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Und plötzlich war ich ein Fremder. Masterarbeit

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Academic year: 2022

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Und plötzlich war ich ein Fremder

David Albaharis Roman Mamac in der deutschsprachigen Übersetzung

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades

Master of Arts (MA)

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von

Marizela REITHOFER BEKTIC, BA MA

am Institut für Translationswissenschaft

Begutachterin: Ao.Univ.-Prof. Mag. Dr.phil. Michaela Wolf

Graz, 2019

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Ehrenwörtliche Erklärung

Ich erkläre hiermit, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benützt und die den benützten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen inländischen oder ausländischen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Form.

Graz, am 12.02.2019 _______________________

Unterschrift Verfasserin

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Danksagung/Vorwort

Mein Dank gebührt all jenen Menschen, die mich während meines Studiums und im Schreiben meiner Masterarbeit unterstützt haben.

Besonders danken möchte ich meiner Betreuerin, A.o.Univ.-Prof. Mag. Dr.phil. Michaela Wolf, für ihre tatkräftige Unterstützung, die hilfreichen Ratschläge und insbesondere für ihre aufmunternden Worte.

Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei meinem Schwiegervater DI Dr. Heinrich Reithofer fürs das sorgfältige Korrekturlesen und sein Babysitting in den letzten Monaten.

Des Weiteren möchte ich mich bei meinem Ehemann und unseren Söhnen bedanken, die mir immer zur Seite standen und viel Verständnis für meine Arbeit zeigten. Danke für eure unendliche Liebe!

Ein Dankeschön auch an all jene Menschen, die mich in den vergangenen Jahren im Studium begleitet haben und mir eine große moralische Unterstützung waren. Ihr alle habt einen besonderen Platz in meinem Herzen.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung ... 4

1 Politischer und gesellschaftlicher Hintergrund – der Jugoslawienkrieg ... 6

1.1 Ausbruch und Verlauf der Kriege ... 6

1.2 Beitrag der serbischen nationalistischen LiteratInnen im Krieg ... 10

1.3 Position der unabhängigen serbischen AutorInnen während des Jugoslawienkrieges ... 13

2 David Albahari ... 16

2.1 Biographische Daten ... 16

2.2 Literarische Werke und ihre Themenschwerpunkte ... 19

2.3 Politisch-ideologische Sichtweise ... 22

3 Mamac (1996) ... 25

3.1 Inhalt ... 25

3.2 Genre ... 27

3.3 Verlag Stubovi kulture ... 30

3.4 Rezeption des Romans im ehemaligen Jugoslawien... 32

4 Mutterland (2002) ... 35

4.1 ÜbersetzerInnen ... 35

4.2 Verlag Eichborn ... 37

4.3 Rezeption der Übersetzung im deutschsprachigen Raum ... 41

5 Die Kritische Diskursanalyse (KDA) nach Siegfried Jäger ... 44

5.1 Versuch einer Definition des Terminus Diskurs ... 44

5.2 Der Diskursbegriff nach Michel Foucault ... 46

5.3 Ein kurzer Entwicklungsüberblick der Kritischen Diskursanalyse... 47

5.4 Kritische Diskursanalyse (KDA) nach Siegfried Jäger ... 49

5.4.1 Die Strukturanalyse- Struktur des Diskurses ... 50

5.4.2 Die Feinanalyse von Diskursfragmenten – die Verfahrensschritte ... 51

6 Die Textanalyse ausgewählter Passagen ... 53

6.1 Strukturanalyse des Romans Mamac ... 53

6.2 Feinanalyse ... 53

6.2.1 Darstellung des Auswanderns ... 54

6.2.2 Darstellung des Sprachverlustes ... 67

6.2.3 Darstellung der Identität ... 81

(5)

6.2.4 Darstellung der Unterschiede zwischen der europäischen und der

nordamerikanischen Kultur ... 90

6.2.5 Ergebnisse der Textanalyse ... 106

Zusammenfassung ... 108

Bibliografie ... 110

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Einleitung

In den 1990er Jahren, mit dem Ausbruch des Krieges am Balkan, wurde der deutschsprachige Raum zur aktivsten und attraktivsten Bühne für die Literatur aus dem ehemaligen Jugoslawien. Das LeserInnen-Interesse an einem sich im Krieg befindlichen Gebiet und an persönlichen Schicksalsgeschichten wurde erheblich verstärkt. Es wurden mehr Texte dieser nicht-fiktionaler Prosa als je zuvor übersetzt, und die südslawische Literatur boomte im deutschsprachigen Raum. Dies änderte sich jedoch nach dem Jahre 2000, als das Interesse an den autobiografischen Texten von Flüchtlingen wieder sank, und sich demgegenüber die ExilautorInnen verstärkt etablierten. Diese schrieben nun literarische Texte, in denen Autobiographie und Fiktion miteinander verschmolzen, um die politische, gesellschaftliche und kulturelle Situation ihrer einstigen und neuen Heimatländer zu untersuchen, aber auch um das Auswandern, Identitätssuche sowie den Sprachverlust, welche in Verbindung zur Kriegs- und Exilerfahrung standen, zu reflektieren. Zu dieser Gruppe der AutorInnen gehörte auch der serbisch-jüdische Autor David Albahari, der 1994 Jugoslawien verließ und nach Kanada auswanderte.

Albaharis Leben, seine literarischen Werke sowie seine politisch-ideologische Sichtweise wurden in der Fachliteratur umfassend beleuchtet. Im Gegensatz dazu sowie in Anbetracht der Tatsache, dass der Großteil der von ihm verfassten Bücher und Schriften übersetzt wurde, liegen bisher kaum translationswissenschaftliche Untersuchungen vor.

Um diese Forschungslücke zu verkleinern, werden im Rahmen der vorliegenden Masterarbeit der von ihm verfasste Roman Mamac aus dem Jahre 1996 und die deutsche Übersetzung, die 2002 publiziert wurde und den Titel Mutterland trägt, untersucht. Dabei wird von der Hypothese ausgegangen, dass das Exil und die exilbezogenen Themen wie etwa Auswandern, Sprach- und Identitätsverlust sowie die Darstellung der Unterschiede zwischen der europäischen und der nordamerikanischen Kultur in der deutschsprachigen Übersetzung abgeschwächt dargestellt wurden. Überdies wird angenommen, dass innerhalb dieses Themengebietes auf der sprachlich-rhetorischen Ebene Schritte vorgenommen wurden, die den ursprünglichen Schreibstil des Romans, der als postmodern einzustufen ist, ändern.

Der Übersetzungsanalyse werden zunächst Kapitel vorangestellt, die die für eine umfassende Hypothesenbildung und -spezifizierung nötigen Informationen liefern. Daher wird im ersten Kapitel der historische Hintergrund des Romans sowie die Rolle der nationalistischen und

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regimekritischen Autoren und Autorinnen in Serbien beleuchtet, da hier die politisch- ideologische Sichtweise des Autors sowie sein Grund, Jugoslawien zu verlassen, herauskristallisiert wird. Im zweiten Kapitel werden nähere Informationen zum Originalwerk geliefert, wobei zunächst der Autor David Albahari, seine literarischen Themenschwerpunkte sowie seine politische Positionierung vorgestellt wird. Hierbei werden umfassende Annahmen, die die Grundvoraussetzung für die Beschäftigung mit den Übersetzungen bilden, beleuchtet. Das darauffolgende Kapitel wird den Roman Mamac behandeln, in dem Albahari im Hinblick auf die Lebensgeschichte seiner Mutter sein Exil und die diesbezüglichen Themen wie Auswandern, Heimatlosigkeit und Sprachverlust beschreibt. Im vierten Kapitel wird ausführlich auf die deutschsprachige Übersetzung eingegangen. Hier werden Informationen über Übersetzer und Übersetzerin, über den Verlag, in dem der Roman veröffentlicht wurde, sowie über seine Rezeption im deutschsprachigen Raum gegeben. Im fünften Kapitel werden der Diskursbegriff im Allgemeinen und der Diskursbegriff nach Michel Foucault erklärt und es wird ein kurzer Überblick über die Entwicklung der Kritischen Diskursanalyse und der Kritischen Diskursanalyse (KDA) nach Siegfried Jäger gegeben.

Im Anschluss daran soll die Hypothese im sechsten Kapitel verfeinert und abschließend überprüft werden. Dazu soll ein Textvergleich unter Anwendung der „Werkzeugkiste“ nach Siegfried Jäger erfolgen, um das Exil und die exilbezogenen Themen in konkreten Textstellen festzumachen. Die Textbeispiele werden den Themengebieten „Darstellung des Auswanderns“, „Darstellung des Sprachverlustes“, „Darstellung der Identität“ und

„Darstellung der Unterschiede zwischen der europäischen und der nordamerikanischen Kultur“ zugeordnet.

Die abschließende Zusammenfassung zeichnet die wichtigsten Schritte der Arbeit nach und führt die zentralen Argumente zur Überprüfung der These zusammen.

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1 Politischer und gesellschaftlicher Hintergrund – der Jugoslawienkrieg

Die verschiedenen Volksgruppen in Jugoslawien befanden sich seit jeher im Dialog miteinander, kennzeichnend waren insbesondere der Austausch und das Vermischen ihrer Kulturen (vgl. Jergović 1999:42). Das weltweit dominierende Bild einer über eine lange Zeit friedlichen multiethnischen Gesellschaft, in der die Einheit Jugoslawiens nicht gefährdet erschien, zerbröckelte mit dem Tod ihres Staatschefs Josip Broz Tito im Jahre 1980 (vgl.

Mønnesland 1997:297). 35 Jahre lang dominierte Tito das jugoslawische System. Bereits ein Jahr nach seinem Tod begann eine destruktive Phase, die sich nach dem Zerfall des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens Anfang des Jahres 1990 zuspitzte. Ab diesem Zeitpunkt beherrschten kriegerische Auseinandersetzungen das Gebiet des (ehemaligen) Jugoslawien.

Politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Transformationsprozesse gestalteten sich durch stark nationalistisch-orientierte Politiken äußerst schwierig. Die Kriegsfolgen führten zu enormen ökonomischen und sozialen Problemen (vgl. Dzihic 2003:73).

Wesentliche Eckdaten werden im Folgenden herausgearbeitet.

1.1 Ausbruch und Verlauf der Kriege

Kaum ein Jahr nach Titos Tod, nachdem das kollektive Präsidium die Führung Jugoslawiens übernahm, begann eine turbulente Zeit am Balkan (vgl. Dzihic 2003:74).

Im März und im April 1981 kam es zu schweren Unruhen in der serbischen Provinz Kosovo, als tausende unzufriedene albanisch-stämmige StudentInnen für eine Verbesserung der Verhältnisse in Priština protestierten. Ihre Unzufriedenheit war so weit fortgeschritten, dass sie zahlreiche Anhänger und Anhängerinnen auch außerhalb von Priština fanden. Die Folge waren regelrechte Straßenkämpfe zwischen ZivilistInnen und Armee (vgl. Mønnesland 1997:311). Forderungen nach einem Republikstatus für den Kosovo wurden mit dem Einsatz starker jugoslawischer Polizeikräfte auf brutale Art und Weise unterdrückt (vgl. Dzihic 2003:74). Im Kosovo setzte eine bis dahin nicht gekannte Radikalisierung ein, die die Absetzung des Parteichefs der albanischen Kommunisten, Azem Vllasi, zur Folge hatte. Die Unruhen riefen in der serbischen Provinz großes Aufsehen hervor, und es zeigten sich die ersten Anzeichen von Auflösungstendenzen des jugoslawischen Staates. Slobodan Milošević nutzte diese Entwicklung für seine nationalistischen Ideen (vgl. Hofbauer 2017:81). Das Kosovo-Problem entwickelte sich somit zum politischen Sprungbrett

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Miloševićs. Die Demonstrationen gewannen an Publizität, und seitens serbischer Massenmedien wurde mit Gräuelgeschichten über eine albanische Unterdrückung der kosovarischen SerbInnen Unruhe geschürt. Sie berichteten über Vergewaltigungen serbischer junger Frauen, niedergebrannte Häuser und Zerstörung von Klöstern und Kirchen (vgl. Mønnesland 1997:317). Im Jahre 1987 besuchte Milošević Kosovo Polje, dies anstelle des Präsidenten Serbiens, Ivan Stambolić, seines politischen Ziehvater und langjährigen Freunds (vgl. Silber/Little 1995:24). Milošević verstand die traditionellen Vorurteile der Serben und Serbinnen gegenüber der albanischen Bevölkerung auszunützen (vgl.

Mønnesland 1997:317). Dies kam insbesondere am 28. Juni 1989 mit seiner Rede zum 600.

Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld zum Vorschein. An diesem Ort wurden Fürst Lazar und sein christliches Heer von den Osmanen unter Sultan Murad I. geschlagen, ein im religiösen und nationalen Selbstverständnis der SerbInnen schicksalhaftes Ereignis (vgl.

Hofbauer 2017:81). Milošević stellte die Kosovo-SerbInnen als unterdrückte Minderheit dar und beschwor mit einer emotionalen Rede einen serbischen Patriotismus (vgl. Mønnesland 1997:317). Dies führte dazu, dass die Autonomie der Provinzen Kosovo und Vojvodina schrittweise eingeschränkt und schließlich völlig aufgehoben wurde (vgl. Dzihic 2003:75).

Schon ein Jahr zuvor war eine Beschränkung ihrer bisherigen sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Autonomie beschlossen worden (vgl. Hofbauer 2017:81).

Seit der Rede am Amselfeld konzentrierte Milošević die Macht in seinen Händen und erklärte sich selbst zum Führer des serbischen Volkes. Seine Politik hatte zur Folge, dass sich Ende der 1980er Jahre die wirtschaftliche und politische Lage immer mehr verschärfte (vgl. Rüb 1999:335f.). Die Länder Jugoslawiens wurden schrittweise ethnisiert.

Nationalistische Politiken, unterstützt von serbischen nationalistischen Intellektuellen, etablierten sich konsequent. Sie bildeten ein charakteristisches Kennzeichen des jugoslawischen Transformationsprozesses und waren begleitet von Unruhen und Protesten im Kosovo. In der Folge verstärkten sich die Gegensätze entlang der Achse „Nord-Süd“ von Slowenien, über Kroatien und Serbien (vgl. Dzihic 2003:75). Anfang der 1990er Jahre kam es dann zur Schwächung der Einparteienherrschaft und zur politischen Pluralisierung. Dies hatte den endgültigen Zerfall des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens am 20. Jänner 1990 zur Folge (vgl. Mønnesland 1997:329). Die ersten freien und pluralistischen Wahlen wurden noch im April in Slowenien durchgeführt (vgl. Dzihic 2003:75). Diese Wahl führte zu einer Niederlage der kommunistischen Partei, die DEMOS „Demokratische Opposition Sloweniens“ ging als Sieger hervor (vgl. Mønnesland 1997:329). Auch in Kroatien konnten

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sich die KommunistInnen nicht durchsetzen, stattdessen aber die HDZ „Kroatische Demokratische Gemeinschaft“, deren Führer Franjo Tuđman daraufhin eine Alleinregierung bildete, die sich auch dem Nationalismus verschrieb und einen selbstständigen Nationalstaat Kroatien anstrebte (vgl. Dzihic 2003:75). Die Wahlen in den übrigen Republiken folgten im Verlauf der Monate November und Dezember. Verlierer waren, mit Ausnahme von Serbien und Montenegro, die ehemaligen Kommunisten und Kommunistinnen (vgl. Mønnesland 1997:342). Nach den Wahlen im November 1990 wurde in Bosnien-Herzegowina eine Koalition zwischen den drei national(istisch)en Parteien gebildet. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde ersichtlich, dass eine Regierung von drei national(istisch)en Parteien, von denen die Partei der bosnischen SerbInnen „Serbische Demokratische Partei“ (SDS) und die Partei der bosnischen KroatInnen „Kroatische Demokratische Partei“ (HDZ) für ihre eigene Nation jeweils Souveränität forderten, in einem Land wie Bosnien mit seinen drei Ethnien nicht funktionieren konnte (vgl. Dzihic 2003:76). Zuletzt folgten die Wahlen in Serbien, wo die in Sozialisten und Sozialistinnen umbenannten KommunistInnen (Sozialistische Partei Serbiens, SPS) sich durchsetzten und Milošević zum Präsidenten Serbiens wählten (vgl. Rüb 1999:339). Eine innenpolitische Krise jagte währenddessen die andere. In Slowenien und Kroatien wurde im Laufe des Jahres 1991 der Drang nach Unabhängigkeit immer stärker, während in Kroatien und Bosnien „Serbische Autonome Provinzen“ gebildet wurden. Es kam zu den ersten bewaffneten Auseinandersetzungen in Kroatien zwischen den kroatischen Polizeikräften und der serbischen Bevölkerung, die durch die Jugoslawische Volksarmee unterstützt wurden (vgl. Dzihic 2003:76).

Bei Plitvice fielen am 31. März 1991 die ersten Schüsse, und es waren erstmals auch Tote zu beklagen. Es begann eine kriegerische Periode auf dem Gebiet des (ehemaligen) Jugoslawien, die letztendlich zu ihrem endgültigen Zerfall führte (vgl. Rathfelder 1999:345).

Am 27. Juni 1991, zwei Tage nachdem vom slowenischen Parlament die Unabhängigkeitserklärung ratifiziert wurde, griff zur Überraschung Sloweniens die jugoslawische Volksarmee mittels Luftwaffe und Panzereinheiten Slowenien an, zog sich aber innerhalb weniger Tage zurück (vgl. Hofbauer 2017:23). Es folgte der Krieg in Kroatien mit dem Angriff auf Dubrovnik, der sowohl vom Lande als auch von der See durchgeführt wurde (vgl. Mønnesland 1997:362), und die komplette Zerstörung der ostslawonischen Stadt Vukovar (vgl. Hofbauer 2017:42). Die Ereignisse füllten die Titelseiten zahlreicher weltweiter Medien. Die Beschießung der Stadt Dubrovnik, die unter dem Denkmalschutz der UNESCO steht, rief internationales Aufsehen und weltweiten Protest hervor (vgl.

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Mønnesland 1997:362), der die EG-Staaten und die USA dazu veranlasste, im April 1992 Slowenien und Kroatien als unabhängige Staaten anzuerkennen (vgl. Dzihic 2003:76). Mit der Anerkennung der Unabhängigkeit Kroatiens stand Bosnien-Herzegowina vor der Entscheidung, sich in einem geschrumpften Jugoslawien den SerbInnen anzuschließen. Das Land sprach sich für eine Unabhängigkeit und somit den Austritt aus dem jugoslawischen Staatsverband aus. Am 6. April 1992 kam es zur Anerkennung des Staates Bosnien- Herzegowina durch die Europäische Gemeinschaft und tags darauf durch die USA (vgl.

Rathfelder 1999:355). Dieser Tag wird offiziell als Beginn des dritten Jugoslawien-Krieges datiert. Es kam zum offenen Ausbruch des Krieges im bosnisch-herzegowinischen Gebiet (vgl. Dzihic 2003:76). In sehr kurzer Zeit übernahmen die serbischen Truppen in weiten Gebieten die Kontrolle (vgl. Mønnesland 1997:384) und errichteten Konzentrationslager.

Folterung der Häftlinge, Vergewaltigungen der Frauen und Massenhinrichtungen waren Begleiterscheinungen einer Politik der „ethnischen Säuberung“ (vgl. Dzihic 2003:76).

Kämpfe zwischen BosniakInnen und KroatInnen wurden im März 1994 mit dem Vertrag zur Schaffung einer bosniakisch-kroatischen Föderation in Washington beendet (ibid.:77).

Negativer Höhe- und Wendepunkt des Krieges in Bosnien war die Eroberung der UNO- Schutzzone Srebrenica im Sommer 1995 durch General Mladić und seinen Truppen, die zahlreiche Verbrechen an der bosniakischen Bevölkerung der ostbosnischen Stadt verübten (vgl. Hofbauer 2017:75). Im August des gleichen Jahres unterstützten Luftangriffe der NATO die bosniakisch-kroatischen Truppen in ihren Kämpfen gegen serbische Verbände (vgl. Dzihic 2003:77). Am 10. Dezember 1995, nach fast vier Jahren, wurde der Krieg in Bosnien-Herzegowina mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Dayton offiziell beendet. Mit dem Dayton-Abkommen war Bosnien nun ein souveräner Staat, der in zwei Entitäten, der muslimisch-kroatischen Föderation und der serbischen Republik, geteilt wurde (vgl. Mønnesland 1997:425f.).

Mit dem Friedensabkommen von Dayton endete der Krieg in Bosnien-Herzegowina, nicht aber die kriegerische Auseinandersetzung in der Bundesrepublik Jugoslawien. 1998 wurde die Situation im Kosovo zunehmend dramatisch und angespannt, als die serbischen Streitkräfte mit großer Härte gegen die kosovarische Zivilbevölkerung vorgingen (vgl. Gow 1999:378). Da alle Friedensverhandlung gescheitert waren, begann am 24. März der Luftkrieg der NATO gegen Jugoslawien, der am 10. Juni 1999 mit der Kapitulation der jugoslawischen Armee endete. So fiel Kosovo unter internationale Verwaltung (UNMIK), während die Sicherheit von einer NATO-geführten Truppe namens KFOR sichergestellt

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wurde (vgl. Dzihic 2003:77). Mit dem Eingreifen der NATO scheiterte schließlich der Versuch der serbischen Streitkräfte, die Grenzen eines Gebietes neu zu schreiben, in dem hauptsächlich „ethnisch-reine“ Serben und Serbinnen wohnen (vgl. Gow 1999:364).

Die Tragödie, die Jugoslawien bereits seit zehn Jahren heimsucht, nämlich die gewaltsame Ethnisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, setzte sich schlussendlich auch in Mazedonien fort. Besonders Anfang des Jahres 2001 kam es zu einer Destabilisierung des mazedonischen Staates und in weiterer Folge zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der albanischen und der slawisch-mazedonischen Bevölkerungsgruppe (vgl.

Hofbauer 2017:183). Im gleichen Jahr wurde nach den diplomatischen Vermittlungsversuchen seitens der EU und der USA ein Friedensabkommen unterzeichnet.

Probleme wirtschaftlicher und sozialer Natur prägten weiterhin Mazedonien und die übrigen Nachfolgestaaten Jugoslawiens (vgl. Dzihic 2003:78).

Resümierend bleibt die Erkenntnis, dass der sozialistische Traum von Brüderlichkeit und Einheit eine Illusion war. Das ehemalige Tito-Jugoslawien zerfiel in viele nationalistische Einzelstaaten, die sich gegenseitig jahrelang bekämpften und eine grundlegende Lösung ihrer gegenseitigen Differenzen bis dato nicht zustande gebracht haben. Nicht zu übersehen ist, dass ein gewichtiger Beitrag an der negativen Gesamtentwicklung serbischen nationalistisch eingestellten Intellektuellen zuzuschreiben ist.

1.2 Beitrag der serbischen nationalistischen LiteratInnen im Krieg

Ein besonderes und bestimmendes Phänomen der jugoslawischen Gesellschaften der 1980er und 1990er Jahre waren der Nationalismus und das ethnisch-territoriale Prinzip (vgl. Dzihic 2003:80), welches großen Anklang in den intellektuellen literarischen Kreisen fand (vgl.

Silber/Little 1995:16).

Ihre Visionen zu Papier zu bringen, gelang Literaten und Literatinnen insbesondere durch das geschriebene Wort, eines ihrer genuinen Werkzeuge. Mithilfe des Einsatzes der Sprache beteiligten sie sich an der Nationalisierung der Gesellschaften und dem Schaffen von Feindbildern, die einerseits eine ängstliche Atmosphäre und andererseits ein vermeintliches Bedrohungsgefühl durch „andere“ hervorriefen (vgl. Dzihic 2003:90). Die Anwendung von

„Hate Speech“ seitens der literarischen Intellektuellen verhalf mit der Radikalisierung der Sprache und einem militanten Verbalismus zu einer angespannten Kriegsstimmung und ermöglichte letztlich den Krieg in Jugoslawien (vgl. Jancar 2002:93f.). Wie Jancar ausführt, war diese Art des Spracheinsatzes beliebtes Mittel insbesondere national orientierter

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serbischer AutorInnen, die mit der harten und rigiden Sprache den Konflikt auf dem ehemaligen jugoslawischen Raum mitgetragen und sich besonders dafür eingesetzt hatten aufzuzeigen, wie die Menschen serbischer Abstammung außerhalb von Serbien

„entserbisiert“ würden und wie ihnen ihr „Mutterland Serbien zu Hilfe kommen wird“

(ibid.:94). Dabei spielte die Wiederbelebung und Erneuerung längst vergangener politischer Mythen eine bedeutende Rolle. Mythische Topoi, Figuren und Charaktere werden in kriegerischen Zeiten zum dominierenden Merkmal öffentlicher Diskurse. Sie bilden nicht nur den breitesten und wichtigsten Bestandteil des Themenrepertoires, sondern auch das stilistischen Mittel in der Sprache des gegenwärtigen, ethnischen Nationalismus (vgl.

Čolović 1994:90). Insbesondere der Mythos von der Schlacht auf dem Amselfeld wurde zum Nationalmythos Serbiens im Jugoslawienkrieg hochstilisiert (vgl. Dor 1996:44) und von literarischen Intellektuellen als „Wiege des Serbentums“ besungen (vgl. Hoepken 1998:1).

Die verlorene Schlacht der Serben und Serbinnen gegen die Armeen des osmanischen Sultans auf dem Amselfeld am 28. Juni 1389 (ibid.) war vor circa 150 Jahren Thema eines Werkes des wichtigsten serbischen Sprachreformers Vuk Stefanović Karadžić. Dieses wurde bei den Mechitaristen, einem armenisch-katholischen Orden, in Wien gedruckt (vgl. Dor 1996:44). Darin wird ein vermeintlicher „Nationalcharakter" der SerbInnen konstruiert, der nunmehr durch Milošević neu in Szene gesetzt wurde, indem er die angebliche Unterdrückung der SerbInnen im Kosovo zum Thema machte (vgl. Hoepken 1998:2). In politischen Programmen und Projekten wurde die Popularisierung des Nationalmythos forciert (vgl. Čolović 1994:90). Milošević sah darin eine Rechtfertigung, die albanisch- stämmige Bevölkerung mit polizeilichen und militärischen Maßnahmen zu unterdrücken (vgl. Dor 1996:44). Der Kosovo-Mythos wurde anfänglich zum Symbol der serbisch- albanischen Konfrontation und später die Rechtfertigung einer Herrschaft mit Gewalt (vgl.

Hoepken 1998:2). Nationalistische LiteratInnen übernahmen und führten bestimmte Aufgaben für das Regime Miloševićs aus (vgl. Dzihic 2003:97). Wesentliche Unterstützer und Unterstützerinnen des Krieges im Dienst des Regimes in Serbien war eine Gruppe serbischer LiteratInnen rund um das Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste aus dem Jahre 1986 (vgl. Silber/Little 1995:16).

Das Memorandum ist ein Dokument serbischer Intellektueller, die ihre national motivierten Beschwerden auflisten. Besonders an diesem Dokument ist, dass es den Nationalismus, der unter Serben und Serbinnen stets latent verbreitet war, sentimental aufbereitete und in ihnen starke nationalistische Gefühle wiederbelebte, die während des Kommunismus zwar

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unterdrückt, jedoch dadurch sogar noch verstärkt wurden (vgl. Silber/Little 1995:19). Mit dem Erscheinen bestimmter Auszüge aus dem Memorandum am 24. September 1986 im Massenblatt Večernji list rief das Dokument bei der serbischen Bevölkerung das Gefühl hervor, sie seien immer schon verkannt, gedemütigt und von der Vernichtung bedroht worden (vgl. Dor 1996:69). Dies geht aus dem Memorandum hervor, dessen Verfasser ausschließlich männliche Intellektuellen waren und unter der Führung des Schriftstellers und späteren Staatspräsidenten, Dobrica Ćosić, der als geistiger Vater der modernen serbischen Nation gilt, standen. Mit ihrem Memorandum knüpften die nationalistischen Intellektuellen somit bewusst an eine vorjugoslawische, serbische Tradition an, die den Nationalismus und sein ideologisches Geflecht ins Leben rufen sollte (vgl. Silber/Little 1995:18). Dies gelang den Mitgliedern der Gruppe serbischer Intellektueller, indem sie das Dokument in zwei Teile gliederten. Der erste Teil ist ein allgemeiner Text über wirtschaftliche Probleme in Jugoslawien seit dem Tod Titos, in dem einige nationalistische Standpunkte zu finden sind, die im zweiten Teil ausführlicher und präzisiert dargestellt werden. Kroatien und Slowenien werden beispielhaft der Verschwörung gegen Serbien bezichtigt und das serbische Volk vor Separatismus und Nationalismus der AlbanerInnen gewarnt (vgl. Dzihic 2003:105). Der zweite Teil behandelt die politische, wirtschaftliche und kulturelle Benachteiligung der SerbInnen im Kosovo und in den anderen Republiken und Provinzen. Im Memorandum wird behauptet, dass die serbische Existenz an sich bedroht wäre und sie Opfer wirtschaftlicher und politischer Diskriminierung durch ihre kroatischen und slowenischen Landsleute seien.

Außerdem sei die Situation der Serben und Serbinnen im Kosovo und in Kroatien noch schlimmer als im vom Tito geknebelten Mutterland (vgl. Silber/Little 1995:16). Die Schuld an der Benachteiligung Serbiens und des serbischen Volkes wird nicht allein den AlbanerInnen im Kosovo, sondern insbesondere Tito selbst und Edvard Kardelj, einem jugoslawischen kommunistischen Politiker aus Slowenien, zugeschrieben. Hierbei heben die Intellektuellen die nationale Zugehörigkeit der beiden hervor, wodurch eine wirtschaftliche, kulturelle und sprachliche Benachteiligung Serbiens durch Kroatien und Slowenien suggeriert wird. Schlussendlich werden im Memorandum Vorschläge für die Verbesserung der Position Serbiens innerhalb der jugoslawischen Föderation unterbreitet sowie ein möglicher Zerfall Jugoslawiens im Falle der Nichterfüllung serbischer Interessen angedeutet (vgl. Dzihic 2003:106f.).

Der politische und ideologische Inhalt des Memorandums wurde in fast allen serbischen Tageszeitschriften und der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt Serbiens namens Radio-

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Televizija Srbije (RTS) verbreitet und von einem großen Teil der Serben und Serbinnen, die sich den nationalistischen Ideen des Memorandums anschlossen und sich mit seiner Ideologie identifizierten, rezipiert (vgl. Silber/Little 1995:16). Außerdem zeigte es auch die Einstellung von serbischen Intellektuellen, die an der Seite des Regimes standen und dessen Rolle als Promotoren eines Nationalismus unterstützten.

Umso paradoxer und bemerkenswerter zugleich ist es, dass es unter den Intellektuellen auch welche gab, die die populistische und nationalistische Dichtung mieden und sie stark kritisierten. Dieser Gruppe gehörten serbische regimekritische Intellektuelle an.

1.3 Position der unabhängigen serbischen AutorInnen während des Jugoslawienkrieges

Bereits seit dem Beginn der 1980er Jahre, mit den Formulierungen der nationalistischen Propaganda serbischer Intellektueller im Memorandum, bildete sich in den literarischen Kreisen in Belgrad eine sogenannte kritische Literatur. Ihre primäre Aufgabe bestand darin, Texte zu verfassen, die ihr kritisches Verhältnis zum damaligen Regime ausdrückten. Mit dem Beginn des Krieges in Jugoslawien wurde sie ein geeignetes Medium, um kritische oder sogar politische Standpunkte zu artikulieren, die sonst nicht öffentlich ausgesprochen hätten werden können (vgl. Lukić 2001:134).

Ihre Autoren und Autorinnen, die im Gegensatz zu den nationalistisch-orientierten Intellektuellen von geringer Anzahl waren (vgl. Puhovski 2001:141), wurden zu regimekritischen AutorInnen, die sich mit ihren literarischen Texten der totalisierenden Wirkung von nationalen Programmen und kollektiven Visionen, die jegliche Individualität negierten, widersetzten (vgl. Lukić 2001:135). Dabei hielten sie an ihrer Autonomie fest und setzten sich mit ihrer Literatur für das Recht der Einzelnen auf Eigenheit ein. Sie beharrten darauf, dass das Individuum nicht auf die einfachen Parameter der kollektiven Werte reduziert werden kann. Dieser neue Individualismus schloss die Kritik an den dominanten kollektivistischen und nationalistischen Ideologien ein (ibid.).

So wurden die regimekritischen Autoren und Autorinnen in Serbien relevante Sprecher und Sprecherinnen der Minderheiten oder einzelner Individuen (vgl. Puhovski 2001:141). Diese literarische Gruppe, die sich ihrer moralischen, intellektuellen und bürgerlichen Verantwortung bewusst war, erkannte die Notwendigkeit des Handelns. In öffentlichen Aktionen engagierten sie sich gegen die Politik der Intoleranz, Gewalt und Repression (vgl.

Rütten 1993:109). Sie wirkten im Sinne einer „Überbrückung des Risses zwischen

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vorpolitischen Gefühlen und einer weltanschaulich schon systematisierten Praxis“

(Puhovski 2001:141), indem sie sich dem destruktiv-politischen und den sogenannten nationalen Interessen nicht unterordneten (vgl. Rütten 1993:109).

Dem Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit, für Menschenrechte und Möglichkeiten individueller Entfaltung war letztlich in den 1990er Jahren kein Erfolg beschieden (ibid.:11).

Die neue nationalistische Macht versperrte ihnen jeden Weg (vgl. Dzihic 2003:92). Die finanzielle Unterstützung blieb aus, und auch die Oppositionsparteien setzten die literarischen Intellektuellen unter Druck (vgl. Rütten 1993:115). Den öffentlichen Raum dominierten regimetreue Medien. Eine kritische Öffentlichkeit konnte sich nicht in relevantem Ausmaß bilden. Zugang zu den Massenmedien wurde erst möglich, wenn man sich öffentlich zur Regimepolitik bekannte (ibid.:112). Die serbischen regimekritischen Autoren und Autorinnen wurden somit von allen Machtressourcen abgeschnitten, und ihre literarische Arbeit wurde von allen Seiten stark behindert. Trotz ihrer radikalen Einschränkung seitens des neuen nationalistischen Kollektivismus in Jugoslawien gelang es ihnen durch kleinere Initiativen und öffentliche Auftritte, ihrer Rolle als kritische Intellektuelle gerecht zu werden. Der alltägliche Kampf um Erhaltung minimaler existenzieller Voraussetzungen für die intellektuelle Arbeit bot ihnen die einzige Möglichkeit, einer Moral und Ethik Gehör zu verschaffen (vgl. Dzihic 2003:109).

Um ihren Ort des Wirkens nicht zu verlieren, suchten sie trotz der schwierigen Lage einen Weg, um an die Öffentlichkeit zu gelangen. Dazu verhalfen den regimekritischen Autoren und Autorinnen insbesondere Medien, die unabhängig vom Staat arbeiteten. Während des Krieges war deren Anzahl in Serbien gering. Trotz der bereiteten Schwierigkeiten und der Versuche, sie einzuschüchtern, stellten sie sich dem Regime entgegen. Insbesondere das Wochenblatt Vreme sowie die Tageszeitungen Borba und Republika boten den öffentliche Äußerungen der humanistischen und anti-chauvinistischen AutorInnen und ihrer Kritik an den herrschenden nationalistischen Machtstrukturen Raum (ibid.:112).

Zahlreiche Autoren und Autorinnen wie Vladimir Arsenijević, Milica Mičić Dimovska, Biljana Jovanović, Radoslav Petković, Dragan Velikić und viele andere bemühten sich in ihren Arbeiten, die in unabhängigen Medien erschienen, ein rationales Verhältnis zu Kategorien wie Kollektivismus, Vergangenheit und Geschichte zu schaffen. Diesem literarischen Kreis gehörte und gehört immer noch auch David Albahari an, der sich auf das Individuelle als Sphäre einzig relevanter Erfahrung konzentrierte. Mit seiner Erkundung der Lage des Einzelnen in einer Welt, die ihn bedrohte, wehrte er sich gegen die nationalistische

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Propaganda, indem er seine literarischen Figuren im Namen von Individuen sprechen ließ und nicht im Namen der Kollektivität (vgl. Lukić 2001:136). Als sich die politische Lage noch mehr verschärfte und alle Lebensbereiche radikalisierte, schloss er sich sowie einige andere Kollegen und Kolleginnen „dem Strom der unfreiwilligen Flüchtlinge“ (Ugrešić 1995:107) an und verließ Serbien. Seiner kritischen Stimme und dem Gefühl sich in die politische Lage des ehemaligen Jugoslawien einmischen zu müssen, blieb er auch im kanadischen Exil treu.

Wie sich das Exil auf sein literarisches Schaffen auswirkte und welche Rolle es im Roman Mamac spielte, soll im Folgenden anhand biografischer Daten erläutert werden.

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2 David Albahari

Aufgewachsen in der spätjugoslawischen Zeit der kulturellen Öffnung zum Westen wie zum Osten hin, suchte Albahari wie viele seiner Zeitgenossenen und Zeitgenossinnen seine kulturelle Heimat in der modernen und avantgardistischen Literatur, in der Musik der westlichen Jugendkultur sowie in der jüdischen Tradition. Seinen Lebensstil ließ er in seine literarischen Werken einfließen. Anfang der 1990er Jahre mit dem Ende der jugoslawischen Ära veränderte sich jedoch sein literarisches Themengebiet, welches nun negative Kriegserfahrungen aufarbeitete (vgl. Stojanović-Fréchette 2013:127). Seitdem holt ihn immer wieder der jugoslawische Krieg ein, wohin er auch flüchtet und was er auch schreibt (vgl. Gauss 2008:1).

2.1 Biographische Daten

David Albahari wurde am 15. März 1948 in Peć, einer ehemals serbischen Stadt, die heute zum Kosovo gehört, geboren (vgl. Winter 2002). Er stammt aus einer serbisch-jüdischen Familie. Seine Mutter war eine bosnisch stämmige Orthodoxe, die als junge Frau im Jahre 1938 aus Liebe zu einem Mann zum Judentum konvertierte. Dazu bewegten sie die Eltern ihres Mannes, eines aschkenasischen Juden. Sie stimmten der Heirat solange nicht zu, bis sie schließlich zu seinem Glauben übertrat (vgl. Schimmang 2013). Nach dem Glaubenswechsel folgten die Eheschließung und ein Leben in der kroatischen Hauptstadt Zagreb, wo sie als Grundschullehrerin arbeitete (vgl. Winter 2002). Hier blieb sie bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, als sie mit ihren zwei Söhnen vor Ustascha- FaschistInnen aus Zagreb flüchten musste (vgl. Breitenstein 2002) und sich gemeinsam mit den Kindern in serbischen Dörfern an der Grenze zu Serbien versteckte (vgl. Pantić 2001:8).

Ihr Mann wurde nach Belgrad in ein Zwangslager verschleppt, wo er später ermordet wurde (vgl. Winter 2002). Die Mutter und die Kinder überlebten den Zweiten Weltkrieg in einem serbischen Dorf, in der Nähe von Vojvodina. Später am Weg nach Belgrad starben ihre zwei Kinder bei einem Zugsunglück (vgl. Breitenstein 2002). Nach der Beisetzung ihrer zwei Söhne kam sie nach Kriegsende in die serbische Hauptstadt. Dort lernte sie einen Mann kennen, den sie später heiratete und mit ihm zwei Kinder bekam. Eines davon war David.

Albaharis Vater war ein serbischer Jude sephardischer Abstammung, ein Überlebender der Shoa, der in Smederevo geboren wurde. Er lebte in Dorćol im ehemaligen jüdischen Stadtteil der Altstadt Belgrads. In Zagreb studierte er Medizin und arbeitete als Arzt in Niš, wo ihn der Ausbruch des Krieges überraschte. Dort wurde er als Militärarzt gefangen genommen

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und in ein Lager gebracht, wo er vier Jahre verbrachte, während seine damalige Frau und zwei seiner Kinder in Niš zurückblieben, wo sie später getötet wurden (vgl. Pantić 2001:10).

In Peć im westlichen Kosovo, wo der Vater im Krankenhaus arbeitete, blieb die Familie nach Davids Geburt nur noch drei Monate (vgl. Schimmang 2013). Der gesundheitliche Zustand seiner Frau, die sich in Peć psychisch angeschlagen fühlte, veranlasste den Vater nun dazu, eine Stelle im Krankenhaus in Ćuprija, einer Stadt im Zentralserbien, aufzunehmen. Die Familie zog nach Ćuprija, wo sie die nächsten sechs Jahre bis Herbst 1954 blieb. Hier verbrachte der Schriftsteller seine frühe Kindheit und wurde in die erste Klasse eingeschult. Diese besuchte er nur kurze Zeit, da die Familie, einen Monat nach dem Schulbeginn, Ćuprija verließ. Der Vater Isaac bekam im Herbst 1954 einen Arbeitsplatz im Krankenhaus in Zemun, einem Stadtbezirk von Belgrad und nahm seine Familie mit. Dort blieb er als Gynäkologe bis zu seiner Pensionierung tätig (vgl. Marković 2010:10).

In Zemun besuchte David die Grundschule „Svetozar Miletić“. Nach der abgeschlossenen Volkschule, die acht Jahre lang dauerte, kam er ins Gymnasium „Prva zemunska gimnazija“.

Während der Gymnasialzeit entwickelte David Interesse für die Biologie. Er wählte sogar für den Maturaabschluss das biologische Thema „Nachweise über die tierischen Ursprünge der Menschheit“. Nach der Matura meldete er sich für das Studium der Biologie an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät an, wo er nicht zugelassen wurde.

Daraufhin machte er erfolgreich die Aufnahmeprüfung für englische Sprache und Literatur an der Hohen Pädagogischen Schule. Dieser Erfolg markierte endgültig den Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn (ibid.:12).

Seine Eltern vermittelten ihm bereits von Jugend an ein Interesse für die Literatur. In ihrem Haus in Zemun kam den Büchern ein besonderer Platz zu. Die Liebe zum Lesen übertrugen die Eltern auf Albahari, indem sie ihm täglich vorlasen. Sie ermutigten ihn auch zum Schreiben, so dass er schon in jungen Jahren seine ersten literarischen Texte verfasste.

Mithilfe seines Vaters verschickte er diese an die Kinderzeitschrift Zmaj, die diese auch veröffentlichte. Intensiver wurde die Auseinandersetzung mit dem Schreiben während seiner Gymnasialzeit, als sich seine literarischen Horizonte erweiterten. Einen besonderen Einfluss hatten dabei die Bücher des Romanciers William Cuthbert Faulkner. In Jahre 1966 reiste David nach Großbritannien, wo er einen Teil des Sommers mit Freunden in Birmingham verbrachte und auch Edinburgh und London besuchte. Die Erlebnisse dieser Reise übten einen starken Einfluss auf Davids Persönlichkeit aus. Die neue britischen Rockkultur, die Zeit des Auftritts der Beatles und Rolling Stones, ließen David als eine gewandelte Person

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nach Belgrad zurückkehren. Diesen Wandel versuchte er nun in seinem literarischen Wirken zu positionieren (ibid.:14).

Sein kurzzeitiges Interesse an der Biologie ließen sein literarisches Schaffen etwas in den Hintergrund treten. Erst sein geänderter Studienweg brachte ihn wieder zum Schreiben. Er verfasste literarische Texte, insbesondere Gedichte. Mithilfe seines Vaters begann er erste literarische Kontakte zu knüpfen. Ein Bekannter des Vaters riet ihm, sich bei der Redaktion Mladost vorzustellen. Diesen Rat befolgte Albahari und ging mit einem Bündel von Geschichten und Gedichten in die Redaktion. Der damalige Literaturredakteur Milan Vlajčić veröffentlichte darauf hin einige seiner Prosatexte, während dessen Nachfolger Milisav Savić ein paar Kurzgeschichten dem Lesepublikum vorstellte. Die bedeutendste Person im literarischen Schaffen Albaharis war jedoch Raša Livad, einer der bekanntesten serbischen Dichter, der sein großes Schreibtalent entdeckte. In intensiver Zusammenarbeit mit ihm fing Albahari an, neben Gedichten auch Geschichten über seine Familie zu schreiben, und es gelang ihm, sich langsam in der serbischen Literaturszene zu positionieren (vgl. Pantić 2001:11).

Mit dem Zerfall Jugoslawiens veränderte sich sein literarischer Schwerpunkt. Die Familiengeschichten und Schicksale seiner Eltern, Schwester und Verwandten wurden von Fragen nach seiner Identität überlagert. In den frühen 1990er Jahren wurde er zum Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Jugoslawiens gewählt und half beim Exodus der Juden und Jüdinnen aus Sarajevo (vgl. Gauss 2008:1). Außerdem arbeitete er auch als Dolmetscher für eine humanitäre Organisation (vgl. Schimmang 2013). Diese Arbeiten übte er nicht lange aus, nachdem er miterleben musste, wie sich mit dem Zerfall seines Heimatslandes jene schmerzvolle Geschichte seiner Eltern wiederholte, der sie bereits einmal nur knapp entgangen waren (vgl. Gauss 2008:1). Dies veranlasste Albahari seine Arbeit zu kündigen und bei der kanadischen Botschaft um eine Einwanderungserlaubnis anzusuchen, um dem Bürgerkrieg den Rücken zu kehren (vgl. Schimmang 2013). 1994 verließ er Jugoslawien und wanderte nach Kanada aus (vgl. Gauss 2008:1). Seitdem lebt er mit seiner Frau und beiden Kindern im kanadischen Calgary, wo er als freier Schriftsteller und Übersetzer englischsprachiger Literatur tätig ist (vgl. Breitenstein 2002).

Albahari übersetzte viele bekannte englischsprachige Werke von Saul Bellow, Vladimir Nabokov, Thomas Pynchon, Sam Shepard, Vidiadhar Surajprasad Naipaul oder John Updike in seine Muttersprache. Seine Romane und Kurzgeschichten wurden auf der ganzen Welt gelesen und mehrfach ausgezeichnet (vgl. Sander 2005). Für seine Werke erhielt er nationale

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und internationale Preise wie den Ivo-Andrić-Preis (1982) und den NIN-Preis (1997), den renommierten serbischen Literaturpreis, mit dem der Roman Mutterland ausgezeichnet wurde (vgl. Cidilko 2000:73). Außerdem wurde dieser Roman, der 1996 im Original und 2002 in deutscher Übersetzung im Eichborn Verlag erschienen war, im Jahre 2006 Träger des Literatur- und Übersetzungspreises der BHF-BANK-Stiftung „Brücke Berlin“. Hierbei lobte die Jury insbesondere Albaharis Sprache, die er als „einen Ort des Widerstands gegen die Schrecken der Geschichte einsetzt, um seine Leser und Leserinnen ein Stück der Wahrheit näher zu bringen“ (Brücke Berlin Preis 2006).

Rund ein Drittel des Jahres verbringt der Schriftsteller inzwischen wieder in Belgrad. Im Stadtviertel Zemun besitzt er eine Wohnung, wo auch sein vor kurzem in die Heimat zurück gekehrter Sohn lebt. Seit längerer Zeit leidet der Schriftsteller an fortgeschrittener Parkinsonkrankheit (vgl. Breitenstein 2018), die ihn jedoch nicht darin hindert, weiterhin literarisch tätig zu sein.

2.2 Literarische Werke und ihre Themenschwerpunkte

Das erste Gedicht Albaharis entstand schon in der ersten oder der zweiten Klasse Volksschule. Es handelte von einem Bambi, welchem geschriebene Wörter verloren gingen (vgl. Pantić 2001:8). Fasziniert von dem Spiel mit Worten wünschte er sich, selbst einmal ein Dichter zu werden. In den frühen 1970er Jahren, also schon im fortgeschrittenen Alter, schrieb Albahari seine ersten größeren literarischen Werke (vgl. Magenau 2002:2). In der Auseinandersetzung mit postmodernen literarischen Texten nahm er Abstand von der Poesie, da er fühlte, dass diese ihn nicht wirklich mehr interessierte und in literarischer Hinsicht erfüllte (vgl. Breitenstein 2018). Hingegen begeisterten den jungen Schriftsteller die konventionellen Erzähler wie William Saroyan, Isaac Bashevis Singer und John Updike, die in den prosaistischen Werken Fiktion und Metafiktion miteinander verbanden (ibid.). So begann Albahari selbst solche Texte zu verfassen, die Elemente aus seiner realen Umgebung verarbeiteten (vgl. Stojanović-Fréchette 2013:129). Stilprägend war dabei die postmoderne Erzähltechnik der US-amerikanischen Postmodernisten der 1960er Jahre, wie John Barth, Donald Barthelme, Robert Coover und Thomas Pynchon, die sich Ende der 1960er Jahre in der jugoslawische Literaturszene langsam etablierten. Zu dieser Zeit begann nämlich die jugoslawische Literatur, sich mit einer offenen und direkten Sprache von den ideologischen und restriktiven Vorgaben des Tito-Systems zu lösen. Dies geschah auf der Basis einer neuen urbanen Kultur sowie der bis nach Jugoslawien reichender Welle von „Sex, Drugs und

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Rock’n’roll“, die das jugoslawische literarische Terrain schnell eroberte (vgl. Breitenstein 2018).

Im Spiegel des Zeitgefühls der Postmoderne, für die „die Abwesenheit streng formulierter poetischer Schulen, Bewegungen oder Richtungen bzw. die Einlösung von Innovationsmoment und Negationsmoment zugunsten der Reinnovation kennzeichnend“ ist (Stojanović Pantović 2007:80), wird auch Albaharis Schreibstil stark von der Postmoderne geprägt (vgl. Magenau 2002:2). Bereits in seiner ersten Erzählsammlung Porodično vreme (Familienzeit), die der damals 25-jährige Autor 1973 herausgab, sind Merkmale des postmodernen Schreibens sichtbar. Albahari spielt mit älteren Themen wie Familie und alten Traditionen, die er abändert und neu interpretiert (vgl. Stojanović-Fréchette 2013:127). Dies riet ihm Peter Vujičić, sein literarischer Mentor und erster kritischer Leser seiner frühen Texte (ibid.): „Ich wiederhole immerzu, dass er mir gesagt hat, ich solle nicht erfinden, sondern über das schreiben, was ich am besten kenne: über meine Familie“ (Albahari 2010:34). Seitdem zeigen alle seine Werke die Tendenz, auf avantgardistisch-postmoderne Art die jüngste Geschichte sowie die aktuelle Gegenwart zum Handlungsträger zu machen (vgl. Reber 2009:437). Dies gelingt dem Schriftsteller, indem der Ich-Erzähler zum Beobachter wird, der die gesamte Situation durch sein Beobachten verändert und dabei die Begriffe der Wirklichkeit und der Wahrheit zersplittert. Dieser greift häufig in die Erzählung ein, steuert sie und steht dem Geschehen im Werk ironisch und distanziert gegenüber (vgl.

Breitenstein 2018).

Als Mittelpunkt dieser postmodernen Erzähltechniken wählte Albahari seine eigene Familiengeschichte, insbesondere die der Eltern. Seit der Veröffentlichungen seines ersten Erzählbandes Porodično vreme (1973), der gleich nach seinem Studienabschluss erschien, bilden der Vater und die Mutter eine feste motivische Konstante in seinem literarischen Schaffen mit stabilen thematischen und funktionellen Merkmalen. Thematische Veränderungen kündigten immer wichtige Umbruchsphasen in Albaharis Opus an (vgl.

Stojanović-Fréchette 2013:129). Die Auseinandersetzungen des Schriftstellers mit Prägungen, Wendepunkten und Brüchen in der eigenen Biografie (vgl. Kowollik 2011:321) sind auch in dem neun Jahre später veröffentlichen Band Opis smrti (Beschreibung des Todes, 1993) merkbar (vgl. Stojanović-Fréchette 2013:127). In diesem zweiten Band setzt der Ich-Erzähler, ein Sohn einer jüdischen Familie aus der Provinz, die Handlung in die Jetzt-Zeit des adoleszenten Protagonisten, der häufig in die Kindheit und Jugend zurückblendet, wenn er die Familiengeschichte, insbesondere jene der Eltern, erzählt

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(ibid.:130). Die Familie ist in seiner Erzählung nicht nur als Erzählgerüst funktionell, sondern ist als klassischer Erfahrungs- und Erlebnisort für den Ich-Erzähler von bestimmender Bedeutung. Hierbei sind die autobiografischen Elemente stark literarisch verformt und bilden lediglich eine primäre Motivschicht, auf der die sekundäre, die dem Bereich der Phantastik und des Absurden gehört, aufgebaut ist (ibid.:131).

In seinen ersten literarischen Texten ist seine jüdische Herkunft thematisch ein fester Bestandteil seines Schreibens (vgl. Kowollik 2011:321). Diese tritt bereits in seinen ersten literarischen Werken auf, wobei insbesondere die Beschreibung des Todes (1993) seine jüdische Herkunft reflektiert, wenn er den Spuren eines jüdischen Autors in Belgrad nachgeht und die schwierigen Lebensverhältnisse und die zahlreichen Abschiede vom Vater und von der Gemeinde nachzeichnet. Sie bildete aber nie den Hauptkern seiner Erzählungen (vgl. Winter 2002). Dies änderte sich aber radikal mit dem Ausbruch des Krieges im jugoslawischen Raum und mit seiner Auswanderung nach Kanada 1994. Belgrad, die Stadt seines Erwachsen-Werdens, die Geschichte seines Heimatlandes sowie der Krieg auf dem Balkan begleiten ihn auch noch in Calgary und bestimmen seitdem seine literarischen Themenschwerpunkte (vgl. Kowollik 2011:321). Im freiwilligen kanadischen Exil ist für Albahari nicht nur die Zerstörung der kulturellen Identität Jugoslawiens ein zentrales Thema (vgl. Sander 2005), sondern auch das Ringen um Identität als Migrant (vgl. Stojanović- Fréchette 2013:127).

Davon zeugt auch sein erster im Exil 1995 verfasster Roman Snežni čovek (Der tagelange Schneefall, 1997). Mit diesem Roman setzt der Schriftsteller einen neuen literarischen Wendepunkt in seiner literarischen Tätigkeit, indem er ein Buch über seine serbisch-jüdische Herkunft und dem Jugoslawienkrieg schrieb (vgl. Winter 2002). Auch in seinen Romanen Mamac (1996; Mutterland, 2002) und Svetski putnik (2001; Der Weltreisende) kreisen die Handlungen um die Themen Identität, Sprache, Heimat und Heimatverlust (vgl. Stojanović- Fréchette 2013:127). Hierbei skizziert der Schriftsteller seine persönliche Erlebnisse des Krieges und des Exils, indem er sie versucht auf einer realistischen Ebene, trotz der Fiktion, kritisch zu beleuchten. Albahari rekonstruiert sowohl in Mamac als auch in Svetski putnik selbst, welche Konsequenzen der Krieg und ein fremdes Land für die Persönlichkeit, das Ich eines Menschen, haben (vgl. Breitenstein 2018). Zugleich aber werden auch die großen Themen der Literatur, die von Gut und Böse sowie Treue und Verrat handeln, in seine literarischen Texte einbezogen, worin er dann postmodern mit täuschenden Perspektiven spielt, mit Lügen, die sich als wahr und Wahrheiten, die sich als Trug erweisen (vgl. Gauss

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2008:1). Dies passiert in seinen Romanen Gec i Majer (1998; Götz und Meyer, 2003), Pijavice (2006; Die Ohrfeige, 2007), Ludvig (2007; Ludwig, 2009), Kontrolni punkt (2011;

Kontrollpunkt, 2013) sowie Životinjsko carstvo (2014; Das Tierreich, 2017), in denen er in labyrinthischer und paradoxaler Form die Möglichkeiten des Erkennens, die Ordnung des Wissens, die Grenzen der Sprache und die Macht des Schreibens testet (vgl. Breitenstein 2018). Hierbei bedient sich Albahari des nicht-linearen Erzählens, da sich seiner Ansicht nach die Realität manchmal in mehrere Richtungen zugleich entfaltet, wobei sich die Erinnerungen überlagern und vermischen (vgl. Magenau 2002:2).

So entstanden in den vergangenen Jahren etliche Bücher, in denen Albahari kriegerisches Geschichte Jugoslawiens, seine Auswanderung nach Kanada und sein Erleben des Exils thematisiert (vgl. Sander 2005). Mittlerweile umfasst das Gesamtwerk des seit 1973 sehr produktiven Schriftstellers zwölf Romane, zwölf Erzählbände, drei Bücher essayistischer Prosa, ein Kinderbuch sowie ein Jugendbuch (vgl. Kowollik 2011:321). Die Hälfte seines literarischen Wirkens entstand erst nach 1994, also nach seiner Auswanderung nach Kanada.

Seine Romane und Erzählungen wurden in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt, darunter auch in die deutsche Sprache, wodurch in den 1990er Jahren die deutschsprachigen Leser und Leserinnen mit David Albahari vertraut wurden (vgl. Breitenstein 2018).

In seiner literarischen Vielfältigkeit darf Albahari nicht nur als Essayist, Kinderbuchautor oder Übersetzer betrachtet werden, sondern auch als eine Persönlichkeit, die sich ständig weiterentwickelt, seiner politisch-ideologischen Sichtweise jedoch immer treu bleibt.

2.3 Politisch-ideologische Sichtweise

Bereits in den 1980er Jahren sprach man in den literarischen Kreisen in Belgrad viel über die sogenannte kritische Literatur, über Texte, die geschrieben worden sind, um ihr kritisches Verhältnis zum damaligen Regime auszudrücken (vgl. Lukić 2001:133). Einige dieser Texte propagierten den serbischen Nationalismus rund um die Proponenten des „neuen historischen Romans“, welcher nationalistischen Werte und Interessen des gewählten Kollektivs vertrat (vgl. Winter 2002), während sich auf der anderen Seite Autoren und Autorinnen befanden, die sich mit ihrer Literatur der totalisierenden Wirkung von nationalen Programmen widersetzten (vgl. Lukić 2001:135). Darunter auch David Albahari, der sich in seinem Schaffen „auf das Individuelle als Sphäre einzig relevanter Erfahrung“ (ibid.:4) konzentriert. In seinen literarischen Texten setzte er sich dafür ein, dass das Individuum eine Stimme bekommt, ohne dabei auf die einfachen Parameter der kollektiven Werte reduziert

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zu werden (ibid.:3). Dennoch wurde ihm mit dem Fortschreiten des Krieges beim Beobachten der Menschen auf den Straßen immer klarer, dass es unter ihnen nie mehr Frieden geben würde, und dass es immer schwieriger sein wird, moralische Prinzipien zu vertreten (Winter 2002).

Bald darauf wurde Albahari, der sich als Internationalist verstand, seitens der nationalistisch- orientierten Genossenen und Genossinnen dem „Feind“ zugerechnet, und sein literarisches Schaffen nach politischen Maßstäben bewertet (vgl. Magenau 2002:1). Um diesen Gruppierungen sowie dem von Nationalismus und zunehmendem Antisemitismus geprägten politischen Klima seiner Heimat zu entgegnen, wanderte er nach Kanada aus, wo er versuchte, seine eigene Sicht der Geschehnisse in seinen Texten zu verarbeiten. So schrieb Albahari in Mamac: „Ich bin weggegangen, weil ich den Druck der Wahrheit nicht mehr ertrug“ (2002:80). Dies gelang ihm aber nur zum Teil, weil er im Zufluchtsort gedanklich immer mit jener Welt zu tun hatte, aus der er kam (vgl. Gauss 2008:1).

Die Zuflucht fand er schließlich in der Muttersprache, die am fremden Ort den alltäglichen Kommunikationszweck verliert, ihm aber ermöglichte, das Mittel des künstlerischen Ausdrucks zu sein (vgl. Magenau 2002:1). Indem er sich mit ihr in seinem Schreibprozess befasste, half sie ihm, sich kritisch mit den Ereignissen in der Heimat auseinanderzusetzten.

Die Muttersprache sowie die Ferne gaben ihm Sicherheit ohne Angst und Sorge. Zudem versuchte Albahari in seinem Schreiben das zu wiederholen und zu erneuern, was er verloren hatte. Nunmehr musste er sich nicht mehr gegen Ausgrenzung und politische Vereinnahmung wehren, sondern vor allem dagegen, als Autor überhaupt wahrgenommen zu werden (ibid.).

Obwohl der Name Milošević in seinen Romanen nicht vorkommt, da es dem Schriftsteller nicht um Schuldzuweisungen geht, verweist er in Mamac auf die politische Lage Jugoslawiens:

Auf einmal wussten alle, die Vergangenheit richtig zu deuten, aber keiner merkte, dass man nicht mehr von der Zukunft, nicht einmal mehr von der Gegenwart sprach, dass es nicht darum ging, eine Begebenheit noch einmal psychoanalytisch zu durchleben, um ihren wahren Sinn zu ergründen; jetzt pries man die Vergangenheit, das Leben in der Vergangenheit als Ersatz für das Leben in der Gegenwart, jetzt bezeichnete man das gelebte Leben als das einzig wahre Leben, beziehungsweise verlangte man vom Leben, es solle ein dauerndes Auf-der-Stelle-Treten, ein ständiges zum

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Selbstzweck gewordenes Wiederholen der Vergangenheit sein. Wann immer ich das Fernsehen oder das Radio einschaltete, die Zeitung aufschlug oder die Wochenmagazine durchblätterte, versicherte mir jemand, die Ereignisse der Vergangenheit seien wichtiger als jeder Aspekt der Gegenwart, mit dem ich konfrontiert werden könnte, und dass ich mich,falls ich nicht bereit sei, diese späte Einsicht zu akzeptieren, für ein Leben der Leere entschiede. (Albahari 2002:125)

Hierbei spiegeln sich der Sarkasmus des Autors und seine Kritik am Milošević-Regime wider. Denn genau dieses Regime trug dazu bei, dass sich der Autor gezwungen sah, Jugoslawien zu verlassen und sein bisheriges Leben zu verlieren.

Zusammenfassend soll festgehalten werden, dass im Rahmen dieses Kapitels, dessen Ziel es war, ein umfassendes Bild des Autors zu liefern, Folgendes festgestellt werden konnte:

David Albahari ist ein postmoderner Autor, dessen Schreibstil lange Sätze, Wiederholungen und Bindewörter charakterisieren, während seine politisch-ideologische Sichtweise der nationalistischen Propaganda Serbiens nicht entspricht. Außerdem konnte in diesem Kapitel festgestellt werden, dass Jugoslawien für Albahari sein Zuhause war, die für ihn in der serbischen Sprache weiterlebt. Trotz seiner Auswanderung nach Kanada werden seine Werke in Serbien weiter veröffentlicht. Die in Calgary gewonnene Distanz überzeugte ihn, noch intensiver seine politisch-ideologische Sichtweise zu vertreten, indem er sich in seinen literarischen Texten einer offenen und direkten Sprache bedient.

Diese Sprache, die sich dem postmodernen Schreibstil anpasst, spiegelt eine Art Doppelleben des Autors zwischen Ab- und Anwesenheit wider, welche sich insbesondere auch in seinem Roman Mamac zeigt.

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3 Mamac (1996)

Berührend, ironisch, traditionsbewusst und doch experimentierfreudig untersucht David Albahari in seinem Roman Mamac aus dem Jahre 1996 Erzählstrategien und das Funktionieren der menschlichen Psyche, indem er leitmotivisch die Gegenwärtigkeit des Vergangenen in seinem literarischen Text durchzieht (vgl. Hueck 2003). Er lässt die Stimme der toten Mutter vom Tonband erklingen, die das Verdrängte und Ungesagte der Vorfahren artikuliert. Ihre Stimme füllt die Lücken in den Erzählungen der anderen aus, wobei die Familiengeschichte und die Geschichte des Landes, aus dem er geflüchtet ist, in das Leben des Protagonisten eintreten (vgl. Hitzke 2014:138). Diese wird vom Protagonisten gehört und verkörpert, indem er das, was die bekannte Stimme sagt, auf eine besondere literarische Art und Weise aufzuschreiben versucht.

3.1 Inhalt

Der Roman Mamac setzt seine Handlung mit der Exilsituation des Ich-Erzählers ein, der im Jahre 1994 aus seiner Heimat Jugoslawien flüchtete und nach Kanada emigrierte. Seine eigene familiäre Geschichte, die in erster Person erzählt wird, beginnt, als er in seiner neuen Heimstätte, im kanadischen Städtchen Calgary, unter seinen Habseligkeiten auf alte Tonbandaufnahmen stößt, auf denen das Leben seiner bereits verstorbenen Mutter festgehalten ist.

Um sich die alten Tonbandaufnahmen anhören zu können, begibt sich der Erzähler tagelang auf die Suche nach einem Tonbandgerät. Die Suche erweist sich als schwierig, da in den kanadischen Geschäften keine Tonbandgeräte mehr verkauft werden. Der Erzähler hinterfragt, ob es richtig war, die Tonbänder auf eine Reise durch Räume und Zeiten mitzunehmen. Es plagt ihn der Gedanke, dass er dadurch das Material der Gefahr ausgesetzt hatte, dass die Stimme, die hörbar wäre, nicht mehr abgespielt werden könnte. Als der Erzähler seinem kanadischen Freund Donald, einem Schriftsteller, in einem Restaurant, das auf einer weiten in einen Stadtpark verwandelten Flussinsel liegt, von seiner erfolglosen Suche nach einem Gerät berichtet, mit dem er die Bänder mit der Stimme seiner Mutter abhören könnte, erzählt ihm Donald, dass im Keller des alten Hauses seiner Eltern ein Tonbandgerät sei. Tatsächlich finden sie ein altes Tonbandgerät in einem noch brauchbaren Zustand.

Dieses nimmt der Erzähler mit sich in sein neues Zuhause, stellt es auf den Küchentisch und schaltet es ein. Als die bekannte Stimme in seiner Muttersprache, die er seit zwei Jahren

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nicht mehr gehört hat, aus dem Lautsprecher des Tonbandgeräts schallt, wird ihm so schlecht, dass er beinahe zusammenbricht. Die alten Bilder tauchen auf, und er befindet sich plötzlich am Esszimmertisch des Elternhauses, wo er mit seiner Mutter mit einem Blatt Papier, auf dem geschrieben war „Mutter: Das Leben“, sitzt. Die Stimme seiner toten Mutter, die aus dem Gerät erklingt, fühlt sich plötzlich so realistisch an. Diese erinnert ihn daran, als er vor sechzehn Jahren, einen Tag nach der Beerdigung des Vaters, die Mutter aufforderte, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Damit wollte er die Leere, die nach dem Tod des Vaters entstand, aufarbeiten und das Leben seiner Mutter festhalten, aufzeichnen und verfügbar machen, um sie zu verewigen, was im Fall des Vaters nicht mehr möglich war.

Die Mutter war zunächst verlegen, da sie nicht recht wusste, womit sie anfangen sollte.

Dennoch kam sie dem Wunsch des Sohnes nach und fing an, über ihr Leben zu erzählen.

Ihre Erzählung ist von einem beständigen Rauschen und Quietschen des Tonbands begleitet.

Die langen Pausen und die Stille drängen dem Erzähler, weit weg von seiner Heimat, die Frage auf, ob er seiner Mutter nicht Unrecht tat, als er die alten Erinnerungen in ihr weckte.

Ihre Erinnerungen reichen weit in vergangene Zeiten zurück. Diese spiegeln die jugoslawische Geschichte vom Zerfall der Habsburgermonarchie bis zum Beginn des Jugoslawienkrieges wider. Ihre Lebensgeschichte beginnt in österreich-ungarischen Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg. Hier berichtet sie kurz über ihre bosnische Abstammung.

Detaillierter dagegen beschreibt sie ihr Leben vor dem Zweiten Weltkrieg in Zagreb und die Zeit der deutschen Besetzung in Kroatien, wo die faschistische Ustascha gegen die jüdische und serbische Bevölkerung wütete. Ihr erster Mann und ihre zwei Kinder aus dieser Ehe wurden zu Opfern. Als einzige ihrer Familie überlebte sie die Schoa, heiratete ihren in deutschen Konzentrationslagern geschundenen zweiten Mann, den Vater des Erzählers, der später an den Folgen dieser Misshandlungen starb. All diese Schicksalsschläge erzählte sie ihrem Sohn, mit stoischer Gelassenheit und mit vor der Brust verschränkten Armen. Trauer überkam sie dabei nicht.

Die Mutter starb noch während des Jugoslawienkrieges. In der fernen neuen Welt, wo ihm von seiner Mutter nur die Aufzeichnung ihrer Stimme blieb, begibt sich der Erzähler auf die Suche nach seiner eigenen Identität. Dies macht er, indem er den Wunsch hegt, die Lebensgeschichte seiner Mutter aufzuschreiben und parallel dazu sich selbst und seine ursprüngliche Gestalt in der Mutter lesbar zu machen. Plötzlich scheint er die Worte seiner Mutter zu begreifen und gerät in eine Sinnkrise. Dem Erzähler wird mit der Zeit klar, dass ein fremdes Land nicht eine neue Identität konstruiert. Er greift auf die Lebensgeschichte

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und jüdische Herkunft seiner Mutter zurück und beschließt, diese in ein literarisches Werk umzuwandeln. Dabei soll im Mittelpunkt das Ich und mit ihm die Familie stehen. Er fühlt sich unfähig und unsicher ein Buch zu verfassen, da er zwischen zwei Sprachen steht, dem Englischen und dem Serbischen. Um die Geschichte seiner Mutter auf der Basis der Tonbänder zu erzählen, sucht der Erzähler eine professionelle Hilfe für einen passenden literarischen Stil und findet sie bei dem Schriftsteller Donald. Außerdem entwickelt der Erzähler parallel zur eigenen auch die Geschichte Donalds. Diese wird ironisch dargestellt, da Donald jene Instanz ist, die sich dem Wunsch nach Identifikation völlig verweigert. Im Endeffekt ist die fehlende gemeinsame Identität, bei all den Gegensätzen zwischen dem Erzähler und seinem Protagonisten diejenige, welche die zwei zueinander führt. Während der Erzähler sich ständig auf die Suche nach seiner Identität begibt und von einer Zerrissenheit geplagt wird, ertappt er sich immer wieder dabei, dass er sich in dem fremden Ort zu Hause fühlt, obwohl er immer wieder betont, dass es kein Zuhause für ihn sei. Im Gegensatz zu ihm bleibt sein Protagonist identitätslos.

Der Roman endet damit, dass der Erzähler trotz seiner Verzweiflung ein Manuskript über das Leben seiner Mutter verfasst. Dieses wird von Donald lektoriert, der am Schluss vor seiner Tür steht und ihm das korrigierte Manuskript überreicht. Somit endet der Roman mitten im Geschehen. Wie Donald den Text bewertet hat und ob der Erzähler weiterhin schreiben wird, bleibt offen. Außerdem gibt er auch keinen Ausblick darüber, wie die Zukunft seines Protagonisten aussehen könnte. Die Leser und Leserinnen stellt er vor ein Rätsel, da er ihnen nur einen kurzen Abriss über das Leben seiner Helden zur Verfügung gestellt hat.

3.2 Genre

Im Roman Mamac versucht der Protagonist das Leben seiner Mutter festzuhalten, indem er ein Buch über sie schreibt (vgl. Hitzke 2014:121). Als Grundlage dafür dient ihm Tonbandmaterial, auf dem die Mutter die Geschichte ihres Lebens, Liebens, Wanderns, Verleugnens und Sich-Behauptens in Alltagsweisheiten und Sentenzen erzählt (vgl. Reber 2009:439). Die Handlung des Romans setzt mit dem Satz: „Womit soll ich anfangen, sagt die Mutter“ (Albahari 2002:5) ein, der die Gesamtstruktur des Romans widerspiegelt. Er bezieht sich sowohl inhaltlich auf die meisten der im Gesamttext verhandelten und vertieften Themenschwerpunkte als auch in seiner Struktur auf die Schöpfungsgeschichte, die den jüdischen Ursprung des Autors markiert (vgl. Rakočević 2005:32). Dies geht auch aus dem

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Titel des Romans hervor, wobei das Nomen „mamac“ aus den Wörtern „mama“ (Mutter) und „otac“ (Vater) zusammengesetzt wurde und auf Mutter- und Vaterland hindeutet (vgl.

Hitzke 2014:146).

Der Satz am Anfang steht in direkter Rede, der wie ein „Köder“, so die wörtliche Übersetzung des Originaltitels Mamac, den Leser oder die Leserin anlockt und in diesem durch die Irritation in der Interpunktion „Womit soll ich anfangen“ eine besondere Aufmerksamkeit weckt, da er gleichzeitig die Rede der Mutter, des Erzählers und des Protagonisten markiert. Es sind aber auch die ersten Worte des Ich-Erzählers, der hier durch den Mund seiner Mutter spricht (ibid.:126). Dieser namenlose Ich-Erzähler ist der autodiegetische Erzähler, der Komponist des Textes. Er ist ein Alter Ego des Autors David Albahari (vgl. Schimmang 2013). Somit wird der gesamte Text, der dem/der LeserIn vorliegt, von ihm erzählt. Er offenbart, dass er einen Text über seine Mutter schreiben will.

Dies wird aber ihm als autodiegetischen Erzähler nicht zugeschrieben, sondern seiner literarischen Figur, dem Protagonisten. Denn der Protagonist ist der Held der Geschichte, der handelt und der Gesprächspartner in Dialogen ist. Er ist die erschaffene literarische Figur, für die der Erzähler verantwortlich ist (vgl. Hitzke 2014:133). Als er zufällig unter seinen Habseligkeiten auf die alten Tonbandaufnahmen stößt, auf denen das Leben der Mutter aufgezeichnet ist, hört er sie an, um daraus eine Erzählung über die verstorbene Mutter zu machen. Das Tonband und sein Vorhaben macht die mütterliche Figur auf irreale Weise präsent in ihrer Rede und Widerrede, in ihrer Stimme und Körperlichkeit. Jedoch erscheint ihre Person zugleich perspektivisch gebrochen in der Erinnerung und Reflexion des Protagonisten. Denn das Poetische des Erinnerungsstroms geht immer wieder ins Poetologische über, während er den inneren Monolog ins Dialogische kippen lässt (vgl.

Breitenstein 2002). Dabei läuft der monologisch-dialogische Text ohne einzigen Absatz durch, als käme er von einem Tonband (vgl. Schimmang 2013).

Bestimmte Sätze und Worte werden als eine Art Refrain immer wiederholt, wobei von einem Refrain zum anderen kleine Änderungen vorgenommen werden, kleine Abweichungen, die die Handlung weiterführen (vgl. Breitenstein 2002). Dies ruft eine bestimmte Wirkung hervor, indem es zu einer Bewegung von kleinen Details im Text kommt, die die Handlung des Romans in Gang setzen (vgl. Schimmang 2013). Dies passiert aber auch durch die parallele Wiedergabe von Erinnerungen des Erzählers an die Mutter, die zeitlich vor- und zurückgreifen sowie durch die Verschränkung mit den anderen textuellen Ebenen. Die Stimme der Mutter in der Muttersprache, die mehrfach aus dem Jenseits ertönt, durchbricht

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