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Der große Liebende - Leonard Bernstein (4)

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SWR2 Musikstunde

Der große Liebende - Leonard Bernstein (4)

Mit Katharina Eickhoff

Sendung: 23. August 2018 Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: SWR 2018

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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

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2 SWR2 Musikstunde mit Katharina Eickhoff

20. August – 24. August 2018

Der große Liebende - Leonard Bernstein (4)

Indikativ

Vor knapp zehn Jahren hat Alex Ross, der großartige amerikanische Musikautor, sich mal die FBI-Akte von Leonard Bernstein schicken lassen und dann Teile davon in seinem Artikel im „New Yorker“ abgedruckt. Daraus geht hervor, dass Bernstein seit den 40-er Jahren beim FBI unter aufmerksamer Beobachtung stand. Gesammelt wurden Aussagen von anonymen Zuträgern und bezahlten Spitzeln, die belegen sollten, dass er sich nicht nur öffentlich für sogenannt „linke“ politische Positionen stark gemacht hat, sondern insgeheim sogar Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen sei. Das ist er nie gewesen – trotzdem hat man in den frühen 50-er Jahren, zu den Hochzeiten von Senator McCarthys Kommunistenhatz, von oberster Stelle die Verlängerung seines Reisepasses erst bewilligt, nachdem Bernstein eine elfseitige eidesstattliche Erklärung abgegeben hatte, dass er sein Land liebe und kein Kommunist sei.

Bernstein hat Amerika tatsächlich innig geliebt, aber ihm ist damals immer klarer geworden, dass sein Land in keinem guten Zustand war, auch wenn es nach außen im adretten Fifties-Style gute Laune verbreitete. Davon, wie sich die bleierne

Verlogenheit auch auf die Leben und Schicksale amerikanischer Familien auswirkt, erzählt er dann in seiner ersten Oper, die 1952 fertig wird. Sie spielt in einer

keimfreien amerikanischen Vorstadt-Idylle wie aus dem Werbefilm, wo die Zähne des Hausherren so weiß blitzen wie der frisch gestrichene Gartenzaun, wo die glückliche Hausfrau sich die Lockenwickler aus dem Haar zupft und im rosa Dralon-Morgenrock zärtlich lächelnd den Kaffee kredenzt und dem zum erfolgreichen Tagwerk

ausrückenden Gatten einen Abschiedskuss aufdrückt, bevor sie den wohlgeratenen Kindern ihr herzhaftes Erdnussbutter-Sandwich zubereitet...Aber hinter den Kulissen gärt es: „Mad Men“ lässt grüßen.

Vorgestellt wird diese unerträglich heile Welt bei Bernstein von einer Art griechischem Chor, aus dem um die Mitte des 20. Jahrhunderts ein Jazz-Trio

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3 geworden ist – und das preist nun also im maliziösen Tonfall die Idylle dieser

Nachkriegsbürgerlichkeit, als sei’s ein Fernsehwerbespot, allerdings einer mit ironischem Doppelboden:

CD T. 1 aufbl. ab 0’05 3’30

Leonard Bernstein, Trouble in Tahiti, Jazz Trio Louise Edeiken, Mark Thomsen, Kurt Ollmann ORF Symphonie-Orchester, Leonard Bernstein DG 447 962-2

Man merkt es schon: Die Idylle, die Leonard Bernstein da in „Trouble in Tahiti“

entwirft – er hat in diesem Fall auch das Libretto geschrieben - , diese Idylle trieft nur so von Ironie, und die Realität, die dann in der eigentlichen Handlung gezeigt wird, sieht ganz anders aus. Wenn nämlich der griechische Chor sich verzogen hat, begegnen wir im Haus hinterm weißen Gartenzaun einem unglücklich verheirateten Paar. Von außen ist alles gut, er hat einen guten Job, sie muss nicht arbeiten, ein Kind ist auch schon da,- aber genaugenommen haben sie sich überhaupt nichts mehr zu sagen und verzweifeln an ihrer Sprachlosigkeit und der Mauer zwischen ihnen. Er geht, statt nach Hause zu kommen, lieber zum Sport, sie sucht im Kino Ersatz für die fehlende Romantik in ihrem Leben. Und beide sind einfach nicht in der Lage, über ihre Gefühle zu sprechen. Das ist, auch wenn sie fast 70 Jahre alt ist, eine ziemlich moderne Geschichte, die so wohl heute noch tagtäglich und überall stattfindet, und wem sie just passieret, dem bricht das Herz vielleicht noch nicht mal theatralisch entzwei, sondern stirbt einfach ganz leise in der Brust vor sich hin...Die Streitereien, Missverständnisse und Misstrauensbekundungen, mit denen man am Frühstückstisch den anderen und sich selbst verletzt, die kannte Lenny allerdings tatsächlich noch allzugut – von seinen eigenen Eltern.

CD T. 2 Langs. unter Text wegblenden ab 2’35 Leonard Bernstein, Trouble in Tahiti, Breakfast Scene

Nancy Williams, Mark Brown, New York Philharmonic, LTG Leonard Bernstein

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4 Sony G010001223104J

...und da wischt schon wieder der griechische Chor in Gestalt des ironischen Trios aus dem Werbefernsehen über die Szene, und der kurze, zarte, enorm subtil komponierte Moment zwischen den zwei verzweifelten Eheleuten ist zerplatzt – die heile Welt kennt keine Gnade.

Es ist eine ganz schön lebenskluge Oper, die Bernstein da Anfang der Fünfziger Jahre fabriziert, eine Oper, der man anmerkt, dass ihr Autor für ein Genie doch ganz erstaunliche Antennen für zwischenmenschliche Interaktion gehabt hat -

Durchgesetzt auf den Bühnen hat sich „Trouble in Tahiti“ nicht, und das liegt womöglich eben daran, dass die Zeit für so viel beklemmende Alltagsrealität in der Oper im Jahr 1952 einfach noch nicht reif war.

Auch, dass er – Gershwins Beispiel folgend – die Rhythmen des 20. Jahrhunderts aus Jazz und Blues mit einbezogen hat, hat die Opernwelt natürlich eher die Nase rümpfen lassen...Sehr schade, dass sich diese insgesamt nur eine knappe Stunde dauernde erste echte Oper Bernsteins nicht zum Klassiker entwickelt hat – dabei ist das Stück trotz des traurigen Themas kein bisschen deprimierend oder humorlos, im Gegenteil. Bernstein hatte ja immer diesen enormen Sinn für Komik und Ironie - zum Beispiel lässt er seine frustrierte Hausfrau Dinah, weil sie sich ablenken will, ständig ins Kino rennen. Sie sieht einen Film, findet ihn unterirdisch, trotzdem setzt sie sich, weil ihr nichts besseres einfällt, noch mal rein – und abends, als ihr Mann vorschlägt, doch ins Kino zu gehen, damit man sich nicht unterhalten muss, wird sie ihn dann zum dritten Mal anschauen.

Dabei hat sie am Nachmittag schon einen Wutanfall gekriegt darüber, was für ein hirnverbrannter Schwachsinn das doch ist: Gutaussehender Amerikaner und zarte Südseeprinzessin in knappem Sarong treffen sich auf Trauminsel, Liebe schlägt ein wie der Blitz, aber kurz vor der Hochzeit werden sie von quäkend singenden

Eingeborenen in den Sack gesteckt und zu finsteren Opferritualen abtransportiert, wozu Stürme brausen, Flutwellen anlanden und ein Vulkan ausbricht, undsoweiter, undsofort, bis zum Happy End, das sich natürlich der good old US Navy verdankt, die plötzlich einmarschiert, kurz und gut, wie es im Text so schön heißt: Escapist

technicolor twaddle! – eskapistischer Kokolores in Technicolor. Hier kommt Dinah wutentbrannt aus dem Kino gestürzt und liefert ihre vernichtende Filmkritik ab:

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CD T. 3 5’00

Leonard Bernstein, Trouble in Tahiti, What a movie!

Wendy White, ORF Symphonie-Orchester, LTG Leonard Bernstein DG 447 962-2

Ein lustiger Zufall – oder auch nicht – ist, dass sich Bernstein just in den Monaten, in denen er in Mexiko sitzt und an dieser Oper über eine dysfunktionale Beziehung komponiert, intensivst mit seiner eigenen Beziehungsfähigkeit auseinandersetzt.

1946 hat er sich mit der Schauspielerin Felicia Montealegre-Cohn verlobt, und obwohl er sie großartig findet und auch seine Freunde und Geschwister sie

begeistert aufnehmen, lässt er sie im Verlobungsjahr mehr oder weniger links liegen – derweil ihr immer klarer wird, wen sie sich da zumuten will: einen niemals

stillstehenden, mit tausend Dingen beschäftigten Geist, einen musikalischen Genius, für den immer zuerst die Musik kommen wird, einen Superstar, an dem die ganze Welt zerrt, um ein Stückchen Lenny abzubekommen, und, vielleicht vor allem: einen Mann, der sich rein sexuell gesehen deutlich mehr für Männer als für Frauen

interessiert. Lenny wiederum hat sich von seinem Umfeld treiben lassen, vor allem von seinem Mentor Serge Koussevitzky, der weiß, wie wichtig gerade in Amerika ein geordnetes Familienleben für eine große Karriere sein kann. Aber er hat panische Angst, sich festzulegen und Verantwortung zu übernehmen.

1947 lösen die zwei die Verlobung wieder auf und beschließen, Freunde zu bleiben.

Es folgen Jahre, in denen sie sich nur sporadisch sehen, aber immer wieder Briefe schreiben – Lenny stürzt sich ins große Karriere-Karussell mit Dirigier-

Verpflichtungen in USA, Europa und Israel, Felicia spielt Theater und tritt im sich rasend verbreitenden Fernsehen auf. Nach ein paar Jahren ist sie in den USA fast so bekannt wie ihr Ex-Verlobter. Sie lebt zusammen mit Dick Hart, einem extrem

gutaussehenden Schauspieler – aber hinter der Fassade ist das Glück brüchig, Hart ist verheiratet, und Felicia nur „die andere Frau“, außerdem ist er

Schwerstalkoholiker und trinkt sich um Kopf und Kragen.

Und dann, 1950, kommt der dramatische Umschwung: Lenny ist in Israel auf Konzertreise, und parallel zu seinem Unwohlsein, was sein hektisches

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6 Stardirigentenleben angeht, reift bei ihm die überwältigende Erkenntnis, dass er sein Leben, wie auch immer es demnächst aussehen wird, mit Felicia verbringen will. An seine Schwester Shirley schreibt er: „Trotz all der Blockaden in meinem Liebes- Mechanismus habe ich sie von Anfang an tief und aufrichtig geliebt... Letzte Nacht träumte ich lang, dass ich sie gefunden hätte, und dass wir unsere Probleme miteinander gelöst hätten. Es war ein heftiger Traum, aber wundervoll. Und beim aufwachen war ich verzweifelt über die tausende von Meilen, die immer noch zwischen uns liegen und den grauen Zweifel des Nichtwissens...Meine Welt

verändert sich gerade – von einer voller Abstraktionen und Öffentlichkeitshunger hin zu einer realen Welt, voll von Kreativität, von Montealegre-Cohn, von Reise und Ruhe und Liebe und Wärme und Intimität. Ich habe nie so stark wie in diesen

Wochen gespürt, wie durch ich bin mit diesem Leben als Dirigent, und wie bereit für ein inneres Leben, das heißt: Komponieren und Felicia...

Ich fühle eine solche Sicherheit, uns beide betreffend – ich weiß, wir haben eine Zukunft, mit großer Kameradschaft, einem Haus, Kindern, gemeinsamen Reisen – und einer Zärtlichkeit, wie ich sie nie gefühlt habe.“

CD T. 4 2’50

Leonard Bernstein, Wonderful Town, It’s love Edith Adams, Studioorchester, LTG Lehman Engel Naxos 8120846

„It’s love“ – ein kleiner Vorgriff auf Bernsteins nächsten großen Broadway-Erfolg, von dem morgen noch die Rede sein wird:

„Wonderful Town“ von 1953.

Es war also nun doch Liebe – allerdings hat Bernstein, als ihn auf seinen Reisen weit weg von Felicia diese Erkenntnis überfällt, die Rechnung ohne die Braut gemacht:

Felicia hat sich inzwischen in ihrem neuen, Lenny-losen Leben ganz gut eingerichtet, sie genießt ihre Schauspielkarriere und fühlt sich zum ersten Mal frei und stark – und Lenny muss nach seiner Rückkehr erfahren, dass sie überhaupt nicht vorhat, ihn wieder zurückzunehmen.

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7 Die Situation ändert sich dann aber doch wieder, als ihr Geliebter Dick Hart nach einem besonders heftigen Alkohol-Exzess ins Koma fällt und stirbt. Bernstein versucht, so gut es geht für sie da zu sein, er hat aber inzwischen Ernst gemacht in Sachen Leben-Verändern, hat alle Dirigierverpflichtungen abgesagt und ein

Sabbatical im mexikanischen Cuernavaca geplant. Jetzt ergreift also er wieder die Flucht, um in Mexiko „Trouble in Tahiti“ fertig zu komponieren und ansonsten mit seiner Nachbarin Martha Gellhorn, der Autorin und Ex-Frau Ernest Hemingways, Scrabble zu spielen. Martha Gellhorn später über die unterhaltsame, aber immer extrem fordernde Gegenwart Bernsteins: „Innerhalb von vierundzwanzig Stunden war ich völlig fertig.“

Felicia, irritiert, dass Lenny just in dem Moment wieder entwischt, als sie ihre Gefühle für ihn wieder zulässt, schreibt ihm:

„Dieses Gedöns ist albern und jemandem Deines Alters unwürdig.

Werd endlich erwachsen, mein Liebling. Das Leben ist so unerträglich kurz und ich bin so müde. Ich weiß, dass Du mich liebst, auf Deine eigene, seltsame Art, und ich kann nicht verstehen, wieso Du die Verantwortung, die mit der Liebe einhergeht, nicht akzeptieren, ja sogar genießen kannst. Aber das ist nur schon wieder

verdammtes Gerede, es wird langsam langweilig, oder? Ich wünschte, wir könnten aufhören, die Dinge zu diskutieren und anfangen, sie zu tun!“

Dann greift endlich das Schicksal ein, es kommt die Nachricht, dass Koussevitzky in Tanglewood im Sterben liegt. Lenny nimmt das nächste Schiff nach Hause und kommt gerade noch rechtzeitig für ein intensives Abschiedsgespräch,- am nächsten Morgen ist Koussevitzky tot.

Er und Felicia verpassen sich noch ein paarmal wie in einer Screwball-Komödie aus Hollywood, aber dann ist die Entscheidung gefallen:

Es wird geheiratet, jetzt aber wirklich.

Lenny, das Glückskind, hat auch hier unglaubliches Glück. Felicia ist der seltene Fall eines Menschen, der es in Sachen Geist, Schnelligkeit und Witz mit ihm und seinem Umfeld aufnehmen kann, sie spricht sogar Rybernian, die hermetische

Geheimsprache der Bernstein-Geschwister.

Sie ist glamourös schön und gleichzeitig unprätentiös und selbstironisch, stilsicher und gescheit, sprachbegabt und musikalisch und loyal bis zur Selbstverleugnung, und vor allem: Sie weiß ziemlich genau, worauf sie sich einlässt. Und als sie im September 1951 dann mit gelben Rosen in der Hand in der Bostoner Mishkan Tefila-

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8 Synagoge vor dem Rabbiner steht, glaubt sie auch noch fest daran, dass sie damit schon klarkommen wird...

CD Candide T. 6 2’00

Leonard Bernstein, Candide, Oh happy we

June Anderson, Jerry Hadley, London Symphony Orchestra, LTG Leonard Bernstein DG 00289 479 8538

Das „Happy pair“ in Bernsteins „Candide“ redet konsequent aneinander vorbei, und das wird, bei allen Bitternissen, mit denen die Beziehung auch zu kämpfen hat, bei den Bernsteins nie so sein. Was immer passiert: Felicia ist und bleibt Leonard

Bernsteins große Liebe, und sie sind einander der jeweils wichtigste Mensch auf der Welt, bis zu Felicias viel zu frühem Tod, über den Lenny niemals hinwegkommen wird.

1952 kommt dann Jamie, ihre erste Tochter, zur Welt – ihr Pate wird der Komponist Marc Blitzstein, mit dem Bernstein schon seit den 30-er Jahren innig befreundet ist.

Blitzstein und Bernstein haben politisch ähnliche Ansichten, aber bei Blitzstein wirkt sich das auch auf die Musik aus, die er komponiert: Sein Singspiel „The cradle will rock“, das 1937 am Broadway rauskommt, überträgt das Musiktheater von Weill und Brecht, die Form des Songspiels mit sozialem Bewusstsein, ins Amerikanische.

Leonard Bernstein hat „The cradle will rock“ 1939 in Harvard als

Studentenaufführung auf die Bühne gebracht, unter Blitzsteins Anleitung, und die beiden waren sofort ein Herz und eine Seele. Blitzstein war bekennender Schwuler, er hat das ziemlich offen ausgelebt, und für Lenny war das über die Jahre ihrer Freundschaft immer wieder ein Maßstab, an dem er seinen eigenen Lebensentwurf messen konnte – und es war bald klar, dass er so wie Blitzstein nicht leben wollte.

Dieses Leben war ja auch gefährlich.

1964 wird Blitzstein auf Martinique von drei Seeleuten ermordet, mit denen er den Abend verbracht hatte – Tatmotiv: Schwulenhass.

1952 kommen Lenny und Blitzstein für ein Projekt zusammen, das McCarthys Komitee für unamerikanische Umtriebe sofort aufhorchen lässt – bei denen Marc Blitzstein sowieso als gefährliches Subjekt gilt: An der neugegründeten Brandeis

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9 University außerhalb von Boston findet ein Musikfestival und Symposium zur Zukunft der Kunst in kunstfeindlichen Zeiten statt, die Konzerte bringen Musik von Aaron Copland bis hin zu Miles Davis und Max Roach, Merce Cunningham zeigt eine neue Choreographie, und Lenny ist der künstlerische Direktor. Er hält Vorträge und

diskutiert vor tausenden von interessierten Zuhörern, aber er bringt auch zusammen mit Marc Blitzstein dessen neueste Arbeit auf die Bühne – Marc Blitzstein war es nämlich, der Bert Brechts „Dreigroschenoper“ ins Englische übersetzt hat, der Name

„Mac the Knife“ war also seine Erfindung, wie auch der englische Text des

dazugehörigen Songs, den heute jeder im Ohr hat, und den von Ella Fitzgerald über Frank Sinatra bis Robbie Williams so viele gesungen haben inzwischen. In Brandeis gibt es also zum ersten Mal das ganze Stück auf Englisch, und zwar in

Starbesetzung: Am Pult steht Leonard Bernstein, und die Seeräuber-Jenny ist tatsächlich Lotte Lenya höchstpersönlich, die Ur-Jenny und Witwe des zwei Jahre vorher gestorbenen Kurt Weill. Eine offizielle Aufnahme davon gibt es nicht, nur so eine Art Hobby-Mitschnitt, weshalb man über die technischen Mängel eben

weghören und sich auf die Bedeutung des Augenblicks konzentrieren muss...

2’....

Leonard Bernstein Historical Recordings Threepenny Opera Brandeis 1952 Kurt Weill, Pirate Jenny

Lotte Lenya, Brandeis Festival Ensemble, LTG Leonard Bernstein West Hill Radio Archives WHRA-6048

Lotte Lenya übrigens ist immer der Ansicht gewesen, dass Bernstein als Komponist der einzige legitime Nachfolger Weills gewesen ist – weil er wie Weill das Leichte und das Ernste zusammenbringen und bittere Botschaften in allersüßeste

Tanzrhythmen verpacken konnte.

Bei diesem Festival der Brandeis University nimmt sich Bernstein die Zeit, mit den Studenten und Gästen über die Zukunft der amerikanischen Musik zu diskutieren, eine Frage, die sich ihm als Komponisten und Aufführenden ja immer wieder

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10 brennend stellt – dafür ist Zeit, weil er tatsächlich Anfang der Fünfziger Jahre die Notbremse zieht und eine zeitlang aus dem sich immer schneller drehenden Karussell seines Lebens als Star-Dirigent auscheckt. Ihm wird klar, dass ihn ein reines Dirigentenleben, und sei es auch noch so erfolgreich, nicht glücklich macht – er muss Zeit fürs Komponieren haben, und Zeit für den intellektuellen Diskurs und das Lehren. Vielleicht hat es auch ein bisschen damit zu tun, dass sein über alles geliebter Lehrer Koussevitzky 1951 stirbt – Koussevitzky hat ihn immer entschieden in Richtung Dirigentenpult geschoben und war von Bernstein, dem Komponisten nicht wirklich überzeugt. Jetzt ist Koussevitzky weg, und sein Meisterschüler traut sich endlich, er selbst zu sein. Bevor er aber eine längere Kompositionsphase einleitet, schreibt Bernstein noch mal schnell als Dirigent Musikgeschichte, indem er mit dem New York Philharmonic die Zweite Sinfonie von Charles Ives uraufführt – ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung.

Charles Ives, Jahrgang 1874 und im Hauptberuf Versicherungsfachmann aus Connecticut, hat mehr oder weniger im Alleingang der amerikanischen klassischen Musik ein Gesicht gegeben und einen Weg gezeigt – Ives hat um die

Jahrhundertwende in seinem Kopf ganz andere Musik gehört, als sie zu seinen Zeiten in der Klassik-Szene Amerikas üblich war, er liebte zwar auch Beethoven, Brahms und Wagner – und kannte sie ziemlich gut -, aber er liebte vor allem seine Heimat mit ihren Folksongs, Camp-Meetings und Marching Bands, und seine musikalische Experimentierfreude hat ihn immer wieder in noch längst nicht

erforschte Gebiete katapultiert, wo Tonalität, Metrum und sonstige bisher geltenden Ordnungen wegfallen und ernste und leichte Musik gleichberechtigt nebeneinander stehen, oder manchmal auch übereinander purzeln. „Meine Zeit wird kommen“, war sich einst Gustav Mahler sicher – sein amerikanischer Bruder im Geiste Ives hat diesen Glauben irgendwann verloren und aufgehört zu komponieren, weil seine Mit- Amerikaner einfach hoffnungslose „Schlappohren“ waren, wie er das nannte – zu bequem, um sich unkonventionellen Hörerfahrungen zu stellen. Der 77-jährige, verbitterte Ives ist auch nicht zu Bernsteins Uraufführung seiner Zweiten Sinfonie in der Carnegie Hall erschienen.

Aber es heißt, er soll die Aufführung – und ihren riesigen Erfolg – am Radio mitverfolgt und sich danach vor Freude den Bart abrasiert haben...

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11 CD Ives Symphony No2 T. 5 ausbl. ab 1’30

Charles Ives, Sinfonie Nr.2, Finale

New York Philharmonic, LTG Leonard Bernstein Sony SMK 60202

Parallel zur der Aufnahme mit dem New York Philharmonic, die dann 1959 entstanden ist – da ist Lenny schon Chefdirigent bei den Philharmonikern - , hat Bernstein eine Art Essay über Ives und seine Sinfonien aufgenommen, der auch auf der Platte zu finden ist – und der ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie sehr er seiner Zeit damals in Sachen Musikvermittlung voraus gewesen ist. Wenn es heute zu so ziemlich jedem klassischen Konzert vorher eine Konzerteinführung gibt, dann verdanken wir das nämlich mehr oder weniger allein der Tatsache, dass Leonard Bernstein irgendwann damit angefangen hat, weil er fand, dass das Publikum etwas über die Musik erfahren sollte, die es da hörte. Lenny, Enkel eines Rabbi, ist in allem, was er tat, ein Lehrender gewesen, und auch, wenn es bei Musik um „soul and guts and heart“ geht, wie er es ausgedrückt hat – Seele und Mut und Herz -, fand er doch, dass es nicht schadete, auch ein bisschen das Hirn einzuschalten und zu erfahren, was da in einem Stück passiert und wie der dafür verantwortliche Komponist

gedacht, manchmal auch: gefühlt hat.

Das hat er dann nicht nur in seinen legendären „Young people’s concerts“ auf sensationelle Weise umgesetzt, sondern auch bei vielen seiner Plattenaufnahmen, die oft, als Bonus-Track sozusagen, einen kleinen Vortrag zur eingespielten Musik mitliefern, gesprochen von ihm selbst mit seiner, das kam noch dazu,

außergewöhnlich schönen Sprechstimme – Lenny sang zeitlebens so falsch wie ein betrunkener Rabe, aber er war einfach der sexieste Musikerklärer, den man sich vorstellen konnte. Wenn man seinen Essay über Charles Ives’ Zweite Sinfonie kennt – die übrigens für Ives’sche Verhältnisse erstaunlich „klassisch“ klingt - , dann hört man die Musik tatsächlich noch einmal ganz neu, plötzlich bemerkt man alle die vielen Zitate, die Ives aus großen Werken seiner Lieblingskomponisten, ja, heute würde man sagen: „gesamplet“ hat. Eine Technik, die im ganz frühen 20.

Jahrhundert ja völlig neu war.

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12 Noch spannender ist aber für uns Nicht-Amerikaner der Schluss seiner Einführung, wenn er anhand von Klangbeispielen zeigt, wie Ives’ ganzes musikalisches

Denksystem von dem bestimmt war, was Bernstein „Americana“ nennt: den alten Songs aus Bürgerkriegszeiten, den Stephen-Foster-Melodien und Marschliedchen wie „Camptown Races“ oder „Columbia the Gem of the Ocean“, die so untrennbar mit der amerikanischen Geschichte und Identität verflochten sind – und wie genial er das alles in den „europäischen Suppentopf“ geworfen und daraus seine eigene Suppe gekocht hat, die ungeheuer amerikanisch schmeckt...

Gleiche CD T. 9 Ab 7’00 6’00 Lenny über Ives´2.

Tja, und wer jetzt nicht Lust hat, ein bisschen mehr von dieser Musik zu hören, dem ist wirklich nicht zu helfen...

Gleiche CD T. 5 einbl. ab 5’00 4’20 Charles Ives, Sinfonie Nr. 2, Finale

New York Philharmonic, LTG Leonard Bernstein

Einen „Marx-Brothers-Gag“ nennt Leonard Bernstein diesen irrsten Sinfonie-Schluss aller Zeiten, – er hat ihn natürlich geliebt, und dann Kritik auf sich gezogen, weil er diesen wahnwitzigen Cluster-Akkord immer länger und lauter spielen ließ, als Ives das notiert hatte.

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