicht wirklich neu, aber sie werden in dem Sammelband in einer Gesamtschau einem größeren Publi- kum präsentiert.

Die Aussagen des Bandes zusammenzufassen, ist angesichts der Vielzahl von Autoren und thematisierten Aspekten nicht möglich. Zwei Einführungen, fünf Länderstudien, ein Kapitel mit drei Beiträgen zur differenzierten Behandlung von Kriegsgefangenengruppen einerseits und den egalitären Bemühungen des Roten Kreuzes andererseits, sowie ein Kapitel zur Repatriierung mit weiteren drei Bei- trägen bieten ein breites Spektrum. Die Länderstudien beziehen sich auf die Ge- wahrsamsländer Österreich-Ungarn, Deutschland, Russland und Frankreich – und damit auf die quantitativ gewichtigsten Staaten. Das ist sachlich sicherlich begrün- det, werden doch so quantitativ sicherlich mehr als 95 Prozent der Kriegsgefange- nenschicksale abgedeckt.

Einige wenige Ergebnisse sollen dazu dienen, dem Leser einen Eindruck von der Bandbreite des Buches zu vermitteln: Die aktiven Kämpfe während des Ersten Weltkrieges erstreckten sich über rund vier Jahre, für die letzten Gefangenen en- dete der Krieg jedoch erst 1922 – nach acht Jahren. Betroffen waren ca. 8 Millionen Männer; die Frage, inwieweit Frauen – etwa als medizinisches Personal – darun- ter waren, ist bisher nicht thematisiert worden.

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Die größte Einzelgruppe bildeten die ca. 3,4 Millionen russischen Soldaten im Gewahrsam der Mittelmächte. Bis zu einem Drittel der Soldaten eines Staates ge- rieten irgendwann in Kriegsgefangenschaft. Der quantitativ gewichtigste Gewahr- samsstaat wiederum war Deutschland mit ca. 2,5 Millionen Kriegsgefangenen aus elf Staaten, darunter auch Portugiesen, Japaner und Montenegriner. Einige Staa- ten, vor allem Deutschland nahmen »ihre« Kriegsgefangenen überwiegend wäh- rend der Angriffsoperationen in der Anfangsphase des Krieges gefangen, bei an- deren – vor allem bei den Entente-Staaten Frankreich und Großbritannien – war dies erst in der Endphase des Krieges infolge des deutschen Zusammenbruchs der Fall. In den Staaten, die relativ früh im Verlauf des Krieges größere Gefangenen- zahlen für sich verbuchen konnten, wurden die Gefangenen in der Wirtschaft ein- gesetzt. Sie erwiesen sich im Laufe der Zeit als so wertvoll, dass die Gewahrsams- staaten ihre Repatriierung so lange wie möglich hinauszuzögern suchten.

Unabhängig von solchen generellen, quasi sachlogischen Entwicklungen wa- ren jedoch auch markante Unterschiede zwischen den Gefangenennationen wie auch den Gewahrsamsstaaten festzustellen. So verzichtete Großbritannien gänz- lich darauf, Kriegsgefangene der Mittelmächte im Mutterland als Arbeitskräfte ein- zusetzen. Im deutschen Gewahrsam starben trotz deutlich kürzerer Gefangen- schaftszeit doppelt so viele Italiener wie Gefangene aus anderen Entente-Staaten, weil die italienische Regierung sich im Gegensatz zur französischen oder britischen weigerte, die hungernden Kriegsgefangenen in Deutschland mit Lebensmitteln zu unterstützen. Aus ihrer Sicht handelte es sich bei den italienischen Kriegsgefange- nen in Deutschland um »Fahnenflüchtige jenseits der Alpen«, die keines Mitleides wert waren.

Während des Ersten Weltkriegs besaß das Thema »Kriegsgefangene« einen ho- hen Stellenwert in den Medien, ging es doch darum, anhand der guten Behand- lung der Kriegsgefangenen die eigene Humanität zu belegen oder die offensicht- liche Misshandlung von unschuldigen Kriegsgefangenen durch die feindliche Gewahrsamsmacht anzuklagen. Nach Kriegsende verschwand das Thema in den meisten Ländern von der Tagesordnung, der Kampf der Heimkehrer um die finan- zielle oder gesellschaftliche Anerkennung der Gefangenschaftszeit blieb häufig er- folglos. Gleiches gilt für die Geschichtswissenschaft – deren Beschäftigung mit dem Thema begann im Grunde erst Ende der 1970er Jahre.

Unter vielen Aspekten gilt es einen von Uta Hinz thematisierten besonders her- vorzuheben. In den letzten Jahren ist die Frage nach der Totalisierung der Krieg- führung, dem Weg zum »Totalen Krieg«, heftig diskutiert worden. Bei der Suche nach Tendenzen in diese Richtung wird aber übersehen, dass es auch Entwick- lungen gab, die nicht in dieses Muster passen, sondern auf eine gegenläufige Ten- denz zur Humanisierung des Krieges hindeuten. Hierzu gehören die Bemühungen, die Kriegführung durch die Einführung kriegsvölkerrechtlicher Regeln einzudäm- men – sei es im Rahmen des »ius ad bellum« oder auch »nur« des »ius in bello«.

Und hier zeitigte der Erste Weltkrieg durchaus Erfolge, gelang es doch mit der In- ternierung von Armeeangehörigen in der Schweiz und anderen Staaten oder den Austauschabkommen Lösungen zu finden, die über die Haager Landkriegsord- nung deutlich hinausgingen.

Leider fehlt dem Band ein Resümee, eine Forschungsbilanz, die die leider noch zahlreichen »weißen Flecken« der Forschungslandschaft aufzeigt. Über manche Gewahrsamsstaaten wissen wir nämlich bis heute kaum etwas. Hierzu zählen nicht nur das Osmanische Reich, sondern auch Italien und die USA. Oder anders for-

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muliert: Der vorliegende Sammelband wie die Forschung generell konzentrieren sich auf die Soldaten, blenden dabei aber trotz offensichtlicher Interdependenzen das Schicksal der »Feindstaatenausländer« aus, die im Ersten Weltkrieg großen- teils ebenso interniert wurden wie die Kriegsgefangenen. Auch wissen wir wenig über das Schicksal der Heimkehrer nach Kriegsende, obwohl es sich um Millionen Menschen handelte.

Zu bedauern ist auch das Fehlen eines Registers und einer Bibliografie. Auf der Basis der Kompetenz so vieler Fachleute hätte es doch leicht möglich sein können, dem Leser einen Überblick über die Literatur für die weitere Beschäftigung mit dem Thema zu bieten. Insgesamt jedoch hat Jochen Oltmer einen hervorragenden Band vorgelegt, dem weite Verbreitung zu wünschen ist. Wer sich mit der Kriegs- gefangenschaft im Zweiten Weltkrieg zu beschäftigen beabsichtigt, sollte diesen Band gelesen haben.

Rüdiger Overmans

Rainer Pöppinghege, Im Lager unbesiegt. Deutsche, englische und franzö- sische Kriegsgefangenen-Zeitungen im Ersten Weltkrieg, Essen: Klartext 2006, 349 S., EUR 32,00 [ISBN 3-89861-467-0]

Der Titel ist peppig, keine Frage, nur führt er leider in die Irre. Tatsächlich geht es in dem hier zu besprechenden Band nicht vorrangig um Kriegsgefangenenzei- tungen, sondern um die Mentalität der Kriegsgefangenen selbst. Von den ca.

300 Seiten behandeln lediglich etwa 110 das Thema »Lagerzeitungen«.

Doch welches Ziel hat sich Rainer Pöppinghege gesetzt! Der Umfang seines Forschungsprogramms ist groß, hier seien nur einige Fragen aufgeführt: Welche Kriegsgefangenenzeitungen gab es, welche Intentionen besaßen die Autoren? Wel- che Funktionen besaßen die Zeitungen? Welche Ursachen lagen der Selbstwahr- nehmung der Kriegsgefangenen zugrunde, wie änderte sich diese und wie wurde sie ggf. über das Medium der Lagerzeitung in die Heimat kommuniziert – und dies alles im internationalen Vergleich? Verständlicherweise kann der Autor die- sen so hoch gesteckten Anspruch nicht einlösen; deswegen den Band aber beiseite zu legen, wäre ein Fehler. Tatsächlich handelt es sich um eine grundsolide verglei- chende Untersuchung über das Selbstverständnis der Kriegsgefangenen in Deutsch- land, Frankreich und Großbritannien.

In einem ersten einleitenden Kapitel lädt der Autor die theoretischen Überle- gungen ab, die der Leser einer Habilitationsschrift wohl unvermeidlich über sich ergehen lassen muss. Rainer Pöppinghege bemüht Luhmann und Habermas so- wie die in den 1970er Jahren populäre, aber längst obsolete Maslow-Pyramide. Für die folgenden Ausführungen sind diese Überlegungen jedoch relativ belanglos.

Im zweiten Kapitel zeigt der Autor den völkerrechtlichen Kontext und die un- terschiedlichen organisatorischen Grundlagen der Kriegsgefangenenverwaltungen in den drei untersuchten Staaten auf. Auf deutscher Seite bestand ein wichtiges Motiv, das Kriegsvölkerrecht einzuhalten oder es zumindest nicht öfter und gra- vierender zu brechen als die Gegner, darin, einerseits die Auslandspropaganda über die barbarischen Deutschen zu widerlegen und andererseits Nachteile für die deutschen Kriegsgefangenen im feindlichen Gewahrsam zu vermeiden.

Im dritten, inhaltlich zentralen Abschnitt geht es um die psychische Disposi- tion der Kriegsgefangenen. Dabei weist der Autor zu Recht darauf hin, dass die

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westlichen Entente-Staaten insgesamt sehr viel weniger Soldaten der Mittelmächte in Gewahrsam hatten, als dies beim Gegner der Fall war. Verstärkt wurde diese Diskrepanz noch dadurch, dass die Mittelmächte die meisten feindlichen Solda- ten in der ersten Kriegsphase gefangennahmen, die Ententemächte jedoch erst ge- gen Kriegsende. Insoweit unterschied sich die Situation bei den hier verglichenen Gewahrsamsstaaten hinsichtlich des quantitativen wie auch zeitlichen Umfangs deutlich. Sehr gelungen stellt der Autor dar, wie das Fehlen jeder Privatheit, die Ereignislosigkeit der Lagersituation, der spärliche Informationsfluss von außen, die Ungewissheit über die Zukunft und die Selbstzweifel über den Umstand, kriegs- gefangen zu sein, die psychische Situation der Kriegsgefangenen bestimmten.

Das vierte Kapitel behandelt das eigentliche Thema der Arbeit, die Kriegsge- fangenenzeitungen. Zunächst wurden die technischen und organisatorischen Vo- raussetzungen beschrieben, erst zum Schluss geht Pöppinghege auf die Funktion der Zeitungen ein. Generell interessant ist der Hinweis, dass die Kriegsgefange- nenzeitungen im Ersten Weltkrieg ein Novum darstellten – vorher hatte es Derar- tiges nicht gegeben. Insgesamt gab es ca. 160 solche Zeitungen, zwei Drittel davon wurden in Deutschland publiziert, mit Auflagen bis zu 8000 Stück. Manche wur- den auch nur handschriftlich vervielfältigt, einige erschienen kontinuierlich über Jahre hinweg, viele erreichten nur wenige Ausgaben – dies auch, weil mitunter La- gerzeitungen als Repressalie gegen vermeintliche oder tatsächliche Völkerrechts- verstöße des Feindes verboten wurden.

Rund zwei Drittel der Zeitungen wurden in die Auswertung einbezogen, da- runter leider keine der wenigen russischsprachigen Ausgaben. Dabei ergaben sich markante nationalspezifische Unterschiede; so zeigen englische Texte mehr Selbst- ironie und Überlebenswillen, während in deutschen und französischen Texten de- pressive Elemente gleichermaßen vorhanden sind. Andere interessante Ergebnisse können hier nur aufgelistet werden. So lag der Grund für das Engagement in ei- ner Zeitungsredaktion wohl weniger in der beruflichen Affinität – nur ca. 10 Pro- zent der Redakteure waren im Zivilberuf Journalisten. Vielen ging es vorrangig darum, eine sinnvolle Beschäftigung zu finden. Anders als im Zivilleben bestand der Zweck der Zeitungen nicht darin, über Neuigkeiten zu informieren – in der Enge des Lagerlebens waren alle Nachrichten längst bekannt, bevor sie gedruckt veröffentlicht werden konnten. Selbst die militärischen Operationen spielten eine immer geringere Rolle, je länger der Krieg dauerte. Im Vordergrund standen da- gegen Lagerinterna, die ohnehin bekannt waren.

Der Sinn der Zeitungen lag zum einen vielmehr darin, der Chronistenpflicht zu genügen. Das galt nicht nur im Hinblick auf das zukünftige Schicksal der Ge- fangenen, sondern auch im Verhältnis zur Heimat, wurden doch viele Zeitungen von den Gefangenen an die Familien nach Hause geschickt. Zum anderen lag der Zweck auch in der Sinnstiftung, dem Versuch der Legitimation des Kriegsgefan- genenstatus, der sowohl in den Augen der Gefangenen als auch der Heimat der Rechtfertigung bedurfte.

Das fünfte Kapitel ist der Heimkehr gewidmet – ein Thema das nun wirklich nicht mehr unter den Titel der vorliegenden Arbeit zu subsumieren, aber trotzdem gewinnbringend zu lesen ist.

Kritisch anzumerken bleibt, dass trotz des vergleichenden Ansatzes die Aus- wirkungen unterschiedlicher Kontexte nicht ausreichend deutlich werden. So dürfte es erhebliche Unterschiede zwischen Zeitungen aus Offizier- und Unterof- fizier-/Mannschaftslagern gegeben haben. Langeweile war nämlich in erster Linie

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ein Offizier-Problem, Unteroffiziere und Mannschaften mussten arbeiten. Auch mag eine Zeitung für Offiziere keinen Neuigkeitswert besessen haben, für Mann- schaftssoldaten auf einem Außenkommando dürfte dies vermutlich nicht immer zugetroffen haben. Dasselbe gilt für die Haltung der Gewahrsamsmacht. Die Fran- zosen scheinen, was die Zulassung der Kriegsgefangenenzeitungen betrifft, sehr viel restriktiver eingestellt gewesen zu sein als die Briten, was die sehr unterschied- lichen Auflagenhöhen der Zeitungen erklären mag.

Die Streichung so mancher sprachlicher Wiederholung hätte der Prägnanz der Darstellung gedient. Unverständlich hingegen ist der einer Habilitation nicht wür- dige Umgang mit Literaturnachweisen. Einerseits legt der Autor ein Literaturver- zeichnis vor, andererseits weist er dennoch weitere Veröffentlichungen nur in den Fußnoten nach, selbst wenn er diese Arbeiten mehrfach zitiert. Positiv hingegen anzuführen sind die Existenz eines Registers und das dennoch umfangreiche Lite- raturverzeichnis.

Insgesamt hat Rainer Pöppinghege weit mehr als nur einen Vergleich deutscher, britischer und französischer Kriegsgefangenenzeitungen vorgelegt. Es ist ihm ein interessanter Vergleich der verschiedenen Kriegsgefangenengruppen gelungen.

Dem Band ist eine weite Verbreitung zu wünschen.

Rüdiger Overmans

War Planning 1914. Ed. by Richard F. Hamilton and Holger H. Herwig, Cam- bridge: Cambridge University Press 2010, IX, 269 S., ₤ 50.00 [ISBN 978-0- 521-11096-9]

Die ersten beiden Monate des Ersten Weltkrieges waren für die Generalstäbe der beteiligten Großmächte desillusionierend. Bis Ende September 1914 waren ihre Operationspläne durch die Bank unter enormen Verlusten gescheitert. Die propa- gierten taktischen Doktrinen erwiesen sich angesichts der gewachsenen Feuerkraft von Infanterie und Artillerie als nicht mehr angemessen. Die ökonomischen Kal- kulationen blieben hoffnungslos hinter dem tatsächlichen Bedarf – zunächst ins- besondere an Munition – zurück. Statt des erhofften kurzen Krieges mussten sich die europäischen Armeen nun auf einen Krieg von unbestimmter Dauer einrich- ten, der so ganz anders war, als man ihn sich landläufig vorgestellt hatte. Statt dyna- mischer und manöverreicher Angriffsoperationen mit schneller Entscheidung wurde das Kriegsgeschehen ab Herbst 1914 vor allem durch langwierige Stellungs- kämpfe geprägt. In Flandern, bei Verdun und am Isonzo wogten die Material- schlachten monatelang unentschieden hin und her. Die Entscheidung fiel erst, als Deutschland und Österreich-Ungarn sozioökonomisch nicht mehr in der Lage wa- ren, ihre Kriegsanstrengungen weiter fortzusetzen.

Diese Diskrepanz zwischen geplantem und wirklichem Krieg war seit 1918 im- mer wieder Anlass für zum Teil heftige Debatten in Historiografie und Publizis- tik. Im Vordergrund stand dabei traditionell die Diskussion um den sogenannten Schlieffenplan, seine Modifikationen durch Helmuth von Moltke d.J. und sein Scheitern an der Marne 1914. Weit weniger Aufmerksamkeit ist demgegenüber den Planungsprozessen in den Generalstäben der anderen europäischen Großmächte zuteil geworden. Bahnbrechend war hier die 1979 erschienene Arbeit von Paul M.

Kennedy »The War Plans of the Great powers, 1880–1914«, in der die Kriegspla- nungen erstmals einem systematischen Vergleich unterzogen worden sind.

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Richard F. Hamilton und Holger H. Herwig knüpfen mit ihrem Band bewusst daran an und haben nun – drei Jahrzehnte nach Kennedy und unterstützt von aus- gewiesenen Kennern der Materie – eine Neubewertung der europäischen Kriegs- planungen vor 1914 vorgelegt.

Das Ziel besteht laut Hamilton darin, Planung als Prozess und »the attendant pathologies« (S. 7) für die sechs europäischen Großmächte vor 1914 transparent zu machen. Kriegsplanung als Erstellung von Kontingenzplänen für einen zeitlich noch unbestimmten Ernstfall ist dabei ein relativ junges Phänomen, das erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Platz greift. Im Zentrum der Analyse stehen die »decision maker groups« – Generalstabsoffiziere und Politiker – deren Pla- nungshandeln untersucht wird. Erkenntnisleitend sind dabei einmal die Eliten- theorie angelehnt an C. Wright Mills sowie verschiedene sozialpsychologische As- pekte wie »groupthink«, Ressortrivalitäten, »secrecy« und die jeweiligen Bedrohungsperzeptionen der Akteure. Der alten Behauptung von der Eigendyna- mik der Mobilmachungspläne stellt Hamilton unter dieser Maßgabe am Ende sei- ner Einleitung die These entgegen: »No plan ›dictated‹ reactions; no mobilization schedule ›called for‹ some action. Plans and schedules are inert objects, things that by themselves ›do‹ nothing. Planning and implementation efforts, like the choices of war, were also the work of coteries, of diverse decision-making groups«

(S. 23).

Dies wird bereits im Beitrag von Günther Kronenbitter über Österreich-Ungarn deutlich. Die Doppelmonarchie befand sich wohl in der kompliziertesten strategi- schen Situation aller europäischen Großmächte. Im Inneren durch widerstreitende Nationalismen geschwächt, geriet sie zunehmend in Spannung zu den Nachbarn Serbien, Russland, Italien und Rumänien. Entscheidendes Planungscharakteristi- kum war jedoch nicht das Szenario eines Mehrfrontenkrieges per se, sondern das Bestreben, die Kriegsvorbereitungen so flexibel zu halten, dass die begrenzten mili- tärischen Kapazitäten der Donaumonarchie jeweils geballt gegen einen Gegner eingesetzt und dann rasch gegen einen anderen umgruppiert werden konnten (S. 33). 1914 zeigte sich dann allerdings, dass die Flexibilität der militärischen Füh- rung mit der Flexibilisierung der Aufmarschplanung nicht Schritt gehalten hatte.

Im Interesse eines geordneten Aufmarsches verzögerte Generalstabschef Conrad von Hötzendorf zunächst die Offensive gegen Serbien, um dann von dort Kräfte nach Galizien zu werfen, wo inzwischen die russische Südwestfront auf den Plan getreten war. In der Folge scheiterte nicht nur die Offensive gegen Serbien, auch der Aufmarsch in Galizien geriet chaotisch und mündete nach kleineren Anfangs- erfolgen in die desaströse Niederlage von Lemberg, von der sich die k.u.k. Armee nie mehr erholen sollte.

Annika Mombauer zeichnet in ihrem Artikel zunächst noch einmal die im Wesent- lichen bekannte Entstehungsgeschichte der deutschen Aufmarschplanung vor 1914 nach. Dabei unterscheidet sie deutlich zwischen dem Schlieffenplan und seiner Fortentwicklung zum »Moltkeplan«. Dessen Umsetzungsprobleme und sein schlussendliches Scheitern im September 1914 bilden dann den Gegenstand der zweiten Hälfte ihres Aufsatzes.

Hierzulande weniger Bekanntes vermittelt der Beitrag von Bruce W. Menning über Entstehung und Umsetzung des russischen Aufmarschplanes No. 19 A. Kenn- zeichnend für die strategische Lage Russlands war das für großangelegte Offensiv- operationen bei Kriegsbeginn ungünstige Verhältnis von dürftiger Verkehrsinfrastruk- tur, weiten Räumen und großen Truppenmassen. Zwischen 1880 und 1908 wurde

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daher im Miliutin-Obruchev-System auf die flexible Kombination von Defensive und anschließender Gegenoffensive orientiert. Das änderte sich nach dem Rus- sisch-Japanischen Krieg, als Deutschland immer mehr zum Hauptgegner Russ- lands avancierte und der Bündnispartner Frankreich für den Kriegsfall auf eine ra- sche russische Offensive drängte. Eine eindeutige Prioritätensetzung blieb jedoch aus. Machtkämpfe im Apparat führten dazu, dass der Zar den Staatlichen Verteidi- gungsrat überging und dem Heer zum Beispiel zugunsten der Marinerüstung Mit- tel entzog. Menning schreibt in diesem Zusammenhang von einer eigentümlichen Mischung aus Angst, Opportunismus und Altruismus (S. 124), die ihren Ausdruck im Sukhomlinov-System fand, das gleichzeitige Offensiven auf divergierenden Operationsachsen gegen Galizien und bereits ab dem 15. Mobilmachungstag ge- gen Ostpreußen vorsah. Der Kompromiss war hier die denkbar schlechteste Ent- scheidung. Die Kräfte wurden verzettelt. Kurzfristige Schwerpunktverlagerungen waren aufgrund fehlender Nord-Süd-Eisenbahnverbindungen praktisch unmög- lich. Dazu kamen 1914 verschiedene Improvisationen und kurzfristige Planände- rungen, die ein koordiniertes Zusammenwirken erschwerten. Die Folge waren zwei schwere Niederlagen in Ostpreußen und trotz des Erfolges von Lemberg ein Scheitern des operativen Kalküls gegen das k.u.k. Heer in Galizien.

In Frankreich wurde, wie Robert A. Doughty verdeutlicht, das 1914 bei allen Großmächten vorherrschende Offensivdenken mit der Doktrin der »offensive à outrance« auf die Spitze getrieben. Dem entsprachen auch die taktischen Vor- schriften, die wenig Wert auf Artillerieunterstützung legten, dafür aber umso mehr das Bajonett als die überlegene Waffe feierten. (S. 160). Der maßgeblich von Gene- ralstabschef Joffre entwickelte Plan XVII sah anders als seine Vorgänger eine früh- zeitige Offensive nach Elsass-Lothringen vor, um dort den Gegner zu binden, wäh- rend der Hauptstoß gegen das deutsche Zentrum in Ostbelgien gerichtet werden sollte. 1914 waren die Mitte August begonnenen französischen Offensiven und da- mit auch Plan XVII aber bereits am 23. August unter schwersten Verlusten geschei- tert und die Armee in vollem Rückzug begriffen. Erst mit dem Wunder an der Marne wendete sich das Blatt wieder. Da hatte die französische Armee aber schon 20 Prozent ihrer gesamten Verluste während des Ersten Weltkrieges erlitten (S. 172) und ihr Kriegsbild sich als kolossal unrealistisch erwiesen.

Anders als bei den Kontinentalmächten verfügten die britischen Streitkräfte nicht über detaillierte Kontingenzpläne. Keith Neilson beleuchtet in seinem Aufsatz die Auseinandersetzungen um die jeweilige Rolle von Heer und Marine im Com- mittee of Imperial Defence. Erst 1911 fiel hier die Grundsatzentscheidung, Frank- reich im Kriegsfall mit einer Expeditionsarmee zu unterstützen. Allerdings war noch Anfang August 1914 unklar, wo und in welcher Stärke die britischen Land- streitkräfte in Aktion treten würden. Das wurde dann erst binnen weniger Tage entschieden. Hier handelte es sich, wie Neilson hervorhebt, nicht um einen »war by timetable«, sondern um einen »war by Cabinet agenda« (S. 197).

In der letzten Fallstudie widmet sich John Gooch Italien. In deren Zentrum steht das Lavieren der politischen und militärischen Führung zwischen den im Drei- bund eingegangenen Verpflichtungen und den italienischen Interessen im Mittel- meerraum. Während die italienische Regierung formal am Dreibund festhaltend ab 1902 den Ausgleich mit Frankreich suchte, plante der Generalstab seit den 1880er Jahren den Einsatz der 3. italienischen Armee am Oberrhein an der Seite der deutschen Verbündeten. Noch Ende Juli 1914 versicherte der neue Generalstabs- chef Cadorna seinen deutschen Kollegen Moltke der italienischen Unterstützung.

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Erst mit der Neutralitätserklärung Italiens am 3. August waren diese Überlegungen tatsächlich hinfällig und es begannen die Vorbereitungen für den Kriegseintritt aufseiten der Entente.

Die Fallstudien des Bandes ermöglichen einen guten Vergleich der Planungs- prozesse der sechs europäischen Großmächte vor 1914. Besonders beachtenswert sind wohl die folgenden von Holger Herwig in seinem Resümee herausgearbeiteten Aspekte. Generell dominierte 1914 der Kult der Offensive. Alternative Defensiv- planungen gab es nicht. Keine Großmacht ging mit einem umfassenden und ressort- übergreifenden »Kriegsplan« in den Ersten Weltkrieg. Eine teilstreitkraftübergrei- fende Abstimmung der Operationen kam lediglich bei der Landung der britischen Expeditionsarmee zustande. In keinem Fall gab es eine Koordination von Operations- planung und politischen Zwecken. Wo es wie in Frankreich, Großbritannien und Russland nationale Koordinierungsgremien gab, arbeiteten diese kaum effektiv.

Ressortdenken und Geheimhaltung führten dazu, dass die Kabinette nur in An- sätzen über die operativen Absichten der Generalstäbe informiert waren, während jene zum Teil über vertragliche Verpflichtungen und politische Absichten ihrer Re- gierungen nur unzureichend orientiert waren. Diese Gemeinsamkeiten zusammen mit den jeweiligen nationalen Spezifika in einer kompakten und gut lesbaren Dar- stellung zu verdeutlichen, ist das wesentliche Verdienst dieses Buches.

Christian Th. Müller

Trevor Pidgeon, Tanks on the Somme. From Morval to Beaumont Hamel.

Foreword by David Fletcher, Barnsley: Pen & Sword 2010, XIV, 152 S., ₤ 19.99 [ISBN 978-1-84884-253-3]

Der erste Einsatz von Kampfpanzern am 15. September 1916 im Rahmen der briti- schen Großoffensive an der Somme ist vielfach als ein den Krieg grundlegend ver- änderndes Ereignis beschrieben worden. Der taktische Erfolg dieses Tankangriffs war allerdings bescheiden: Von den 49 Fahrzeugen waren nur 27 überhaupt ins Gefecht gekommen. Der Rest war vorher mit technischen Defekten und wegen Benzinmangels liegen-, war im Morast steckengeblieben oder hatte sich verfahren.

Wo die Tanks einzeln oder in kleinen Gruppen ins Gefecht eingriffen, konnten sie die Infanterie wirksam unterstützen. Der tatsächliche Erfolg lag aber auf einer an- deren Ebene: Der britischen Armee war es gelungen, in die an sich höchst symme- trisch angelegten Gefechtsverhältnisse der Westfront völlig überraschend eine gänzlich neue Waffe einzuführen. Diesen Rüstungsvorsprung konnte die deutsche Seite nie mehr einholen. Bis zum Ende des Krieges gestaltete sich die taktische Situation annähernd asymmetrisch.

Trevor Pidgeon hat 1995 in seiner Studie »The Tanks at Flers« diesen ersten An- griff minutiös aufgearbeitet. Als historischer Amateur im besten britischen Sinne hatte der Autor nicht nur Nachlässe und Truppenakten durchforstet (darunter so- gar deutsche), sondern er hat auch Bildquellen intensiv ausgewertet und das his- torische Schlachtfeld abgelaufen und überflogen. Über diese Herangehensweise konnte er zahlreiche taktische Unklarheiten beseitigen, mit einigen Mythen der Er- innerungsliteratur aufräumen und so ein faszinierendes Bild dieses Ereignisses aus der Sehschlitzperspektive liefern.

Der hier zu besprechende Band schließt an die Ereignisse an. Er stellt die wei- teren Gefechte der britischen Tanks bis zum Ende der Somme-Schlacht in einer

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konzisen Überblicksdarstellung dar. Der Autor ist 2008, wohl nach Abschluss des Textmanuskripts, aber vor der Fertigstellung der für ein derartiges Werk beson- ders wichtigen Kartenvorlagen, verstorben.

Die Schilderung setzt unmittelbar nach dem ersten Angriff am 15. September ein und gliedert sich in die Operationen der beiden beteiligten britischen Armeen (4. und Reserve- bzw. 5. Armee). Deutlich wird, dass der heute viel gescholtene Oberbefehlshaber des Expeditionskorps, General Sir Douglas Haig, den Einsatz der neuen Waffe durchaus förderte. Wie genau die Tanks allerdings am besten zu verwenden seien, musste aufgrund fehlender Einsatzerfahrungen zunächst unklar bleiben. Die ganze geschilderte Phase von September bis November 1916 ist also als ein ziemlich kruder Learning-by-doing-Prozess zu verstehen – mit entspre- chenden Folgen für Mensch und Material. Auch seitens der Infanterie waren die Erwartungen an die Panzer, die ihnen den Weg durch das gegnerische Stellungs- system bahnen sollten, sehr unterschiedlich. Während die Gardedivision beim An- griff auf Lesboeufs am 25. September auf den Einsatz der ihr zugeteilten Tanks aus eigenen Stücken verzichtete, wurde nur einen Tag später im Bereich der 56. Divi- sion ein Angriff abgesagt, weil die zugeteilten zwei Tanks nicht erschienen wa- ren.Die Gefechte der folgenden Monate kennzeichnete zunächst einmal die geringe Zahl der verwendeten Wagen, in der Regel griffen kaum eine Handvoll Panzer in das Gefecht ein. Ihre Geschwindigkeit war extrem niedrig, der Verschleiß von Ge- triebe und Ketten hoch. Die für eine derartige Neuentwicklung üblichen tech- nischen Kinderkrankheiten schränkten die Kriegsbrauchbarkeit weiter ein. Die Kommunikation zwischen Tanks und Infanterie war kaum gegeben. Je länger die Somme-Schlacht dauerte, desto unwegsamer wurde das Kampfgelände. Der Herbst brachte kürzere Tage und immer mehr Regen. Auch hatten die Gegner den ersten Tankschrecken überwunden und lernten, dass die Tanks vor allem durch Artille- rie wirksam zu bekämpfen waren. Mit dem Ende der Schlacht an der Somme en- det auch die Schilderung von Pidgeon.

Was die Quellen angeht, so schreibt Pidgeon weitgehend an der britischen amt- lichen Geschichte entlang, ergänzt bzw. korrigiert diese für einzelne Ereignisse. Ei- nen wissenschaftlichen Apparat sucht der Leser vergebens. Überhaupt verzichtet das Buch auf eine weitere historische Einordnung der Waffe. Der Forschungs- und Entwicklungsprozess, die Rüstungsgeschichte und die operativen Überlegungen und Erwartungen an die Waffe fehlen. Sogar die grundlegenden technischen Para- meter des Typs Mark I erschließen sich nur indirekt. Welche Lehren aus den be- schriebenen Einsätzen vom Herbst 1916 gezogen wurden, erfährt man auch nicht.

Der Band richtet sich also vor allem an den Experten, der allerdings von Pidgeons profunden Kenntnissen der taktischen Ebene profitieren kann. Interessant und zur Nachahmung empfehlenswert sind vor allem die jedem Kapitel angefügten »Field Guides«, knappe Wegbeschreibungen durch die heutige Kriegslandschaft. Die Re- produktion der Karten ist leider qualitativ unbefriedigend. Hier macht sich der fragmentarische Charakter des Buches besonders bemerkbar.

Markus Pöhlmann

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Karl Freiherr von Bothmer, Moskauer Tagebuch 1918. Hrsg. von Gernot Böhme, bearb. von Winfried Baumgart, Paderborn [u.a.]: Schöningh 2010, XVI, 144 S., EUR 38,00 [ISBN 978-3-506-76519-2]

Die Russische Revolution von 1917 hat die Mitwelt ebenso erschreckt wie faszi- niert. Während ab 1924 ein »Revolutions-Tourismus« ausbrach, der viele Reisende unterschiedlicher politischer Couleur in die Sowjetunion führte und in zahlreichen Reportagen und Romanen seinen literarischen Ausdruck fand, blieben solche Zeug- nisse aus den Jahren zwischen Oktoberrevolution und Beginn der Neuen Ökono- mischen Politik im März 1921 rar gesät. Eine Reise in das von Bürgerkrieg und Kriegskommunismus zerrüttete Land galt als gefährlich und spektakulär. Neben den Journalisten Alfons Paquet (»Im kommunistischen Russland«, Jena 1919) und Karl Johann Voss (»Das bolschewistische Russland«, Leipzig 1919) schilderte der Major Karl Freiherr von Bothmer (1880–1947) seine Erlebnisse als Augenzeuge die- ser frühen Zeit in einem Buch. »Mit Graf Mirbach in Moskau« erschien allerdings erst 1922 und warnte vor dem Hintergrund der Rapallo-Politik des Deutschen Rei- ches vor einer Zusammenarbeit mit den Bolschewiki.

Die Publikationen von Paquet und Bothmer beruhten auf Tagebüchern. Paquets Aufzeichnungen wurden 1971 von Winfried Baumgart publiziert. Bothmers Noti- zen blieben lange in Familienbesitz und konnten nur in Einzelfällen, so von Baum- gart für seine 1966 erschienene Dissertation zur deutschen Ostpolitik 1918, einge- sehen werden. Jetzt ist dieses Tagebuch von Gernot Böhme veröffentlicht worden.

Böhme ist emeritierter Professor für Philosophie und ein Enkel Bothmers – was man allerdings in dieser Publikation nirgends erfährt. Winfried Baumgart, selbst inzwischen Emeritus, konnte für die wissenschaftliche Bearbeitung des Textes ge- wonnen werden.

Zunächst zum Inhalt: Major von Bothmer hielt sich von April bis August 1918 als Vertreter der Obersten Heeresleitung (OHL) in Moskau auf, wo er mit Fragen des Kriegsgefangenenaustausches und der Regelung des Eisenbahntransports be- schäftigt war. Um vier Themen kreist seine Niederschrift: die Verhandlungen über die Rückführung der Kriegsgefangenen; Form und Zukunft der bolschewistischen Herrschaft; die unterschiedlichen Auffassungen zwischen OHL und Auswärtigem Amt (AA) über den Umgang mit dem Regime Lenins; schließlich Beobachtungen zum Alltag in Moskau und zu den Russen. Ferner nimmt der Mord am deutschen Gesandten Wilhelm Graf von Mirbach-Harff im Juli 1918 durch Linke Sozialrevolu- tionäre, die den Vertrag von Brest-Litowsk ablehnten, gebührenden Platz ein.

Politisch wollte das AA die kommunistische Regierung vorerst an der Macht halten, um Russland zu schwächen. Die OHL dagegen akzeptierte die Bolschewiki nicht. Bothmers Blick ist unter Annahme ihres baldigen Sturzes ein rein machtpoli- tischer: Er sieht das Land als potenziellen Verbündeten des Kaiserreichs; die Ca- privi-Politik, die Russland in französische Arme trieb, betrachtet er als Unglück.

Die Berliner Position, namentlich also die des AA, dass die Bolschewiki »noch Jahre am Ruder sein würden«, ist für ihn unsinnig: »Ich fürchte, man macht den Fehler das zu glauben, was man wünscht, weil es in den Kram passt« (S. 105). Bothmers Schilderungen vom Leben in Moskau zeigen, dass das Schicksal der Revolution auch in der russischen Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt noch offen ist. Für den Offizier ist der Niedergang der Kommunisten dagegen nur eine Frage der Zeit:

»Die Herrlichkeit geht zu Ende, ich würde gern mal ein paar hundert der Juden-

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bengels [!] nebeneinander wie Kramtsvögel an der Kreml-Mauer hängen sehen.

Möglichst so, dass der Tod langsam eintritt, um die Wirkung zu erhöhen« (S. 72).

Empathie mit den Idealen der Revolution, wie sie sich im Laufe seiner Beobach- tungen bei Alfons Paquet einstellte, ist Bothmer völlig fremd. Gleichwohl erkennt er aufgrund seiner täglichen Arbeit den Spagat zwischen der Destruktionspolitik der OHL und der vertraglichen Bindung an die Sowjets durch Brest-Litowsk. In den Verhandlungen zum Austausch der Kriegsgefangenen stellt sich ihm das Pro- blem, die Freigabe der Deutschen so schnell als möglich zu erreichen, während die russischen Gefangenen als Arbeitskräfte benötigt wurden und ihr Rücktransport daher verzögert werden musste: »[J]edenfalls übertreiben wir etwas die Nichtach- tung russischer Wünsche, was schon deshalb falsch ist, weil ja die Sowjets unsere ganze Arbeit hier in aller Heimlichkeit lahm legen können zum Schaden unserer Gefangenen« (S. 40). Andererseits: »Wir sind eben Sieger und setzen daher unseren Willen durch« (S. 52). Bothmers Fixpunkte bleiben Kaiser und Reich. Dass nicht Sowjetrussland kollabieren wird, sondern die deutschen Monarchien kurz vor dem Zusammenbruch stehen, wird ihm nicht bewusst.

Nun einige Anmerkungen zur Edition: Einer soliden Kommentierung der Auf- zeichnungen durch Baumgart steht auf nicht einmal zehn Seiten eine schmale Ein- leitung von Böhme gegenüber. In knapper Form werden die historischen Hinter- gründe des Diktatfriedens von Brest-Litowsk und der deutschen Ostpolitik umrissen. Die im Mittelpunkt von Bothmers Auftrag stehende Fürsorge für deut- sche Kriegsgefangene und ihrer Rückführung wird nicht näher erläutert. Ein Ver- weis zum Beispiel auf die für das Verständnis dieses Problems wichtigen Memoi- ren von Gustav Hilger (»Wir und der Kreml«, 1964) sowie Moritz Schlesinger (»Erinnerungen eines Außenseiters im diplomatischen Dienst«, 1977) fehlt. Auch eine Diskussion des Tagebuches im größeren Kontext des deutschen Russland- bildes findet nicht statt.

Besonders unverständlich bleibt, warum die Einleitung nicht näher auf Both- mers Biografie eingeht und sich damit begnügt, auf zwei nur schwer zugängliche Texte Böhmes im privaten Nachrichtenblatt der Familie von Bothmer und einen Aufsatz von Manfred Messerschmidt hinzuweisen. Erst unter Berücksichtigung der lebensgeschichtlichen Skizze von Messerschmidt wird nämlich deutlich, dass Bothmer als typischer Vertreter der konservativen Eliten des Kaiserreichs zwar einen engen Nexus zwischen dem jüdischen Hintergrund bolschewistischer Funktionäre und ihrer politischen Position herstellte, aber kein Anhänger der nationalsozialis- tischen Rassenideologie wurde. Schon 1945 erkannte der klarsichtig, dass »wir, das heißt die Partei und ihre Helfer, tief unter den verfolgten und ermordeten Juden stan- den« (so zitiert bei Messerschmidt). Während des Zweiten Weltkrieges teilweise an der Spitze einer Feldkommandantur in Jugoslawien eingesetzt, widersprach Bothmer Weisungen seiner Vorgesetzten, die bei der Partisanenbekämpfung das Völkerrecht verletzten, und wurde deshalb 1943 aus der Wehrmacht entlassen. Für Messerschmidt gehört der Offizier daher zum sogenannten Rettungswiderstand im »Dritten Reich«. Tragischerweise wurde er nach dem Krieg dennoch an Jugo- slawien ausgeliefert und dort 1947 hingerichtet. Das alles ist zwar nicht Gegen- stand des Moskauer Tagebuchs, hätte aber in der Einleitung Erwähnung verdient, wenn doch der Grund für dessen lange verweigerte Publikation durch die Familie gerade »in einigen, sehr emotionalen antisemitischen Bemerkungen« (S. X) bestand – die ohne notwendige und in der Einleitung eben fehlende biografische Erläute-

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rungen tatsächlich ein Zerrbild Bothmers zu zeichnen imstande sind, was der He- rausgeber doch eigentlich vermeiden wollte.

Armin Wagner

Gustav Mayer, Als deutsch-jüdischer Historiker in Krieg und Revolution 1914–1920. Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe. Hrsg. und eingel. von Gott- fried Niedhart, München: Oldenbourg 2009, 494 S. (= Deutsche Geschichts- quellen des 19. und 20. Jahrhunderts, 65), EUR 69,80 [ISBN 978-3-486-59155-2]

Gustav Mayer ist heute allenfalls jenen Historikern bekannt, die sich mit der Ge- schichte der deutschen Arbeiterbewegung befassen. Vor allem seine Biografie über Friedrich Engels ist auch heute noch ebenso lesenswert wie es seine Arbeiten über andere Gründerväter der Sozialdemokratie sind. Auf den ersten Blick mutet es al- lerdings erstaunlich an, dass Mayer sich ausgerechnet mit der Arbeiterbewegung beschäftigt hat, entstammte er doch einer durch und durch bürgerlichen Familie.

Abgesehen von einer ungeheuren wissenschaftlichen Neugier, die bis zu seinem Tode 1948 geradezu sein Lebenselixier war, ist die Erklärung dafür, wie Niedhart überzeugend darlegt, vergleichsweise einfach: 1871 als ältestes von neun Kindern einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Prenzlau geboren, sehnte er sich nach einer

»Gesellschaft, in der das Trennende zwischen Juden und Nichtjuden, Bürgern und Arbeitern zurücktreten würde« (S. 18).

Ausersehen, in die Buchhandlung eines Onkels einzutreten, studierte Mayer dennoch zunächst Nationalökonomie – ein Studium, das ihn im Berlin der Jahr- hundertwende in engen Kontakt mit den Kathedersozialisten um Adolf Wagner, Gustav Schmoller und Georg Adler brachte. Letzterer promovierte ihn schließlich 1894 mit einer Arbeit über »Lasalle als Sozialökonom«. Auch wenn er wie vorge- sehen nach der Promotion in das Geschäft seines Onkels eintrat, strebte Mayer doch bald nach anderen Aufgaben. Seit 1896 gehörte er der Redaktion der liberalen

»Frankfurter Zeitung« an, für deren Handels-, bald auch Kulturteil er schrieb. Ende 1896 arbeitete er als deren Korrespondent in Amsterdam, später in Brüssel. Diese Tätigkeit kam nicht nur seinem rastlosen Naturell entgegen, sondern gab ihm auch die Möglichkeit, sich anderen Studien zu widmen. Zugleich eröffnete sie ihm die Möglichkeit, führende Vertreter der deutschen und internationalen Arbeiterbewe- gung kennenzulernen. Die Heirat mit Flora Wolff, die einer reichen jüdischen Ber- liner Familie entstammte, gab ihm schließlich ein hohes Maß an Unabhängigkeit und ermöglichte ihm das Leben eines Privatgelehrten. Seine Schaffenskraft war enorm, die Qualität seiner Arbeit so gut, dass er bald zu den berühmten Sonntags- spaziergängen von Friedrich Meinecke im Grunewald eingeladen wurde. Nach Ausbruch des Krieges 1914 hielt es ihn freilich nicht mehr am Schreibtisch, und über enge Kontakte zum Auswärtigen Amt gelangte er schließlich in den Stab des deutschen Generalgouvernements in Brüssel; 1917 reiste er als Beobachter der Kon- ferenz der »Sozialistischen Internationale« nach Stockholm. Versuche, nach der Re- volution die während des Krieges am Widerstand konservativer Professoren in Berlin verwehrte akademische Karriere doch noch machen zu können, waren nur teilweise erfolgreich: Mehr als eine außerordentliche Professur war nicht durch- setzbar. Gleichwohl, als Mitglied der Historischen Kommission beim Reichsarchiv fand Mayer jene Erfüllung, nach der er gestrebt hatte. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 traf ihn mit voller Wucht: im April 1933 wurde

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