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„Was kömmt hier auf das selbst Sehen an?" Zum Widerstreit des Antiquarischen und des Ästhetischen bei Lessing

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Volker Riedel

„Was kömmt hier auf das selbst Sehen an?"

Z u m Widerstreit des Antiquarischen und des Ästhetischen bei Lessing

Unsere Tagung hat das Winckelmann-Motto „[...]

die Augen ein wenig zu öffnen" und will den „Blick auf die antike Kunst von der Renaissance bis heu­

te" untersuchen.1 Es geht also u m Anschauung, u m Autopsie - ein Prinzip, das der ,Materialisierung' des Antikebildes, der starken Erweiterung seiner Materialbasis im 18. Jahrhundert entsprach und das Persönlichkeiten wie Winckelmann oder Goethe bei ihren Aufenthalten in Italien und in ihrem Interesse für die rege Ausgrabungstätigkeit ihrer Zeit aufs voll­

kommenste ausgebildet haben.

In einem deutlichen Gegensatz dazu steht aller­

dings ein Schriftsteller und Gelehrter, der ebenfalls zu den bedeutendsten Intellektuellen seiner Zeit zählt, ja geradezu als eine Inkarnation der Aufklä­

rung erscheinen mag: Gotthold Ephraim Lessing.

In ihm verbindet sich auf charakteristische Weise die Anknüpfung an ,althumanistische' (d. h. mehr auf die verba als auf die res und stärker auf das La­

teinische denn auf das Griechische bezogene) Tradi­

tionen mit der Erarbeitung neuer weltanschaulicher und ästhetischer Erkenntnisse und der Entwicklung von Rezeptionsmethoden, wie sie für den primär an Griechenland orientierten ,Neuhumanismus' kennzeichnend waren. Walther Rehm hat in einem Vortrag von 1940 trotz einiger anerkennender W o r ­ te eine permanente Abwertung Lessings gegenüber Winckelmann vorgenommen und dabei insbesonde­

re dessen „Begierde des Schauens" „gegen den blin­

den, hierin fast hochmütigen Buchgelehrten Lessing"

ausgespielt;2 1979 waren fürTadeusz Namowicz die antiquarischen Schriften ein „verspäteter Nachklang einer noch barock anmutenden Gelehrsamkeit"3 -

und noch im „Lessing-Handbuch" von 2000 wird v o m „Rückfall in das 17. Jahrhundert" gesprochen4. Nichtsdestoweniger ist Lessing zu einigen durchaus bedenkenswerten kunstgeschichtlichen Hypothesen gelangt, und vor allem hat er dank dem Primat der theoretischen Überlegung gegenüber der sinnlichen Anschauung ästhetische Einsichten von großer Trag­

weite gewonnen.

Lessing hat sich seit seiner Breslauer Zeit, also seit der ersten Hälfte der sechziger Jahre, mit antiquari­

schen Fragen beschäftigt. Insbesondere hat er 1766 den ersten (und einzigen) Teil seines „Laokoon" ver­

öffentlicht und sich dann nochmals - in scharfer Po­

lemik gegen den Hallenser Altertumswissenschaftler Christian A d o l f Klotz - 1768/69 in Hamburg in den

„Briefen, antiquarischen Inhalts" und in der Schrift

„Wie die Alten den Tod gebildet" mit den A l t e r t ü ­ mern befasst. Er kannte antike Werke aus Samm­

lungen, Abbildungen und Beschreibungen5 - aber er war bis zu diesem Zeitpunkt weder in der Lage noch allzu ernsthaft daran interessiert gewesen, nach Italien zu reisen.

In den Kapiteln 26 bis 29 des „Laokoon" sowie in seinen handschriftlichen Anmerkungen zur Ge­

schichte der Kunst des Alterthums" hat Lessing, in Auseinandersetzung mit Winckelmann, eine Reihe kunstgeschichtlicher Probleme behandelt: neben verschiedenen Einzelfragen vor allem die Entste­

hungszeit der Laokoongruppe und die Deutung des sogenannten Borghesischen Fechters. Winckelmann war der Meinung, dass die Laokoongruppe aus der Blütezeit der griechischen Kunst (die für ihn die Zeit Alexanders des Großen war) stammen müsse6 - Les- Originalveröffentlichung in: Festschrift für Max Kunze "...die Augen ein wenig zu öffnen". Ein Blick auf die antike Kunst von der Renaissance bis heute, Mainz-Ruhpolding 2011, S. 35-39

(2)

36 Volker Riedel

sing hingegen vermutete, dass ihre „Meister" „unter den ersten Kaysern gearbeitet haben", „wenigstens so alt gewiß nicht seyn können, als sie Herr Winkel­

mann ausgiebt"7. In Bezug auf den ,Borghesischen Fechter' aber trug er eine völlig eigene Deutung vor (die er in den ^Antiquarischen Briefen' wieder zu­

rücknehmen musste): Er meinte nämlich, dass mit ihm der athenische Feldherr Chabrias aus der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts v. Chr. in einer von Cornelius Nepos beschriebenen Haltung dargestellt sei.8

Es geht mir nicht darum, die Streitpunkte detail­

liert zu verfolgen, und auch die Frage, wer in Bezug auf das Alter der Laokoongruppe nach heutigem Erkenntnisstand Recht hat und welche Argumente im Einzelnen Lessing für und gegen seine Deutung des ,Borghesischen Fechters' herangezogen hat, soll nicht überbewertet werden - wohl aber ist die un­

terschiedliche Methodik herauszustellen. Winckel- mann urteilt aus der Anschauung des Kunstwerks heraus, i h m liegt an dessen ästhetischer Würdigung - Lessing zielt auf theoretisch-systematische Erörte­

rungen anhand der antiken Quellen, vor allem des älteren Plinius. Winckelmann polemisiert in der Vorrede zur „Geschichte der Kunst des Alterthums"

vehement gegen Schriften, an denen „die Kunst" nur

„einen geringen Antheil" hatte und deren Verfasser ihre Kenntnis allein „aus Büchern" zogen und ledig­

lich „Gelehrsamkeit anzubringen" wussten, und er formuliert pointiert: „Es ist daher schwer, ja fast un­

möglich, etwas gründliches von der alten Kunst [...]

außer R o m zu schreiben."9 Lessing dagegen ging es (nach den Worten Wilfried Barners) „nicht um die sinnliche Erfassung von Formen und Gestaltungen, sondern u m Sujets, Motive, Autorschaften, S c h u ­ len', Datierungen - alles Fragen, die sich wesentlich auf schriftliche Zeugnisse stützen".10 Symptomatisch sind einige konträre Äußerungen: Winckelmann hat es in einem Brief an Stosch v o m November 1766 ab­

gelehnt, Lessing zu antworten („Dieser Mensch aber hat so wenig Kenntniß [...]. Also sey ihm die A n t ­ wort geschenckt.")", und am 10. September 1766 schrieb er an Johann Michael Francke: „Er k o m m e nach R o m , u m auf dem Ort mit ihm zu sprechen."12

Lessing aber formulierte in den „Briefen, antiquari­

schen Inhalts" polemisch: „Was k ö m m t hier auf das selbst Sehen an? Ich spreche ja nicht von der Kunst."

Oder (wenn auch in anderem Zusammenhang):

„Hier müssen Beweise aus Büchern mehr gelten, als der Augenschein."13 In den Entwürfen zum „Lao- koon" ist der Gegensatz zwischen Winckelmanns auf Anschauung beruhender Bewunderung und der eigenen theoretisch-philologischen Textanalyse so­

zusagen auf den Punkt gebracht: „Er hat nicht den geringsten historischen Grund für sich; er urtheilet bloß aus der Kunst."14 Noch 1772 schreibt Lessing in einem Brief an seinen Bruder Karl Gotthelf, dass er „die windigen Künstler beschämen" wolle, „die immer auf ihren untrüglichen Geschmack pochen, und alle antiquarische Gelehrsamkeit, die man aus Büchern schöpft, verachten".15

M i t diesen Grundsätzen stimmt überein, dass Lessing nirgends auf die Ausgrabungen in Pompeji und Herculaneum Bezug genommen hat und dass das Notizbuch seiner Italienreise von 1775 zwar mannigfaches literarisches Material verzeichnet, aber weder die Laokoongruppe noch andere berühm­

te Antiken erwähnt. Anlässlich eines Besuchs der Mannheimer Kopiensammlung soll er geäußert ha­

ben, dass der Aufenthalt dort mehr Vorteile gewähre als eine Wallfahrt zu den Originalen.16

Dennoch hat Lessing auch auf kunstgeschicht­

lich-archäologischem Gebiet zum Erkenntnisgewinn beigetragen - bzw. eine eigene Fehldeutung korri­

giert. Die Entdeckung des Reliefs auf dem Großen Fries des Pergamon-Altars im Jahre 1878 und der Fund der Skylla-Gruppe von Sperlonga 1957 ließen eine konzeptionelle und stilistische Verwandtschaft der Laokoongruppe mit der pergamenischen Kunst aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. er­

kennen - und wenn auch umstritten ist, ob es sich bei der Laokoongruppe um die römische Marmor- Kopie einer pergamenischen Bronze aus dem 2. Jahr­

hundert oder u m ein römisches Marmor-Original im Pergamonstil aus der Zeit des frühen Prinzipats handelt17, so k o m m t Lessing mit seiner im Großen und Ganzen nüchternen historisch-philologischen Erörterung der Entstehungszeit des Kunstwerkes ge­

wiss näher als Winckelmann mit seiner Verehrung für ein als ,klassisch' empfundenes Werk. Erwähnt sei auch, dass Winckelmann einige von Lessing m o ­ nierte Detailversehen für die zweite Auflage der „Ge­

schichte der Kunst des Alterthums" stillschweigend korrigierte18 und dass Lessing in seinem „Fragment über die Isische Tafel" diese Bronzeplatte (die er erst später auf seiner Italienreise in Turin gesehen hat)

(3)

ZUM WIDERSTREIT DES ANTIQUARISCHEN UND DES ÄSTHETISCHEN BEI LESSING 37

zu Recht als eine römische Kopie ansah, während Winckelmann (der sich in diesem Falle allerdings auch nicht auf eigene Anschauung berufen konnte) sie für ein ägyptisches Original hielt

19

- wohl wieder­

um aus Verehrung für ein als bedeutend erkanntes Kunstwerk.

Was die Interpretation des ,Borghesischen Fech­

ters' betrifft, so liegt ihr nicht - wie Christian Gott­

lob Heyne für möglich gehalten und Klotz behaup­

tet hat - eine Verwechslung mit dem ,Miles Veles' in Florenz zugrunde, sondern Lessing ist dazu bis zu ei­

nem gewissen Grade durch ein (auch in der zweiten Auflage nicht korrigiertes) Versehen Winckelmanns verführt worden. Dieser nämlich hat die Figur, die tatsächlich mit nach hinten ausgestrecktem linkem Bein auf dem rechten Schenkel ruht, als mit nach hinten ausgestrecktem rechtem Bein auf dem linken Schenkel ruhend beschrieben.

20

Wichtiger als die aus der Überprüfung von Abbildungen resultierende ist für Lessing allerdings die philologische Argumenta­

tion: Er zieht zwei griechische Beschreibungen des Chabrias heran, die im Widerspruch zu seiner In­

terpretation der Nepos-Stelle stehen, und schreibt:

„[...] die Parallelstellen des Diodor und Polyän ent­

scheiden alles, und entscheiden alles allein."

21

Freilich handelt es sich bei Lessings antiquari­

schen Studien mehr oder weniger um ein Randge­

biet seiner Forschungen, und es fehlt auch nicht an grimmigen Äußerungen über das „Studium des An­

tiquars" als „ein sehr armseliges Studium" oder über die „armselige Carriere der Alterthümer": „Ich schät­

ze das Studium derselben gerade so viel, als es werth ist: ein Steckenpferd mehr, sich die Reise des Lebens zu verkürzen."

22

Darüber hinaus stand er - von frü­

hen Äußerungen zur Fürstenschule St. Afra über die Ablehnung einer akademischen Einbindung bis zu späten Bekenntnissen aus der Wolfenbütteler Zeit - der ,Gelehrsamkeit' überhaupt sehr distanziert ge­

genüber: „Ich bin nicht gelehrt - ich habe nie die Absicht gehabt gelehrt zu werden - ich möchte nicht gelehrt seyn, und wenn ich es im Traume werden könnte. Alles, wornach ich ein wenig gestrebt habe, ist, im Fall der Noth ein gelehrtes Buch brauchen zu können."

23

So beschließt Lessing denn auch die Debatte um den ,Borghesischen Fechter' mit der Ankündigung, dass in einer (freilich nicht zustande gekommenen) künftigen Ausgabe des „Laokoon"

„der ganze Abschnitt" wegfalle - „so wie mehrere

antiquarische Auswüchse, auf die ich ärgerlich bin, weil sie so mancher tief gelehrte Kunstrichter für das Hauptwerk des Buches gehalten hat".

24

Lessing war, was seine theoretischen Aktivitäten betrifft, in erster Linie Philologe, Literaturkritiker, Literarhistoriker, Ästhetiker und Religionskritiker - und dann natürlich einer der glänzendsten Schrift­

steller seiner Zeit. Die eigentliche Bedeutung seiner antiquarischen Studien lag im Bereich der Ästhetik und der Menschenbild-Konzeption. Der vollstän­

dige Titel seines „Laokoon" lautet: „Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie. Mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte" - und die ersten 25 Kapitel sind eben nicht antiquarischen Fragen, sondern der Ermittlung ästhetischer Gesetzmäßigkeiten gewid­

met.

Dank seiner exakten philologischen Interpreta­

tion hat Lessing grundlegende Erkenntnisse über die Unterschiede von Dichtung und bildender Kunst herausgearbeitet und damit vor allem die Heraus­

bildung einer Literatur befördert, der — im Unter­

schied zur bildenden Kunst, deren oberstes Gesetz die Schönheit sei - „das ganze unermeßliche Reich der Vollkommenheit"

25

, d. h. die Wiedergabe des Lebens in all seinen Zusammenhängen und Wi­

dersprüchen, offenstehe. Er hat - gegenüber einem

„mißbilligende [n] Seitenblick" Winckelmanns

26

- eine „Rettung des Virgils"

27

unternommen und das Schreien des Laokoon in der „Aeneis" als für die Literatur legitim verteidigt, im weiteren Ver­

lauf der Untersuchung aber dann in ausführlichen Vergleichen zwischen Homer und Vergil sowohl die moderne Deutung dieser beiden Dichter und ihres Verhältnisses zueinander vorbereitet als auch, vom lateinischen Ausgangspunkt her, den Übergang von einem primär an den Römern zu einem vorrangig an den Griechen orientierten Antikebild befördert.

Schließlich offenbart der ästhetische Diskurs auch eine ethische Komponente. Winckelmann sieht die stille Leidensfähigkeit des bildkünstlerischen Laoko­

on als vorbildlich für eine allgemeine Lebensauffas­

sung an („wir wünschten, wie dieser grosse Mann, das Elend ertragen zu können"

28

) — Lessing jedoch bekennt sich, im Gegensatz zu dieser gleichsam sto­

ischen' Ergebenheit in das Leiden, zu dessen natürli­

cher Äußerung. Während die „feinern Europäer einer

klügern Nachwelt" aus „Höflichkeit und Anstand"

(4)

38 Volker Riedel

ihre E m p f i n d u n g e n u n t e r d rü c k t e n , h a b e „der G r i e ­ c h e " sich „keiner der m e n s c h l i c h e n S c h w a c h h e i t e n "

geschämt. S o w i e der Vergilsche L a o k o o n seien a u c h d i e h o m e r i s c h e n H e l d e n o d e r der s o p h o k l e i s c h e P h i l o k t e t „ n a c h ihren E m p f i n d u n g e n w a h r e M e n ­ s c h e n " u n d d a m i t beispielhaft für ein ,natürliches' M e n s c h e n b i l d .2 9 I n der Schrift „ W i e die A l t e n d e n T o d g e b i l d e t " f ü h r e n d a n n die antiquarischen E r ö r ­ t e r u n g e n u n m i t t e l b a r z u einer G e g e n ü b e r s t e l l u n g christlicher u n d antiker TodesaufFassung, die - a u c h w e n n sie n a c h h e u t i g e m E r k e n n t n i s s t a n d n i c h t die v o n Lessing v e r m u t e t e absolute G e l t u n g b e a n s p r u ­ c h e n k a n n - p r ä g e n d für das M e n s c h e n - u n d A n ­ tikebild der n a c h f o l g e n d e n G e n e r a t i o n e n (expressis verbis v o n Schiller bis H o f m a n n s t h a l ) war.

I n dieser letzten v o n Lessings antiquarischen S c h r i f t e n findet sich a u c h die G e g e n ü b e r s t e l l u n g v o n

„ A l t e r t h u m s k r ä m e r " u n d , , A l t e r t h u m s k u n d i g e [ m ] " :

„Jener hat d i e S c h e r b e n , dieser d e n G e i s t des A l t e r ­ t h u m s geerbet. J e n e r d e n k t n u r k a u m m i t seinen A u ­ gen, dieser sieht a u c h m i t seinen G e d a n k e n . "3 0 D e r S p r u c h ist nicht gegen W i n c k e l m a n n gerichtet, d e m Lessing v i e l m e h r - trotz m a n c h e r M e i n u n g s v e r s c h i e ­ d e n h e i t i m e i n z e l n e n - zeitlebens H o c h a c h t u n g e n t ­ gegenbrachte; aber er zeugt n o c h e i n m a l v o m P r i m a t des D e n k e n s gegenüber der A n s c h a u u n g .

Statt der A b w e r t u n g der Lessingschen , B u c h g e ­ lehrsamkeit' z u g u n s t e n der W i n c k e l m a n n s c h e n „ B e ­ gierde des S c h a u e n s " u n d statt des V o r w u r f s einer

„ b a r o c k a n m u t e n d e n G e l e h r s a m k e i t " oder eines

„Rückfall[s] i n das 17. J a h r h u n d e r t " finden w i r bei vielen neueren Forschern eher eine A n e r k e n n u n g beider P r i n z i p i e n - abgesehen d a v o n , dass a u c h W i n c k e l m a n n über ein beträchtliches M a ß an , G e - lehrsamkeit' verfügte u n d m i t der B e t o n u n g seiner A u t o p s i e der a n t i k e n K u n s t w e r k e sich gern selbst sti­

lisierte. Ich n e n n e H e l l m u t S i c h t e r m a n n s H a m b u r ­ ger V o r t r a g „Lessing u n d die A n t i k e " v o n 1 9 6 7 , in d e m der P r i m a t des G e d a n k e n s gegenüber der A n ­ s c h a u u n g u n d der a u f G r u n d theoretisch-kritischer D u r c h d r i n g u n g des Stoffes e r m ö g l i c h t e Ü b e r g a n g v o m A n t i q u a r i s c h e n z u m Ä s t h e t i s c h e n untersucht werden;3 1 ich weise h i n a u f die B o n n e r D i s s e r t a t i o n v o n B e t t i n a Preiß aus d e m J a h r e 1 9 8 8 über die B e ­ d e u t u n g C h r i s t i a n G o t t l o b H e y n e s für die A r c h ä o l o ­ gie des 18. J a h r h u n d e r t s , i n der der G ö t t i n g e r A l t e r ­ tumswissenschaftler eher i n d e n B a h n e n des theore­

tischen S t u d i u m s u n d der p h i l o l o g i s c h e n Textanalyse

Lessings als der Stilanalyse W i n c k e l m a n n s gesehen wird;3 2 ich erinnere an die A u s f ü h r u n g e n v o n Frau Bruer a m h e u t i g e n V o r m i t t a g über H e y n e s U m g a n g m i t d e n a n t i k e n Q u e l l e n3 3 - u n d ich h e b e last but not least M a x K u n z e s 2 0 0 7 i n W o l f e n b ü t t e l gehaltenen V o r t r a g „Lessing u n d W i n c k e l m a n n u n d die A n f ä n ­ ge der A r c h ä o l o g i e in D e u t s c h l a n d " hervor, i n der die p h i l o l o g i s c h ausgerichtete Textanalyse Lessings u n d H e y n e s u n d d i e Stilanalyse W i n c k e l m a n n s i n ihren jeweiligen V o r z ü g e n u n d G r e n z e n gegenein­

a n d e r a b g e w o g e n , aber als für die A r c h ä o l o g i e des 18. J a h r h u n d e r t s g l e i c h e r m a ß e n l e g i t i m angesehen w e r d e n , bis es d a n n i m 19. J a h r h u n d e r t z u einer V e r ­ s c h m e l z u n g der b e i d e n Betrachtungsweisen kam.3 4

Anmerkungen:

1 Hervorhebungen: V. R. - Belege aus Lessings Schriften werden (mit der Sigle L M ) nach folgender Ausgabe verzeichnet: Gotthold Ephraim Lessing, Sämtliche Schriften, hrsg. von Karl Lachmann, 3. Aufl., be­

sorgt durch Franz Muncker, Stuttgart [u. a.] 1886-1924. Mit der Sigle SN wird die „Geschichte der Kunst des Alterthums" nachgewie­

sen: Johann Joachim Winckelmann, Schriften und Nachlaß, Mainz 1996 ff. (Bd. 4/1: Text, 2002; Bd. 4/2: Katalog der antiken Denk­

mäler, 2006; Bd. 4/3: Allgemeiner Kommentar, 2007). - Vgl. auch folgende Arbeiten des Verfassers: Lessings Verhältnis zur römischen Literatur, Diss. Berlin, Humboldt-Univ. 1970 [maschinenschriftl.

vervielf] Bl. 420-434; Lessing und die römische Literatur, Weimar 1976 S. 139-152; Lessings Verhältnis zur Antike. Grundzüge, histo­

rischer Stellenwert und aktuelle Bedeutung, in: Riedel, Literarische Antikerezeption. Aufsätze und Vorträge, Jena 1996 (Jenaer Studien 2) S. 83-98; Winckelmann und Lessing. Gemeinsamkeiten und Unter­

schiede im klassischen deutschen Antikebild, ebenda S. 99-107; Lite- raturkritik und klassische Philologie bei Lessing, ebenda S. 108-117;

Literatur und Altertumswissenschaft um 1800, in: Humanismus und Antikerezeption im 18. Jahrhundert, hrsg. von Martin Vöhler und Hubert Cancik, Bd. 2: Humanismus im 18. Jahrhundert und seine Künste, Heidelberg 2010 [in Vorbereitung].

2 Walther Rehm, Winckelmann und Lessing, in: Rehm, Götterstil­

le und Göttertrauer. Aufsätze zur deutsch-antiken Begegnung, Bern 1951 S. 183-201. - Das Zitat ist Rehms erstmals 1936 erschienenem Buch „Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens" ent­

nommen (Bern/München, 4. Aufl. 1969 S. 52).

3 Tadeusz Namowicz, Lessings antiquarische Schriften. Kunstbetrach­

tung und anthropologische Reflexion in der europäischen Aufklärung, in: Lessing-Konferenz Halle 1979, hrsg. von Hans-Georg Werner, Halle (Saale) 1980 (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Wissenschaftliche Beiträge 1980/3 [F 21]) S. 311-326 (Zitat: S. 317).

4 Monika Fick, Lessing-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stutt­

gart/Weimar 2000 S. 221.

5 Vgl. Jürgen Dummer, Lessing und die antiken Originale. Prälimina­

rien zum Thema Winckelmann und Lessing, in: Dummer, Philologia sacra et profana. Ausgewählte Beiträge zur Antike und zu ihrer Wir­

kungsgeschichte, in Verbindung mit Roderich Kirchner und Claudia Sode hrsg. von Meinolf Vielberg, Wiesbaden 2006 (Altertumswissen­

schaftliches Kolloquium) S. 286-306.

6 SN 4/1, S. 674. - Die ausdrückliche Erwähnung Alexanders erfolgt

(5)

Z U M W I D E R S T R E I T DES ANTIQUARISCHEN UND DES ÄSTHETISCHEN BEI LESSING 3 9

an dieser Stelle erst in der 2. Aufl. (S. 675).

7 LM 9, S. 156-168 (Zitat: S. 163). - Vgl. Nep. Chabr. 1.

8 LM 9, S. 168-171.

' S N 4/1, S. XXVI und XXVII.

10 Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hrsg. von Wilfried Barner [u. a.], Frankfurt a. M. 1986-2003, Bd.

5/1, S. 529.

" Johann Joachim Winckelmann, Briefe, in Verbindung mit Hans Diepolder hrsg. von Walther Rehm, Berlin 1952-1957, Bd. 3, Nr.

812 S. 220.

l2WieAnm. 11, Nr. 797 S. 204.

13 LM 10, S. 273 und 311.

14 LM 14, S. 379.

15 Brief vom 28. Oktober 1772, in: LM 18, S. 61.

16 Vgl. Arno Schilson in: Lessing, Werke und Briefe, wie Anm. 10, Bd.

8, S. 1129-1133.

17 Vgl. Berthold Hinz, Laokoongruppe, in: Der Neue Pauly 15/1 (2001) Sp. 9-19 (hier Sp. 9); SN 4/2, S. 222-224 (Katalog-Nr. 486).

18 Vgl. insbesondere SN 4/3, S. 193-194 und 241-242 (Kommentar zu SN 4/1, S. 228 und 315).

19 LM 15, S. 27-34. - Vgl. SN 4/1, S. 88; SN 4/2, S. 65-66 (Katalog- Nr. 91); SN 4/3, S. 123 (Kommentar zu SN 4/1, S. 88).

20 LM 10, S. 338-340. - Vgl. SN 4/1, S. 782-783. In SN 4/3, S. 482 ist die Verwechslung zwar erwähnt, aber nicht kommentiert worden.

21 LM 10, S. 349-350 (Zitat: S. 350). - Vgl. Diod. 15,32,5; Polyain.

2,1,2. Zur Problematik im Einzelnen vgl. Peter Seiler, „Aber ist denn das feine Auge ganz untrüglich?" Visuelle Nachlässigkeiten und bild­

kritische Erfahrungen in Lessings Studien zum Borghesischen Fechter, in: Pegasus. Berliner Beiträge zum Nachleben der Antike 10 (2008) S. 167-222.

22 Briefe, antiquarischen Inhalts. Entwürfe, in: LM 15, S. 98; Brief an Friedrich Nicolai vom 2. Januar 1770, in: LM 17, S. 309; Brief an Moses Mendelssohn vom 5. November 1768, in: LM 17, S. 270.

23 Siehe die Briefe an die Mutter Justina Salome Lessing vom 20. Ja­

nuar 1749, 2. November 1750 und 8. Februar 1751 (in: LM 17, S. 7,

22 und 25), einen Bericht des Breslauer Schulrektors Samuel Benja­

min Klose (in: Gotthold Ephraim Lessings Gespräche nebst sonstigen Zeugnissen aus seinem Umgang, zum erstenmal gesammelt und hrsg.

von Flodoard von Biedermann, Berlin 1924 S. 99), den Briefwechsel mit seinem Bruder Karl Gotthelf Lessing vom 18. und 26. März 1775 (in: LM 21, S. 61 und 18,136) und „Selbstbetrachtungen und Ein­

falle" (Zitat; in: LM 16, S. 535). (Vgl. Riedel, Diss., wie Anm. 1, Bl.

11-12 und 15-16.)

24 LM 10, S. 350.

25 LM 9, S. 94.

26 LM 9, S. 7.

27 Laokoon. Entwürfe, in: LM 14, S. 375.

28 Die Formulierung stammt aus den „Gedancken über die Nach­

ahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer- Kunst" (Johann Joachim Winckelmann, Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, 2. Aufl., hrsg. von Walther Rehm, mit einem Geleitwort von Max Kunze und einer Einleitung von Hellmut Sichtermann, Ber­

lin/New York 2002 S. 43). Sie ist bei der Laokoon-Interpretation in der „Geschichte der Kunst des Alterthums" (SN 4/1, S. 674-676) in dieser Zugespitztheit nicht wiederholt worden.

29 LM 9, S. 8-9.

3 0LM11,S. 37.

31 Hellmut Sichtermann, Lessing und die Antike, in: Lessing und die Zeit der Aufklärung. Vorträge gehalten auf der Tagung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg am 10. und 11.

Oktober 1967, Göttingen 1968 (Veröffentlichung der Joachim Jun­

gius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg) S. 168-193.

32 Bettina Preiß, Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Laoko­

ongruppe. Die Bedeutung Christian Gottlob Heynes für die Archäo­

logie des 18. Jahrhunderts, Bonn 1992, besonders S. 8-9 und 76-78.

33 Vgl. S. 66 dieses Bandes.

34 Max Kunze, Lessing und Winckelmann und die Anfänge der Ar­

chäologie in Deutschland. Vortrag, gehalten am 14. März 2007 im Kulturbahnhof Wolfenbüttel, Wolfenbüttel 2008 (Wolfenbütteler Vortragsmanuskripte).

Anschrift:

Prof. Dr. Volker Riedel Mellenseestraße 59

10319 Berlin

Referenzen

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