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"Quod lex christiana impedit addiscere" : Gelehrte zwischen religiöser Verdächtigung und religionskritischer Heroik

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,Quod lex christiana impedit addiscere<

Gelehrte zwischen religiöser Ve"dächtigung und religionskritischer Heroik VON DOROTHEA WELTECKE

I. EINLEITUNG

Quod lex christiana impedit addisccre ist eine der berühmten 219 Thesen, die Bischof ftienne Tempier 1277 an der Universität Paris zu lehren untersagte. Sie steht neben an­

deren Irrtümern gegen den Glauben wie quod fabule etfalsa sunt in lege christiana, sieut in aliü oder quod sermones theologi rundati sunt in {abulisi), Diese in den letzten Jahren vielfach untersuchten und diskutierten Sätze sollen als Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen dienen. Auf den ersten Blick wirken sie ebenso eindeutig wie geradlinig.

Sie scheinen offene Feindschaft von Gelehrten zum ChrislCntum zu belegen und zwar womöglich durch eine inhärente Opposition zwischen Wissenschaft und Religion. Da­

mit scheint am Ende des 13. Jahrhunderts an der Universität von Paris zwischen Philo­

sophiemagistern, Theologiemagistern und dem Bischof ein Gegensatz aufgebrochen, der auch in der Moderne intensiv diskutiert worden ist. Oder handelt es sich bei dieser In­

terpretation um eine anachronistische Fehldeurung2l?

I) Chartularium Universitate Parisiensis I, hg. v. Heinrich DIlNIFLElJ::mile CHATELAIN, Paris 1899, Nr. 47),5. 543-558, die Thesen Nr. 175, 174, und Nr. 152, s. auch Nr. 02, S. 486-487; Nr. 441, S. 499-500.

Diese Editioll ist auch die Grundlage neuerer Textausgaben, Obcrset:tungen lind K.ommentare:

Aufklärung im Mittebiter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokumcnt des Bischofs von Paris einge­

leitet, übersetzt und erklärt v. Kurt FLASCH, Maim .. 1989; Epistola seripta a Stcphano episeopo Parisien­

sis anno 1277. Texte lalln, uaduetion, introduction ct commentaire, hg. v. David PtCHt, Paris 1999.

2) Sie ist insofern schon deshalb anachronistisch, weil beide Konuptionen, .Religion« und .Wissen­

schaft«, der Neuzeit angehören, worauf die Religionswissenschaft in den letzten beiden Jahrzehnten verstärkt hingewiesen hat. Auf die konzeptionellen Folgen, die dies für eine Geschichte ihres Verhält·

nisses vor der Neuzeit haben könntc, verwies kürzlich Peler HARRISON, .Science. and ,Religion •. Con­

structing the Boundarie$, in: The Journal of Religion 86, 1 (2006), S. 81-106. Für einen Überblick über die Vorgänge von 1277 sei insbesondere verwicsen auf Kent EMERy/Andreas SPIIER, After Ihe Condem­

nation of 1277. New Evidence, New Perspecdves, and Grounds for New Interpretations, in: Nach der Veruneilung von 1277. l'hilosophie und Theologie an der Universität VOn Paris im letzten Vicrtel des 13. Jahrhunderu. Studien und Te�le, hg. v. Jan A. AIIRTSEN/Kem EMERv/Andrcas SPEER, Berlin/Ncw York 2001, S. 3-19.

Forschungen / Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte ; 73). - ISBN 978-3-7995-6873-9

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URN:http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-129823

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Bei der Durchsicht der ForschungslitcraWf fallen vor allem zwei unterschiedliche Positionen ins Auge. Auf der einen Seite steht eine gcistcsgcschicluliche Strömung, die Kampfbegriffe vermeidet. Gegenübergestellt werden Glauben und Denken als die in der Scholastik einander herausfordernden Aspekte menschlicher Erkenntnis. Empirischer und denkerischer Wandel vollzieht sich hier aus der inneren Notwendigkeit wissen­

schaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse in Europa), Zitiert sei Paul Wilpcn, der in seinem 1960 erschienenen Aufsatz über Wissenschaft und Wahrheit Thomas von Aquin (1225-1274) die Initiab.ündung zur Entwicklung der modernen Wissenschaft zuschrieb:

"Die weltliche Wissenschaft hat seit Thomas im christlichen Bereich ihre Berechli­

gung nicht nur durch die Hilfestellung, die sie zum Verständnis des Glaubensinhal­

tes leistet, sie hat vielmehr einen Auftrag und eine Aufgabe in sich selbst. Alles, was wir in der Neuzeit an Entfaltung der Wissenschaft sehen, gründet letzten Endes in dieser Unterscheidung der Erkenntnisquellen, die Thomas vollzogen hat.«�)

Im Unterschied dazu ist die mittelalterliche Welt in der anderen Wissenschaftstradition ein Kampfgebiet zwischen Kirche und Wissenschaft. Der Begriff Aufklärung wird so­

wohl strategisch als auch analytisch benutzt5). Die damit verbundene Konzeption stimmt dabei mit dem religionskritischen Rationalismusbegriff überein, wie er in der älteren Geistesgeschichte des 18. und 19.Jahrhunderts geprägt worden ist6). Namenrlieh erwähnt sei die Schrift William Leckys, »History of the Rise :l.Ild Influencc of thc Spirit of Rationalism in Europe«, die 1868 in Leipzig unter dem deutschen Titel »Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa« erschien]). Wenn also Kurt J) Zu den unterschiedlichen methodischen Perspektiven vgl. Ruedi btMCH, Autonomie des philoso­

phischen Denkens� Zur historischen Bedingtheit der mittelalterlichen Philosophie, in: Was ist Philoso­

phie im Mittelalter? Akten des X. Internationalen Kongresses für Mittelalterliche Philosophie der Soci-·

eu: Internationale pour I'ttude de la Philosophie Medievale, 2S. bis 30. August 1997 in Erfurt, hg. v. Jall A. AERTSEN/Andreas SPEIlR, Bcrlin 1998, S. 90-110, besonders S. 9{}-92.

4) Paut WILPERT, Wisscnschaft und Wahrheit im Minelaltcr, in: L'homme et SOli destin d'apres tes penseurs du Moyen Age. Actes du premier Congres internationale de philosophie mMievale, louvain­

Bruxelle, 28 aout-4 sept 19S8, louvain 1960, S. 51-69, hier S. S8.

S) Z. B. Fritz V"LJA.VEC, Geschichte der abendHindisehen Aufklärung, Wien/München 1961; Her­

mann LEY, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, S Bde., Berlin 1966-1989; Das Licht der Vernunft. Die Anfange der Aufklärung im Mittelalter, hg. v. Kurt FU.SCH/Udo R.JECK, München 1997.

6) Z. B. Kar! Friedrieh STÄUDLlN, Geschichte des Rationalismus und Supernaturalismus, vornehmlich in Beziehung auf das Christenthum, GÖllingcn 1826; Pictro BA.LA.N, I percursori del razionalismo mo­

derno fino a Lutero, 2 Bde., Parma 1867-1869; Henri BUSSON, Les sources et le developpement du ratio­

nalisme dans la litterature fran�aisc de la renaissance (IS33-1601) (Bibliothcquc de la Socictc d'HislOire ecclesiastiquede la France), Paris 1922.

7) William E. H. LIlCKY, History of the Rist and Influence of Rationalism in Europe, 2 Bde., London 186S [und weitere Auflagen]; DERS., Gcschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Eu­

ropa, leipzig 1868 [und weitere Auflagen].

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Flasch in der Einleitung zu seiner deutschen Übersetzung des Syllabus Bischof Etienne Tempiers von 1277 die konsequente Anwendung des Begriffes Aufklärung auf das Mit­

telalter forderte, so stand er damit in einer längeren Tradition8l.

Über das Verhältnis zwischen Gelehrten und Glauben im Mittelalter wurde also bis­

her keine Übereinstimmung erzielt. Nicht kontrovers hingegen ist die Vorstellung, dass Gelehrte zu den Wegbereitern der modernen Welt Europas gehören. Als deren Allein­

steIlungsmerkmal wird gerade in der Philosophie- und Geistesgeschichte - im Unter­

schied zur Wissenschaftsgeschichte91 - eben Wissenschaftlichkeit und Rationalität ge­

sehen,ol.

Es ist daher anzunehmen, dass sich die moderne Sicht auf die Erforschung der Ge­

lehrten im Mittelalter auswirkt. Diese These sei hier exemplarisch an einigen Beispielen erönert. Dazu erscheint zunächst ein Blick auf die wissenschaftliche Rede über Aufklä­

rung und Rationalismus in der Neuzeit nützlich. Anschließend werden einige Beispiele skizziert, die mittelalterliche Gelehrte zwischen religiöser Verdächtigung und rcligions­

kritischer Heroik zeigen. Die Ursachen für die unterschiedlichen Bewertungen lassen sich auf hermeneutische Differenzen zurückführen, die ihren Ursprung in der Abhän­

gigkeit der Fragestellungen von den neuzeitlichen Diskursen haben.

2. MITTELALTERLICHE GELEHRSAMKEIT IM AUFKLÄRUNGS-UND R AT ION Al.lSM USOISK U RS

Mindestens seit 200 Jahren werden Anstrengungen unternommen, die Geschichte der Aufklärung") und des Rationalismus zu schreiben. Darin ist auch das Mittelalter in der einen oder anderen Form mit einbezogen. Indem Aufklärer im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert die Begriffe Skeptizismusl2l, Aufklärung und Rationalismus zum Motor

8) Fl.ASCH, Aufkliirung im Miuelalterl (wie Anm. I), S. \}-15.

9) Vgl. betein Lynn THORNDIKR, A History of Magie and Experimental Seience, 8 Bde., New York 1923-1953; Scienee and its Times. Understanding the Soeia! Significanee ofScicntific Discovery, 8 Bde., hg. v. Nei! SCHLAOERlJosh LAUER, Detroit elc. 2000-2002.

10) Vg1. EthnOl!entrismus. Möglichkeiten und Grenun du interkulturellen Dialogs, hg. v. Manfred BROCKRI\, Darmstadt 1997, Wolfgang SCHl.VCHTER, Rationalitiit - das Spel!ifikum Europas?, in: Die kulturellen Wene Europu, hg. v. Hans JOM/Klaus WIEGANDT, Frankfurt am Main 2005, S. 237 - 264.

11) Zur Entwicklung des Aufklärungsbegriffes vgl. die Forschungen von Rolf Reichanll, bibliogra­

phisch zuummengefa5St beispw. in Rolf REICHAROT, Wortfelder -Bilder - semantische Netl!c. Beispiel intcrdiniplinärer Quellen und Methoden in der Historischen Semantik, in: Die Intcrdisziplinaritäl der ßegriffsgcschichte, hg. v. Gunter SCHOl.T)! (Archiv für ßegriffsgeschichte, Sonderband ), Hamburg 2000,S. 111-133.

12) Kar1 Friedrich STÄUOLIN, Geschichte und Geist des Skepticismus, vorzüglich in Rücksicht auf Mo·

ral und Religion, 2 Bde., Leipzig 1794; zur Entwicklung des Begriffes und der Methode Richard H.

PorKIN, The History of Sceplicism. Frum Savonno!a 10 Barle, Oxford 2003.

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der Geschichte Europas und - was gleichbedeutend ist -zum Motor des Fortschritts gemacht haben, griffen sie auf bereits cubliertc historische Motive zurück. Diese cmwi­

ekelten sich seit den konfessionspolemischen Auseinandersetzungen im 16.Jahrhundcrt.

Neben zahllosen Universitätsdisputationen erschienen in diesem Zusammenhang historisch-systematische Werke, die die konfessionellen Positionen historisch begründe­

ten. Diese zählten etwa aus katholischer Perspektive von den Anfängen des Christen­

tums an Vertreter heterodoxer Positionen in alphabetischer oder chronologischer Rei­

henfolge auf. Als deren jüngste führten sie die protestantischen Bewegungen an.

Mitunter zitierten sie ausführlich die polemischen Quellen, aus denen ihr Material stammteLll. Von Seiten der Protestanlen wurde dagegen eine kritische Kirchengeschichte des Mittelalters entworfen. Hier entstand die wissenschaftlich approbierte historische Vorstellung von der Tyrannei der (katholischen) Kirche im Minelalter. Gleichzeitig er­

schienen viele Häretiker in protestantischen Werken als verfolgte Zeugen der Wahr­

heitl�). Damit war eine erste Umdeutung der Ketzer 7.U verfolgten Heroen vollzogen.

Man kann beobachten, wie im 17.Jahrhundert Motive und Erzählungen aus der Kon­

fessionspolemik von Religionskrilik.ern aufgegriffen wurden. Am Ende des 18.Jahrhun­

derts wurde außerdem das seit langem vielfach verwendete und disk.utierte Stigma .Atheist .. zuerst in Frankreich zur SelbstStigmatisierung gewendet und radikal umge·

deutet. Es war zuerst im 16. Jahrhundert in breiten Gebrauch gekommen. Mit diesem

IJ} Gabrid Praleolus, {Gabriel DuPreau], Elenchus haereticorum omnium, qui ab orhe condito ad nostra usque tempora veterumque et recemium aUClorum monimcmis prodili sunl, vius $eCIU CI dog­

mala compleclens, alphabctico ordine digeslUs, Köln 1605 [mehrere Ausgaben].

14} Mallhias Flacius Illyricus, Caulogus Icslium veriulis, qui ame nOSlram acutem reclamarunt papal', Buel 1556 [mehrere Ausgahen}; GOllfried Arnold, Unpanheyische Kirchen- und Ketzer-Historie, Frankfurt am Main 1700; dnu u.a. Martina HARTMAI'II'I, Humanismus und Kirchenkrilik. Manhias Flacius Illyricus als Erforscher des Mittelalters (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mine!'·

alters 19), Stuttgart 2001; Kathuina GR�SC"AT, Goufried Arnolds ,Unparteiische Kirchen· und K.et·

zerhislOrie, von ]699/1700 im Kontext seiner spirilualistischen Kirchenkridk, in: Zeitschrift für Kir­

chengeschichte 116 (2005), S. 46-62; C. Scolt OIXOI'I, Failh and History on the Eve o( Enlightenment.

Ernst Salomon Cyprian, Goufried Arnold and Ihe Hi$tory of Heret1cs, in: TheJournal of Ecdesiaslical History 57, 1 (2006), S. JJ-5�. Dieser Narrativierungsprozess wurde früh beobachlet und bald schon von protestantischer Seite selbst kritisiert, u. a. weil es hier erneut �u Spaltungen kam und sich die Re·

formierten und andcre Gruppen gegen die orthodoxen Lutheraner mit den Zeugen der Wahrheit des Miltclalters identifizierten. Kritische Forschung lat nOl, fand Johann von Mosheim, Versuch einer uno panheiischen und gründlichen Kelzergeschichte. Helmstedt ]7�6, S. ]9-20: _Die Reforminen beschwe·

ren sich, daß wir aus einem blinden Hasse gegen sie die Lehre so wohl, als das Leben ihrer Vorgänger, des Gottschalks, des Berengarius, des Wiklefs und anderer irrig und unrichtig erklären und beschreiben.

Wir schieben diese Beschuldigung auf sie wieder zuriickke und sagen, daß sie von der Liebe zu diesen Leuten geblendet werden ... Seildem dieser Mann [Gottfried Arnold] Lerm geblasen und die Welt er­

mahnet hat. alle Verkläger der Ketzer zu verwerfen und abzuweisen, sind zwo mächtige Parthci� ent·

standen. deren eine die alten und neuen Kelzer verdammet, indem die andere dieselbe losspricht oder entschuldiget .•

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Wort belegten katholische und protestantische Theologen Gegner aller Art. Dies bedeu­

tete zunächst nicht, dass der Beschimpfte ein theoretischer Atheist war, nicht einmal in den Augen des Kritikers. Das Wort war vielmehr im Sinn des deutsches WOrtes »gOttlos«

zu verstehen und häresiologisch grundsätzlich unspezifisch, wie Luden Febvre in sei­

nem klassischen Werk über .. Le Probleme de l'incroyance au XVI siede. La Religion de Rabelais« aus dem Jahr 1947 herausgearbeitet hatI}). Das Wort .. Atheismus« als Stigma für jede Art von religiöser und moralischer Devianz wird beispielsweise im Titel des 1672 erschienenen Werkes vonJohann Müller benutzt: .. Atheismus devictus. Das ist Ausführ­

licher Bericht von Atheisten, Gottesverächtern, Schrifftschändern, Religionsspöttern, Epicureern, Ecobolisten, Kirchen und Prediger Feinden ... 1I. Verfolgern der Rechtgläu­

bigen Christen«J6).

In den vielfältigen theologischen und philosophischen Debatten der Zeit entwickelte sich seit dem 16. Jahrhundert ein regelrechter Atheismusdiskurs, innerhalb dessen sich allmählich ein schärferer Atheismusbegriff herausschälte. Als die radikalen Aufklärer in Frankreich sich des Wortes bemächtigten, sollte es den Anspruch ausdrücken, vernünf­

tig und fortschrittlich zu denken. Innerhalb dieser Vorstellungen galt das Christentum als irrational und wissenschaftsfeindlich. Die Konsequenz konnte nur seine Überwin­

dung sein. Dies forderte Paul Heinrich Baron von Holbach (1 723-1789) in seinem "Sys­

teme de la nature, ou des lois du monde physique et du monde moral« von 177017).

IS) Lucien FIIBVRII, Das Problem des Unglaubens im 16. J�hrhundcn. Die Religion dcs R�bclais. Mit einem Nachwort von Kurt Fluch (Origin�lausgabe: Le Probl�me de l'incroyance au XVI sieele. L�

Religion de R�bcbis, Paris 1947), Stuugart 2002; zur Entstehung der neobteinischcn Wörtcr aus der lateinischcn ÜbersctzungslitcTalur im spätcn 15. und frühcn 16. Jahrhundert COllcctta BIANCA, Pcr la storia dcl tcrminc ,atheus< ncl cinqueccnto. FOllli e Traduzioni Greco-L:ltine, in: Studi filosofici. Annali dcll'lstituto univcrsiurio oricntale, Napoli 3 (1980), S. 71-104.

16) Johann Müller, Atheismus devictlls. Das ist Ausführlicher Bericht von Atheisten, Gottesverächtern, Schrifftschändcrn, Rdigionsspöttcrn, Epicurccrn, Ecobolistcn, Kirchen und Prcdigcr Feinden ... u.

Verfolgern der RechtgHiubigen Christen. Mit gründlichcr Wiedcrlcgung ihrer ... Irrtümer, Hamburg 1672; vgl. C�rlos GILLY, Qui ncg:lt diabolum, �theus CSI. Athcismus und Hexenwahn, in: Atheismus im Mittelalter und in der Rcn�issance, hg. v. Friedrich N1EWÖHNER/Olaf PWTA, Wiesbaden 1999, S. 337- 3S4. Spezifischer gegen Rcligionskritiker gewandt: Tommaso Campane1I�, AtheismusTriumphatus, seu Rcductio ad rcligioncm per Scientiarum vcriutcs Fr. Thomac C�mpancl1ae, ... contra antichristianis­

mum, achitophc1listicum, 2 Bde., Paris 1636 [mehrcre Ausgaben]. Zum von jettt an ungebrochen andau·

crnden Atheismusdiskurs vgl. zur protcstantischen Kirche Erlch Hans LIIUBE, Die Bck�mpfung des Atheismus in der deutschcn lutherischcn Kirche des 17. Jahrhunderts, in: Zcitschrift für Kirchcnge­

schichtc 43, Ncue Folge 6 (1924), S. 227-244; Dagmar VON WIL.LE, Apologie häretischen Denkens. Jo­

hann Jakob Zimmcrmanns Rchabiliticrung dcr ,Athcisten< Pomponazzi und V�nini, in: Atheismus im Mittelalter und in der Renaissance, S. 215-237.

17) Paul Heinrich Dictrich Baron von Holbach, Systeme de la nature (Original�usgabc: Amsterdam 1770), hg. v. Jc�n Pierre JACICSON, I)aul Henri Thiry d'Holbach. Oeuvres philosophiqucs, 11. Essai tUt les prcjugis (Collcction textes philosophiques), Paris 1999; dazu ncuerdings AI�in SANOR1F.R, I.c Slyle philosophique du Baron d'Holbach. Conditions ct contraintcs du prosclytismc athce cn Francc dans Ja

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Das im 4. Jahrhundert zur Staatsreligion gcwordcnc Christentum wurde nach dem Vorbild der protestantischen Geschichtsschreibung auch aus der Sicht der radikalen Rc­

ligionskritikcr als tyrannischste aller Herrschaftsformen angesehen. Ihr Hauptanlicgeh sei es gewesen, das Denken und die Rationalität zu unterdrücken. So schrieb Ludwig Feuerbach (1804-1872) in seinem Essay über Pierre Bayle (1664-1706):

,.Man denke nur, um sich durch Persönlichkeiten den Gegensatz zwischen dem Geiste der Theologie lind dem Geiste der Wissenschaft zu vergegenwärtigen, an Bcrnhard und Abälard, an Lanfrancus und Bcrcngarius ... Stets war die Liebe, die Wahrheit. die Humanität, der Geist der Universalität auf Seiten des wissenschaftli­

chen Mannes - der Hass, die Lüge, die lntrigue, die Verketzerungssucht, der Geist der P:micularität auf Seiten des theologischen.«18)

,.That the Church of Rome has shed more innocent blood than any other institution that has ever existed among mankind, will be questioned by no Protestant who has a competent knowledge of history'Y))'

wusste auch der Ire William Lecky (1838-1903) wenige Jahre später. Als Liberaler teilte er diese Position:

,.The Church had cursed the human intellect by cursing the doubts that are a neces­

sary consequcncc of its exercise.«l(l)

secondc moitie du XVIII siede, Puis 200�. Ein weiteres Initialdokument des 18. Jahrhunderts stammt von Jean MESI..lER, Memoire des pensees el$entiments, hg. v. Roland DUNUJean D�rRUN IAlbert So­

IIOUL, OeuvresdesJcan Meslier, I. Memoire des pensees et sentiments (Oeuvres completes I), Paris 1970;

zu den Anfängen des theoretischen und dogmatischen Atheismus weiterhin Ouo FINGER,Johann Hein­

rich Schulz. Ein Prediger des Atheismus, in: Beiträge zur Geschichte dcs yormarxistischen Materialis­

mus, hg. v. Gottfried STIEHLER, Berlin 19('1, S. 213-2�<I und weitere Beiträge dieses Bandes; Winfricd SCHRÖOER, Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17.

und IB.Jahrhunderts, Stuugan/Bad Canstau 1')98 und weitere Werke diesC5 Autors. Zum Mechanismus der Se Ibsutigmatisierung, der für das Verständ nis dieser U mdeutungsprozesse zentral erscheint, Ervi ng GOHMAN, Stigma. Notes on the Managemcnt of Spoilcd Identity, Eng1cwood Cliffs/New Jersey 1963.

18) Ludwig FIlUI!RBACH, Pierre �yle. Ein Beitrag zur Geschichte dcr Philosophie und Menschheit.

Grundsätze der Philosophie der Zukunft (180), hg. v. Wilhclm BOLiN/FriedrichJODL (Sämtliche Wcrke V), Stuttgan 1959 (=1903-191]), S. 137; vgl. LIlCKY, Rationalism (wie Anm. 7), 11, S. 5<1 _Thc spirit of ralion�lism was yet unboTß; or if some hint traces of it may be discovercd in the lcachings of Abelard, it was at least f�r 100 weak 10 alJay the panie ...

19) LECKY, Rationalism (wie Anm. 7), 11, $. 3�. \.

20) LIlCKY, Rationalism (wie Anm. 7), 11, S. �<I; zu dieser Zeit ebenfalls John William DRAPI!R, History of the Conflict between Religion and Scienee, London 187� [mehrere Ausgaben).

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Dieser wissenschaftliche Topos wurde an das 20.Jahrhunderts weiter vermittelt. Neuer­

liche Schübe der Abgrenzung der Neuzeit vom Mittelalter durch die Kategorien Wissen­

schaftlichkeit und Rationalität brachte die Zeit nach den beiden Weltkriegen2l}, deren Wirkung bis in die Gegenwart anhält.

Die Ursprünge der radikalen Religionskririk, der Wissenschaft und der Aufklärung wurden in der klassischen Antike und öfter auch in der orientalischen Philosophie ge­

sucht. Das negative Orientbild der Frühen Neuzeitlll konnte im Zeitalter der Chinoise­

rien und Turkerien zur aufgeklärten Ideal- und Gegenwelt umgebaut werden2l). Orien­

talische Bildung und Wissenschaft befruchtete aus dieser Perspektive seit dem 12.Jahrhundertden europäischen Forschergeis!. Eine k:l.Ilonische und bis heute nachwir­

kende Bedeutung erhielt dabei eine Untersuchung des französischen Orientalisten und Religionsphilosophen Ernest Renan (182 3-1892). Dessen philosophiehistOl·ische These de doctorat "Avcrroes et l'Averro"isme" von 1852 hatte einen Erdrlltsch in der europäi­

schen Geistesgeschichte bewirkt. Die ungeheure Wirkung des Werkes bestand darin, dass Renan die älteren, katholischen Vorwürfe gegen den AristoteIeskommentator Aver­

roes (Ibn Rusd, 1126-1198) und seine vermeintlichen europäischen Nachfolger, die Aver-

ZI) Raymond KUBANsKy/Erwin PANowSKY/Fritz SAn, Saturn and Mebncholy. Studies in thc His­

tory of Natural Philosophy, Religion and Art (Originalausgabe: tondon 1964), Neudcln/Liechtcnstcin 1979; Hans ßWMEN81!Jt.G, Die Lcgitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main 1'>66; Hans BI-UMI!N'EII.G.

Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Frankfurt am Main 1988; vg1. Wi!liam J. HoYll, Neugier.

Zweifel und Staunen als pädagogisch-katechetische Prinzipien in der dogmatischen Theologie des Mit·

tclalters, in: Katechese im Umbruch. Festschrift für Dieter Emeis, hg. v. Franz-PcterTEBAII.TZ-VAN EI.ST, Preiburg im ßreisgau/Basci/Wien 1998, S. 173-187, besonders S. 173-180.

Z2) Europa und die Türkcn in der Renaissance, hg. v. Bodo GUTHMi)I.I.EII./Wilheirn KüH1.),IANN, Tü­

bingen 2000; Almm HÖfEln, Den Feind beschreiben. »Türkengcfahr4 und europäisches Winen über das Osmanische Reich 14S0-1600 (Campus historisehc Studien 3S), Frankfurt am Main Z003; Nancy BISAHA, Creating Eut and West. Renaissance Humanist$ and the Ouoman Turk, Philadelphia Z004.

Z3) So in lohn M. ROBERTsoN. A Shon History of Frcethought, 2 Bde. (Originalausgabe: London 1899), London 1914. Zum schwärmerischen Orientalismus der Aufklärungszcit und der Romantik z. B.

Europa und der Oriellt 800-1900, hg. v. GereonS]EvERNlcH/I- Ienrik BUDDE, Gütersloh/München 1989;

gerade der Orienalismus Frankrcichs und Dcutschlands war im 19. Jahrhundcrt von der Suehe nach einer Welt geprägt, die nicht von der christlichen Kirche dominiert wurde, sondern von der vermeintli­

chen Sinnlichkeit und der (philosophischen) Weisheit des .OricntS4. Zu den Motiven der beginnenden Orientforschung, die sich heute nicht mehr nur als die andlla des europäischen Imperialismus darstellt:

Sabine MANGOI.D, Eine .weltbürgerliche Wissenschaft«. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert (Pallas Athene 11), Stutlgart Z004. Gegenwärtig scheint die Vorstellung vom Orient als dem Ursprung des europäischen Rationalismus eine gewisse Renaissance zu erfahren, s. Patrick MARCOt.lNt. Le Oe Tribus Impostoribus CI les origines arabes dc j'alhcisme philosophique europecn, in: Les Cahicrs de l'ATP, (Z003), S. 1-10; vgl. auch Kurt FI. ... scH, Meister Eckhart. Die Geburt dcr »deutschen Mystik. alls dem Geist der arabischen Philosophie, München 2006.

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roisten, bestätigte und ihnen bei der Entstehung des europäischen Rationalismus eine zentrale Funktion zuwicS2�).

Kaiser Friedrich 11. im 13. Jahrhundert konnte im 19. Jahrhundert als ein positiv be­

setztes Symbol der Verbindung orientalischer Wissenschaft und europäischer Rationali­

tät begriffen werclen2S1• Ocr evangelische Kirchenhistoriker und Abt von Bursfelde.

HeTmann Reutcr(1817-1889), bezeichnete diese Symhese als die ,.ghibellinische Kultur •.

Mit diesem kirchen- und kulturpolitischen Kampfbegriff des Wilhelminischen Kaiser­

reiches suchte Reuter die Welt des friderizianischen Hofes und der frühen italienischen Renaissance von der katholischen Kirche und Umwelt ahzugrenzenal. Im Sinn seiner protestantischen Geschichtsinterpretation war mit dieser so verstandenen .. ghibellini­

schen Kultur« bereits im Mittelalter eine wissenschaftlich aufgeschlossene, aufgeklärte und tolerante Gegenwelt entstanden, die selbstredend von der Kirche des Papstes be­

kämpft worden war. Damit wollte er den Vorstellungen widersprechen, das Miuelalter sei eine kindliche Welt abergläubischer und religiöser Verblendung21l gewesen.

Freidenkerische und aufgeklärt protestantische Geschichtsschreibung suchte also in der Vergangenheit nach ihren testes'Veritatis, sowohl im muslimisch-arabischen als auch im lateinischen Minclalter. Sie griff dabei zum großen Teil auf dieselben Fälle mittelal­

terlicher Denker zurück, die im katholischen Zusammenhang als religiös verdächtig, als Heiden, Ungläubige oder als Häretiker gebrandmarkt worden waren. So finden sich ei­

nerseits, trotz ihrer unterschiedlichen religiösen Orientierung, im Werk von Hermann Reuter undJohn M. Robertson (18S6-19J3), dem liberalen Freidenker, zahlreiche Über­

eins[immungen2S). Zugleich ist andererseitS im späten 18. und im 19. Jahrhundert ein

2'4) [rnest RI>NAN, Averrots et l'AverroTsme (Originalausgabe: Paris 1852), Paris 1866 [zahlreiche Aus­

gaben], zur Kritik der Averroes-Rezeplion in [uropa Tilman NAGEL, Von Ibn Ruschd zum Averrois·

mus. Überlegungen zur Teilhabe der islamischen Weil an der Geschichte Europas im Mittelaher, in:

Historische Zcitschrih, Beiheft J2 (2001), S. 41-48, Markus ZANNER, Konstruktionsmerkmale der Averroes-Rezeption. Ein religionswissensch�ftlicher Beitrag 7.ur Re7.eptionsgeschichte de� islamischen Philosophen Ibn Rushd, Berlin 2002, zu Renan und zur Rezeption seines Averroesbuches besonders S. 107-1}8, hilfreich ist die Bibliographie von David WIII,MIlII. Averroes Database, Thomas-Institul, Köln (http://www.thomasinst.uni-kocln.de/avcrroes/indcx.htm) (am 30. '4. 2007).

25) Marcus THOMSIlN, .Ein feuriger Herr des Anfangs ...•. Kaiser Friedrich IL in der Auffassung der Nachwelt (KieIer Historische Studien '42), Stuttgart 2005, besonders S. 9)�149.

26) Hermann RI>VTEII., Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter vom Ende des 8. bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts, 2 Bdc., Berlin 1875�77, S. )OI�)04.

27) R.IWTU, Aufklärung (wie Anm. 26), S. viii. Hartmut BoocJ(MANN, Ghibellinen oder Welfen, 1talien- oder Ostpolitik. Wünsche des deutschen 19. Jahrhunderts an das Mittelalter, in: Italia e Gcrma­

nia. Immagini, modelli i miti fra duc popoli ncll'Onocemo. Il Medioevo. Das Mittelalter. Ansichten, Stereotypen und Mythen zweier Völker im 19. Jahrhundert. Deutschland und Italien, hg. v. Reinhard EUE/Pierange10 SCHI ERA (Annali dell'htitulo storko italo-germanico in Trento, Contributi I), Bolo·

gna/Berlin 1988, S. 127-150; TIlOMSHN, Kaiser Friedrich 11. (wie Anm. 25), S. 152. \ 28) Vgl. die yerblüffenden Übereinstimmungen in den Werken von REUTElI., Aufklarung (wie Anm. 26). und ROBEIITSON, A Shon History of Freethoughl (wie Anm. 23); zu Robcrtsons Leben und

(9)

weitgehender Konsens in der wissenschaftlichen Qualifizierung religionsverdächtiger Denker zwischen protestantischen und freidenkerischen auf der einen und katholischen Darstellungen auf der anderen Seite zu beobachten29). Die Bewertung dieser Qualifizie­

rung war freilich verschieden. Der Heroen der einen waren die Ketzer der anderen.

Dieser wissenschaftliche Konsens wurde durch die Forschung des 20. Jahrhunderts aufgekündigt. Die Häresiegeschichte kam in GangJO)j die Wissenschafts- und Philoso­

phiegeschichteJI) nahm sich der konkreten Quellen an. Nun wurden Ergebnisse formu­

liert, die den Quellenwert der alten Häresie- und Rationalismusanklagen in Frage stell­

ten. Indem jedoch diese Häresie- oder Atheismusbeschuldigungen der katholischen Häresiegeschichte als polemische Verzerrung wahrgenommen und als falsch deklariert wurden, wurde zugleich die religionskritische Heroisierung fragwürdig. Das gilt neuer­

dings in derselben Weise für die muslimisch-arabische Geistesgeschichte. Auch hier ge­

hen mittelalterliche Autoren, die früher als Atheisten zuerSt gebrandmarkt und dann gefeiert worden waren, heute dieser Zuschreibungen verlustig. Die Anklagen erscheinen jetzt als Verzeichnung und als ein falsches Verständnis durchaus religiöser Ansichten}2).

In der Folge lässt sich in den mit diesen Texten und Personen befassten Disziplinen ein Auseinanderdriften von Interpretationsmethoden beobachten. Dies sei nun etwas kon­

kreter ausgeführt.

Werk Odin DIlKKEIlS, J. M. Robenson. Rationaliu and literary Critie (Ninetecnth Century Series), Aldershot cu;. 1998.

29) Als außerordentlich einflussreich erweisen sich dabei die quellenreiche, katholische Enzyklopiidie von CharIes du Plessis O'ARCBHTllt, Col1ectio Judiciorum de novis erroribus, qui ab initio duodecimi seculi PC»t Incarnationem Verbi usque ad annum 1632 in Ecclesia prosnipti sunt et nonti, 3 Bde., Puis t728�1736 (Neudruck ßrüssel 1963) und Fran�ois A. A. PLUQUET, Dictionnaire des hero!sies, des errcurs Ct des schismes, ou memoires pour servir 11. I'histoire des egarcments de I'esprit humain par rapport a la religion ehretienne (Originalausgabe; Paris 1762), hg. v. Jacques Paul M IGHIl, Paris 1847. EinigeBeispicle werden weiter unten im Detail erörtert.

30) Herben GIlUHOMAHH, Bibliographie wr Ketzergeschichte (1900� 1966) (Sussidi Eruditi 20), Rom 1967; Carl T. BBRKHouT/Jeffrey B. RUSSI!LL, Mediev�1 Heresics. A Bibliogr�phy 1960-1979 (Pontifical Institute of Medicval Studie" Subsidia Mediaevalia 11), Toronto 1981; Peler SI>GL. Mediävislische Häre­

sidorschung, in: Die Aktualität dcs Miuclahers, hg. v. Han5-Werner Gonz (Herausforderungen 10), Bochum 2000, S. 107-134.

31) Einflussreich insbesondere das Werk van Steenberghens. z. B. Fernand van STB.I!HIIUI.GHEN, Maitre Siger de Brabant, LOllvain/Paris 1977, wo auch die ähere Litcratur zu den Kontroversen um Siger aufge­

führt ist.

32) Sarah STIlOVMSA, Freethinkers in Medieval Islam. Ibn a!-R�wandl, Abu Bakr a!-R�zi and thdr impact in Islamic thought, leiden 1999, DIllS., Thc Religion of the freethinkers of Mcdievallslam, in:

Atheismus im Mittelalter und in der Renaissance, hg. v. Friedrich NIEWÖHNBllfOlaf PLUTA, Wiesbaden 1999, S. 45-59.

(10)

J62

3. DIE UMSTRITTENEN PARISER ARTESMAGISTER

Als der katalanische Gelehrte Ramon Lull (1232-1316) in den l290er Jahren nach Paris kam und Kenntnis von den imJahr 1277 verurteilten 219 Thesen erlangte. hielt er sie für tatsächlich vertretene und gelehrte Thesen. In seiner Declaratio nahm er diese Thesen jedenfalls sehr emse Sie stimmten ihn trist;s und desolatusm. Er fragte in seiner Decla­

ratio, quomodo Deus ... permittit in hoc munda tot erTOTcsH) und formulierte Widerle­

gungen. Ebenso wörtlich und als direkter Ausdruck der Ansichten der Artesmagister sind die Thesen bis in das 20. Jahrhundert hinein immer wieder gelesen worden'}}). Doch so wichtig Ramon Lulls Reaktion für die Interpretation der zeitgenössischen Reaktion auf die verbotenen Lehrsätze ist - weder LulJ noch spätere Rezipienten hatten die 1270er Jahre an der Artistenfakultät miterlebe Wie für Ramon Lull wird auch für die gegenwärtige Forschung die Sicht auf die intellektuelle Atmosphäre im Paris des späteren 13. Jahrhunderts vor allem durch die verurteilten Sätze und ihre Lektüre gelenkt - und gebrochenl6l•

H) Ram6n Lull, Deelaratio Raimundi, per modum dialogi cdita conlra aliquorum philosophorum et corum sequacium opinionc$ crroneas et damnatas a venerabili palTe domino Episcopo Parisiensi, in:

Raimundi Lulli opera lalina, XVII: Opera Puisiis annis MCCXCVll-MCCXCIX composita, hg. von Micheb PIlREIRA/Theodor PINDt.-BüCHt. (Corpus ChriSlianorum. Continuatio medievalis 79), Turn­

hout 1989, S. 219-402, hier S. 253.

34) Deelaratio Raimundi (wie Anm. 33), S. 253.

35) Zu den Textausgaben der verurteilten 219 Sätze s. Anm. I; Bei der Fülle der Literatur zu den betrof­

fenen Philosophen und den Vorgängen selbst kann hier keine Vollständigkeit errcicht, doch soll ein Überblick über einflussreiche Werke und Autoren gegeben werden. Zum aktuellen Stand der Diskussion vg1. EMllllyl SPEIiR, After Ihe Condemnation of 1277 (wie Anm. 2) sowie den ganzen Sammelband, der die Bandbreite der Forsehungspositionen vorstellt. Von Relevanz für die Einschätzung der Lehrverur­

teilungen sind außerdem zahlreiche Beitrage in Geistcsleben im 13. Jahrhundert, hg. v. Andreas SPEF.RI Jan A. AIlIITSEN, Berlin/New York 2000; Glaube und Vernunft -Theologie und Philosophie. Aspekte ihrer Wechselwirkung in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Mariano DIlLGAoo/Guido VEIIGAUWEN,

Freiburg (Schweiz) 2003; zur Forschungsgeschichte und zur Literatur auch neuerdings Henrik WELS, Aristotelisches Wissen und Glauben im IS.Jahrhundert. Ein anonymer Kommentar zum Pariser Verur­

teilungsdekret von 1277 aus dem Umfeld des JohaOlIC$ de Nova Domo. Studie und Text (Boehumer SlUdie\l:tUr Philosophie 41), Amsterdam/Philadclphia 2004, S. cxxxiv-cxlix; vgl. zur älteren Sicht weise besonders einflussreich o' AIIGBNTRt, Col1eetio Judiciorum de novis erroribus, I (wie Anm. 29), S.203- 246 und passim; Pierre F. MANDONN.I!T, Sigtr de Brabant et I'averro"isme lalin au XIlI< siedc, Freiburg (Schweiz) 1899 [mehrere Auflagen]; Matthieu M. GORCE, Art. _Atheismc«, Dictionnaire d'hisloire et de geographie ecclcsiastiques 5 (1931), S. I-li; Krilik daran seit den JOer Jahren von Fernand van STBIiN­

BBRGHBN, Siger de Brabant d'apres ses oeuvrcs ineditcs, 1. Les a:uvres inedites, 11. Siger dans l'histoire de I'aristotclisme (Les philosophn belges 12, 13), Louvain 1931, 1942 und weitcre.

36) Ram6n Lul1 wird immer wieder als Zeitgenossen der Ereignisse angesprochen, so bereits v\n Mar­

tin GRABM"'NN, Ein Spätmillelaherlieher Pariser Kommentar zur Verurteilung des lateinischen Aver­

roismus dueh Bischof Stephan Tempier yon Paris (1277) und zu anderen Irnumslisten, in: Ders., Mille!-

(11)

Nach allgemeinem Dafürhalten richteten sich die 219 verbotenen Thesen vor allem gegen einige Artesmagister an der Universität, zugleich gegen einige Thesen des Theolo­

gen Thomas von Aquin. Namentlich genannt werden meistens Siger von Brabant (gest.

1281/1284) und Boethius von Dacien (gest. nach 1277)37). KonJ;ens besteht darüber, dass es diesen Gelehrten um das Studium des Aristoteles zu tun war, dessen nalUrphilosophi­

sche und kosmologische Annahmen, etwa über die Ewigkeit der Welt oder über den In­

tellekt, sie ohne Einschränkungen mithilfe der philosophischen Kommentare auslegen, diskutieren und verstehen wollten. Dies sollte möglich sein im Wissen darum, dass diese Annahmen theologischen Lehren widersprachen. Ob sie die Ansichten des Aristoteles und seiner arabischen Kommentatoren allerdings teilten oder ob sie und andere Magister und Studenten lehrten und dachten, was die 219 Thesen ihnen unterstellten, ist im 20. Jahrhundert umstritten gewesen. Denn die quellenkritische Forschung stellte eine Diskrepanz zwischen den inkriminierten Sätun und den Schriften der Magister fest1SJ•

Dies sei nun etwas näher erläutert. Dabei kann auf die Analyse der philosophischen Details verzichtet werden, da sie bereits vielfach durchgeführt worden ist. Überdies be­

steht über die positiven Aussagen der Texte inzwischen relative Einmütigkeit. Dagegen ist es an der Zeit, die Existenz der unterschiedlichen Auffassungen selbst zu problemati­

sieren, die sich auf diese Ergebnisse stützen.

Weil sich viele der 219 verbotenen Thesen den quellen kritischen Studien Roland His­

senes zufolge widersprechen, zweitens sich darunter völlig orthodoxe Thesen finden, drittens sich die meisten Sätze weder in den Schriften von Boethius, noch von Siger noch bei irgendjemand anderem wörtlich und ferner die überwiegende Mehrzahl nicht einmal in ähnlichen Formulierungen in Quellen nachweisen lassen, entbehren die Angriffe sei-

alterliches Geistesleben. AbhandlungeIl zur Geschichte der Schola$lik und Mystik, 2 Bde., München 1936, 11, 5. 103-137, hier S. 272.

37) Zu den l.Cntralen Texlen gehören z. B. die Sehriflen Oe aeternilate mundi von Boethius ulld Siger, die im let:uen Jahrhundert z. T. in unterschiedlichen Ausgaben erschienen sind, Boethius von Dacien, Opuscula. Oe aeterniute mundi. Oe summo OOno. Oe somniis, hg. von Nieh J0RGEN u.a. (Corpus philosophorum Oanicorum medii acvi 6), Kopenhagcn 1976, Siger von BTabanl, Quaestiones in lertium de allima. Oe anima intellectiva. Oe aelernitate mund;, hg. v. Bernardo S"ZJ.N (Philosophes medievaux 13), Louvain 1<)72. Einen Überblick tiber die viel faltige Literatur und zu den Ausgaben der Werke bieten STEENlIliRGHI';N, Maitre Siger (wie Anm. 31), Klaus Kienzler, Art. �Siger von ßrabant«, Biobibliogra­

pllis<:hes Kirchcnlexikon 10 (1995), Sp. 257-260, Paul WILPIlRT, ßocthius v. Dacien -die Autonomie des Philosophen, in: Beinäge wm Berufsbewußlscin des minclalterlichcn Menschen, hg. v. DEMS., unter Mitarbeit von Willchad Paul ECKERT (Miscellanea mediacvalia 3), Berlin 196�, S. 135-152.

38) STHI!NlIERGHEN, Siger de BTabant d'apres ses oeuvres inMites (wie Anm. 35); Martin GRABMANN, Der lateinische Averroismus des 13. Jahrhunderts und seine Stellung wr christlichen Wclunsehauung (aus ungcrlruckten Eth ik kom memarcn) (Sit7.u ngsberiehte der Bayerischen Akdadcmie der Wissenschaf·

len, Philosophisch-Historische Klasse 72), München 1932; zentral Roland HISSETTE, Enquete slIr les 219

�rlicles condamnh a Paris le 7 mars 1277 (Philosophes Medi�yallx 22), Louvain/Paris 1977, der zugleich über weitere Forschungsliteratur und Quelleneditionen informiert.

(12)

164

oer Auffassung nach jeder sachlichen Grundlage. Die eingangs zitierten Sätze gehören übrigens zu dieser letztgenannten Gruppen>, Damit spiegeln die inkriminierten 219 Sätze die Ansichten von Siger und Boethius nicht wieder. An deren Orthodoxie sei viel­

mehr nicht zu zweifeln�O).

Zeitgleich zu Roland Hissette betonte auch John Wippel im Anschluss an die For­

schungen Fernand van Steenberghens über die Werke Sigers von Brabant, dass es Boe­

thius von Dacien und Siger von Brabant in ihren Werken präzis gelungen sei, theologisch problematische Aussagen ausdrücklich als philosophische Thesen in ihrer Reichweite einzuschränken. Sie würden ferner theologisch fragwürdige Thesen, die sich aus der aristOtelischen Philosophie ableiten ließen, als unzureichend klassifizieren und sich letzdich den Forderungen des Glaubens unterordnen·'). Bischof Etienne Tempier und seine Kommission, die die Äußerungen an der Artistenfakultät untersuchen sollten, hät­

ten hingegen diese Einschränkungen und Präzisierungen ignoriert. Aristotelische Posi­

tionen, die von den Artisten sauber als solche und nur als solche markiert worden wären und die sie in ihren Kommentaren lediglich innerhalb der Prinzipien der Philosophie hätten erklären wollen, hätten der Bischof und seine Kommission als absolute Aussagen über die Natur und über GOtt gewertet. Doch seien sie so nicht gemeint gewesen. Damit war die Frage nach der ,.doppelten Wahrheit ... beantwortet, also der These, es gäbe un­

terschiedliche Arten von philosophischer und theologischer Wahrheit, die gleichwohl denselben Wert haben sollten. BischofTempier hatte eine solche doppelte Wahrheit eini­

gen ungenannten Artisten in seinem Prolog zu den 219Thesen vorgeworfen. Tempier sei nicht bereit gewesen, zwischen unterschiedlichen Einschränkungen von Aussagereich­

weiten zu unterscheiden. Er habe so die subtile Technik ignoriert, mit der die Artisten die Annahmen des Aristotcles in Beziehung zu theologischen Lehren setzten, ohne diese zu verletzen42). Offen blieb für Wippcl l977 nur noch, ob Bischof Tempier und seine Kommission die Artisten bewusst falsch interpretierten oder nur durch intellektuell�s Unvermögen an den subtilen Formulierungen der Artisten scheiterten41).

Dagegen setzte der Philosophiehistoriker Hermann Ley den Quellenwert der Werke gegenüber den Anschuldigungen der Polemiker herab. Dabei entwickelte er eine quellen­

kritische Methode aus der Überzeugung, dass erSt in den diffamierenden Aussagen der Verfolger die wahren Ansichten der Verdächtigen zutage traten. Daraus folgt, dass die

)9) Siehe oben S. 15).

�O) HISSETTE, Enquhe ,ur les 219 article (wie Anrn. )8). z. B. S. 45 und passim.

�1) John F. WII'PEI.., The Condemnadons of 1270 and 1277 at Paris, in; Journal for Medieval and Re­

naissance Studies 7 (1977), S. 169-201

�2) ChutuJarium Universitatis Parisensis (wie Anm. I), Nr. �73, S. 5�); so bereits Fernand van STIiIiN­

ßEltGHIIN, Une I�gcndc tcnace. La theorie de Ja doubJe verit�, in; Bulletin de Ja CJasse des Lettrls et des Scienee! MoraJes et Politiques de l'Aead�mie Royale dc Bc!giquc 56 (1970), S. 179-196.

�) WIPPIIL, The Condemnatlons of 1270and 1277 (wie Anm. �1),S. 175.

(13)

Polemik geg�n diese Lehren aus seiner Sicht sogar einen höheren Quellenwert als die Werke der Verurteilten selbst besaß:

.. Zu berücksichtigen ist, daß die Formulierungen in der Auswahl der als häretisch verurteilten Sätze oft präziser sind als in den Originalarbeiten . . . • H)

Zwar zeigte sich Ley als aufgeschlossener Rezipiem der westlichen Philosophiegeschichte und der Mediävistik seiner Zeit. Besonderen Nutzen zog eraus den Kölner Tagungsbän­

den in der Reihe der _Miscellanea Mediaevalia .. ·�). In der Bewertung der mittelalterlichen Autoren verließ er sich jedoch oft bewusst gerade nicht auf das Uneil di�s�r neuen Rich­

tung der Philosophiegeschichte, sondern bezeichnenderweise auf die ältere, katholische Häresieg�schichu=. Mehrfach erwähnt er zum Beispiel das zuerst Mitte d�s 18. Jahrhun­

dens aufgelegte _Dictionnaire des heresies, d�$ �rreurs et des schismes, ou memoire pour servir a I'histoire des cgaremems de l'esprit humain. von Francois Pluque[ (1716-1790)46).

Es wurde 1828 unter dem Titel .. Kctzer-Lexicon, oder: geschichtliche Darstellung der Irrlehren, Spaltungen und sonderbaren Meinungen im ChristeOlhume, vom Anbeginne desselben bis auf unsere Zeiten. dem deutschen Leserpublikum zugänglich gemacht4?).

Dabei vertrat Ley offensiv die Überzeugung, dass eben diese Häresiegeschicht� des strengen katholischen Moraltheologen Pluquet _es genauer trifft. als die modernen, bür­

gerlic

Der aus Deutschland emigriene jüdische Philosoph Leo Strauss (1899-1973) publi­

zierte 1952 �incn Essay über _Persecution and the art of writing., der die Veränderungen in der mediävistischen Forschung seiner Zeit reflektierte. Im Rahmen seiner langjährigen

44) Hermann LBY, SlUdie :wr Geschidlle des Malerialismus im Miuelallcr, Berlin [957; DHRS., Ge·

schichte der Aufklärung und des Alheismus (wie Anm. 5), zum Minelalter 11, 1-2 (1970-[971), hier 11. 2, S.221.

45) Antike und Orient im Mittelalter. VOrlrägeder Kölner MediaeviSlentagungen [956-1959, u. Milarb.

v. Willchad raul ECltHJ.T hg. v. Paul WtLPlIIT (Miscellanea mediaevalia I), Beclin [962, Die Metaphysik im Minelalter, ihr Ursprung und ihre BedeulUng. Vortrige des 2. internationalen Kongrenes für mitte·

lalterliche Philo$Ophie, Köln, 31. August bis 6. Seplembu 1961, im Auftrag der Socil!tl! Internationale pour l'l!tude de la Philosophie MMihale (SIEPM) hg. v. DUI$. (Miscellanea mediaevalia 2), Berlin [963;

Beiträge :tUm Berufsbcwuutsein des miuelaltcrlichen Menschen, u. Mitarb. v. Willehad raul ECKEJ.T, hg. v. Paul WILPEIIT (Miscellanea mediaevalia 3), Berlin [964 und folsende.

46) PLUQUIIT, Dictionnaire des hercsies (wie Anm. 29); vgl. Lu, Geschichte der Aufkliirung und des Atheismus (wie Anm. 5), TI. 2, S. 105, S. [07.

47) Fran�ois A. A. PLUQUET, Kelzer-Lexicon, oder; geschichtliche Darstellung der Irrlehren, Spahun­

gen und sonderbaren Meinungen im Christenthume, vom Anbeginne deudben bis auf unsere Zeiten, 1-111 aus dem Fa. üs.und sehr verm. v. Peter Frit7., Würzburg 1828-9 [mehrere Auflagen].

48) Lu, Geschichte der Aufklärung uod des Atheismus (wie Anm. 5), 11. 2, S. [07. Zur Funktion der arabischen Anregungen in Leys Materialismuskonzept und zu Leys AverrocsrC7.cption, ferner zur Funktion von Averroes auch im wesieuropiiischen linken b7.w. kommunistischen Geistesleben Z"'/'f/'fEII, Konstruklionsmerkmale der Averroes·Rezeption (wie Anm. 24), S. 139-148.

(14)

166

Überlegungen zur antiken Tyrannis und gewaltsamen Religionszwängen in der Neuzeit ebenso wie seiner eigenen Erfahrungen mit einem totalitären Regime49) kritisierte er die neue historische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts. Diese war dazu übergegangen, mit­

telalterliche religiöse Ausdrucksformen zu sUldieren, ohne sie zu kritisieren:

,.Ouring thc last few decades the rationalist tradition, which was the common deno­

minalOf of the alder views, and which was still father influential in ninetcenth­

century positivism, has been cither still further transformcd or allogerhcr rcjected by an increasing number of peoplc. Whcther and to what extent this change is to be considered a progress or a dec1ine is a queslion which only philosophy can answer ... SO)

Strauss plädierte deshalb für eine Geschichtsschreibung, die an der rationalistischen Kri­

tik feSthälL Aus dieser Perspektive soUte sie genauer zwischen den Zeilen unter der Maß­

gabe genauer Kenntnis des Autors und der zeitlichen Bedingungen lesen. Das sei qucl­

lenkritisch nicht nur möglich, sondern geradezu notwendig, weil die älteren Autoren nicht in einer libcralen Gesellschaft lebten5J). Nur mit dem Lesen zwischen den Zcilen könne man ihnen deshalb gerecht werden, während buchstäbliche Lektüren Aussageab­

sichten geradezu verfälschten. Die Frage, wie viel und was zwischen den Zeilen gelesen werden muss und darf, ist in der Philosophiegeschichte zwar kontrovers geblieben. Aber diese Technik wird programmatisch gefordert und eingesetzt�2).

So haben sich viele Philosophiehistoriker darauf vemändigt, zwischen den Zeilen der Kommentare der inkriminierten Artesmagister zu lesen. Zwar stimmen sie den genann­

ten quellenkritischen Ergebnissen der Sache nach zu, ziehen jedoch andere Folgerungen daraus. Wenn die Artisten ausdrücklich philosophische Aussagen einschränkten und dem Glauben unterordnen, erkennen sie nur ein unehrliches Lippenbekenntnis zum Christentum darin, dem keine innere Zustimmung entsprach5]). Sie rechnen zudem da-

49) leo STRAUSS, On Tyranny. Including ehe Strauss-Kojhe Correspondcnce, hg. v. Vietor Gouu­

vlTcH/Michacl S. ROTII, Chicago 2000; OllRS., Die Rcligionskrilik Spinozas und zugehörige Schriften, hg. v. Heinrich MBIBR (Geumme!te Schriften I), Stuugan 1996 u.a. Zu Serauss' Denken neuerdings Steven B. SM1TH, Reading Leo Seraun. Polieics, Philosophy, Judaism, Chicago 2006.

50) Leo STP. ... USS, Persecution and ehe Art ofWriting, New York 1952, S. 30.

51) STRAUSS, Persecution and the Art of Writing (wie Anm. 50), S. 30-37.

52) HerbertJAuMANN, Wortlaut und Kontext. Obcrl�gungen zur historischen Interpretation anhand von Winfried Schröder, Ursprünge des Atheismus (1998), in: Scientia Poetica 6 (2002), S. 1)1-146; Obf PLUTA, Atheismus im Mittelalter, in; Umbruche. Historische Wendepunkte der Philosophie von der Antike bis zur Neuzeit. Festschrih für Kurt Flasch zu seinem 70. Geburtstag, hg. v. Burkhard K ... u­

NERT/Burkhard MOJSISClI, Amsterdam/Phi!ade!phia 2001, S. 113-130, hier S. 122.

)3) etienne GILSON, La Philosophie au Moyen Äge, Paris 1947; Wilhe1m TOTOI(, Handbuch der Ge­

schichte der Philosophie, 11. Mittelaher, Frankfun 1973, S. 4;;-461, PERElRA/BINOL-POCHl., Oec1ara­

tio Raimundi (wie Anm. 33), S. 230; WELS, Aristotelisches Wissen und Glauben (wie Ann!. 35), S. cxx­

xiv-ex xxvi u.a.

(15)

mit. dass radikale Aussagen gar nicht schriftlich fixiert werden konnten, zerstört oder durch Sclbstzensur unterdrückt worden sind und sehen in den theologiekritischen, ver­

botenen Thesen von 1277 die Bestätigung für diese Vermutung. Hier erhalten die 219 Thesen deshalb ebenfalls einen höheren Quellenwert als die erhaltenen Werke der Artis­

ten selbst. Die Vorstellung von der rationalistischen und libertinistischen Mentalität der Pariser Intellektuellen, die ein freizügigeres soziales und philosophisches Lehen führen und sich nicht nur institutionell von den Vorgaben der theologischen Fakultät, sondern auch von den dogmatischen Zwängen des Christentums lösen wollten, beruht auf dieser Art der Lektürei41.

Das quellenkritische Dilemma, dass viele Schriften untergegangen sind und im Paris der 1270er Jahre zudem mit waghalsigen philosophischen Diskussionen zu rechnen ist, die nie schriftlichen Niederschlag fanden, wurde vonJohn Wippel und anderen durchaus eingeräumt. Wippcl belegt sie selbst mit einer Bemerkung von Thomas VOll Aquill. Die­

ser forderte Gegner seiner Schrift De unitate intellectus rundheraus auf, ihm gefälligst schriftlich zu widersprechen, Statt in den Ecken vor unverständigenjungen zu munkeln:

Hec igitur sum que in destructionem predicti erroris conscripsimus, non per docu­

menta fidei, sed per ipsum philosophorum rationes et dicta. Siquis autem gloriabun­

dus de falsi nominis scientia ue/i! contra hec que scripsimus aliquid dicere, nOIl loqua­

lur in angulis nec coram pueris qui nesciunt de tarn arduis iudicare, sed contra hoc scriptum rescribat, si audet, et inuenit non solum me, qui aliorum sum minimus, sed multos alios ueritatis zelatores, per quos eius errorj resistetur, uel ignorantie consule­

tur [H.v.DW]iSJ•

54) Jacques LI! Gaff, Les intellectuels au Moyen Age, Paris 1981 [mehrere Auflagen]; Alain de LI B1!RA, Penser au Moyen Age, Piris 1991; WELS, Aristotelisches Wissen und Glauben (wie Anm. 35), S. cxlix;

Luca BIANCHI, 1277. A Turning Point in Medieval HislOry, in: Was ist Philosophie im Millelaher? Ak­

tCn des X. Internationalen Kongresses fiir Mittelalterliche Philosophie der Socicte Internationale pour l'Etude de 1a Philosophie Medihale, 25. bis 30. August 1997 in ErfuTt, hg. v. Jan A. AUTSEN/Andrus SPEER, Berlin 1998, S. 90-110, hier S. 101. Kritik an dieser Aufwertung der 219 Thesen iibten EMERYI SPEER, After the Condemnation of 1277 (wie Anm. 2), S. 1 0 .

Der Zensurbegriff selbst (im Gegensatz zur intellcktuellen Freiheit) und die möglichen Auswirkungen von Zensur auf du Denken und den Lehrbcuieb ist deshalb im Zusammenhang mit den Lehrverboten von 1277 intensiv diskutiert worden, z. B.Johannes M. M. THIJSSJ;N, Censure and Heresy at the Univer­

sity of Paris, 1200-1400 (The Middlc Ages Scries), Philadelphia 1998; Luca BIANCHI, CensuTc et liberte inlclleClUclle i l'universite de Paris (xm<-XIV" siecles), Paris 1999; Abin BOVREAU, La censure dalls lcs universites medi':vales (nOie critique), in: Annales 55 (2000), S. 313-323 u. a.

55) Thomas von Aquin, Oe unilate intelleclUs, in: Sancti Thomae de Aquino Opera Omnia iussu Le­

onis xiii P. M. edita, XLIII, Rom (1976), S. 289-314, hier S. 314; das Lehren in nichtkomrollierbaren Räumen wurde deshalb zu unterbinden gtsuchl, Chartuluium Universitate Parisensili (wie Anm.I), Nr. 468, 2. September 1276, S. 538-Sl9. Dazu u.a. WIPPIH .. , Thc Condemnalions of 1270 and 1277 (wie Anm. 41),S.185.

(16)

168

Dieser Befund bringt jedoch etwa Wippe! auch in jüngster Zeil nicht dazu, sich den Kri­

tikern der Thesen Hissettes anzuschließen, weil die aus dem Kontext gerissenen, ver­

zeichnenden Lesarten der 219 Thesen aus seiner Sicht das Dokument rettungslos desa­

vouieren. Inzwischen glaubt er nicht mehr an unschuldige Missverständnisse, sondern deklariert die Arbeit der Kommission als bewusste, unfreundliche Lektüre56). Auch aus der SichtdesTheologiehistorikers LudwigHödl hatdic Kommission eilig und ungerecht gehandelt, unbegründete Beschuldigungen aufgeworfen und wenig sorgfältig gclescnS7).

Zur Erklärung wird auf Tempiers hitzigen Charakter, seine mangelnde intcllek[Ucllc Subtilität und seine philosophische 19noranz, seinen machtpolitischen Ehrgeiz und sein auch sonSt eigenmächtiges Verhalten verwiesenS81. Die sozialhistorlschen und instituti�

onsgeschichtlichen Entwicklungen an der Pariser Universität seit der Mine des 13. Jahr­

hunderts, die Konflikte zwischen den Fakultäten und innerhalb der Artistenfakultät sowie deren Verhältnis zum Bischof wurden in den letzten Jahrzehnten intensiv er­

forscht. Sie bieten den Rahmen, innerhalb dessen die machtpolitische Entscheidung des Bischofs als Überreaktion und als Fehler erklärt werden kannS9).

Doch diese Entwicklungen können auch als Argument für die gegenteilige Interpre­

tation dienen. Dann hätte der Bischof die Bedrohung realistisch einschätzt601. So räumt

56) John F. WII'I'EL, David Piche on the Condemnation of 1277. A Critical Study, in: American Catho­

lic Philosophical Quancrly 75 (2001), S. 597-624.

57) Der Auftrag des I>apstes sei damit nicht in dessen Sinn umgesetzt worden, der nur eine Untersu­

chung und einen Bericht gdordert hatte, s. Chartularium Universitate Parisensis (wie Anm. 1), Nr. 471, Schreiben des Papstes an Etienne Tempier vom 18. Januar, S. 541. Ludwig HÖOL, » ..• sie reden, als ob es zwei gegensät7.1iche Wahrhcilen gibe._ Legende und Wirklickeit der mindalterlichen Theorie von der doppelten Wahrheit, in: Philosophie im Minelalter, hg. v. Jan P. BlicKlIlANN/Ludger HONNIiI'ELDER, Hamburg 1996, S. 225-243.

58) Auch 'fhomas RICKLJ N, Von den _beatiores philosophi« zum »oplimus Stalus ominis«. Zur Entra­

dikalisierung der radikalen Aristoteliker, in: GeiSIesIeben im Il.Jahrhundert, hg. v. Andreas SpJ!I:IR/Jan A. Al!RTSEN, Berlin/New York 2000, S. 217-230, hier S. 230.

59) jürgen MIIlTIIKE, Papst, Ortsbischof und Universität in den Pariser Theologenprozcsscn des 1 3.jahrhunderts, in: Die Auseinandersctzungen an der Pariser Universilät im XIII.jahrhunderl, hg. v.

Albert ZIMlIlERMANN (Mi5cel1anea Mediaevalia 10), ßerljn 1976, S. 52-95; William j. COURTENIIY, Teacbing Careers al thc Univcrsity of Paris in the Thirteenth and Founeemh Centuries (Texts and Sludies in the History of Mcdieval Education ), Notre Dame (Indiana) 1988; TluJssHN, CCIIsure and Heresy (wie Anm. 54). Die Aktion des Bischofs wurde von Theologen kritisiert und wenige Jahrzchme später zum Teil zurückgenommen: Annclicse MAlEII, Ocr Widerruf der Articuli Parisiensis (1277) im jahr 1325, in: Archivum Fratrum I'raedicatorum 37 (1968), S. 13-19.

60) Luca BIANcHI, 11 vcscovo e il filosofi. La condanna parigina del l2n e I'evoluzione dell'aristote­

lismo scolastico, Bergamo 1990, der imensiv die sozialgeschichtlichen und institutionsgeschichtlichen Ereignisse unlersuchte, die zur Verurleilung von 1277 führten und gleichzeitig, wie de libera, an der Radikalität der Artesmagister festhil,; de libcra spricht auch neuerdings von der Unausweichlichkeit des Zusammenstoßes zwischen Philosophen und Bischof: Alain de LIBERA, Philosophie CI c\.nsure.

Remarques sur la crise universitaire de 1270-1277, in: Was isr Philosophie im Mitlelalter? Aklcn des X. Internationalen Kongresses für Mittelalterliche Philosophie der Societe Internationale pour I'�tude

(17)

auch Kurt Flasch auf dem Boden der Ergebnisse Roland Hissette5 ein, dass die inkrimi­

nierten Sätze in den bekannten Werken der Artisten nicht zu belegen seien. Er gibt über­

dies bereitwillig zu, dass das übrige aus dem Kontext gerissen und überspitzt interpre­

tiert sei. Trotzdem wertet er es in quellen kritischer Hinsicht wieder auf:

.Aber für eine historische Bewertung geht es nicht um die Glaubenshaltung be­

stimmter Autoren [Boethius und Siger]. Für sie zählt, dass ähnliche Sätze wie die verurteilten in den Texten der Genannten vorkommen, dass eine Kommission von 16 Theologieprofessoren sie zu den verurteilten Thesen umgestalten und behaupten konnte, sie würden in Paris gelehrt. Die Kommission des Bischofs hat de facto Sätze beurteilt, nicht Kontexte, nicht das verborgene Seelenleben. Geschichtliche Potenti­

ale liegen in den Sätzen, nicht in den verborgenen Gesinnungen. Insofern folgt der Historiker eher der Kommission als den Apologeten subjektiver Rechtgläubigkeit der hypothetisch Inkriminierten.«Ml

Hier werden die 219 Thesen selbst zu einem Gründungsdokument r:nionalistischen und religionskritischen Denkens, dessen textucHe und inhaltliche Bezüge deshalb vollständig unerheblich geworden sind. Auf diese Weise stützt es die heroische Darstellung von der Aufklärung im Mittelalter und dem religionskritischen Potential an der Artistenfakultät.

Flasch qualifiziert seine Hermeneutik als historische und grenzt sie von einer streng doxographischen Lektüre ab. Dies sollte Historikern zu methodischen Reflexionen An­

lass geben.

Dass Bischof Etienne Tempier und seine Kommission die Ansichten der Artisten zwar falsch wiedergegeben, aber der Sache nach sehr richtig verstanden hatten, nämlich als bewusste Angriffe auf die Autorität der Theologie und der Theologen, haben auch andere Philosophiehi.storiker, wie David Piche im Jahr 1999 gegen Roland Hissette ver­

treten. Er argumentierte mit durch Foucault inspirierten Überlegungen. Die nachweis­

baren, also orthodoxen Sätze der Artisten seien nicht doxographisch zu lesen, wie His­

sette dies getan hatte, sondern als aggressive Redestrategien in einer Situation des Machtkonfliktes zwischen Theologie und den nach Autonomie strebenden Artesmagis­

tern62).

Während also die eine Richtung den religiösen Verdacht auflöst, wird er von der an­

deren Seite auf einer neuen Ebene bestätigt. Dabei sind die methodischen Ansätze auf

de Ja Philosophie Medievale, 25. bis 30. August 1997 in ErfuTI, hg. v. Jan A. AERTSEN/Andreas SPEER, Berlin 1998, S. 71-89, hierS. 87-89.

61) FLAsctl, Aufklärung im Mittelalter? (wie Anm. I), S. 72: .Hier liegt ein Dokument vor, das mit dem romantisierenden Bild des Mittelahers als einer Epoche nur de� Glaubens unvereinbar ist.«

62) PICHE Epistola (wie Anm. I); vorher DB Lt8BRA, Philosophie et censure (wie Anm. 60), S. 88-89.

(18)

170

heiden Seiten, trotz gegenseitiger Kritik63), breit gefächert. Doxographische Fragestel­

lungen stehen neben sozial- und kulturhistorischen Ansätzen. Die Ursache der Kontro­

verse liegt in der Funktion, die die Gelehrten des 13. Jahrhunderts in der jeweiligen Ge­

schichtsschreibung haben oder haben sollen, und an der Frontstellung, die die einzelnen Forscher jeweils einnehmen.

Dabei kann es zu überraschenden Umkehrungen der Zuschreibungen kommen. So hat Putallaz kürzlich die Position Hissettes, Hippels und anderer vollständig bestätigt, allerdings ohne sicb auf diese Forscher zu beziehen. Sigcr und ßocthius hätten nie die Wahrheit des Glaubens angegriffen und dies auch nicht tun wollen; der Bischof habe aus Ignoranz ihre Methoden und ihre Thesen falsch verstanden. Für die Behauptung, die Artesmagister hätten rationalistische Thesen und eine doppelte Wahrheit gelehn, nannte er als Gewährsmann Papst Johallnes Paul 11(4). Tatsächlich stimmtJohanlles Paui lL mit seiner Sicht auf die Artesmagister mit der Tradition derer überein, die in den letztenJahr­

z.ehnten zwischen den Zeilen gelesen haben. Natürlich begründet dies für ihn keine Hc­

roisierung, im Gegcmei165l•

Putallaz' Ansicht nach waren es die Historiker, die ebenso wenig wie der Bischof die komplizierten Texte von Boethius von Dacien und Siger von Brabant begriffen hatten und deshalb die Artesmagister zu radikalen Rationalisten und Feinden des Glaubens verzeichnetenU). Aber es waren nicht die Historiker. Es sind dies wissenschaftliche To-

63) VgJ. die Kritik an Flaschs historiographischcr Methode von Carlos STEEl, Eine neue O:ustellung der Philosophie im Minelalter, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 7S (1993), S. 7S-82; dagegen die Kri1ik von Imbach an der als zu eng empfundenen Lektüre Stcels und anderer, lJ,tll,-\CH, Autonomie (wie Anm. 3),S. 90-92.

64) Fran�ois·Xavier PUT,-\LL,-\Z, Glaube und Vernunft an der Pariser Universi1ät im 13. Jahrhundert, in: Glaube und Vernunft - Theologie und Philosophie. Aspekte ihrer Wechselwirkung in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Mariano DEl.cADo/Guido V6IlGAUWEN, Freiburg (Schweiz) 2003, S. 23-44. . 65) Johanncs Paul ll., Enzyklika Fides et Ratio an die Bischöfe der katholischen Kirche über das Ver·

hältnis von Glauben und Vernunft, hg. v. Sekretariat der DeulSchen Bischofskonferenz (Verlautbarun­

gen des Apostolischen Stuhls tJ5), Bonn 1998, S. 48-49: .Der hl. Albertus Magnus und der hL Thomas waren die ersten, die, obwohl sie an eincrorganischen Verbindung zwischen Theologie und Philosophie festhielten, der Philosophie und den Wissenschaften die nötige AUlOnomie zuerkannten, dic diese brau­

chen, um sich den jeweiligen Forschungsgebieten erfolgreich widmen zu können. Vom späten Mittelalter an verwandelte sich jedoch die legitime Unterscheidung zwischen den heiden Wissensformen nach und nach in eine unselige Trennung. Infolge des Vorherrschens eines übertrieben rationalistischen Geistes bei einigen Denkern wurden die Denkpositionen radikaler, bis man tats�chlieh bei einer getrennten und gegenüber den Glaubensinhaltcn absolut autonomen Philosophie anlangte .• Diese Enzyklika ist viel­

fach besprochen worden, 1.. B. in Kar! Jose! W,-\llNER, Glauben und Denken. Perspektiven 1.U _Fides es Ratio_ (Heiligenkreuzer Hoehschulreihe 9), Heiligenkreuz 2000.

66) PUT,-\J.lAZ, Glaube und Vernunft (wie Anm. 64), S. 36: .Schlussfolgernd kann festgestellt werden, dass. wenn Boethius die epistemologische Stellung der Physik analysiert, es nicht sein Ziel ist, ih\einen absoluten Charakter zu verleihen, sondern - ganz im Gegenteil-sie in ihren Grenzen fest7.ulegen. Ocr sogenanme ,heterodol<e Rationalismus. der ,Averroisten. ist eine Erfindung von Historikern, die sich

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poi, die über Jahrhunderte vor allem in doxographischen und historischen Studien von Theologen und Philosophen weitergegeben wurden'?).

4. DER FALL THOMAS SCOTUS

Die Debatte um den blasphemischen SatZ, dass Moses, Jesus und Mohammed Betrüger seien, wurde seit der Frühen Neuzeit intensiv geführt. Angeheizt wurde sie zusätzlich durch die Suche nach einem ganzen Buch, das diesen Satz ausführlich explizieren sollte.

In ganz Europa wurde dicscs Buch gesucht, doch vergeblich, denn cs cxisticrte nicht.

Nachdem das Phantombuch schließlich doch zur empörenden und errcgendcn Wirklich­

keit geworden war und die erste nachweisbare Fassung aus dem Jahr 1688 klandestin rür einen offcnbar nur sehr kleinen Kreis zugänglich wurdeftll, war die Diskussion noch langc nicht am Endc. Denn bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde weiterhin dic Frage crörtert, ob es dieses allerschlimmste Buch übcrhaupt geben konntc'9).

Der Satz von den drei Bctrügern konnte offensichtlich die religiöse Verdächtigkeit eines Zeitgenossen besondcrs unmissverständlich vor Augen führen. Im Jahr 1239 ist er crstmals in dcr lateinischen Literatur belegt, als Papst Gregor IX. dcn Satz Kaiscr Fricd- zum Verhäl!nis zwischen Vernunft und Glauben keine anderen thwretischcn Modelle vor Augen ge­

führt haben als dasjenige der harmoni$Chen Obereinuimmung nach thomistischer Manier .•

67) Kurt Fla$Ch verwies auf die frappierenden Übereinstimmungen z .... ischen dem Protestanten Reu­

ter, dem Katholiken Grabmann und dem Kommunisten ley, FLUCH, Aufklärung im Minclalter? ( .... ie Anm. 1), S. 11, .... u er allerdings ab Bestätigung sdner Position deutete.

68) Anonymus UohannJoachim Müller). Oe imposturis religionum (Oe tribus impostoribus). Von den Begtrügerc�ycn der Religionen. Dokumente, kritisch hg. u. komm. v. Winfried SCIIII.ÖOKII. (Philoso­

phische Clandestina der deutschen Aufklärung 1,6), Stuttgart/Bad Canstatt 1999, S. 9-40 hat scharf alle früheren Duierungen .1, unbewiesene Spekulationen zurückge .... iesen. Dabei .... andte er sich insbeson­

dere gegen die Thesen von Wolfgang GI!II.I(::KII, Du Buch �De tribus impostoribus*, Beclin 1981 und Friedrich NIB"ÖHNIIR, Veritas sive Varietu. wsingl Toleranzpuabel und du Buch von den drei Be­ trügern, Heiddberg 1988. Vgl. auch Oe tribus imp<»,toribus/Von den drei Betrügern (IS98) (lat.ldt.), hg.

u. eingeleitet v. Gerd B"'RDCH, iibersetzt v. Rudolf W"'LTHIJI, Berlin 1960.

69) Bestritten .... urdedie Existenz besonders prominent von Bernard de La Monnore, Leure i Monsieur Bouhier, Pr&ident au Paflement de Dijon, sur le pritendu livre des trois imposteurs, in: Menagiana 01,1 les bons mots et remarques de M. Menage recueillies par ses amis, <4 Bde., hg. v. Gillcs MfN ... ovBcrnard OE ... MONNOV.K (Origina1ausgbe: Pari, 171S), nouvellc �dition, Paris 1719, S. 18.)-311. Von dieser Schrift exiStierte alsbald eine deutsche Übersetzung mit eigenen Kommentaren: Befnnd de La Mon­

nore, Menagiana, Perroniana, und Thuana, oder sonderbare Merkwürdigkeiten von Gelehrtcn und ihren Schriften. Aus diesen dreien in ANA sich endigenden Sammlungen henusgezogen und den Lieb·

habern derselben in deutscher Sprache mitgeteilet. Nebst einer Vorrede von dem allerschlimmsten Buche, hg. v. Leonhard Christoph RÜIIU, Braunsch .... eig 17)S, S. 3-32. Wenig spiter erschienen die ersten hinori.schen Untersuchungen zu den Ursprüngen des Buches und des Satzes, z.B. Johann M.

MImLlG, Das erste $Chlimmste Buch oder hinorisch-critische Abhandlung von der religionslästerlichen Schrift Oe Tribus 1mpostoribus, Chemnitz 1764.

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