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des Gelehrten im Lunheng des Wang Chong

Von Thomas Tabery, Leipzig

Zur Zeit der Han-Dynastie (206 v.Chr. bis 220 n.Chr.) bildete sich eine Reihe von institutionellen und ideologischen Grundstrukturen heraus, die die Einheit des chinesischen Kaiserreichs festigten und seine Geschichte durch mehr als zwei Jahrtausende maßgeblich beeinflussten. Die zentrale Staatsmacht schuf sich auf dem Fundament konfuzianischer Moralvor¬

stellungen unter Einbezug verschiedener geistiger Konzepte anderer Denk¬

richtungen eine offizielle Ideologie. Mit der Kompilation eines Kanons konfuzianischer Schriften und der Einrichtung eines Examenssystems mit den kanonischen Texten als verbindlichem Prüfungsinhalt vollzog sich eine institutionelle wie konzeptionelle Verankerung des Konfuzianismus in den Strukturen des chinesischen Einheitsstaats. Die schicksalhafte Verknüpfung von konfuzianischer Gelehrsamkeit und Staat mit ihren weitreichenden Fol¬

gen für die politische und geistige Verfasstheit Chinas und für konfuziani¬

sches Denken und Lernen nahm hier ihren Anfang.

Das Werk des Han-zeitlichen Gelehrten Wang Chong JL^ 1 ist in we¬

sentlichen Teilen ein Reflex auf eben diese geistig-kulturellen Entwick¬

lungen und institutionellen Veränderungen. Seine Beschäftigung mit dem

1 Wang Chong (zi: Zhongren fMi) wurde 27 n.Chr. im Kreis Shangyu in der Kommandantur Kuaiji (heute: Zhejiang und Süd-Jiangsu) geboren. Er entstammte

einer armen Familie von Ackerbauern und verlor schon in jungen Jahren seine Eltern.

Er wurde von einem Meister im Shangshu ~$ (Buch der Urkunden) und im Lunyu (Gespräche des Konfuzius) unterwiesen, bevor er im Jahre 44 angeblich in die Hauptstadt Luoyang gm g, um dort an der Kaiserlichen Akademie (taixue i^^) bei Ban Biao $íM zu studieren. Wangs Karriere als Beamten-Gelehrter verlief nicht sehr erfolgreich. Er bekleidete lediglich einige niedere Beamtenposten auf Kreis- und Kommandanturebene.

Da er mit seinen Ideen bei seinen Vorgesetzten kein Gehör fand, zog er sich enttäuscht von seinen Amtern zurück, um in aller Abgeschiedenheit seine Ansichten zu Papier zu bringen. Wang starb aller Wahrscheinlichkeit nach im Jahr 97 n.Chr. Vgl. Lunheng jiao- shi (nachfolgend abgekürzt LHJS) 1990, Bd. 4, S. 1187-1210; Hou Hanshu 1993, Bd. 6, S. 1629 und Zufferey 1995b, S.78ff. Wang Chong verfasste mehrere Schriften, von denen allerdings als einzige sein Hauptwerk, das Lunheng i&fëj (Abwägen von Lehrmeinungen) erhalten ist.

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Phänomen „Kanonisierung" und mit Fragen bezüglich des Verhältnisses der Gelehrten (ru i% bzw. rusheng i%!i) 2 zu einem institutionalisierten und professionellen Gelehrtentum fanden in der sinologischen Forschung bisher nur wenig Beachtung. 3

Wang Chong zum Status der schriftlichen Überlieferung

Die hohe Wertschätzung der schriftlichen Uberlieferung, die für eine alte Schriftkultur wie die chinesische typisch war, erreichte während des 2.Jh. v.Chr. mit der Kompilation eines Kanons klassischer Schriften einen Höhepunkt: Unter der Herrschaft Kaiser Wudis (reg. 140-87 v.Chr.) wurden auf Betreiben einiger konfuzianischer Gelehrter, darunter Dong Zhongshu jtfHf (179-122 v.Chr.), fünf Werke, denen traditionell die Autorschaft oder zumindest die Redaktion durch Konfuzius nachgesagt wurde, zu einem Kanon von Klassikern zusammengefasst und offiziell zum Gegenstand der staatlichen Ausbildung erhoben. 4 Damit wurde in der Uberlieferungsgeschichte ein Schritt vollzogen, der das Verhältnis zu Text und Schrift auf grundlegende Weise veränderte: Mit dem Begriff „Kanon"

lässt sich ein Prinzip identifizieren, das die Verfasstheit einer Kultur in Richtung Zeitresistenz und Invarianz verändert. Kanonische Texte ver¬

langen wortlautgetreue Uberlieferung, denn sie gelten als sakrosankt, als normatives Fundament der zivilisierten Welt. Sie sind nicht fortschreibbar, nicht veränderbar und damit vom Traditionsstrom, d. h. vom freien Fluss der Uberlieferung und den damit einhergehenden Veränderungen in Form und

Inhalt ausgeschlossen. 5

2 Zur Zeit der Han-Dynastie bezeichnete ru im weitesten und allgemeinsten Sinne die Vertreter der gebildeten Elite, die mit dem alten Schriftgut vertraut waren. Daher emp¬

fiehlt es sich in vielen Zusammenhängen, das Zeichen ru in der Bedeutung „Gebildeter"

oder „Gelehrter" und nicht verengend als „Konfuzianer" zu verstehen (vgl. Zufferey 1994 und van Ess 2003,S. 25). Das gilt besonders im Hinblick auf Wang, da dessen Aus¬

führungen zu den ru in direktem Zusammenhang mit Fragen der Gelehrsamkeit stehen.

3 Bisher standen vor allem die rationalistischen bzw. anti-spiritualistischen As¬

pekte seines Denkens im Mittelpunkt des Forschungsinteresses (vgl. Chen Ligui 1998, S. 281-330 und Zufferey 1995b, S. 402-411). Eine Ausnahme stellen die Arbeiten von Nicolas Zufferey (v.a. Zufferey 1995b) dar, der die allgemeinen politischen und geis¬

tigen Hintergründe der Han-Zeit verstärkt in seine Untersuchung mit einbezieht.

4 Es handelte sich um die sogenannten „Fünf Klassiker" (wujing £11): Shijing i^M (Buch der Lieder), Shujing (Buch der Urkunden), Yijing $j$ëL (Buch der Wandlun¬

gen), Chunqiu (Frühlings- und H erb stann alen) und Lijing ¿SiM. (Buch der Riten).

5 Vgl. Assmann 2000, S. 18ff.

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Wangs Ansicht nach stellt die Kanonisierung einen höchst fragwürdigen Vorgang dar. Viele Stellen im Lunheng belegen, dass Wang einer Sakrali-

sierung von Texten, der Erklärung eines Teils der Schrifttradition als nicht hinterfragbar, grundsätzlich ablehnend gegenübersteht, denn:

Die Worte der schriftlichen Uberlieferung verfehlen oft die Wahrheit. 6 Und an einer anderen Stelle heißt es:

Die Schriften der Philosophen (zhuzi ihre mit Pinsel und Tusche festge¬

haltenen Überlegungen, die Werke der vortrefflichen Menschen {xian *ff) mit all den darin gesammelten wunderbaren Gedanken - all das sollte wohl der Wahrheit entsprechen, doch an einigen Stellen findet man Übertreibungen. 7 Mit der Erklärung eines Textes als unveränderlich gültig und für alle Zeiten wahr wird eine gründliche Beschäftigung mit dem Text nicht nur erschwert,

sondern von vornherein nicht mehr angestrebt. Eine derartige Beschäfti¬

gung ist Wangs Meinung nach aber unerlässlich, da die überlieferten Schrif¬

ten eine Vielzahl von Irrtümern {xu Jf), Übertreibungen (zeng ) und Absurditäten (wang enthalten. Dennoch vertraut man ihnen blind und

betet sie gedankenlos nach:

Es ist weit verbreitet, unwahren und unsinnigen Schriften Vertrauen zu schen¬

ken. Sobald etwas auf Bambus und Seide niedergeschrieben ist, hält man es für die Worte von vortrefflichen Menschen (xian) und Weisen {sheng 1t) und für absolut wahr. Aus diesem Grund vertraut man auf ihre Richtigkeit, rezi¬

tiert und studiert sie. Stellt man fest, dass andere Schriften der Überlieferung Wahres und Richtiges enthalten, ihr Inhalt aber in Widerspruch zu dem steht, was in den unwahren und unsinnigen Schriften [die man aber für absolut wahr hält] zu lesen ist, bezeichnet man erstere dennoch abwertend als „wertlose Schriften", die nicht vertrauenswürdig und zu nichts zu gebrauchen sind.

Doch selbst Wahres, das im Dunkeln verborgen liegt, kann erkannt werden, und Dinge, die tiefgründig und schwer verständlich sind, können verstanden werden. Untersucht man die [Bedeutung der] Schriftzeichen und erläutert die 6 If - LHJS, Bd. 1, S. 201. Die hier vorgelegten Übersetzungen ins Deutsche stellen, soweit nicht anders angegeben, die Übertragungen des Verfassers dar.

Ihnen liegt die 1990 unter dem Titel Lunheng jiaoshi ?&#pfeff erschienene textkritische Edition des Lunheng zugrunde. Bisher wurden aus dem Lunheng lediglich einige kürzere Abschnitte ins Deutsche übersetzt, wie z.B. Auszüge aus Kapitel 85, der Autobiographie Wangs, in Bauer 1990. Die einzige vollständige Übersetzung in eine westliche Sprache

hat Alfred Forke 1907 unter dem Titel Wang Ch'ung: Lun-Heng. Philosophical Essays of Wang Ch'ung vorgelegt. Nicolas Zufferey hat in Discussion Critiques par Wang Chong (1997) und in Wang Chong (27-97?): Connaissance, politique et vérité en Chine ancienne (1995) insgesamt 17 der 85 Kapitel zum Teil vollständig, zum Teil in Auszügen ins Fran¬

zösische übersetzt.

7 L/f/5,Bd.2,S.381.

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Schriften, wird Richtig und Falsch leicht sichtbar. Wenn beides [d.h. Richtig und Falsch] gemeinsam überliefert wird, resultieren daraus Unwahrheiten. 8 Egal um welchen Text es sich handelt: Ein wacher Verstand und die Fähig¬

keit zu vergleichendem und prüfendem Denken sind Voraussetzungen für eine sinnvolle Begegnung mit dem Text. Wang nennt eine ganze Reihe von Gründen, die dafür verantwortlich sind, dass die Fünf Klassiker keine Aus¬

nahme darstellen, sondern dass auch sie grundsätzlich kritisch betrachtet werden müssen. Schon ein Blick in ihre Uberlieferungsgeschichte zeige, dass

sie nicht frei von Fehlern sein können:

Angenommen, die Fünf Klassiker wären so, wie Konfuzius und seine Schule

sie hinterlassen haben, und nicht nur fragmentarisch auf uns gekommen, dann könnte man sie als unverfälscht und verlässlich bezeichnen. Doch sie mussten die verschwenderische und prunksüchtige Herrschaft der Qin überstehen. Auf Li Sis grausamen Rat hin wurden sie verbrannt und verboten. 9

Wang führt die wechselhafte Geschichte der Uberlieferung weiter aus und fasst seine Ausführungen wie folgt zusammen:

Die Klassiker sind fehlerhaft und unvollständig. 10

Fehler werden immer weiter tradiert, wenn ein Text nicht als Einheit ver¬

standen wird, so Wang. In diesem Sinne spricht er sich gegen die von den Anhängern der Neutextrichtung praktizierte zhangju-Exegese (f^j) 11 aus:

Wang lehnt ein Zerpflücken der Texte Zeichen für Zeichen, Satz für Satz ab und plädiert stattdessen für eine Form des Lesens, die auf die Gesamtaus¬

sage einer Schrift gerichtet sein soll.

Denjenigen, die Abschnitt für Abschnitt und Satz für Satz (zhangju) erklären, ist letztendlich nicht daran gelegen, [einen Text] zu erläutern und zu untersu¬

chen. Die Kommentare werden einfach von einem Lehrer an den nächsten wei¬

tergegeben, obwohl diejenigen, die so begannen, keinen Durchblick hatten. 12

8 Ebd., Bd. 1,S. 167.

9 Ebd., Bd. 4, S. 1158.

10 LHJS,Bd.3,S. 1159.

11Den Neutext-Exegeten galt Konfuzius als Welterlöser, der den Menschen mit seinen Schriften den Schlüssel für das Verständnis der kosmischen und dynastischen Zyklen in die Hand gegeben hat. Entsprechend waren sie darauf konzentriert, den verborgenen Sinn der heiligen Texte zu entschlüsseln, die „tiefe Bedeutung in der kleinsten Äußerung"

(weiyan dayi zu entdecken. Sie spezialisierten sich häufig auf das Studium eines einzigen Klassikers und favorisierten bei der Exegese die Praxis des Lesens „Abschnitt für Abschnitt, Satz für Satz" (zhangju ^ mit der sieden geheimen, verborgenen Sinn einzelner Ausdrücke zu erschließen hofften (vgl.van Ess 1993).

12 LHJS, Bd. 4, S. 1160.

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Ein anderer Grund, warum überhaupt so viele falsche Behauptungen und Übertreibungen Eingang in die Texte gefunden haben, ist nach Wangs Mei¬

nung darin zu sehen, dass viele Autoren eher auf Effekt und Sensation als auf Richtigkeit und Klarheit setzen, denn gewöhnlich schenke man dem Außer¬

gewöhnlichen und Sagenhaften eher seine Aufmerksamkeit. Viele Autoren machen sich diesen Umstand zunutze und hoffen, sich mit Übertreibungen und Ausschmückungen Gehör zu verschaffen. 13

Trotz verschiedener möglicher Fehlerquellen ist es so, dass die kanoni¬

schen Schriften als vollkommen wahr und kritisches Textstudium als nicht erforderlich erachtet werden. Wang kommt deshalb zu folgendem Urteil, das sich so oder in ähnlichem Wortlaut an mehreren Stellen des Lunheng finden lässt:

Den Kommentaren der Fünf Klassiker kann man keinen Glauben schenken.

Die Erläuterungen zu den Fünf Klassikern verfehlen oft die Wahrheit. 14 Wang belässt es nicht bei der Forderung nach kritischem Studium, sondern

demonstriert an vielen Stellen, wie er sich eine sinnvolle Auseinandersetzung mit dem Text vorstellt. Er beklagt das mangelnde Wissen der Gelehrten über Ursprung und Überlieferungsgeschichte der Klassiker und beschäftigt sich seinerseits mit Fragen der Textgeschichte. Er scheint sich des zeitlichen Abstands von der Entstehungszeit eines Werks und damit einhergehender Fragen und Probleme der Hermeneutik und Textkritik bewusst gewesen zu sein. 15 Egal ob es sich um sehr frühe oder um zeitgenössische Texte handelt - Wang weist auf inhaltliche Widersprüche und Übertreibungen hin, macht Anmerkungen zu stilistischen Besonderheiten und diskutiert, soweit es sich um argumentierende Texte handelt, die Schlagkräftigkeit und Plausibilität der vorgetragenen Argumente. 16 Dabei geht er zumeist so vor,

dass er zunächst fragwürdige Passagen wörtlich oder sinngemäß zitiert und anschließend die seiner Ansicht nach falschen oder übertriebenen Behaup¬

tungen benennt. Als Beispiel mag folgende Stelle dienen:

[Die Bemerkung im] Shangshu: „[Yao verbreitete] Harmonie und Frieden in zehntausend Staaten" preist die Tugend des Yao, die zu höchstem Frieden führte, eine Veränderung, die nicht nur die chinesischen Kernlande, sondern auch die [Gebiete der] Yi- H und Di-Barbaren $k. betraf. Von Harmonie und

13 Vgl. LHJS, Kap. 27.

14LHJS,Bd. 4,S. 1148.

15 Vgl LHJS, Kap.46, 61 und 81.

16Dabei scheint ihm seine ungeheure Belesenheit, von der Wangs Biographie im Hou Hanshu berichtet, enorm zugute gekommen zu sein (vgl. Hou Hanshu 1993, Bd. 6,

S. 1629).

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Frieden jenseits der Reichsgrenzen zu sprechen, ist möglich; von zehntausend Staaten zu sprechen, ist allerdings eine Übertreibung. 17

Am Beispiel des Kapitels Wen Kong ?*\%L („Fragen an Konfuzius") soll en détail nachvollzogen werden, welche Schlussfolgerungen sich aus dieser Art der Auseinandersetzung mit der schriftlichen Uberlieferung bezüglich Wangs Haltung gegenüber Konfuzius ergeben.

Das Lunheng-Kaphel „Fragen an Konfuzius"

Wang Chong widmet Konfuzius ein eigenes Kapitel mit dem Titel „Fragen an Konfuzius" (Wen Kong f*\3L). Dort beschäftigt er sich in erster Linie mit dem Lunyu, bezieht aber auch andere Schriften, die man dem Meister zu¬

schrieb, allen voran das Chunqiu, in seine Untersuchung ein. 18 Das Kapitel beginnt mit folgenden Worten:

Die gewöhnlichen Gelehrten schenken ihren Lehrern gerne ihr Vertrauen und bringen dem Altertum große Wertschätzung entgegen.Sie halten die Worte der vortrefflichen Menschen und Weisen für ausnahmslos wahr und sind darauf konzentriert, sie zu wiederholen, ohne zu widersprechen (nan $$) oder nachzu¬

fragen (wen Doch auch wenn die Werke der vortrefflichen Menschen und Weisen noch so wohl durchdacht und gründlich verfasst sind, kann man sie

nicht vollständig wahr (shi 3k) nennen; und erst recht, wenn etwas in aller Eile dahingesagt wurde, wie könnte das vollständig wahr sein? Sie [die Werke] kön¬

nen nicht vollkommen wahr sein, aber unsere Gelehrten verstehen sich nicht darauf zu widersprechen. Einige von ihnen sind wahr, aber unklar und schwer verständlich, aber unsere Gelehrten verstehen sich nicht darauf nachzufragen.

Es gibt in den Worten der vortrefflichen Menschen und Weisen wie auch in ihren Werken Widersprüche, aber unsere Gelehrten verstehen sie nicht. 19 Wie sich im weiteren Fortgang des Kapitels herausstellt, spielt die Formu¬

lierung „hastig dahingesagt" auf das Lunyu an. Beim Lunyu handelt es sich vornehmlich um mündlich geäußerte Gedanken des Konfuzius, von denen

seine Schüler offenbar Niederschriften anfertigten. Damit nennt Wang die spätere Verschriftlichung von mündlichen Äußerungen als eine Fehlerquelle, die im Allgemeinen jedoch keine Berücksichtigung finde.

Schon in den ersten Zeilen des Kapitels zeigt sich, dass sich Wangs ei¬

gentliche Kritik gegen seine gelehrten Zeitgenossen richtet: Sie halten die

17 L/f/5,Bd.2,S.381.

18Wang Chong teilte die Ansicht jener Zeit, wonach Konfuzius der Autor des Chun- qiu war und die anderen kanonischen Schriften zumindest redigiert hat.

19LHJS, Bd. 2,S. 395.

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Überlieferung Wort für Wort für wahr und sind blind für inhaltliche Wider¬

sprüche und offensichtlich fehlerhaft überlieferte Passagen. In diesem Punkt hatten jedoch auch die direkten Schüler des Konfuzius den Han-zeitlichen Gelehrten nichts voraus. Auch von ihnen wussten nur die wenigsten zu wi¬

dersprechen oder nachzufragen:

Gäbe es heutzutage einen Meister wie Konfuzius, dann wären die [heutigen]

Gelehrten von der Art eines Yan oder eines Min;20ohne Konfuzius wären auch die siebzig Schüler [des Konfuzius] nicht anders als die Gelehrten unserer Tage.

Der Beweis dafür ist, dass auch die Schüler des Konfuzius nicht in der Lage waren, einer Sache auf den Grund zu gehen.21

Etwas später heißt es:

Konfuzius lachte über das Lautenspiel und den Gesang bei Ziyou, doch Ziyou erinnerte Konfuzius an dessen frühere Worte, um sich zu rechtfertigen. 22 Untersucht man heute den Text des Lunyu, [so stellt man fest, dass] viele Äu¬

ßerungen des Konfuzius seiner spöttischen Bemerkung über das Lautenspiel und den Gesang ähneln, doch nur wenige Schüler widersprachen, wie Ziyou es tat. Aus diesem Grund wurden die Worte des Konfuzius zu einem festen Kno¬

ten, der sich nicht lösen lässt.Weil die siebzig Schüler [des Konfuzius] nicht zu widersprechen wussten, können die Gelehrten unserer Epoche praktisch nicht über richtig (shi ?k) und falsch (fei #) entscheiden. 23

Wang stellt das Verhalten des Ziyou als vorbildlich dar. Er nimmt die spöt¬

tische Äußerung des Konfuzius nicht einfach so hin, sondern verteidigt sich gegen Konfuzius, indem er den Meister an dessen eigene Worte erinnert.

Damit bringt er Konfuzius dazu, ausdrücklich zu erklären, dass seine

20 Yan || und Min ffi :Gemeint sind die beiden Konfuzius-Schüler Yan Yuan und Min Ziqian P*1^-#.

21 LHJS, Bd. 2,S. 396.

22 Wang Chong bezieht sich auf Lunyu 17.4: „Konfuzius kam nach Wucheng, dort hörte er Lautenspiel und Gesang. Lächelnd sagte er: ,Um ein Huhn zu töten, braucht man da so ein langes Messer wie beim Schlachten eines Ochsen? 4Ziyou [der Präfekt von Wucheng war] erwiderte: ,Früher habe ich Euch sagen hören: Wenn ein Mann von hohem Rang die rechte Bildung erwirbt, dann lernt er die Menschen zu lieben. Erwirbt der gemeine Mann die rechte Bildung, dann ist erleicht zu regieren/ Der Meister wandte sich daraufhin an seine Schüler und sprach: ,Ziyou hat recht. Was ich vorhin sagte, war nur Scherz/" (zitiert nach Moritz 1998,S. 112). Moritz erläutert diese Passage folgen¬

dermaßen: „Lautenspiel und Gesang deuten auf die schöne Form des sozialen Lebens in Wucheng. Sie waren offensichtlich das Verdienst des Ziyou. (...) Es ist ein Gleichnis:

,Huhn' steht für Wucheng, das ,lange Messer* für die schönen Formen des menschlichen Zusammenlebens. Konfuzius will damit sagen: So ein kleines Gebiet wie Wucheng und da wird so viel Wert auf die äußere Form, auf die Kultivierung des Lebens gelegt? Ziyou rechtfertigt sich im konfuzianischen Sinne, und der Meister gesteht, dass seine Worte als Scherz zu verstehen sind." (Moritz 1998, S. 155).

23 LHJS, Bd. 2,S. 397.

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Äußerung als Scherz zu verstehen ist. Für Wang stellt das Beispiel des Ziyou leider eine Ausnahme dar. Viel zu selten erhoben die Schüler Einwände gegen die Worte ihres Meisters, viel zu selten bestanden sie auf näheren Ausführungen. Da man heute die Einwände und Fragen nicht mehr direkt an Konfuzius richten kann, müssen sie, so Wang, stattdessen an den Text gerichtet werden. Wang demonstriert, was es heißt, mit dem Text in Dialog zu treten. Er untersucht eine Vielzahl von unklaren und mehrdeutigen Text¬

stellen und nennt eine Reihe von Gründen, warum das Lunyu an einigen Stellen schwer verständlich ist.

Ein Grund sind Wangs Meinung nach unbedachte Aussagen des Meis¬

ters, die jedoch unwidersprochen bleiben, bzw. uneindeutige Aussprüche, die jedoch nicht weiter erklärt werden. Die Folge davon sind Missver¬

ständnisse. Beispielsweise könne Konfuzius seine Aussage, er wolle in die Länder der Barbaren gehen, da seine Anstrengungen, seine Lehre in China zu verbreiten, erfolglos geblieben waren, nicht wörtlich gemeint haben. 24 Er könne nicht ernsthaft geglaubt haben, dass unzivilisierte Völker sich seiner Lehre gegenüber aufgeschlossener zeigen würden als die Bevölkerung der kulturell hochstehenden chinesischen Staaten. Wang vermutet hinter dieser Äußerung Enttäuschung und Resignation. Dennoch dürfe sich jemand wie

Konfuzius nicht zu einer solch unbedachten Aussage hinreißen lassen.

Auch Konfuzius' Verhalten anderen Menschen gegenüber gibt Wang Anlass zu Kritik. Ein Beispiel ist Konfuzius' zu harte Verurteilung seines

Schülers Zai Wo dafür, dass er am helllichten Tag schlief.

Zai Wo schlief am helllichten Tag. Konfuzius sprach: ,Faules Holz kann man nicht schnitzen. Eine Wand aus Kot und Kehricht kann man nicht anstreichen.

Was hat es für einen Zweck,Zai Wo zu tadeln?' 25 So sehr hasste [Konfuzius] es, dass Zai Wo am helllichten Tage schlief. (...) Wenn der Charakter des Zai Wo so verdorben wie faules Holz war, wie hätte er da ein Schüler des Konfuzius sein und in die vier Kategorien [der Schüler] eingereiht werden können? Wenn sein Charakter jedoch gut war, so war der Tadeldes Meisters stark übertrieben. 26 Nach Wangs Ansicht passt diese Stelle nicht zu anderen Stellen des Lunyu und des Chunqiu, an denen Konfuzius weit weniger heftig auf Nachlässig¬

keiten reagiert. Wenn er hier jedoch eine kleine Schwäche dermaßen heftig

24 Vgl. LHJS, Bd. 2, S. 416. Wang Chong bezieht sich hier auf Lunyu 9.14. Nylan weist zurecht darauf hin, dass Wang außer Acht lässt, dass Ironie, Übertreibung, rhetorische Fragen und andere stilistische Figuren einen didaktischen Sinn haben und von Konfuzius bei der Vermittlung seiner ethischen Prinzipien bewusst und mit gutem Grund eingesetzt wurden (Nylan 1997,S. 141 ff.).

25 Wang zitiert hier wörtlich aus Lunyu 5.10 (Ubersetzung nach Moritz 1998, S.27).

26 LHJS, Bd. 2,S. 405.

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anprangert, stünden seine Schriften und seine Worte in Widerspruch zu¬

einander (wen yu xiang wei xt##ic)- 27

Nicht nur in den Worten, auch im Verhalten des Meisters treten Wider¬

sprüche zu Tage: Wang nennt als Beispiel die unterschiedliche Reaktion auf den Tod verschiedener Leute. Das uneinheitliche rituelle Verhalten, das Konfuzius in diesem Zusammenhang an den Tag legt, mache es einem schwer zu verstehen, was er unter angemessenem rituellem Verhalten ver¬

stand. Hier wie an einigen anderen Stellen macht Wang darauf aufmerksam, dass Reden und Handeln des Meisters nicht immer in Einklang standen (yan xing xiang wei iTÍN^ilt)- 28

Wangs eigentlicher Vorwurf an Konfuzius lässt sich also so formulieren:

Die Aussagen des Meisters sind widersprüchlich, und in seinem Verhalten vernächlässigt er seine eigenen Prinzipien. 29 Wie sollte man angesichts die¬

ser Schwierigkeiten entscheiden, welche Meinung Konfuzius tatsächlich vertrat? Desweiteren gibt folgende Episode Anlass zu Kritik:

Konfuzius stattete Nanzi einen Besuch ab. Sein Schüler Zilu war darüber nicht erfreut und hatte starke Bedenken. Da sprach der Meister: ,Wenn ich ungerecht gehandelt haben sollte, dann mag mich der Himmel verdammen. Dann mag mich der Himmel verdammen! 00 Nanzi war die Gemahlin des Herzogs Ling von Wei.Sie hatte Konfuzius eingeladen. Zilu war nicht erfreut darüber und nannte Konfuzius' [Verhalten] unzüchtig. Konfuzius erklärte sich mit folgen¬

den Worten: ,Wenn ich unsittlich und niederträchtig gehandelt haben sollte, dann mag mich der Himmel verdammen und töten/ Vollkommen aufrichtig schwor er, Zilu nicht belogen zu haben. Man kann sich fragen: Wie kann Kon¬

fuzius mit einer solchen Erklärung etwas erklären? Wenn jemand, der sich un¬

sittlich und niederträchtig verhalten hat, schon einmal vom Himmel verdammt und getötet worden wäre, könnte er sich darauf beziehen und einen Schwur leisten, und Zilu könnte, wenn er ihn hört, der Erklärung Vertrauen schenken.

Doch noch niemals wurde jemand vom Himmel verdammt. Ist Zilu bereit, je¬

mandem, der sagt,der Himmel verdamme mich, sein Vertrauen zu schenken? 31 Wang wirft Konfuzius ein unangemessenes Verhalten vor, wenn seine ein¬

zige Reaktion auf einen berechtigten Tadel darin besteht zu rufen, der Him¬

mel solle ihn verdammen. Das seien Worte eines einfachen Mannes (suren fS-A), die eines Edlen (junren unwürdig sind. Derartige Äußerungen

27 Ebd., Bd. 2, S. 406.

28 Ebd., Bd. 2, S. 419fL

29 Diese Einschätzungteilen auchZufferey 1995a, S. 40 und Pan/Xu 1987, 71.

30 Wang zitierthier wörtlich aus Lunyu6.28 (Ubersetzung nach Moritz 1998, S. 37).

Moritz merkt an: „Die Nanzi, Gemahlindes HerrschersvonWei, galt als verdorben, sie

soll sexuellen Verkehr mit ihrem Halbbruder gepflegt haben." (Moritz 1998, S. 143).

31 LHJS,Bd. 2, S. 410f.

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über Konfuzius führten dazu, dass Wang immer wieder als außerhalb der konfuzianischen Tradition stehend betrachtet wurde. 32 Diese Einschätzung scheint auf den ersten Blick wenig verwunderlich, vor allem wenn man sich vergegenwärtigt, welch hohe Wertschätzung Konfuzius von der Han-Zeit an zuteil wurde. Unter der Herrschaft der Han-Kaiser begann die religiöse und kultische Verehrung des Konfuzius und die Einbeziehung des Konfuzius- Kults in den Staatskult. Konfuzius wurde als Verkörperung von Heiligkeit und Weisheit betrachtet, ihm wurden Opfer dargebracht, und es entstand eine Vielzahl von religiösen Schriften, in denen von der göttlichen Herkunft und den übernatürlichen Fähigkeiten des Meisters berichtet wurde.

Um Wangs Haltung gegenüber Konfuzius richtig einschätzen zu können, müssen neben den hier vorgetragenen kritischen Einwänden Wangs folgende drei Punkte berücksichtigt werden:

(a) Wang äußert keine Kritik an den Inhalten der Lehre des Konfuzius, im Gegenteil: Er bekennt sich an einer Vielzahl von Stellen zu ihr. Das mag an- gesicht der vorangegangenen Ausführungen erstaunen, umso mehr, als es an einigen Stellen auf den ersten Blick in der Tat so aussieht, als übe Wang auch inhaltliche Kritik an der konfuzianischen Lehre:

Zigong fragte, woran maneine gute Regierung erkenne. Konfuzius antwortete:

„Sie muss die Ernährung sichern, muss ausreichend gegen Feinde gerüstet sein, muss danach trachten, dass das Volk Vertrauen in die Regierung hat." Zigong fragte weiter: „Wenn man nun abereines von den drei Dingen aufgeben müsste, worauf könnte man am ehesten verzichten?" Der Meister: „Auf die Rüstung."

Zigong weiter: „Müsste nun wiederum eins von beiden aufgegeben werden, worauf sollte man dann noch verzichten?" Konfuzius: „Auf die Ernährung.

Ohne Nahrung muss man sterben. Doch seit jeher ist der Tod das Los aller Menschen. Wenn aber das Volk kein Vertrauen in die Regierung hat, kann der Staat nicht bestehen." 33

32 Zur Rezeptionsgeschichte siehe Zufferey 1995b, S. 92-96. Zu den unterschiedlichen Reaktionen chinesischer Gelehrter verschiedener Jahrhunderte auf Wangs Angriffe gegen Konfuzius siehe Zufferey 1995a, S. 25-28. Das Werk des Wang Chong wurde von der überwiegenden Zahl der konfuzianischen Gelehrten abgelehnt. Bis ins 20.Jahrhundert hinein wurde das Verdikt gegen Wang mit dessen kritischem Verhältnis zur geheiligten Tradition begründet. Gerade dieses Charakteristikum seines Denkens machte ihn für die Ideologen der VR China interessant: Vor allem im Rahmen der „Bewegung zur Kritik an Lin Biao und Konfuzius" Anfang der 70er Jahre wurde Wang als Anti-Konfuzianer ge¬

feiert und zum Vorkämpfer der aktuellen Politik Mao Zedongs stilisiert. Eine Reihe von jüngeren Arbeiten legen eine sehr viel differenziertere Betrachtungsweise an denTag und betonen neben einer offensichtlichen Vielzahl unterschiedlicher Einflüsse die konfuzia¬

nische Herkunft des Wang Chong, z.B. Pang 1997,Bd. 2, S. 61ff.; Zheng 1999, S. 32-40 und Pan/Xu 1987,S. 67.

33 Wang zitiert wörtlich aus Lunyu 12.7 (Ubersetzung nach Moritz 1998, S. 73).

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Vertrauen ist also das Wichtigste. Ich frage mich: Angenommen man regiert ein Land, ohne für Nahrung zu sorgen, dann leidet die Bevölkerung Hunger und kümmert sich nicht um Sittlichkeit und Pflichterfüllung. Wenn aber Sitt¬

lichkeit und Pflichterfüllung nicht geachtet werden, wie kann es da Vertrauen geben? Es steht geschrieben: „Wenn die Korn- und die Reisspeicher gefüllt sind, kennt mandie Regelnder Sittlichkeit. Wenn für Kleidung und Nahrung gesorgt ist, weiß man, was Ruhm und was Schandeist." 34Verzicht gibt es nur dort, wo Uberfluss herrscht, Streit entsteht dort, wo man Not leidet. Wenn man nun sagt, man könne auf Nahrung verzichten, wie soll da Vertrauen geschaffen werden? 35 Interessant ist, aus welchem Grund Wang die Grundversorgung gesichert wissen will: Wenn die Bevölkerung nicht über ausreichend Nahrung ver¬

fügt, finden auch die konfuzianischen Tugenden der Sittlichkeit (Ii ^É), Pflichterfüllung (yi j|) und des Verzichts (rang tjt) keine Beachtung. Einer Gesellschaft aber, die dieses moralischen Fundaments entbehrt, fehle die Voraussetzung für eine Atmosphäre des Vertrauens (xin it). Indem Wang Konfuzius vorwirft, er habe an dieser Stelle den Tugenden der Sittlichkeit, der Pflichterfüllung und des Verzichts zu wenig Beachtung geschenkt, misst er Konfuzius an den Grundsätzen seiner eigenen Moralvorstellung und prä¬

sentiert sich damit konfuzianischer als Konfuzius selbst. Das Bekenntnis Wangs zur Relevanz der konfuzianischen Tugenden und zu ihrem Wert für

Staat und Gesellschaft ist eindeutig.

(b) Wang Chong zitiert im Lunheng kein anderes Werk so häufig wie das Lunyu. 36 In vielen Fällen dienen die Zitate als argumentative Stütze für Wangs eigene Position: Er argumentiert mit und nicht gegen Konfuzius.

Folgende Passage soll stellvertretend für viele ähnliche Stellen einen Ein¬

druck davon vermitteln, in welcher Weise Konfuzius als geistige Autorität in Anspruch genommen und von Wang zum Zeugen für die Richtigkeit sei¬

ner Ansichten berufen wird:

Im Kapitel Lun si („Über den Tod") bekämpft Wang den weitver¬

breiteten Geisterglauben seiner Zeit als Aberglauben, der jeder rationalen Grundlage entbehre. Seine eigene Position bringt er gleich zu Beginn des Kapitels prägnant auf den Punkt:

Ein Toter wird nicht zum Geist, hat kein Bewusstsein (wu zhi und kann anderen Menschen keinen Schaden zufügen. 37

34 Zitat aus dem Buch Guanzi ¿f^f- (Meister Guan).

35 Bd 2, S. 422.

36 Forke zählt etwa 100 Zitate (Forke 1907, Bd. 2, S. 426), Zufferey kommt sogarauf

146 Zitate von 116 verschiedenen Passagen (Zufferey 1995, S. 101). Das Lunyu ist also zu einem großen Teil im Lunheng enthalten.

37 L/f/5,Bd.3,S.871.

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Wang führt dafür eine Reihe von Argumenten an und berichtet dabei unter anderem, dass Konfuzius, als er erfuhr, dass das Grab seiner Mutter nach starken Regenfällen eingestürzt war, sagte, die Vorfahren hätten keine Grä¬

ber repariert. Deshalb unternahm auch er nichts. Wang fährt fort:

Angenommen, die Toten hätten Bewusstsein (you zhi ^f^tf), dann wären sie sicherlich wütend auf diejenigen, die ihre Gräber nicht reparieren. Konfuzius wusste das und hätte das Grab sofort repariert, um sich bei den Ahnengeistern beliebt zu machen, aber er reparierte es nicht. Er hatte den klaren Verstand eines Weisen und wusste, dass Geister kein Bewusstsein haben. 38

(c) Kein anderer Name wird im Lunheng so oft erwähnt wie der des Konfu¬

zius, kaum ein anderer so positiv. Der Name „Konfuzius" fällt im Lunheng etwa 600-mal. 39 Es finden sich unzählige Stellen, an denen der Meister mit Ehrennamen betitelt wird: Häufig wird er als „Weiser" (sheng 3t bzw. sheng- ren îA) bezeichnet, 40 an einer Stelle sogar als „Ahnherr von Weg und Tu¬

gend und herausragendster Denker" (it^-^f-B- > Üfr^i^^ ipt^^f), der auf einer Stufe mit den legendären Herrscherfiguren der Vergangenheit steht. 41 Letztendlich geht es Wang um die Frage des richtigen Umgangs mit der Uberlieferung, nicht aber um einen Angriff auf die Person des Konfuzius und die Inhalte seiner Lehre. Es ist die Kritik am Gelehrtentum der Han- Zeit, die eine solche Positionierung konstituiert.

Kritik am etablierten Gelehrtentum der Han-Zeit

Eine ungenügende und oberflächliche Auseinandersetzung mit den kano¬

nischen Schriften ist nicht der einzige Vorwurf, den Wang Chong seinen gelehrten Zeitgenossen macht. Er beklagt außerdem die Vernachlässigung einer allgemeinen und umfassenden Bildung zugunsten eines Studiums, das sich allein auf den Kanon der konfuzianischen Klassiker beschränkt und von vornherein anderen Texten keine Beachtung schenkt. Wang gibt zu bedenken, dass die Fünf Klassiker keine Schöpfungen ex nihilo sind,

38 Ebd., Bd. 3, S. 878.

39 Vgl. Lunheng suoyin 1994, S. 410.

40 Beispielsweise ist das in den Kapiteln 5, 22und 50 des Lunheng der Fall.

41 LHJS, Bd. 1, S. 137 und Bd. 3, S.722. Zufferey geht der Frage nach, ob das Kapitel

„Fragen an Konfuzius" überhaupt von Wang selbst verfasst wurde, da Wang sich in diesem Kapitel ausgesprochen kritisch zeigt, in anderen Kapiteln jedoch sehr überschwenglich

ein Loblied auf Konfuzius anstimmt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sowohl stilistische als auch inhaltliche Gründe Wang als Autor sehr wahrscheinlich machen. Vgl. Zufferey 1995a, S. 47-49.

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sondern dass sie häufig auf anderes schriftliches Material zurückgehen. Mit der Überhöhung der Fünf Klassiker gehe eine unbegründete Abwertung aller anderen Schriften einher. Ihnen werde keinerlei Aufmerksamkeit ge¬

schenkt:

Warum hält man ausschließlich die Klassiker und Kommentare für wahr und alle anderen Schriften und Aufzeichnungen für falsch? Betrachtet man die Klassiker und ihre Kommentare, so enthalten die Kommentare die für das Verständnis der Klassiker notwendigen Erklärungen und werden aus diesem

Grund für wahr gehalten. Weichen andere Schriften von den Kommentaren ab und liefern sie nicht den Schlüssel zu ihrem Verständnis, werden sie für falsch gehalten. Somit ist man der Meinung, die Wahrheit sei ausschließlich in den Fünf Klassikern zu finden. Aussagen, die nicht mit den Fünf Klas¬

sikern übereinstimmen, werden, auch wenn sie wahr sind, nicht einmal wahrgenommen. 42

Nicht genug damit, dass allen anderen Texten außer den Fünf Klassikern Geringschätzung entgegengebracht wird - es werden nicht einmal alle ka¬

nonischen Texte studiert:

Gewöhnliche Lernende sind nicht gewillt, die Klassiker gründlich zu studie¬

ren und tiefes Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart zu erlangen.

Stattdessen sind sie nur darauf aus, möglichst schnell die Auslegung Wort für Wort einer einzelnen Auslegungstradition zu beherrschen, und sie interessie¬

ren sich nur oberflächlich für den tieferen Sinn [der Schriften]. 43 An einer anderen Stelle schreibt Wang:

Ich kann die Fünf Klassiker nicht alle kennen, geschweige denn die vielen [an¬

deren] Bücher. Ich halte starr an einer einzelnen Lehrmeinung fest und mag es nicht, weitschweifig zu lesen. Mein Verstand ist nicht hell genug, aus der Ver¬

gangenheit etwas für die Gegenwart zu lernen. Ich versuche nicht, an meiner Dummheit und Beschränktheit etwas zu ändern - so sollte einer reden, der nur einen Klassiker kennt. 44

Wang kritisiert die weit verbreitete Beschränkung auf das Studium eines einzigen Klassiker bzw. einer einzigen Auslegungsrichtung. Die Werke der Weisen der Vorzeit und der Denker der Hundert Schulen, aber auch zeit¬

genössische Schriften seien von großer Relevanz, fänden jedoch nur wenig Beachtung:

Was die Angelegenheiten der Qin und der Han angeht, die sich nach [der Ab¬

fassung] der Fünf Klassiker zugetragen haben, so gibt es nichts, was man nicht 42 L/f/5,Bd.4,S.1158.

43 Ebd., Bd. 2, S. 538.

44 Ebd., Bd. 2, S. 592.

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wissen könnte; [doch hier] kennen sie sich nicht aus. Nun nennt man die, die sich im Altertum auskennen aber nicht in der Moderne, staubtrocken'. Also können die Gelehrten staubtrocken' genannt werden. 45

Es gebe keinen Grund, einem Text lediglich aufgrund seines geringen Alters weniger Aufmerksamkeit zu schenken. Genauso wenig wie Text und Schrift per se Ausdruck höchster Heiligkeit sind, bedeute „alt" nicht automatisch

„wertvoller". Für Wang unterscheidet sich die Vergangenheit qualitativ nicht von der Gegenwart 46: Die Zeit der Han-Herrschaft sei eine nicht weniger glanzvolle Epoche als frühere Dynastien. In den Kapiteln 56 bis 60 des Lunheng singt Wang ein Loblieb auf die kulturellen Errungenschaften sei¬

ner Zeit und hebt die besonderen Leistungen der Han-Dynastie hervor, die auf einigen Gebieten, beispielsweise was die territoriale Ausdehnung, aber auch was die Tugendhaftigkeit ihrer Herrscher angeht, die Leistungen aller früheren Epochen der chinesischen Geschichte übertreffen. 47 Aus diesem Grund stelle der rein rückwärtsgewandte Blick vieler Gelehrter und die ausschließliche Konzentration auf die Klassiker eine Geringschätzung und Beleidigung der gegenwärtigen Dynastie dar. 48

Das Lob der Dynastie kontrastiert zur Kritik am etablierten Gelehrten- tum. Wangs Meinung nach begegnen dessen Vertreter den Texten allzu oft ohne Verstand und einzig mit dem Ziel, möglichst schnell Karriere zu ma¬

chen. Sobald sie in Amt und Würden sind, vergessen sie das Wenige, das sie gelernt haben.

45 Ebd., Bd. 2, S. 555. Übersetzung nach van Ess 1993, S. 93.

46 Vgl. Kapitel 56 des Lunheng. Siehe hierzu auch Nylan 1997, S. 133 und Li 2000, S.135.

47 Vgl. u.a. LHJS, Bd. 3, S. 823. Man fragt sich berechtigterweise, warum Wang in diesen Kapiteln derart überschwenglich die Han-Herrscher preist und als Beleg für deren Größe eine Unzahl von Wunderzeichen anführt, denen gegenüber er sich im allge¬

meinen überaus kritisch zeigt. Man kann dahinter einerseits persönliche Beweggründe vermuten: Wang hatte sich durch seine kritischen Äußerungen viele Feinde gemacht und wollte sicher gehen, dass ihm niemand nachsagen kann, seine Kritik würde sich direkt gegen das Herrscherhaus richten. Die Angst vor dem Zorn vieler Zeitgenossen scheint eine wesentliche Motivation für die Abfassung seiner Nachwort-Autobiographie (Ka¬

pitel 85 des Lunheng) gewesen zu sein, in der er abwechselnd sich selber und sein Werk gegenüber allen nur denkbaren Angriffen verteidigt. Zufferey äußert darüber hinaus die Vermutung, hinter den lobenden Äußerungen der gegenwärtigen Dynastie verberge sich möglicherweise auch die Hoffnung, damit bei Hofe auf sich aufmerksam zu ma¬

chen und sich für ein Amt zu empfehlen (vgl. Zufferey 1995b, S. 318ff.). Andererseits sind seine Schilderungen der gegenwärtigen Verhältnisse, in denen sich Lob und hohe Anerkennung für die Han ausdrücken, nicht nur deskriptiv zu verstehen, sondern von

hohem normativem Gehalt.

48 Vgl.L/f/5,Bd.3,S.851flF.

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Sind diejenigen, die in den Klassikern bewandert sind und viele Schüler um sich scharen, vortreffliche Menschen? Nun, diejenigen, die in den Klassikern bewandert sind, das sind die Gelehrten: Ein Gelehrter wird man, indem man sie studiert. Die Gelehrten studieren; studiert man, wird man ein Gelehrter.

Sie überliefern das Vermächtnis der alten Meister und lernen deren Worte, um sie [an ihre Schüler] weiterzugeben. [Doch] sie haben keinerlei originelle Ideen und sind unfähig, in einer Diskussion über Ja und Nein zu entscheiden.

Ein Postbote überbringt Briefe, ein Pförtner gibt Nachrichten weiter. Wenn das Siegel intakt ist und der Brief nicht verloren geht, wenn Befehle klar und unmissverständlich weitergegeben werden, dann haben sie ihre Aufgabe gut erfüllt. Die Gelehrten überliefern die Lehren ohne ein Wort zu verändern, so dass die Worte der alten Meister bis zum heutigen Tag erhalten geblieben sind.

Obwohl sie mehr als hundert Schüler haben und den Rang eines Doktors oder eines Assistenten einnehmen, sind sie vom selbenSchlag wie ein Postbote oder ein Pförtner. 49

Wie hier verwendet Wang den Begriff ru auch an vielen anderen Stellen pejo¬

rativ. Manchmal spricht er auch explizit von den „gewöhnlichen Gelehrten"

(shiru iti% bzw. suru Eine Gelehrsamkeit, die von vornherein auf eine kleine Zahl von Schriften beschränkt ist, und ein Studium, das einzig mit Blick auf die Beamtenexamina aufgenommen wird, sind für Wang ohne Wert, da so Weisheit und normative Kraft der Texte ungenutzt bleiben.

Wang Chongs Ideal wahrer Gelehrsamkeit

Dem geistlosen und karrierefixierten Gelehrten stellt Wang sein Ideal eines wahren Gelehrten gegenüber. Wang verwendet für ihn verschiedene Be¬

zeichnungen: Er redet von tongru, wenru und hongru. Diese Begriffe sollen im Einzelnen kurz erläutert werden.

Tongru (manchmal auch tongren ii/v) kann mit „umfassend Gelehrter" übersetzt werden. Ein tongru ist nicht nur mit einem der kon¬

fuzianischen Klassiker oder sogar nur mit einer Auslegungstradition zu einem einzigen Klassiker vertraut. Auch die Schriften anderer Schulen und aktuelle Abhandlungen sind Gegenstand seines Studiums, denn erst eine universale Bildung ermöglicht eine tiefe Kenntnis der Vergangenheit wie der Gegenwart, die sich an andere weiterzugeben lohnt. 50

Der Begriff wenru XÍir, der mit „Literatengelehrter" übersetzt werden kann, bezeichnet die Verfasser von eigenständigen Werken. 51 Damit sind die

49 Bd. 4, S. 1114.

50 Vgl. v.a. Kapitel 38 des Lunheng.

51 Wangführt seine Überlegungenzu den wenru v. a. in den Kapiteln 36, 37und 82 aus.

(16)

Autoren unter den Gelehrten im Gegensatz zu den rein auf philologische Ar¬

beiten konzentrierten Kommentatoren gemeint. Wang betont, dass sich ihre Schriften zwar nicht mit den klassischen Texten messen können und auch nicht als gleichrangig mit ihnen betrachtet werden dürfen 52 , dass sie aber das literarische Talent und die intellektuellen Fähigkeiten ihrer Verfasser do¬

kumentieren. Die wenru verfassen brillante Throneingaben, äußern darin offen, was sie für richtig halten, und finden dafür die treffenden und ange¬

messenen Worte. 53 Sie zeichnen sich durch ein hohes Maß an Ausdauer und Willensstärke aus, das notwendig ist, um stilistisch glanzvolle Werke voll

tiefer Weisheit zu verfassen, mit denen man bei Hofe wirkungsvoll für seine Überzeugungen werben kann. Außerdem verfügen sie über ein umfassendes Wissen und ein hohes Maß an Tugend. Sie sind diejenigen, die in der Lage

sind, die von den gewöhnlichen Gelehrten mit Hilfe der Klassikerkunde und der Philologie erarbeiteten gedanklichen Konzepte auszuformulieren. 54 Die tradierten sittlichen Prinzipien, die sie verinnerlicht haben, verleihen ihnen Sicherheit und Standfestigkeit:

Die Literatengelehrten (wenru) tragen die überlieferten Prinzipien des rechten Verhaltens der weisen Könige des Altertums und die Worte der Hundert Schu¬

len im Herzen, so dass sie, auch wenn man an ihnen zerrt und zieht, so fest stehen wie ein schwerbeladener Wagen.55

In Zusammenhang mit wenru fällt vor allem in Kapitel 39 des Lunheng der Begriff hongru is%i%. Hong bedeutet „groß", „unermesslich"; hongru

kann demgemäß mit „herausragender Gelehrter" übersetzt werden. Dieser Begriff lässt sich nur schwer vom Begriff wenru abgrenzen, scheint aber be¬

sonders die Rückbindung des Gelehrten an das tiefe Wissen der alten Wei¬

sen zu betonen. Aus den Schriften eines hongru sprechen Wahrheit (shi "ff ), Authentizität (cheng ià) und hohes politisches und moralisches Verantwor-

tungsbewusstsein, so Wang. Derart herausragende Gelehrte - als Beispiele nennt er Liu Xiang f'Jfà (79-8 v.Chr.), Yang Xiong (53 v.Chr. bis 18 n. Chr.) und Huan Tan (23 v. Chr. bis 50 n. Chr.) - finde man genauso selten wie Perlen und Juwelen. Doch auch Gelehrte dieses Formats seien

52 Zur Han-Zeit gabes keinen Genie-Kult, im Gegenteil: Literarische Neuschöpfungen im wortwörtlichen Sinne von „Kreation" galten als frevelhaft, als respektlos den großen Schöpfern und Kulturheroen der Vergangenheit gegenüber. Sostellt auch Wang inKapitel 84 klar, dass es sich beim Lunheng nicht um eine „Schöpfung" (zuo ffc) handelt (LHJS, Bd. 4, S. 1160ff.), nicht ohne bei anderen Gelegenheiten die Einzigartigkeit seiner Schrif¬

ten ausdrücklich hervorzuheben.

53 Vgl.L/f/5,Bd.2,S.581flF.

54 Vgl. van Ess 1993, S. 292.

55 LHJS, Bd. 2,S. 584.

(17)

auf einen weisen Herrscher angewiesen - Konfuzius sei das beste Beispiel

dafür.

In diesem Zusammenhang meint man häufig Wangs Klage über sein ei¬

genes Schicksal zu vernehmen, über die Schwierigkeiten seines beruflichen Aufstiegs und die Unfähigkeit seiner Zeitgenossen, seine Fähigkeiten zu

erkennen. In mehreren Kapiteln des Lunheng, vor allem in den Kapiteln 1 bis 10, zeigt sich seine fatalistische Vorstellung von Zufall und Schicksal.

Hier führt er aus, dass viele glückliche Umstände zusammentreffen müssen, damit wahres Talent erkannt und genutzt wird, und dass sich aus diesem Grund aus der sozialen Stellung und den finanziellen Verhältnissen keine Rückschlüsse auf Fleiß, Begabung und moralische Integrität ziehen lassen.

In Kapitel 39 werden die Begriffe tongru, wenru und hongru im Zusam¬

menhang erläutert und in eine Rangordnung gebracht:

Wer einen Klassiker erläutern kann, ist ein gewöhnlicher Gelehrter (rusheng).

Wer in den Schriften der Vergangenheit wie der Gegenwart vielseitig belesen ist, ist ein umfassend Gebildeter (tongren). Diejenigen, die Memoranden ver¬

fassen und Throneingaben machen und dazu aus Kommentaren und anderen Schriften zitieren, sind Literatengelehrte (wenru). Wer geistvolle Gedanken zu Papier bringt und so Kapitel an Kapitel reiht, ist ein herausragender Gelehr¬

ter (hongru). Der gewöhnliche Gelehrte hebt sich von einem einfachen Mann ab, der umfassend Gebildete ist dem gewöhnlichen Gelehrten überlegen, der Literatengelehrte übertrifft den umfassend Gebildeten, der herausragende Gelehrte überragt den Literatengelehrten. Die herausragenden Gelehrten überragen somit alle anderen. 56

Das Verfassen längerer und geistig unabhängiger Texte zeugt von höchster Gelehrsamkeit. Doch selbst Werke höchster stilistischer Vollendung und gedanklicher Brillanz reichen für Wang nicht an die Einzigartigkeit des Chunqiu heran. So wie das Chunqiu das unerreichbare Vorbild für jedes Werk sei, gelte Konfuzius als höchstes Ideal eines Gelehrten. 57

Ist von den wenigen Gelehrten die Rede, die diesem Ideal nahekommen, redet Wang von den xianru 5Hir, den „vortrefflichen Gelehrten". Xian kann mit „vortrefflicher Mensch" übersetzt werden und bezeichnet einen geistig¬

moralisch hochstehenden, aber nicht vollkommenen Menschen. Ein xian richtet sein Denken und Handeln am Vorbild der Weisen {sheng 3t) 58 aus

56 Ebd., Bd. 2, S. 607.

57 Vgl. Kapitel 37 und 39 des Lunheng.

58 Ein sheng besitzt von Geburt an Weisheit (zhi %) und verfügt über geistig¬

moralische Vollkommenheit. Er ist ein „erhabener Mensch", kontrastierend zu den „pro¬

fanen Menschen". In diesem Sinne wird sheng deshalb manchmal auch als der „Heilige"

wiedergegeben (Vgl. Moritz 1998, S. 201und Unger 2000, S. 104).

(18)

und ist darum bemüht, das von den Weisen offenbarte Wissen weiterzuver- breiten. Auch wenn er sich nicht mit ihnen vergleichen kann, so versucht er doch, sich der Weisheit und Heiligkeit eines sheng anzunähern, und ist in diesem Sinne ein „vortrefflicher Mensch". Xian und sheng waren zur Han- Zeit ein gängiges Begriffspaar. In der Vorstellung jener Zeit war ein sheng nicht nur ein Muster an Tugend und ein Verteidiger eines bestimmten Herr¬

schaftsideals, sondern er verfügte über seherische Fähigkeiten und überna¬

türliche Kräfte. Als sheng par excellence galt Konfuzius.

Wang betont, zwischen einem sheng und einem xian bestehe nur ein gra¬

dueller, nicht aber ein grundsätzlicher Unterschied. Das hervorstechende Merkmal eines xian ist das „Gute des Herzens" (xin shan 'C¿-§-). 59 Er hält die konfuzianischen Tugenden der Sittlichkeit und Pflichterfüllung hoch und ist um moralische Selbstvervollkommnung und sittlich vorbildliches Verhalten bemüht. Er verbringt die Hälfte seines Lebens mit dem Studium der Lehren der alten Weisen und giert nicht nach hohen Amtern. Seine hohe moralische Qualifikation soll dem Gelehrten in seinem Denken und Handeln als Ma߬

stab dienen - soweit Wangs Charakterisierung eines xian. 60 Den Begriff des

„vortrefflichen Gelehrten" (xianru) verwendet Wang also im Hinblick auf die von einem wahrhaft Gelehrten geforderte moralische Vorbildlichkeit. In Kapitel 40 bringt Wang das moralische Bewusstsein der Gelehrten und ihre sittliche Verpflichtung anschaulich zum Ausdruck:

Die vortrefflichen Gelehrten (xianru) unserer Tage tragen die Lehren der Ver¬

gangenheit und der Gegenwart im Herzen und fühlen sich den Tugenden der Sittlichkeit und Pflichterfüllung verpflichtet. In ihrem Inneren sind sie um Erkenntnis, nach außen um sittliches und angemessenes Verhalten bemüht. 61 Bei tongru, wenru, hongru und xianru handelt es sich um verschiedene Grade bzw. unterschiedliche Aspekte des Gelehrtseins, die auf die Forde¬

rungen und Ansprüche Wangs an einen wahrhaft Gelehrten verweisen: um¬

fassendes Textstudium, literarisches Talent und moralische Vorbildlichkeit.

Geht man der Frage nach, wie sich Wang in die Alttext/Neutext- Kontroverse 62 seiner Zeit einordnet, so lässt sich nunmehr Folgendes fest¬

halten:

(a) Wang lehnt eine religiöse Verherrlichung des Konfuzius als Erlöser ab.

Für ihn ist Konfuzius eine historische Persönlichkeit, der er großen

59 Vgl. LHJS, Bd. 4, S. 1119.

60 Vgl. Kapitel 40 und 78 bis 80 des Lunheng.

61 LHJS, Bd. 2, S. 620.

62 An dieser Stelle kann auf die Auseinandersetzung zwischenden beiden Hauptten¬

denzender Klassikerinterpretation nicht näher eingegangen werden. AusführlicheDar¬

stellungen finden sich bei Cheng 1985, Nylan 1994 und van Ess 1993.

(19)

Respekt zollt und die seinen geistig-moralischen Bezugspunkt darstellt, die aber dennoch nicht über jeden Fehler erhaben ist.

(b) Wang spricht sich strikt gegen die Praxis des weiyan dayi, gegen das Su¬

chen und Entschlüsseln einer geheimen Botschaft des Konfuzius in den Klassikern aus, wie sie von den Neutext-Anhängern betrieben wurde.

Die Klassiker sind für ihn, wie alle anderen Schriften auch, primär his¬

torische Texte, die intensives und kritisches Studium erfordern.

(c) Wang ist gegen eine Verklärung des Altertums auf Kosten der Gegen¬

wart, wie sie innerhalb der Neutextrichtung zu finden ist. Er stellt die Gegenwart auf eine Stufe mit der Vergangenheit bzw. bewertet die Leis¬

tungen der Han teilweise sogar höher als die ihrer Vorgängerdynastien.

Da die Zhou den Han weder kulturell noch moralisch überlegen waren, gibt es keinen vernünftigen Grund, die Zhou-Herrschaft als unerreich¬

bares Ideal hinzustellen. 63

Abgesehen davon finden sich im Lunheng einige Passagen, in denen sich Wang direkt zu den verschiedenen Kommentaren zum Chunqiu äußert:

Im Cfe^z^-Kommentar des Meisters Zuo heißt es: ,Am ersten Tag des zehn¬

ten Monats im Winter des siebzehnten Jahres [der Regierung] des Herzogs Huan [von Lu]64 ereignete sich eine Sonnenfinsternis. Der Tag wird nicht genannt, weil der Chronist nachlässig war/ Hier von einem Versäumnis des Chronisten zu sprechen, entspricht der Wahrheit. Wenn [früher] die Ge¬

schichtsschreiber Ereignisse aufzeichneten, verhielt es sich nicht anders als heute bei den Schriften des Verwalters der Kernlande 65 :Jahre und Monate sind als große [Einheiten nur] schwer zu vergessen, Tage dagegen sind kleine [Ein¬

heiten] und können deshalb leicht vergessen werden. In den Geschichtsbüchern geht es um gute und schlimme [Ereignisse], den Tagen und Monaten [d.h. der

63 Vor diesem Hintergrund ist auch Wangs Lob für Dong Zhongshu zu verstehen, der das Chunqiu so ausgelegt habe, dass es mit den Gesetzen und Verordnungen der Han übereinstimme (vgl. LHJS, Bd. 2, S. 542; siehe hierzu auch van Ess 1993, S. 19). Wangs Verhältnis zu Dong Zhongshu ist ambivalent: Zwar zollt er ihm als großem Gelehrten

grundsätzlich Respekt, doch lehnt er seine Vorstellung eines direkten Echoverhältnisses zwischen Himmel und Mensch (tianren ganying ^A^Ä) ab (vgl. Rainey 1992). Wangs Meinung nach muss räumliche Nähe und unmittelbarer Kontakt zwischen Dingen be¬

stehen, wenn Einfluss möglich bzw. spürbar sein soll. Aufgrund der großen räumlichen Distanz des Himmels ist ein von Dong postuliertes Resonanzverhältnis, d.h. eine direkte Reaktion des Himmels auf menschliches Verhalten und damit auch eine feste Wechsel¬

beziehung zwischen menschlichen Taten und ihrem Lohn nicht möglich. Insofern dieses Konzept eine tragende Säule der Neutext-Richtung gewesen ist, mag man auch hierin

einen Hinweis auf Wangs Ablehnung dieser Richtung sehen.

64 Lu Huan Gong <fMs^A war von 711bis 694 v. Chr Herrscher des Staates Lu <§>.Die Rede ist hier vom Jahr 695v. Chr.

65 Gemeint ist der Kaiserder Han (vgl. Lunheng quanyi 1993, Bd. 2, 753 undBd. 3,1726).

(20)

exakten Zeitangabe] schenkt man keine besondere Beachtung. Die Kommen¬

tare Gongyang und Guliang enthalten jedoch absichtlich keinerlei Angaben zu Monaten und Tagen. Zu gewöhnlichen Ereignissen liefern sie seltsame und kuriose Erklärungen, und hinter klaren und eindeutigen Aussagen vermuten

sie eine versteckte Bedeutung - das ist nicht im Sinnedes Konfuzius. 66 Wang spricht sich gegen die verdunkelnden und bewusst vage und unklar

gehaltenen Kommentare Gongyang und Guliang und für das stärker historische und seiner Ansicht nach eher der Wahrheit verpflichtete Zuozhuan aus. In seiner Ablehnung alles Übernatürlichen, die vor allem in den Kapiteln 62 bis 77 des Lunheng deutlich wird, weiß er sich in Ubereinstimmung mit Konfuzius. Diese Haltung und sein Bemühen um historische Exaktheit, was die Uberlieferungsgeschichte angeht, decken sich mit dem Anliegen der Alttext-Gelehrten. An einer anderen Stelle wird Wang sogar noch deutlicher, was seine Kritik an der Neutext-Richtung und

seine Parteinahme für das Zuozhuan angeht:

Gongyang Gao, Guliang Zhi und Humu Zidu haben alle einen Kommentar zum Chunqiu verfasst und verschiedene Schulen begründet, doch einzig das Zuozhuan kommt dem tatsächlichen Sinn nahe. 67

Wang begründet diese Einschätzung damit, dass das Zuozhuan - im Gegen¬

satz zu den Gongyang Gao und Guliang Zhi zugeschriebenen Kommenta¬

ren - inhaltlich mit dem Liji ¿$Lií (Aufzeichnungen der Riten) und dem Shiji (Aufzeichnungen der Historiker) übereinstimmt, und verweist darauf, dass Konfuzius nicht über übernatürliche Ereignisse gesprochen hat:

Viel von außergewöhnlichen Ereignissen zu reden, steht im Widerspruch zu dem, dass Konfuzius kein Wort über Zauberei und Kraftstücke verlor. 68 Wang kommt zu dem Schluss:

Das Zuozhuan und das Guoyu IHf§- (Gesprächeaus den Staaten) sind also zwei wertvolle Schriften für die heutigen Gelehrten. 69

Es ist unübersehbar, dass sich Wangs eigene Vorstellungen in wesentlichen Punkten mit für die Alttext-Richtung charakteristischen Positionen de¬

cken. Vor allem seine Kritikfähigkeit und Kritikbereitschaft belegen seine Nähe zu dieser Richtung, deren Vertreter - sehr allgemein gesprochen - als

66 LHJS, Bd. 4, S. 1140.

67 LHJS, Bd. 4, S. 1163.Humu Zidu ^-*^*p hat wohl, anders als Gongyang Gao ^4 jtjund Guliang Zhi t£jfcí£, keinen eigenen Kommentar zum Chunqiu verfasst, galt aber als Spezialist des Gongyang zhuan.

68 Ebd., Bd. 4, S. 1164.Wang nimmt hier auf Lunyu 7.21Bezug.

69 Ebd., Bd. 4, S. 1166.

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