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Räume 1 7: Franz Gertsch. Die Siebziger

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Einführung

Am 8. März 2020 feierte der international be- kannte Schweizer Künstler Franz Gertsch sei- nen 90. Geburtstag. Das Museum Franz Gert- sch – seit 2002 der wichtigste Ort der Vermittlung seines Werks – nimmt dieses Er- eignis zum Anlass für die Ausstellung «Franz Gertsch. Die Siebziger».

Das Museum, das in den vergangenen Jahren immer wieder die neuen Arbeiten von Franz Gertsch präsentiert hat, konzentriert sich mit der Geburtstagsausstellung auf die monumen- talen Gemälde der 1970er Jahre. Die aus ver- schiedenen renommierten Museen und Sammlungen stammenden Leihgaben doku- mentieren jene Phase in seinem Schaffen, die den Ausgangspunkt für dieses reiche Oeuvre in Malerei und Grafik bildet. Nicht das Alter wird mit der Geburtstagsschau reflektiert, kei- ne abschliessende Retrospektive ist ange- dacht; vielmehr feiert die Schau mit Gertschs Arbeiten aus den 1970er Jahren eine Zeit des jugendlichen Aufbruchs. Sie versammelt Hö- hepunkte aus dieser Schaffensphase, mit der Franz Gertsch internationale Aufmerksamkeit und Anerkennung erlangte. Damals wurde er von namhaften Kuratoren und Ausstellungs- machern wie Jean-Christophe Ammann und Harald Szeemann entdeckt. Die Ausstellung im Museum Franz Gertsch belegt, dass die Gemälde seit damals nichts von ihrer Unmit-

telbarkeit und ihrer sogartigen Wirkung einge- büsst haben. Sie ist nicht chronologisch ge- gliedert, sondern thematisch und motivisch angelegt. Die Familienbilder schaffen eine Klammer um weitere monumentale Gemälde mit den zentralen Figuren Luciano Castelli und Patti Smith.

Luciano Castelli war damals nicht nur Modell.

Er war und ist selbst als Künstler aktiv. Auf ganz andere Art spiegelt sich auch in seinen multimedialen Arbeiten die Zeit in ihrem Auf- bruchsgeist und in ihrer Lust, Kunst und Leben miteinander zu verbinden. Im Kabinett des Museums hat er den Raum «Reckenbühl» ein- gerichtet.

Raum 1

(«Maria mit Kindern», «Saintes Maries de la Mer I», «Saintes Maries de la Mer III»,

«Kranenburg»)

Die Familie des Künstlers mit der Ehefrau Ma- ria und den Kindern Silvia, Hanne-Lore, Alb- recht und Bendicht bildete den Lebensmittel- punkt von Franz Gertsch und war ihm eine Quelle der Inspiration. Oft und gerne fotogra- fierte er die Familienmitglieder bei ihren alltäg- lichen Verrichtungen und nahm die beiläufig entstandenen fotografischen Schnappschüsse als Vorlage für seine im Blow up-Verfahren geschaffenen, monumentalen Gemälde. Er malte mit Dispersionsfarbe auf Halbleinen und

behandelte dabei jede Stelle gleich wie die anderen.

Die Fotografie zum Bild «Maria mit Kindern»

(1971) entstand auf einer Wanderung in der Gegend des Chasseral. Man hielt inne und genoss ein Picknick. Eine der Töchter bewegt sich gerade aus dem Fokus, als der Künstler- vater abdrückte. Auch im Gemälde, das sich auf diese Vorlage bezieht, bleibt es bei der angeschnittenen Figur. Derart wird der Au- genblick auch dort bewahrt und doch wird ihm im Bild eine Dauer verliehen.

Momente, wie sie die Kamera eingefangen hat, liegen auch den Gemälden «Saintes Mari- es de la Mer I» (1971) und «Saintes Maries de la Mer III» (1972) zugrunde. Dieses Mal befand sich der Künstler auf einer Reise in die

Camargue, um dem alljährlichen Fest der Sinti und Roma in Saintes-Maries-de-la-Mer beizu- wohnen. Was er mit dem Fotoapparat fest- hielt, ist alles andere als eine gefällige Touris- tenattraktion. Es sind junge Mädchen, die sich zum Meer bewegen und dort miteinander spie- len. Es sind stille, scheue Begegnungen. Eines der Kinder scheint die Augen im Rücken zu spüren und dreht sich fragend zum Künstler und zu uns, den Betrachtern, um. Im Bild

«Saintes Maries de la Mer III» vergnügen sich die Mädchen, sich uns locker zuwendend, im seichten Wasser der steinigen Meeresbucht.

Bei diesem Werk verwendete der Künstler zum

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ersten Mal einen speziellen Baumwollstoff und Acrylfarbe, wodurch sich der malerische Akt verlangsamte.

Bereits im Gemälde «Kranenburg» (1970) spielte der Künstler mit der überraschenden Wirkung der Rückenansicht. Zusammen mit Freunden befanden sich Maria und Franz Gertsch auf einem Ausflug nach Kranenburg im deutsch-niederländischen Grenzgebiet.

Hier wollten sie eine Ausstellung des Künstlers Franz Eggenschwiler besuchen, der von den Brüdern van der Grinten eingeladen worden war. Die Freunde und Weggefährten Jean- Christophe Ammann, Balthasar Burkhard, Markus und Monika Raetz, Pablo Stähli und Ritsaert ten Cate bewegen sich auf einer Strassenflucht in die Tiefe des Bildes. Der Gang der Dargestellten mutet wie synchroni- siert an – jede der Figuren holt mit einem Bein zum Schritt aus, was zu einem Bewegungs- moment im Gemälde führt, der dort gebannt bleibt. Die Rückenansicht sorgt für eine laten- te Spannung. Den Blick von uns abgewendet, nehmen uns die Figuren mit auf den Gang ins Bildinnere, hin zum Ausstellungsort.

Raum 2

(«Patti Smith I», «Patti Smith II», «Patti Smith V», «Selbstbildnis»)

1977 folgte Franz Gertsch einer Einladung seines damaligen Galeristen Veith Turske nach

Köln an ein Konzert von Patti Smith. Franz Gertsch war ein Verehrer von Smiths poeti- scher Rockmusik. Es war die Mischung aus Entschlossenheit und Zartheit ihrer Erschei- nung genauso wie ihrer Musik, die ihn berühr- te. Bei ihrem Auftritt in Köln trug sie eine rote, enganliegende Hose, über die ein weites, weisses Hemd fiel, das von einer schwarzen Weste gefasst war. Franz Gertsch trat nahe an sie heran und fotografierte die Performerin unablässig. Er bedachte nicht, dass das Blitz- licht sie irritieren musste. So sehr störte es sie, dass sie mitten in der Rezitation eines Gedichts ihre Manuskriptseite zerknüllte und nach dem aufdringlichen Fotografen warf.

Auch diese Szene hielt Franz Gertsch fest.

Die fotografische «Ausbeute» des Abends war reich. Aus dem Vorliegenden traf Franz Gert- sch wieder seine eigene, überraschende Wahl.

Das erste Bild (1977/78) des Patti Smith- Zyklus gilt der Musikerin beim Stimmen ihrer elektrischen Gitarre, von ihrem Equipment umgeben. Sie befindet sich also in der Vorbe- reitung des Auftritts. Und wieder wendet sich die Protagonistin nicht dem Künstler und dem Betrachter zu, sondern sie zeigt ihm den Rü- cken. Durch diese Geste steigt die Erwar- tungshaltung des Betrachters. In «Patti Smith II» (1978) wendet sie sich uns zu, allerdings nicht freundlich lächelnd, sondern aufgebracht und zornig. In der Hand hält sie das zerknüllte Papier und zielt damit auf ihr Gegenüber. Erst

in den beiden folgenden (in Burgdorf nicht ge- zeigten Gemälden des Zyklus) hat sie sich be- ruhigt. Sie steht rezitierend – einmal in distan- zierter Profilansicht, einmal sich dem Publikum zuwendend – vor dem Mikrofon. Diese vier Patti Smith-Bilder wurden im Jahr 1979 abge- schlossen.

Während die Werke «Patti Smith I» und «Patti Smith II» die Musikerin in der Vorbereitung und bei ihrem Auftritt zeigen, ist sie im fünften Gemälde (1979) in Gertschs Atelier in

Rüschegg zu Gast. Vor einem Konzertauftritt in Bern besuchte sie den Künstler in Rüschegg und sah sich zu ihrer grossen Überraschung mit den überlebensgrossen, ihr gewidmeten Bildern konfrontiert. Sie nahm vor einem für sie aufgestellten Mikrofon Platz und sprach einige Worte des Dankes an ihre Gastgeber Maria und Franz Gertsch. Auch diesen Mo- ment hielt der Künstler fotografisch fest und bezog sich im grossen Gemälde «Patti Smith V» darauf. Die äussere Bewegung der vorgän- gigen Bilder hat sich nun in einen inneren be- wegten Ausdruck von Gesicht und Händen verlagert. Die Umgebung ist auf ein Minimum reduziert und wird unwichtig. In diesen Eigen- schaften markiert das Werk den Übergang zu den Darstellungen mit einzelnen, aus dem Kontext ihrer Umgebung herausgelösten Figu- ren, die ganz um ihrer eigenen (Bild-)Präsenz willen gezeigt werden. Auch im «Selbstbildnis»

(1980) gibt sich der nunmehr fünfzigjährige

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Künstler bar jeder Selbstinszenierung. Sein schweifender Blick scheint sich vom äusseren Zeitgeschehen ab- und einer inneren Wirklich- keit zuzuwenden.

Raum 3

(«Franz und Luciano», «Luciano I», zwei Stillleben)

1971 besuchte Franz Gertsch das Kunstmu- seum Luzern, wohin ihn der damalige Konser- vator des Hauses, Jean-Christophe Ammann, eingeladen hatte. In der Eingangshalle sitzen Luciano Castelli und dessen Freund Franz Marfurt. Gertsch hat die Fotokamera dabei und lichtet die beiden Jünglinge ab. Interes- siert schauen diese zur Seite. Sie haben etwas im Blick, das ausserhalb des Bildgevierts liegt.

Marfurt beugt sich sogar leicht nach vorne, um besser zu sehen. Dadurch, dass die beiden etwas fixieren, das dem Betrachter verborgen bleibt, gelangt eine Spannung in die Situation.

Diese wird im Grossformat des Gemäldes (1973) wirkungsvoll gesteigert und intensi- viert. Die beiden Protagonisten kommen in verschiedenen wichtigen Arbeiten von Franz Gertsch aus dieser Schaffenszeit vor (siehe Raum 4).

Das Bild «Luciano I» (1976) zeigt den jungen Mann – inzwischen gereifter und mit kurz ge- schnittenem Haar – allein an einem Tisch sit- zend. ‘What a mess’ möchte man ausrufen,

wenn man auf die leicht aufgeklappte Tisch- platte im Vordergrund des Gemäldes schaut.

Da müssen kurz zuvor noch einige andere an- wesend gewesen sein. In wüstem Durchei- nander haben sie Teller mit Essensresten und Zigarettenstummeln, umgekippte Tassen und Gläser zurückgelassen. Ganz am Rand des Tisches steht in prekärer Position ein nicht ausgetrunkenes Glas Wein. Luciano ist sitzen- geblieben. Mit seinen locker übereinander ge- schlagenen Händen und dem nach unten ge- richteten Blick strahlt er eine stoische Ruhe aus. Wüsste man nicht um das wilde Leben des Partygängers, könnte man ihn hier für ei- nen Gast am fremden Ort halten. Dabei ist es sein Zuhause, das Reckenbühl, das er mit ei- ner Wohngemeinschaft teilt. Wieder ist es nicht in erster Linie der Mensch Luciano und seine momentane Befindlichkeit, die Franz Gertsch dazu brachten, den Jüngling zu foto- grafieren und dann ins grosse Gemälde zu übertragen, sondern seine Bildwirksamkeit und Ausstrahlung. Die ruhige, «aufgeräumte»

Figur vor dem unaufgeräumten Tisch sorgt für einen spannungsvollen Kontrast.

Raum 4

(«Medici», «At Luciano’s House», «Marina schminkt Luciano», «Irène»)

Jean-Christophe Ammann, der im Bild

«Kranenburg» mit weit ausholendem Schritt vorangeht, war auch der vitale Motor in einer

Kunstszene, die bald mit neuen Ausdrucks- formen Furore machen sollte. Er merkte schnell, dass er es bei Franz Gertsch mit ei- nem kühnen Erneuerer der Kunst seiner Zeit zu tun hatte. Als Konservator des Kunstmuse- ums Luzern lud er ihn für 1972 zu einer Ein- zelausstellung ein und machte ihn auch mit dem lebendigen Freundeskreis des gerade mal zwanzigjährigen Luzerner Multitalents Luciano Castelli bekannt.

1971 hielt sich Franz Gertsch in Luzern auf, um die Räume des Kunstmuseums, das sich in Renovation befand, zu besuchen und seine Ausstellung für das Jahr 1972 vorzubereiten.

Hier gingen Luciano Castelli und seine Freun- de ein und aus. Und auch hier hatte Franz Gertsch die Kamera dabei, fotografierte in der Eingangshalle Luciano und seinen Freund Franz (siehe Raum 3) und nun – vor dem Haus – die bunte Gruppe der jungen Leute in ihrem lockeren Auftritt. Eine der Fotovorlagen wurde zum Ausgangspunkt für das Gemälde

«Medici» (1971/72), das als Inkunabel in die Kunst der 1970er Jahre einging. Im Riesen- format von 400 x 600 cm stehen sie vor uns, ganz nah und überlebensgross. Einzig eine Holzlatte mit der auf dem Kopf stehenden Aufschrift der Baufirma Medici hält sie uns auf Distanz. Es sind Ludwig von Segesser, Luciano Castelli, Ueli Vollenweider, Franz Marfurt und Thys Flüeler. Alle ungefähr zwanzigjährig wir- ken sie wie der Inbegriff jugendlicher Unbe-

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schwertheit. Ihre Aufmerksamkeit gehört et- was, das sich ausserhalb des Bildes befindet und sie enorm zu amüsieren scheint. Es ist einmal mehr eine zufällige Szene, die Franz Gertsch in einer Fotografie erhascht hat und, in der Übersetzung in ein monumentales Ge- mälde, zum Epochenbild erhebt.

Ähnlich wie Jean-Christophe Ammann ist auch Franz Gertsch von der jungen Künstlerclique um Luciano Castelli fasziniert. Er besucht die- se in der Villa Reckenbühl in Luzern, wo Luci- ano mit seinen beiden Freunden Franz und Ueli seit 1970 lebt. Auf dieses ungezügelte Seinsgefühl trifft der stets massvolle Franz Gertsch. Nicht einen Moment lang hat er sich den jungen Menschen angebiedert. Er bleibt der zurückhaltende Beobachter, der einige Augenblicke aus dem Fluss des bunten Ge- schehens mit seiner Kamera festhält und sie zur Vorlage für seine Gemälde aus dieser Zeit macht. In die Runde der jungen Männer mi- schen sich auch gleichaltrige Frauen wie Bar- bara, Gaby und Marina. Sie wechseln ihr Er- scheinungsbild so behände und leicht wie ihre Kollegen. Franz Gertsch lässt sich nicht vom orgiastischen Lebensgefühl der «Reckenbüh- ler» mitreissen. Er feiert die Partys nicht mit, sondern hält Momente davor und danach mit der Kamera fest. Im Gemälde «At Luciano’s House» (1973) bereiten sich Barbara, Luciano und Marina für ein Fest vor. Ihre ausgefallene Kleidung und ihre geschminkten Gesichter

haben etwas Clowneskes. Die Maskerade scheint eine ernste Angelegenheit zu sein, denn es geht um nichts weniger und nichts mehr als um die Transformation des Ich. Defi- nierte Rollen von Frau und Mann, von Kunst und Leben geraten durcheinander. Davon er- zählt auch das Bild «Marina schminkt Luciano»

(1975). Die damalige Freundin von Luciano mit streng nach hinten gebundenem Haar wirkt maskulin, er mit seinem langen Locken- haar weiblich. Sie ist daran, Luciano zu schminken. Sie macht aus ihm ein Kunstwerk und hat sich selbst schon zu einem solchen stilisiert. Dieser Moment der Verwandlung und der höchsten Zuwendung der beiden Figuren wird bei Gertsch im grossformatigen Gemälde gebannt.

Zum Freundeskreis von Luciano Castelli ge- hörte auch Irene Staub, die unter dem Namen

«Lady Shiva» als Zürcher Edelprostituierte be- kannt war. Im Porträt von Franz Gertsch (1980) zählen diese Lebensumstände und Ge- schichte nicht. Wie bei «Patti Smith V» und

«Selbstbildnis» konzentriert er sich auf das ausdrucksstarke Gesicht, dem man allerdings trotz seiner Jugend ansieht, dass es vom aus- schweifenden Leben gezeichnet ist.

Raum 5

(«Markus Raetz», «Urs Lüthi»)

Die fotografischen Vorlagen für die Gemälde der beiden Künstlerfreunde Markus Raetz und Urs Lüthi (beide 1970) entstanden wie dieje- nige für «Kranenburg» auf der Reise nach Kranenburg. Oft und gerne spielt Franz Gert- sch in seinen Bildern mit der Blickführung der Figuren und auch mit derjenigen der Betrach- terin. Er zeigt uns seine Protagonisten immer wieder anders: Markus Raetz wendet sich uns zu, ohne uns anzuschauen. Sein Blick hinter den Brillengläsern richtet sich nach innen, als gäbe es keine äussere Wirklichkeit. Auch Urs Lüthi entzieht sich dem Betrachterblick, indem er sein Gesicht hinter einer Sonnenbrille ver- birgt, dies, obschon er sich in einem Innen- raum aufhält.

Raum 6

(«Huaa…!», «Brecht, Hanne-Lore, Silvia»,

«Maria und Benz»)

Gertschs Bekenntnis zum (Foto-)Realismus lässt sich auf das Jahr 1969 datieren. Damals entdeckte er das Medium der Fotografie als Basis für seine Arbeiten. Gleichsam durch sei- ne Kamera sehend, nimmt Gertsch von nun an seine Umwelt wahr. Er malt das Bild «Huaa...!»

– einen Reiter im wilden Galopp – nach einem Still aus dem Film «The Charge of the Light Brigade», das er in der Zeitschrift Salut les

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Copains reproduziert fand. Schon hier wird die Vorlage im Gemälde zu etwas grundlegend Anderem. Indem er die Farbe rasch auf das Baumwolltuch aufträgt, erhält das Werk eine vibrierend malerische Qualität. Seitdem bildet die Fotografie – als eine Art Skizze oder «Parti- tur» den Ausgangspunkt für sein malerisches Wirken.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, fertigte Franz Gertsch von nun an seine Fotovorlagen selbst. Dabei bezog er sich in der nächsten Zeit besonders oft auf die immer verfügbaren

«Modelle», die Mitglieder seiner jungen Fami- lie: seine Frau Maria mit den Kindern Silvia, Hanne-Lore, Albrecht und Bendicht und deren Lebensumfeld. Ihnen mag es selbstverständ- lich geworden sein, dass der Vater sie fotogra- fierte, denn sie bewegten sich vor der Kamera locker und natürlich. Er aber wählte aus den schnell und beiläufig geknipsten Fotos mit Be- dacht und Behutsamkeit jeweils eines als Bild- vorlage aus. Nach einem langen Prozess des Erwägens und Verwerfens entschied er sich für diejenige, die ihm am meisten künstleri- schen Interpretationsspielraum versprach, am meisten malerische Herausforderung bot. Ins Grossformat übersetzt, erhalten alltägliche Szenen wie «Brecht, Hanne-Lore, Silvia» oder

«Maria und Benz» (beide 1970) eine einpräg- same Eindringlichkeit.

Und doch wirkt keines der Familien-Tableaus biedermeierlich süss. Der Grund dafür liegt nicht nur im überlebensgrossen Format, das jede niedliche Attitüde im Keim erstickt. Es liegt auch an der Distanziertheit des Malers zu seinen Sujets. Er bringt sich selbst nirgends mit ein, es gibt keinen Hinweis auf ihn. Kaum je blickt ihn jemand an. Vor allem aber ver- danken die Werke ihre Wirkung der Malpraxis des Künstlers: er trägt die Dispersionsfarbe rasch, von einer inneren Vorstellung getragen, auf den ungrundierten Halbleinenstoff auf. Alle Stellen werden gleich behandelt und ver- schmelzen zur einheitlichen Fläche. Wenn die Gemälde unmittelbar beeindrucken, so liegt das nicht in erster Linie am einnehmenden Format und an den ansprechenden Modellen, sondern an der Intensität ihrer malerischen Erscheinung, die sie im Prozess der Bildent- stehung erlangt haben. Die Konzentration des Künstlers auf den Malakt ist in ihrer bildneri- schen Präsenz enthalten. Darin unterscheidet sich Gertsch grundlegend von den amerikani- schen Fotorealisten, die das mechanische Ab- bild des Fotoapparats in die Malerei möglichst eins zu eins übersetzten. Gertsch verlebendig- te dieses über sein Medium: die Malerei.

(Text: Angelika Affentranger-Kirchrath)

Raum 7

(Die Vier Jahreszeiten)

Hier im Erweiterungsbau hat die Werkgruppe der Vier Jahreszeiten aus der Sammlung von Dr. Michel einen massgeschneiderten Raum bekommen, in dem sie ihre faszinierende Wir- kung entfalten kann und dauerhaft präsentiert wird.

Im Jahr 2007, damals 77jährig, begann Franz Gertsch mit der Arbeit am Zyklus der Vier Jah- reszeiten – wohl wissend, dass er jeweils etwa ein Jahr Zeit für ein Gemälde benötigen würde.

Anfang 2011 vollendete der Künstler seinen magistralen Vier Jahreszeiten-Zyklus mit dem Gemälde «Frühling». Der Zyklus kann zweifel- los als Hauptwerk im späten Schaffen des Künstlers bezeichnet werden.

«Franz Gertsch malt die vier Jahreszeiten» – die Idee zu diesem Gemäldezyklus entstand, als der Künstler bei der Durchsicht seiner Un- terlagen auf die Fotografie eines herbstlichen Waldstückes aus dem Jahr 1994 stiess. Nach dieser Vorlage entstand «Herbst» (2007/08):

Das Dia wurde überdimensional vergrössert auf die Leinwand projiziert und diente als Grundlage für das Monumentalgemälde. Auch im Frühling, Sommer und Winter suchte Gert- sch das nahe gelegene Wäldchen auf um wei- tere Aufnahmen zu machen. Für die fotografi- schen Vorlagen der anderen Werke verfolgte

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der Künstler den Wechsel der Jahreszeiten während er bereits am Zyklus arbeitete:

«Sommer» ist der Sommer des Jahres 2007,

«Winter» ist der Winter des Jahres 2008 und

«Frühling» ist der Frühling des Jahres 2009.

Der Betrachter des vollständigen Zyklus kann ausserdem beobachten, wie sich die Land- schaft in den etwa zwölf Jahren verändert hat, die zwischen dem ersten und den späteren Bildern liegen.

Mit dem Herbstbild setzt bei Franz Gertsch eine neue Schaffensphase ein. Er skizziert erstmals direkt auf der Leinwand mit Aquarell- farbstiften und arbeitet längere Zeit ohne den Dia-Projektor. Der Farbauftrag erscheint freier, trotzdem ist die Fernwirkung des Gemäldes weiterhin frappierend fotorealistisch. Um den

«Herbst» scharf zu sehen, muss der Betrachter weit zurücktreten; aus der Nähe wirkt das Gemälde abstrakt und beginnt beinahe vor den Augen zu flimmern. Während bei seinen früheren Gemälden das Spiel zwischen der Betrachtung der Malerei aus der Nähe und des fotorealistischen Eindrucks aus der Ferne ei- nen ausgeglichenen Wechsel bietet, scheint sich nun das Gleichgewicht zugunsten der Ma- lerei zu verschieben.

Auch «Sommer» (2008/09), das in kräftigem Grün leuchtet, hält jede Menge Entdeckungen für das Auge des Betrachters bereit. Das Ge- mälde erscheint zunächst flächig angelegt, das Dickicht des belaubten Waldstückes un- durchdringlich. Jedoch ergibt sich auch hier bei näherer Betrachtung ein Sog in die Tiefe und die verschiedenen Zonen entfalten immer wieder neue Nuancen und Wirkungen.

Bei «Winter» (2009) ist es kein sommerlicher Blätterwald, der dem Betrachter entgegentritt, sondern ein verschneites Waldstück am Mor- gen, das den Betrachter aufnimmt. Bäume, Äste und Zweige, gestaltet mit fein schattier- ten Brauntönen, überziehen netzartig die Oberfläche des Werkes; der Schnee ist überall und verstellt doch den Blick auf die Natur nicht. Einige Äste tragen eine Schicht aus Schnee, die rechte untere Ecke erscheint zu- nächst ganz weiss. Betrachtet man das Ge- mälde aus der Nähe, wird das Gefühl des frisch gefallenen Schnees beinahe greifbar.

Franz Gertsch ist es gelungen, mit feinsten Farbabstufungen die weisse Landschaft zu strukturieren und dem Betrachter die pudrig- zarten Eigenschaften des Schnees zu verge- genwärtigen.

«Frühling» (2009-11), das letzte der vier Jah- reszeitengemälde, zeigt einen etwas grösseren Bildausschnitt als die vorherigen. Es kristalli- siert sich heraus, dass man alle vier Werke betrachten muss, um die Landschaft topogra- phisch zu verstehen. Malerisch erreicht der Zyklus einen weiteren Höhepunkt; mit Präzisi- on und gleichzeitig lockerer Ausführung hat Franz Gertsch hier die zahlreichen Details wie kleine Blättchen, Sonnenflecken und Struktu- ren ausgeführt.

Die Präsentation der Vier Jahreszeiten in ei- nem Raum zeigt, wie die Gemälde farblich harmonieren. Franz Gertsch beschränkt sich auf eine reduzierte Farbpalette, auf wenige, aus Mineral-, Erd- und anderen Pigmenten selbst hergestellte Farbtöne. Bei der Betrach- tung der Jahreszeitengemälde verbinden sich die Farbklänge der einzelnen Werke miteinan- der, bestimmte Farbtöne werden von einem Gemälde zum anderen wieder aufgenommen.

Das Wechselspiel, das in jedem einzelnen Bild zwischen Sujet, Malweise und Farbgebung, zwischen Wahrnehmung und Wirkung stattfin- det, wird im Zusammenspiel der Gemälde mit- einander noch einmal verstärkt.

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Biografie

1930 Geboren am 8. März in Mörigen im Kanton Bern

1947–50 Ausbildung in der Malschule Max von Mühle- nen, Bern

1950–52 Weiterbildung bei Hans Schwarzenbach, Bern 1963 Heirat mit Maria Meer

1967 Louise Aeschlimann-Stipendium

1969 Erste grossformatige realistische Gemälde 1970 Familien- und Gruppenszenen, «Situations»-

Porträts

1972 Teilnahme an der documenta V mit dem Bild Medici

1974–75 DAAD-Stipendium, Berlin 1976 Umzug nach Rüschegg

1978 Teilnahme an der Biennale in Venedig 1980 Beginn der Porträt-Serie mit Selbstbildnis; es

folgen Irene, Tabea, Verena, Christina und Jo- hanna

1986 Gibt vorübergehend die Malerei auf; Beginn grossformatiger Holzschnitte

1994 Wiederaufnahme der Malerei, bis 2004 entste- hen Gräser I–IV sowie Silvia I–III

1997 Verleihung des Kaiserrings der Stadt Goslar 1999 Einzelpräsentation auf der Biennale in Venedig 2002 Eröffnung des Museum Franz Gertsch in Burg-

dorf

2004–07 Holzschnitt-Serie Ausblick mit Pestwurz, Wald- weg und Gräser

2005 Retrospektive im Museum Franz Gertsch und im Kunstmuseum Bern, weitere Stationen der Ausstellung sind Aachen, Tübingen und Wien (2006)

Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Christi- an-Albrechts-Universität, Kiel

2007–11 Vier Jahreszeiten-Zyklus mit den Gemälden Herbst, Sommer, Winter und Frühling

2011 «Franz Gertsch. Jahreszeiten. Werke von 1983 bis 2011» im Kunsthaus Zürich

2011–13 Triptychon Guadeloupe mit den Gemälden Ma- ria, Bromelia und Soufrière

2013–18 Holzschnitte Saintes Maries de la Mer,Brome- lia, Winter,Sommer und Maria II; Gemälde Waldweg (Campiglia Marittima),Pestwurz, Meer und Grosse Pestwurz

2018-20 Gemälde Gräser V-VIII

Biography

1930 Born on March 8 in Mörigen, canton of Berne 1947–50 Education at the art school of Max von Müh-

lenen, Berne

1950–52 Further education with Hans Schwarzenbach, Berne

1963 Marriage to Maria Meer 1967 Louise Aeschlimann-Scholarship 1969 First large-size realistic paintings

1970 Family and group scenes, “situations”-portraits 1972 Participation at the documenta V with the pic-

ture Medici

1974–75 DAAD-Scholarship, Berlin

1976 Gertsch family moves to Rüschegg 1978 Participation at the Venice Biennale 1980 Gertsch starts painting a series of portraits

with Self-Portrait, followed by Irene, Tabea, Verena, Christina and Johanna

1986 Gertsch stops painting and concentrates on large-scale woodcuts

1994 Starts painting again; until 2004 Gräser I–IV and Silvia I–III are created

1997 Kaiserring award of the city of Goslar 1999 Solo show at the Venice Biennale 2002 Opening of the Museum Franz Gertsch in

Burgdorf

2004–07 Woodcut series Ausblick with Pestwurz, Wald- weg and Gräser

2005 Retrospective at the Museum Franz Gertsch and the Kunstmuseum Bern, further venues of the exhibition are Aachen, Tubingen and Vien- na (2006)

Honorary citizen award of the Christian- Albrechts-University of Kiel

2007–11 Cycle of the four seasons with the paintings Herbst, Sommer, Winter and Frühling

2011 “Franz Gertsch. Seasons. Works from 1983 to 2011” at Kunsthaus Zürich

2011–13 Guadeloupe triptych with the paintings Maria, Bromelia and Soufrière

2013–18 Woodcuts Saintes Maries de la Mer,Bromelia, Winter,Sommer and Maria II; paintings Wald- weg (Campiglia Marittima),Pestwurz, Meer, and Grosse Pestwurz

2018–20 Paintings Gräser V-VIII

Biographie

1930 Né le 8 mars 1930 à Mörigen, canton de Berne 1947–50 Formation à l’école de peinture de Max von

Mühlenen, Berne

1950–52 Poursuite de sa formation auprès de Hans Schwarzenbach, Berne

1963 Mariage avec Maria Meer 1967 Bourse « Louise Aeschlimann »

1969 Premiers tableaux « hyperréalistes » en grand format

1970 Scènes de famille et de groupes ; portraits de

« situations »

1972 Participation à la documenta V avec le tableau Medici

1974–75 Bourse du DAAD pour Berlin 1976 Nouveau domicile à Rüschegg 1978 Participation à la Biennale de Venise

1980 Franz Gertsch commence à peindre une série de portraits avec Autoportrait, puis Irene, Tabea, Verena, Christina et Johanna 1986 L’artiste arrête la peinture et commence à

créer des gravures sur bois en grand format 1994 Reprise de la peinture ; jusqu’en 2004, il peint

Gräser I–IV et Silvia I–III

1997 Gertsch reçoit le prix « Kaiserring » de la ville de Goslar

1999 Présentation individuelle à la Biennale de Ve- nise

2002 Inauguration du Musée Franz Gertsch à Burg- dorf

2004–07 Série des gravures sur bois Ausblick, avec Pestwurz, Waldweg et Gräser

2005 Rétrospective au Musée Franz Gertsch et au Musée des Beaux-Arts de Berne ; l’exposition sera montrée à Aix-la-Chapelle, à Tübingen et à Vienne (2006)

Nommé citoyen d’honneur de l’Université Christian-Albrecht de Kiel

2007–11 Cycle des Quatre Saisons avec Herbst, Som- mer, Winter et Frühling

2011 « Franz Gertsch. Saisons. Œuvres de 1983 à 2011 » au Kunsthaus Zürich

2011–13 Triptyque Guadeloupe avec les tableaux Maria, Bromelia et Soufrière

2013–18 Gravures sur bois Saintes Maries de la Mer, Bromelia, Winter,Sommer et Maria II ; pein- tures Waldweg (Campiglia Marittima), Pestwurz, Meer et Grosse Pestwurz 2018–20 Peintures Gräser V-VIII

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