lutz Stäudel
Herrn Wagner's (hoffentlich) letzter Coup
Neue lehrpläne in Hessen geplant - Das Beipiel des naturwissenschaftlichen Unterrichts
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Angetreten gegen die »sozialistische , Gleichmacherei« im Schulwesen hat der
. hessische Kultusminister Wagner ((DU) bereits einen Teil seiner geplanten Rück- schritte erreicht: die faktische Kaltstellung der Förderstufe qua »freier Schulwahl«
durch die Eltern, die Erhöhung der Klas- senfrequenzen für (fast) alle Schülerinnen durch einen hartnäckigen Einstellungs- stopp und die Benachteiligung der Gesamtschulen durch Wegnahme und Umverteilung von dringend notwendigen Koordinationsstunden.
Eines aber war ihm und seinen Partei- freunden lange ein besonderer Dorn im Auge: die unter sozialdeMokratischer Herrschaft formulierten Rahmenrichtli- nien. Zwar hatte Wagner mit Unterstüt- zung der F.D.P. schon bald nach Amts- übernahme Schluß gemacht mit den lästi- gen Ansätzen der Gesellschaftslehre im Schulbereich und die alten Fächer Erd- kunde, Sozialkunde und Geschichte reakti- viert, doch fehlten jetzt die »richtigen«
Richtlinien.
Noch zu sehr war das Denken der Leh- rerinnen und Lehrervergiftet mit Lernzie- len wie der Förderung von Konfliktfähig- keit, noch zu viele Schülerinnen und Schü- ler brachten historische Entwicklungen in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Verteilungskämpfen um knappe Ressour- cen oder gar mi t aktueller Politik.
Nun hatten schon die sozialdemokrati- schen Kultusminister ab Mitte der 70er Jahre, erschreckt vom eigenen Mut und dem Druck eines konservativ dominierten Landeselternbeirats nachgebend, begon- nen, allzu for5::hes Gedankengut wieder aus dem Richtlinienwerk zu entfernen.
Überdauert hatte dennoch einiges, insbe- sondere die auf Durchlässigkeit zwischen den Schulformen orientierte Gesamtkon- ... struktionder Rahmenrichtlinien (RRL).
Die vollmundigen Ankündigungen einer baldiger: Neufassung der RRL durch die (DU führte zunächst aber nur dazu, daß der Diesterweg Verlag vergriffene Fachrichtlinien nicht mehr nachdruckte und interessierte Junglehrerinnen oder Studentinnen nur per Kopie in den Genuß
»Berechnen Sie den Druck in kg/cm2 bei zwölf Umdrehungen
ministerieller Weisheiten gelangten. Um . 1988, so hörte man aus Wiesbaden, schei- terte der erste Versuch des Ministeriums, Richtliniengruppen zusammenzustellen, die personell die politische Generallinie der Konservativen garantieren und umset- zen sollten.
Lehrplan-Schöpfung im Geheimverfahren
Nach juristischen Niederlagen gegen die GEW (z.B. beim FörderstufenurteiO vor- sichtig geworden, besann sich Herr Wag- ner auf eine Art Geheimdiplomatie, deren Früchte man kürzlich bewundern durfte:
Am 12. September 1990wurden in Mar- burg die Lehrpläne für die naturwissen- schaftlichen Fächer in der Sekundarstufe I vorgestellt.
Schon der Rahmen dieser Vorstellung spricht für sich, fand sie doch anläßlich der ;>19. Hessischen Landesversammlung des Deutschen Vereins zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftli- chen Unterrichts« (MNU) statt, eines Verei- nes, der sich als Sprachrohr naturwissen- schaftlicher Gymnasiallehrer versteht und auf eine deutlich konservativ geprägte Vereinsgeschichte zurückblicken kann.
Diesem wohl als vertrauenswürdig einge- schätzten Kreis wurden während je 45 Minuten sowohl die Leitlinien der Überar- beitung wie auch die wichtigsten Inhalte des künftigen Biologie, Physik und Che- mieunterrichts für die drei traditionellen Schulformen vorgestellt. .
Ausgangspunkt, so war dort zu hören, war ein ministerieller Erlaß vom Oktober
1989, der eine schulspartenbezogene Aus- arbeitung von Lehrplänen forderte und zur Einrichtung »kleiner« Arbeitsgruppen mit 3 bis 5 Personen führte; sprich: ein Vertreter der Hauptschule, einer für die Realschule und einer für' s Gymnasium, übrigens fast durchwegs im Amt ergraute Fachleiter. Bereits zu Schuljahresende 89/90 hatten diese Gruppen ihre Ent- würfe dem Minister vorgelegt; der Vorstel- lung in der Fachöffentlichkeit soll bald eine Begutachtung durch »anerkannte«
Fachdidaktiker folgen, dann das (leider?) notwendige Beteiligungsverfahren (Lan- deselternbeirat, Verbände bzw. Hauptper- sonairat) und die Inkraftsetzung zum Schuljahresbeginn 1991/92.
Wie »geheim« das gesamte Verfahren durchgeführt worden war - nach Aus- kunft eines Insiders um »störende« politi- sche Diskussionen in der Öffentlichkeit möglichst zu vermeiden-, wurde gleich zu Beginn der Vorstellung der Chemiepläne deutlich. Man habe bis zum Vortag noch
päd extra Bi demokratische erziehung I Oktober 1990
nicht gewußt, ob die erarbeiteten Papiere tatsächlich herausgegeben werden dürf- ten, daher hätte man eine mündliche Vor- stellung vorbereitet, unterstützt mit eini- gen Auszügen auf Overheadfolie. Da das ministerielle Okay, entgegen der Erwar- tung der Lehrplangruppen, in letzter Minute doch noch gekommen war, hatte zumindest der GY1TInasial~Chemiker 30 Kopien dabei, und diejenigen, »die den Entwurf unbedingt einsehen wollen«, konnten »am Ende nach vorne kom- men.« Solche fast scheue Zurückhaltung wurde auch aus den beiden anderen Fach- vorstellungen berichtet.
Modemisierung ä la CDUFDP Daß die Kultusbürokratie nicht nur (»fal- sche«) Publicity scheut sondern auch sonst eher vorsichtig agiert, macht die gewählte formale Konstruktion der Lehr- planarbeit deutlich: Zur Verwunderung der Fachlehrerinnen bleiben die jeweili- gen RRL nämlich in Kraft. Deren Konzept solle durch die vorgelegten Lehrpläne lediglich »aufgelockert«, »modernisiert«
und »inhaltsbezogen gestrafft« und für die Kollegen »übersichtlither« gemacht werden. Damit ist offensichtlich eine Hin- tertür geschaffen, die bedarfsweise eine schnelle Änderung der Vorlagen erlaubt, aber gleichzeitig eine Mitwirkung Dritter erschwert. Natürlich, so die Mitglieder der Lehrplangruppe, blieben die Forderungen nach Wissenschaftlichkeit, Gesellschafts- und Idividuumsbezug erhalten; es ginge ganz pragmatisch um eine Entlastung vom a IIfä 11 ig eri Zeitdruck, die Einbezie- hung und Angabe konkreter Arbeitstech- niken und Unterrichtsziele sowie eine ver- stärkte Praxisorientierung.
Daß mit diesem Praxisbegriff ganz sicher nicht die gesellschaftliche Praxis gemeint ist, wird spätestens anhand des dem Autor vorliegenden Plans für das Gymnasium deutlich. Praxis bedeutet hier schlicht die alltägliche Unterrichtspraxis.
Ausgehend von der von konservativer Seite lange bestrittenen Feststellung, daß
»die mit den RR gegebene Stoffülle (. .. ) zu einem vorwiegend dozierenden, eilig und oberflächlich informierenden Unter- richten (verleitet)« hätte, 5011 jetzt ver- sucht werden, mit dem Lehrplan »das ver- bindliche Minimum an Unterrichtsinhal- ten (»Fundamentum«) zusammenzustel- len und zwar gesondert für jedes Schul- jahr. Dieser verpflichtende Unterrichts- stoff ist für maximal 60 Prozent« der mög- lichen Unterrichtsstunden kalkuliert.
So weit, 50 schlecht, denn die Kürzung entlastet zwar jene, die in der Vergangen-
heit aufgrund ihrer reformresistenten eige- nen Fachsozialisation meinten, alle in den RRL genannten Lernziele seien pflichtge- mäß zu realisieren; tatsächlich 5011 der neue Freiraum, ganz in deren Sinne, zunächst für mehr »Übung, Wiederho- lung und Leistungsüberprüfung« genutzt werden.
Was es mit den individuell von den Leh- renden zu setzenden Akzenten in diesen
»Spielräumen« auf sich hat, wird durch zweierlei deutlich: Einmal folgten die Lehr- planarbeiter bei ihrer Kürzung und der gleichzeitigen verbindlichen Festschrei- bung der verbliebenen Inhalte einer völlig überholten Didaktik, die sich fast ganz aus- schließlich an einer nicht weiter begründe- ten und begründbaren Fachsystematik orientiert, zum anderen sehen sie die Frei- . heit des Lehrers auch dadurch begrenzt, daß »sich auch aus der Sachlogik heraus oder aus methodischen Gründen oft eine zwingende Abfolge (der Inhalte) ergibt.«
Eigene Unterrichtsgestaltung nicht erwünscht
Mit dem harmlos klingenden Etikett einer
»landesweiten Koordinierung« versehen, wird hier jeder Versuch einer inhaltlichen - situativen wie didaktischen - Konkreti- sierung der RRL, die vom der dumpfen Abbilddidaktik abweicht, ein Riegel vorge- schoben. Die Autoren des Gymnasialplans scheuten sich nicht einmal, zur Erläute- rung zweier (!) alternativer Vorgehenswei- sen in Klasse 9 explizit auf zwei Schulbü- cher zu verwiesen, wo man die Details bei Bedarf nachschlagen könne. Abgesehen von der juristischen, intellektuellen und wettbewerbsrelevanten Unbedarftheit, die aus einem solchen Zitieren spricht, geht es tatsächlich keineswegs um die Beseitigung einer vermeintlichen
»Unübersichtlichkeit« der RRL, sondern um eine Beschneidung der Kompetenzen der Fachlehrerinnen und Fachkonferen- zen an den einzelnen Schulen.
Diese hatten in der Vergangenheit viel- fach, und zWar durchaus im Sinne der RRL, »eigene Stoffpläne zusammenge- stellt (. . .), um Freiräume für ein gründli- ches Arbeiten zu schaffen.« Nicht erwähnt wird, aber mitzudenken ist, daß fallweise auch Freiräume für schulinterne Curricula mit Epochalanteilen, fächerüber- greifenden Ansätzen, Projekten mit gesell- schafts und historisch orientierten The- men, Arbeiten zu Umweltproblemen uvam. genutzt worden waren. »Diese bis- her von vielen Kolleginnen und Kollegen bzw. Fachkonferenzen geleistete Lehr- planarbeit 5011 mit dem hier vorgelegten
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Lehrplan landesweit koordiniert werden, so daß den Schülern/innen ein gemeinsa- mes Unterrichtsfundament gesichert wird.« Der in dieser Passage enthaltene Zynismus ließ sich wohl kaum in nettere Worte kleiden. Im Klartext: Wagner läßt gleichschalten, ganz wie in Bayern und BadenWürttemberg, deren Pläne man tat- sächlich auch vorab konsultiert hatte.
Auf die verbliebenen bzw. weggestri- chenen Inhalte einzugehen, wäre an die- ser Stelle sicher wenig sinnvoll. Ange- merkt werden muß jedoch ein Element der Argumentation, das sich gegen mögli- che Kritik auS den eigenen Reihen rich- tet: Das Gymnasium sei nicht auf einen Abschluß in Klasse 10 hin angelegt. Mit . dieser Aussage, die hier die Streichung und Verschiebung der organischen Che- mie von der Mittel in die Oberstufe begründen helfen soll, wird jeder Durch- lässigkeit zwischen verschiedenen Schul- formen vorab eine Absage erteilt. Tat- sächlich unterschieden sich auch die
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Pläne für Haupt- und Realschule so gravie- rend, daß ein Wechsel schon aus forma- len Gründen nicht mehr möglich sein würde. Dies, so scheint es, ist das eigentli- che Ziel des Herrn Wagner, der seinem sicher hierarchischen Bild von Gesell- schaft ein ebensolches von Schule zur Seite stellen möchte.
Entsprechend dem anvisierten Schul- abschluß variieren schließlich sogar die verwendeten Modellvorstellungen, und zwar nicht nur hinsichtlich einer qualitati- ven Durchdringung, sondern durchaus nach Art und Reichweite überhaupt. Der am wenigsten rigide Hauptschulplan zeichnet sich (wie bisher aber auch die RRL) durch die Möglichkeit für echte Pro- jekte gegen Ende der Schulzeit aus.
Naives Wissenschaftsbild
Es ist aber kaum zu erwarten, daß damit- und mit ähnlichen Vorschlägen für die anderen Schulformen - das durchgängige
Defizit aufgefangen werden könnte, das sich im Fehlen fast jeder Meta-Informa- tion über und Auseinandersetzung mit Wissenschaft ausdrückt: Chemie hat hier so gut wie keine Geschichte, vom Fort- schritt der Forschung und den Kurzbiogra- phien der Forscher abgesehen; Erkenntnis erscheint weiter (wieder) wertneutral.
trotz Napalm, Seveso und Atrazin im Trink- wasser; insbesondere wird mit kaum zu überbietender Naivität von einem Funda- mentum geschwärmt, jenem »Gefüge an Einsichten und Erkenntnissen, das not- wendig ist, um Chemie zu verstehen und sich selbständig weiterzubilden«.
Wie dieses sozusagen kontextunab- hängig erworben werden könnte, mit oder ohne die namentlich genannten Schulbücher, und wie sich dies - später- im richtigen Leben auf in politischgesell- schaftliche Teilhab~umsetzen lassen könnte, und zwar für Schüler aller Abschlußniveaus, dies bleiben die neuen Lehrpläne dem Leser schuldig.