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Chablis, Champagner, Schopenhauer

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Academic year: 2022

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Chablis, Champagner, Schopenhauer

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Wir reisen. Daniele Sallenave, die Führerin, hat Erfahrung; in Indien selbst, sie kehrt dorthin zurück; in der Gattung, sie hat bereits mehrere Städte und Länder erzählerisch besucht; auch im Thema, dem Prinzip der Verwüstung. Ihm galt schon ihre erste Veröffentlichung (Ruinenlandschaften mit Personen, 1975). Sie weiß, daß sie mit einer Orientreise einem breiten literarischem Strom folgt; keine leichte Textaufgabe also. Doch sie schützt sich vor den Anfechtungen der Tradition, in dem sie sich anknüpfend von ihr abwendet. An seiner Basis ist ihr Bericht ein Journal: Einträge nach Reisefortschritt, mit einem Höhepunkt in der Katastrophenstadt Kalkutta; alles knapp und pointiert gefaßt. Die Autorin war mit der Kamera eines Notizblocks unterwegs, und ihre Aufnahmen gleichen verbalen Spots.

Das sieht so aus: "Kinder, die unter einer Planke kauern, polieren Gegenstände, andere bearbeiten kleine Ketten; eine Ziege, die auf einer Treppenstufe balanciert, versetzt mit dem Kopf einer Frau einen Stoß, die daraufhin Wasser auf die Füße eines Kindes schüttet. Ein Mann schleppt Kohlen" etc.. Die äußeren Eindrücke werden jedoch mehrfach überblendet. Sie dienen vor allem dazu, das prägt den Bericht, das Empfinden der Wahrnehmenden abzubilden. Nicht um Indien geht es in letzter Konsequenz, sondern um dessen Wirkung auf sie. Das Land wird als Sesam-öffne-dich einer Selbsterfahrung besucht. Dazu paßt es, daß der Text sein Entstehen durchgehend selbst reflektiert. Der Leser darf wissen, daß der Autor weiß, daß das alles nur zutrifft, weil er es so schreibt. Glaubwürdig wird sein Bild deshalb durch das Ausmaß seiner Betroffenheit. Entsprechend bringt er sich ein. Er hält sich dabei gattungssicher an das Schema, das Reiseliteratur so produktiv macht, an die Hermeneutik von Eigenem und Fremdem.

Im Zusammenprall von Dritter und erster Welt lassen sich alle abendländischen Kulturzweifel in Stellung bringen. Dort, diskret, Paris als die Hauptstadt von Intellektualität, Vernunft, Fortschritt, kurz: von menschlicher Kultur; hier Kalkutta, Ausbund von Bedürfnissen, Exkrementen und anarchischer Kreatürlichkeit - menschliche Natur im Rohzustand. Der Gegensatz löst sich in einer Dekadenzprophezeihung: was Kalkutta jetzt ist, wird die Zukunft der westlichen Zivilisation sein. Dieses Prinzip des Ruins meint der (französische) Titel und beruft sich dabei auf den Niedergang des römischen Reiches als seinem unvermeidlichen Muster ("alle Gesellschaften werden genauso untergehen, wie Rom untergegangen ist"). Der kritischen Pflicht steht jedoch viel persönliche Neigung zur Seite.

Die Reisende gewinnt dem Fremden zugleich eine schmerzvolle Lust ab. Es bietet ihr willkommenen Widerstand gegen den kulturellen Reflex, alles verstehen zu wollen. Seine

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Unverständlichkeit verurteilt ihre mitgebrachte Welt zum Schweigen. Das Vertraute verliert sich; sie fühlt sich "zeitkrank" und beginnt, sich in dieses Andere zu übersetzen und "einen Weg zu beschreiten, der nicht der meine ist". Doch so abstoßend und unzugänglich alles auch sein mag - man wird den Eindruck nicht los, als ob diese Visite des Nirwana auch Affekte sucht, um ausgereizte Selbsterfahrungen zu beleben und anzureichern. Der Betroffenheit ist ein wohltemperierter Hedonismus nicht fremd.

Auch Champagner, Chablis und Schopenhauer fehlen nicht. Im Grunde sagt das Buch alles, was in diesem Falle zur Sprache kommen muß. Es macht eigentlich alles richtig. Aber vielleicht ist es gerade das, was ihm fehlt: ein wenig mehr Verfälschung dieser geläufigen Wahrheiten. Am deutlichsten wird dies, wenn der Reisebericht seine Erfahrungen in eingestreuten Sinnsätzen zusammenfaßt. Das hört sich so an: "Es gibt einfach zu viel von allem"; "Alles ist mir nah, wenn ich in der Ferne bin"; "Diskriminierung ist stets ein Zeichen von Rückständigkeit"; "Eine Stadt ist eine Antinatur, und das ist es, was sie menschlich macht" u.s.f.. Auch eine Reise nach Indien führt an vielen Gemeinplätzen vorbei. Gerade das hätte jedoch die Chance des Buches sein können: die Zweifel an der Kultur, die Probleme der Subjektivität, die Schwierigkeiten des Schreibens können leicht, so gut sie gemeint sind, auf einen routinierten Argwohn hinauslaufen. Sollte sie sich nicht auch kulturkritik von Zeit zu Zeit eigenen, liebgewordenen Gewohnheiten gegenüber kritisch verhalten?

Kann sie selbst, nur weil sie kritisch ist, vor den Verführungen zu Kitsch ganz sicher sein?

i DANIELE SALLENAVE: Indien oder die Verwüstung der Welt. Aus dem Französischen von Isabell Lorenz, München Wien (Carl Hanser Verlag) 1996.

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