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Literatur 119

1938. — T h . STEINBÜCHEL, D a s G r u n d p r o b l e m der Hegeischen Philosophie I, 1933. — H. WENKE, Hegels Theorie des objektiven Geistes, Halle 1926.

V.

Die Gegner

Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts verhält sich die Philosophie zum absoluten Idealismus wesentlich ab- lehnend. Für die Radikalen ist das Absolute ein Bastard aus Theologie und Philosophie, und seine Problematik sinnlos. Aber auch die Fortführer des Ide- alismus sind zumeist Gegner der Philosophie des Ab- soluten. An drei Punkten, so formuliert es I. H. Fichte (Fichtes Sohn) einmal; hat die Kritik einzusetzen: bei der Identität von Denken und Sein, beim „Pantheismus"

Hegels, und beim Begriff des Absoluten, der nicht die absolute Persönlichkeit, sondern nur das „unendliche Per- sonwerden" Gottes im Menschen bedeute.

Im ersten Drittel des Jahrhunderts ist der absolute Idealismus führend, und Ausdruck des Zeitgeistes. D a aber jede Zeit den Gegensatz der in ihr herrschenden Denkweise wenigstens im Keime enthält, so ist zu er- warten, daß ähnliche Argumente auch früher auftraten.

Im Grunde stammte die These, daß das „Absolute" mit dem wirklichen Gott nichts zu tun habe, aus der Philo- sophie Jacobis; und Jacobi bekämpfte Kant, Fichte, Sdyelling gleichermaßen.

Audi die anderen Argumente I. H. Fichtes finden sich bei den Zeitgenossen Schellings und Hegels. Das wich- tigste ist das gegen die Identität von Denken und Sein gerichtete. Diese wird allerdings vom spekulativen Ide- alismus auf Kant bezogen. Aber mit dem Ansprüche, Kants „Reflexionsphilosophie der Subjektivität" über- wunden und „aufgehoben" zu haben. Zwar kannte Kant, sagt Hegel (1802), die absolute Identität des Den- kens und Sein. Aber nicht in der theoretischen Philoso- phie. Hier ist sein „Idealismus" formal und dualistisch.

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Seine „Deduktion" ist eine „Analyse der Erfahrung und das Setzen einer absoluten Antithesis."

Um so eher konnten sich die G e g n e r der Identitäts- philosophie auf Kant berufen. Sie konnten geltend machen, daß die Idee der absoluten Identität von Den- ken und Sein unrealierbar und daß in der theoretischen Philosophie nur der „kritische" Weg Kants, nicht der

„spekulative" seiner Nachfolger, gangbar ist. Für die eigentlichen Kantianer, deren es damals noch eine Menge gab, war das selbstverständlich. Geschichtliche Bedeutung hat es nur für diejenigen Anhänger Kants, die den Sinn der Kritik neu zu erarbeiten suchten. Der wichtigste unter ihnen ist /. Fr. Fries.

Das Pantheismusargument versteht I. H. Fichte in dem Sinne, daß Hegel dem Einzelwesen (Person) eine selbständige metaphysische Bedeutung nicht zugesteht.

Daß er „Antiindividualist" ist. Leibniz' Metaphysik ist ihm verschlossen. Das gilt zwar nicht von Schelling und Schleiermacher. Aber eine Vielheit von Monaden an die Stelle des Absoluten zu setzen, wäre auch ihnen nicht eingefallen. Schon der Zusammenhang des Abso- luten mit dem Gottesbegriff mußte das unmögliche machen. (Aus diesem Grunde ist ja Leibniz' Metaphysik selbst kein reiner Substanzenpluralismus).

Nur wo der Zusammenhang zwischen Metaphysik und Religionslehre preisgegeben bzw. auf den ^«fischen

„Dualismus" theoretischer und moralisch-praktischer Vernunft zurückgegangen wurde, konnte das Leibnizsche Motiv des „ l e t z t e n V i e l e n " dem Monismus der Identitätsphilosophie gegenüber geltend gemacht wer- den. Dann freilich in der Form, daß die Philosophie überhaupt keine „Weltansicht" zu geben hat, daß Wirk- lichkeitserkenntnis und Wirklichkeitsbewertung („Er- gänzung der Begriffe durch Wertbestimmungen") zweierlei sind. Das geschah in der Philosophie ]. Fr. Herbarts.

Jacobi, Fries, Herbart wurzeln im 18. Jahrhundert. Auch der absolute Idealismus hat hier seine Wurzeln. Aber er ist

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Kritik am absoluten Idealismus 121 durch die R o m a n t i k mitbestimmt, und die Romantik ist die Grenzscheide zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert.

Eine Formel für das sachliche Verhältnis zwischen roman- tischer Philosophie und Philosophie des Absoluten haben wir nicht erstrebt; es ist auch ohnedies klar, daß Schelling und Hegel das „poietische" Denken der Romantik hinter sich lassen. Aber in verschiedener Weise. Schellings Spätphiloso- phie nimmt Motive der „mythologischen", d. h. der Heidel- berger Romantik (s. o.) auf. Und man kann sagen, daß sich sein späteres System zur Heidelberger Romantik verhält, wie Hegels System zur Jenenser Romantik. So wird Schelling, der vor Hegel die Philosophie des Absoluten begründet, zum G e g n e r des „absoluten" Idealismus.

Aber auch die Frühform romantischer Philosophie zeigt Abweichungen vom Idealismus. Wir sahen es an Novalis' Verhältnis zu Fichte. Die Differenz zwischen Schelling und Fichte liegt in der gleichen Richtung. Wird hier gewöhnlich zwischen objektivem und subjektivem Idealismus unterschie- den, so trifft das nicht den entscheidenden Punkt: beide sind, sachlich und problemgeschichtlich, Momente des abso- luten Idealismus. Daß die Gleichsetzung von Natur und Geist in Schellings „Idealrealismus" — den Begriff hat Fichte zuerst gebraucht — die Präponderanz des Geistes als des schlechthin (absolut) Sinnvollen voraussetzt, versteht sich von selbst.

E b e n h i e r a b e r w a r d e r A b s p r u n g m ö g l i c h . Diese metaphysische Voraussetzung konnte geleugnet; das Ireationale konnte dem Rationalen, die Natur dem Geiste, der „Wille" der Vernunft übergeordnet werden. Oft genug steht Schelling vor dieser Konsequenz. Aber wirklich gezogen wird sie erst von Schopenhauer, über dessen Zusammenhang mit Schelling kein Zweifel besteht.

Schopenhauers Kampf gegen den absoluten Idealis- mus, der sich dann zu seinem massiven Angriff gegen die „Universitätsphilosophie", gegen die „drei Sophisten"

(Fichte, Schelling, Hegel) auswächst, hat von vornherein eine andere Bedeutung als die Angriffe Herbarts und Fries'. Die seit Kuno Fischer beliebte Formel eines Schopenhauer mit Fries und Herhart gemeinsamen „Zu- rückgehens auf K a n t " ist dafür völlig nichtssagend.

Vielmehr: Schopenhauer bekämpft den absoluten Idea- lismus vom Boden der R o m a n t i k aus (und zwar

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der Jenenser Romantik). Und ferner: Schopenhauer be- kämpft den absoluten Idealismus dadurch, daß er nicht bloß (wie Jacobi und Fries), die Gleichsetzung Gottes mit dem „Absoluten" leugnet, sondern den G o t t e s - b e g r i f f s e l b s t . Er ist Gegner aller „Religions- philosophie", insbesondere der christlichen. Er bekämpft die christlich-theologische Tradition in der Philosophie.

Damit gehört er ganz der A u f k l ä r u n g an. Aber nicht der deutschen, für die vielmehr (von Leibniz bis Kant) die Beziehung zur Theologie wesentlich ist. Son- dern der französischen und englischen. Jedoch ist Schopenhauer auch als Aufklärer Romantiker: die christ- liche „Nächstenliebe", der christliche Sündenbegriff, die christliche Mystik erhalten in seiner Philosophie ihren Platz und ihre, wie er glaubt, metaphysische Rechtfer- tigung.

Es ist natürlich mißlich, Denker so verschiedenen Ge- präges, wie Fries, Herbart und Schopenhauer als „Geg- ner" der herrschenden Denkweise unter einen H u t zu bringen. Ganz abgesehen davon, daß sie durch den

„Zeitgeist" mit dem, was sie bekämpfen, viel enger ver- bunden sind als ihnen bewußt ist. Schopenhauers Mo- nismus, seine Ideenlehre und Naturphilosophie, das alles finden wir auch bei Schelling. Selbst Hegels Grund- thema der „Entzweiung und Versöhnung" (des Bewußt- seins) kehrt in Schopenhauers Willenslehre wieder.

Hegels Dialektik des „sinnlichen Diesen" (s. o.) ist genau das Thema von Herbarts Einleitung in die Me- taphysik. Fries' „religiös-ästhetische Weltansicht" ist Schellings Philosophie schon durch die beideji gemein- same Anknüpfung an Kants Kritik der Urteilskraft ver- wandt.

Erst recht ist es mißlich, diese Denker in g e - s c h i c h t l i c h e r Hinsicht, nach der tatsächlichen Wirkung, die sie in ihrer Zeit hatten, gleichzustellen.

Fries und Herbart allein sind im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wirksam gewesen; Herbart (dessen Hauptwerk freilich erst 1828 erschien) jedoch nur in

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Kritik am absoluten Idealismus 123 geringem Maße. Von Schopenhauer wußte kaum jemand

etwas. Und Fries' Wirkung auf die Zeitgenossen be- ruhte weniger auf seinen theoretischen Schriften als auf seiner politischen Tätigkeit: seinem Zusammenhang mit der Burschenschaftsbewegung, seiner nationalen und demokratischen Gesinnung. (So schmäht ihn Hegel als den „Heerführer der Seichtigkeit", und glossiert seine Wartburgrede (1817): es sei der „Hauptsinn der Seich- tigkeit", den Staat, „die Architektonik seiner Vernünf- tigkeit", in den Brei des Herzens, der Freundschaft und Begeisterung zusammenfließen zu lassen).

Ganz anders ist das Bild, wenn man auf die N a c h - u n d F o r t w i r k u n g e n der Gegner des absoluten Idea- lismus im 19. Jahrhundert sieht. Hier steht Schopenhauer an der ersten, Fries an der letzten Stelle. Man muß allerdings die bildungsgeschichtliche Wirkung von der im engeren Sinne philosophiegeschichtlichen unterscheiden. In der Bildungs- geschi,chte des 19. Jahrhunderts hat Schopenhauer nicht nur Hegel, sondern überhaupt alle anderen deutschen Philosophen verdrängt. Noch heute kann man bei den meisten „Gebil- deten" — wofern es deren noch gibt — eine leidliche Kennt- nis der Schopenhauerschen Philosophie voraussetzen.

Die philosophiegeschichtliche Wirkung Schopenhauers, die erst um die Jahrhundertmitte beginnt, ist gewiß nicht gering;

es gibt eine verzweigte, an originellen Köpfen reiche Schopen- hauerschule (Frauenstädt, Bahnsen, Mainländer, Peters, Bil- harz u. a.). Aber, von E. v. Hartmann und Nietzsche ab- gesehen, deren Beziehungen zu Schopenhauer zu verwickelt sind, um sie hier schon zur Sprache zu bringen (s. Bd. II), hat die Schopenhauerschule auf die Weiterentwicklung der Philo- sophie keinen Einfluß gehabt. (Leider auch J. Bahnsen nicht, der für die Charakterologie der Gegenwart ebenso bedeutsam ist, wie dadurch, daß. er Schopenhauer, Hegel und auch Herbart verbindend, eine „Realdialektik" zu begründen suchte). In einer, der Metaphysik abgewandten Zeit des einzelwissenschaftlichen Positivismus haben diese Männer, die zum Teil wirklich Dilettanten waren, auf verlorenem Posten gekämpft, wenn sie nicht gar (wie v. Hellenbach und Du Prel) dem Okkultismus und Spiritismus verfielen.

Man kann auch bei Herbart bildungs- und philosophie- geschichtliche Fortwirkungen unterscheiden. Wenn auch in

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124 Die Gegner

anderem Sinne. Herbart würde genau so wie Schopenhauer zu den Klassikern der deutschen Literatur gehören (seine Sprache ist weniger leicht verständlich, aber von großer Mu- sikalität und Gedankentiefe), wenn man ihn ebenso gelesen hätte. Aber er wurde nur von den P ä d a g o g e n gelesen, die seiner Didaktik jener monströse Form der Formal- und Kulturstufen des Unterrichts gaben, die lange Zeit als Zerr- bild Herbartischer Pädagogik umging. In der Philosophie selbst hat Herbart als Metaphysiker wie als Psychologe ge- wirkt. In jener Hinsicht hat er die Leibnizbewegung des 19. Jahrhunderts (s. o.) mitbestimmt: in Österreich waren Exner und R Zimmermann (der von Bolzano herkam) seine Schüler; in Deutschland ist Lotzc, der bedeutendste Denker des Spätidealismus, jedenfalls von ihm beeinflußt (so sehr er sich auch dagegen sträubte), und daneben bestand (seit Drobischs Eintreten für Herbart) auch eine engere Herbart- schule. In dieser Hinsicht, nämlich als Begründer einer exak- ten Psychologie, war Herbart von Einfluß auf Fechner und auf die „Völkerpsychologie" von Lazarus und Steinthal. In der Sozialphilosophie verband Th. Waitz Herbartische Ge- Gedanken mit Schleiermacherschen.

Sehr viel schwächer ist die philosophiegeschichtliche Wir- kung von Fries im späteren 19. Jahrhundert gewesen. Da Fries einer der wenigen war, die in der Goethezeit an der strengen Form Newtonischer Physik festhielten (im Gegensatz sogar zu Herbart), brachte ihm die Naturwissenschaft nach dem „Zusammenbruch" einen gewissen Respekt entgegen (A. v. Humboldt, Gauß, Schleiden). Seine Metaphysik, von E. F. Apelt (1812—1859) fortgeführt, interessierte niemand, und erst in den Jahren des immer mehr um sich greifenden erkenntnistheoretischen Neukantianismus besann man sich auf seine „Neue Kritik der Vernunft". Es entstand ein N e u - f r i e s i a n i s m u s (L. Nelson, Th. Elsenhans u.a.), der aber den Sektengeruch nicht los wurde und — abgesehen von R. Ottos Arbeiten zur Religionsphilosophie — an der Ent- wicklung der Gegenwartsproblematik keinen Anteil hat.

Diese verschiedenen Schicksale spiegeln sich auch in der p h i l o l o g i s c h e n Arbeit. Es gibt eine Schopen- /wwerphilologie und eine Her bar tph'üologie beträcht- lichen Ausmaßes, während von Fries nur einzelne Werke in Neuausgaben erschienen sind. Mustergültig ist die von P. Deußen (1911) begründete kritische Schopenhauer-

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Ihre Wirkungen 125 ausgabe, die vor allem durch die Veröffentlichung der

(von Hochstetter besorgten) Jugendmanuskripte (vor 1818) für ein gründlicheres Studium des Denkers unent- behrlich ist. Eine kritische Herbarta.usga.be ist bereits 1883 (von Kehrbach und Flügel) begonnen und zu Ende geführt worden. Sie umfaßt auch den, in der älteren Gesamtausgabe (von Hartenstein 1850—1852) nicht ent- haltenen Briefwechsel. Die Neuausgabe des Hauptwer- kes von Fries (1935) besteht leider in einem bloßen Nachdruck der zweiten Auflage (1828).

Wir gehen zunächst auf Fries ein.

Jakob Friedrich Fries ist am 25. August 1773 als Sohn eines Beamten der Brüdergemeinde in Barby a. d. Elbe geboren.

In N i e s k y erzogen, wuchs er einsam auf, studierte dort am theologischen Seminar und (1796) in L e i p z i g als Jurist. 1797 ging er nach J e n a , wo er Fichte hörte (in Niesky hatte ihn Garve in die Philosophie eingeführt), und war von 1798—99 Hauslehrer in der Schweiz. 1800 wurde er Dozent in Jena. Seine Dissertation (über Richters Stöchiometrie) enthält die erste mathematische Formulierung der chemischen Verbindungsgesetze; seine Habilitationsschrift behandelt den Begriff der intellektuellen Anschauung; durch seine Streit- schrift über Reinhold, Fichte, Schelling (1803) wurde er als Gegner der Identitätsphilosophie bekannt. 1805 erhielt er, zugleich mit Hegel, in Jena ein Extraordinariat, und im glei- chen Jahre eine Berufung nach H e i d e l b e r g .

Die H e i d e l b e r g e r J a h r e (1805—1816) sind die wissenschaftlich ertragreichsten. Hier erschien seine „Neue Kritik" (1807), das System der Logik (1811), die Physik (1813), der Bekenntnisroman „Julius und Evagoras oder die neue Republik" (1814) — im Stile Jacobis, mit dem er be- freundet war, und den er (1812) gegen Schelling verteidigte.

1812 hatte er in Heidelberg eine Professur für Physik erhalten.

1816 berief ihn Karl August, in der Hoffnung, daß Fries die „Philosophie neu begründen werde", nach J e n a . Der

„jünglingshafte" Mann und schlechte Redner erlangte bald großen Einfluß auf die Burschenschaftler, und ihm gelang, was Fichte mißglückt war, die studentischen Sitten zu bessern.

Das W a r t b u r g f e s t (am 18. Oktober 1817) zeigt ihn auf der Höhe seiner politischen Wirksamkeit. Fries' Forde-

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rung nach einer auf Volkswahlen beruhenden „VolksVerfas- sung", die er schon 1803 in seiner „Philosophischen Redits- lehre" begründet und später (1816) mit der Forderung nach einer „sozialen Gesetzgebung" verbunden hat — er ist einer der ersten, der die Gefahren freier Fabrikarbeit und der

„Übermacht der Reichen" erkannte — mußte ihn in Konflikt mit Metternich bringen.

Konnte er sich zunächst der Anklagen erwehren, so wurde ihm Sands Tat (am 23. März 1819) zum Verhängnis (Sand, sein Schüler, hatte gestanden, daß er vor der Ermordung Kotzebues Fries noch sprechen wollte): im November 1819 wird er supendiert, erhält aber von Weimar weiter Gehalt und nach 5 Jahren wieder eine Professur (für Physik und Mathematik). 1838 darf er dann auch über Philosophie lesen. 1843 ist er, nach mehreren Schlaganfällen, in Jena gestorben.

Fries las schon in Niesky die (dort verbotenen) Xaniischen Schriften und hat sich immer als Schüler Kants bezeichnet. Seine Fragestellungen sind aber ebenso sehr durch die Grundsatzphilosophie (Reinholds und Uchtes), durch den Leibnizianismus (Platner) und durch die Philosophie Jacobis bestimmt. Wie dieser zwischen Verstand und Vernunft, mittelbarer und unmittelbarer Erkenntnis unterschied, so fragt Fries nach der, allen (bewußten) Erkenntnissen zugrundeliegenden (unbe- wußten) u n m i t t e l b a r e n V e r n u n f t e r k e n n t - n i s , deren wir uns nur in der Reflexion (im Urteil) versichern bzw. „wieder bewußt" werden können. „In unserer Vernunft l i e g t . . . . über allen Irrtum erhaben eine unmittelbare Erkenntnis, die aber für sich unaus- sprechlich bleibt, welche nicht zur Anschauung erhoben werden kann, deren wir uns nie im Ganzen, sondern nur in zerstreuten Einzelheiten oder allgemeinen Formen durch Reflexion bei Gelegenheit sinnlicher Anschauungen bewußt werden."

In dieser unmittelbaren Erkenntnis liegt das „Ge- heimnis der Philosophie verborgen". Was ist das für ein Geheimnis? Es ist kein anderes als das „Geheimnis" aller idealistischen Metaphysik: daß wir den Schlüssel zu den metaphysischen Problemen in uns selbst tragen. In

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Fries' Leben 127 diesem Sinne verweist Fries auf Piaton: das „Lernen in Philosophie und reiner Mathematik trägt gar nichts neues in unseren Geist hinein, sondern es ist bloße Aus- bildung der Selbsterkenntnis . . ." In diesem Sinne ver- weist er auf Kant, aber auf den v o r k r i t i s c h e n Kant, der die Metaphysik damit begründen wollte, daß er in der „inneren Erfahrung" die Merkmale suchte, die

„im Begriffe irgendeiner allgemeinen Beschaffenheit liegen."

Reflexion, Begriff, Urteil, Schluß, Beweis haben für die Erkenntnis nur i n s t r u m e n t a l e Bedeutung.

Zwar wird uns jede „gedachte Erkenntnis" in Urteilen bewußt, aber das Erkenntnisurteil ist nicht die (un- mittelbare) Erkenntnis selbst, sondern die bloße „For- mel", uns der ursprünglichen Erkenntnis „wieder- bewußt" zu werden. Fries gehört so wie Schelling und Hegel zu den Gegnern jeder „Reflexionsphilosophie".

Aber er gehört auch zu den Gegnern jeder Philosophie des „Absoluten", die sich auf i n t e l l e k t u e l l e A n - s c h a u u n g beruft.

Es ist das „Vorurteil des Rationalismus", alles Vertrauen dem Beweis und der systematischen Ableitung zu schenken.

Ebendies war es, was Reinhold und Fichte forderten, als sie Kant „ergänzen" wollten: daß es die Aufgabe der Philosophie sei, alles Wissen aus einem höchsten Prinzip abzuleiten.

„Dieses Prinzip sollte anfangs logisch ein Grundsatz sein, wandte sich aber bald metaphysisch herum, und wurde zur Idee des Universums oder der Gottheit." Die Philosophie sollte schließlich bei Schelling „das Wesen der Dinge aus der ewigen Einheit erkennen." Aber das logische System unseres Wissens ist „kein aus seiner Spitze entspringender Lichtkegel", es hat „manche von einander unabhängige Anfangspunkte", und aus e i n e m Grundsatz kann überhaupt keine Wissen- schaft entstehen. Schellings „Einheit" des Absoluten ist nichts als das Resultat einer „mystischen Abstraktion".

Was die i n t e l l e k t u e l l e A n s c h a u u n g betrifft, so könnte man versucht sein, die „ursprüngliche Erkenntnis der Vernunft" selbst als intellektuelle Ansdiauung zu be- zeichnen. Aber wir „haben" eben die unmittelbare Erkenntnis nicht in der Weise, daß es uns möglich wäre, sie anzu-

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schauen. Unsere Vernunft ist nicht frei v o n Sinnlichkeit.

Unsere ganze Erkenntnis wäre „vernichtet", w e n n wir die Sinnlichkeit wegnähmen (hier, wie in seiner philosophischen Anthropologie überhaupt, weist Fries schon in die Richtung Feuerbachs). „In dieselbe Organisation einer Vernunft, in welche Sinn und Vernunft einritt, kann keine intellektuelle Anschauung kommen." Unsere innere Anschauung (d. i. die Anschauung des „inneren Sinnes") verwechselt schon Fichte mit dem Phantasiegebilde einer intellektuellen Anschauung, bloß weil sie n i c h t vom äußeren Sinn gegeben, n i c h t

„sinnliche" Anschauung ist. Wir kommen, — das ist der immer wiederkehrende Refrain dieser Kritik — ohne R e - f l e x i o n nicht aus: die „unmittelbare Erkenntnis" (die allen synthetischen Urteilen a priori zugrundeliegt) ist nicht un- mittelbar aufzufassen, sie ist an unseren (d. i. menschlichen)

„inneren Sinn" gebunden, an den die Reflexion anknüpfen muß.

Hier nun ist der Punkt, an dem das Besondere dei Friesschen „Vernunftkritik" als einer „ a n t h r o p o - l o g i s c h e n " zu klären wäre. Nach der üblichen Auf- fassung gehört Fries zu den „Psychologisten" und hat versucht, die Resultate Kants „psychologisch" zu begrün- den. Diese Auffassung ist nicht einmal falsch. In der Tat sagt Fries, Kant habe mit seiner „transzendentalen"

Erkenntnis eigentlich die psychologische gemeint; er habe ihre „empirische psychologische Natur verkannt". Man lobt es wohl, daß Fries einsah, die apriorischen Denk- und Anschauungsformen, die nach Kant die Erfahrung konstituieren, ließen sich nicht selbst a priori erkennen, sondern nur a posteriori, d. h. empirisch. Aber man hat es dann mit der Verurteilung Fries' um so leichter: Fries sei von Kant in die Common-sense Philosophie der Engländer (Th. Reid, auf den er sich in der Tat be- zieht) ausgewichen, und habe auf diesem seichten Boden das „Erkenntnisproblem" ganz verloren.

Daß dies n i c h t der Sinn von Fries' Metaphysik und Kritik sein kann, ergibt sich sogleich aus der Lehre von der unmittelbaren Vernunfterkenntnis, aus seiner Ablehnung des Empirismus, und aus seiner immer wie- der eingeschärften Unterscheidung von „Deduktion"

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Die Neue Kritik 129 und „Beweis". Da wir die (in synthetischen Urteilen a priori enthaltene) Apriorität nicht als solche gleichsam

„neben" die Urteile stellen können, müssen wir sie dedu- zieren (rechtfertigen): wir müssen die unmittelbare Er- kenntnis aufweisen, die solche Urteile trägt. "Wir müssen uns dabei auf innere Erfahrung berufen, „aber nicht um diese (die apriorischen Grundsätze) zu beweisen, sondern nur um sie als unerweisliche Grundsätze in der Vernunft a u f z u w e i s e n."

Die Sache bleibt freilich noch zweideutig genug. Aber jeden- falls hat Fries den „Aufweis" von Apriorität nicht als Be- gründung durch psychische „Tatsachen" verstanden. Eher kann man sagen, daß seine „unmittelbare Vernunfterkenntnis"

bereits metaphysisch (metapsychisch) ist. Aber wenn wir den Ansatz idealistischer Metaphysik, daß wir die Wahrheit, die wir suchen, i n u n s besitzen, ernstnehmen, können wir mit einem reinen, absoluten Bewußtsein oder Subjekt nicht aus- kommen: unsere e m p i r i s c h e Subjektivität muß immer mit dabei sein. Wir müssen uns auf die „innere Selbstbe- obachtung berufen"; keine Phänomenologie des Erkennens kann davon suspendiren.

Fries' Zusammenhang mit dem spekulativen Idealis- mus tritt noch deutlicher hervor, wenn wir auf das Ganze seiner Philosophie blicken. In dieser wird L o - g i k (System der analytischen Urteile) und M e t a - p h y s i k (System der synthetischen Urteile, „deren wir uns nur durch Denken bewtfßt werden") unterschieden.

Die Metaphysik ist theoretische (spekulative) und prak- tische (teleologische). Jene ist Lehre vom W i s s e n (Naturphilosophie, Physik), diese Ideenlehre oder

„höhere Metaphysik" als Lehre vom G l a u b e n und von der A h n d u n g . Glaube ist dabei Uberzeugung aus bloßer Vernunft (Vernunftglaube), Ahndung not- wendige Überzeugung aus bloßem Gefühl, d. i. R e l i - g i o s i t ä t („Ahndung des Ewigen im Endlichen").

Freiheit, Ewigkeit, Reich der Zwecke sind Ideen, — ihre religiöse Erfüllung erwächst ihnen aber erst aus der Ahndung. Durch sie wird uns die Sinnenwelt, deren Erkenntnis „nur die endliche Wahrheit einer beschränk-

Lehmann, Philosophie VIII 9

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130 Die Gegner

ten menschlichen Vorstellungsweise von den Dingen" ist, zur E r s c h e i n u n g der Ideen. Erscheinung hat also f ü r Fries nicht eigentlich einen erkenntnistheoretischen, sondern einen religionsphilosophischen Sinn.

Zweifellos sucht Fries Kants Dualismus von theore- tischer und moralisch-praktischer Vernunft im Sinne der Kritik der Urteilskraft auszugleichen. Absolutes Wissen als Wissen „vom" Absoluten gibt es f ü r Fries nicht: »alle Versuche zu reinen Einheits-, Alleinheits- oder Gottes- lehren enthalten nur ein bedeutungsloses Spiel leerer Abstraktionen". Andererseits läßt sich nicht verkennen, daß in der Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis — oder wie Herbart spottet, von den „wissenden Erkenntnis- vermögen" — der Ansatz zu einer m o n i s t i s c h e n M e t a p h y s i k enthalten ist, der zur Philosophie des Absoluten führt. Soll doch das Wissen eine „beschränkte Erkenntnis der ewigen Wahrheit" sein, die im Glauben entschränkt wird, und in der Ahndung gleichsam zur Verifikation kommt. Infolgedessen ist auch der B e - g r i f f des Absoluten f ü r Fries durchaus legitim. „Das Wesen der Dinge selbst ist unbeschränkt (absolut) und hat vollendete Einheit"; alles, was ist, „ist die vollendete Einheit eines erschaffenen Weltganzen, welches durch Gott als die einige Ursach derselben besteht." Dies ist

„der höchste objektive, von nichts anderem abzuleitende Grundgedanke unseres Glaubens an ewige Wahrheit, gegen den wir kein Sein der Dinge an sich selbst zu denken vermögen."

So ist f ü r Fries der Glaube nicht gegensätzlich oder komplementär zum Wissen, sondern seine Erfüllung, wenn auch nicht in Form eines höheren Wissens. Ästhe- tik und Teleologie, bei Kant noch deutlich geschieden, verschmelzen bei Fries zur ästhetisch-teleologischen Welt- anschauung. Diese entspricht dem ästhetischen Denken der Romantik, wie Fries' Religionsauffassung dem reli- giösen Subjektivismus der Romantik entspricht. Aber unter dieser Hülle verbirgt sich der Ansatz zu einer neuen Disziplin: der W e r t p h i l o s o p h i e als Lehre

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Glaube und Ahndung 131 von den Bewertungen und „Wertgesetzgebungen".

Dieser Ansatz findet sich auch bei Herbart, der in dieser Hinsicht Fries am nächsten kommt, ihm dagegen in der Wirklichkeitslehre und Methodologie am fern- sten steht.

Johann Friedrich Herbart war der Sohn eines schweig- samen und trockenen Kanzleirates und einer Mutter mit männlichem Charakter und ohne Spur von Schönheit. Er wurde am 4. Mai 1776 in Oldenburg geboren und zog sich sdion in früher Jugend (durch Verbrühung) ein Augenleiden zu. Der begabte Jüngling schrieb mit 14 Jahren philosophische Aufsätze und las als Sechszehnjähriger Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Auch zeigte er früh seine musi- kalischen Anlagen. (1808 erschien eine Klaviersonate von ihm).

1794 verließ er das Gymnasium in Oldenburg, um in J e n a Rechtswissenschaft und Philosophie zu studieren. Von seiner Mutter begleitet, die ihn mit Schiller bekanntmachte, hörte er bei Fichte und wurde bald sein persönlicher Schüler.

Doch schreibt er schon am 1. Juli 1796, er sei im Begriffe, sich selbst eine Wissenschaftslehre zu machen.

Im Jahre 1797 ging er nach B e r n als Hauslehrer zum Landvogt v. Steiger, dessen drei älteste Söhne (Ludwig, Karl, Rudolf) von ihm erzogen wurden. Bis Anfang 1800 ver- weilte er in der Familie; aus seiner pädagogischen Praxis erwuchsen ihm die Grundgedanken seiner Erziehungslehre.

Aber auch Pestalozzi lernte er kennen, und als Pestalozzis Anhänger trat er in seinen ersten Schriften auf.

Nach einem Aufenthalt in Jena, Oldenburg und Bremen (die Eltern hatten sich getrennt, und auch zwischen Mutter und Sohn kam es zum Bruche), siedelte er 1802 nach G ö t - t i n g e n über. Hier promovierte und habilitierte er sich zugleich, und wirkte bis 1809 als Dozent (seit 1805 als Extra- ordinarius) in Göttingen: die tiefsinnigen und dunklen Werke der Frühzeit (die Allgemeine Pädagogik 1806; die Haupt- punkte der Metaphysik 1808; die allgemeine praktische Philo- sophie 1808) sind hier erschienen.

1809 erhielt er einen Ruf nach K ö n i g s b e r g , verhei- ratete sich mit der 18jährigen Tochter eines englischen Kauf- mannes (1811) und errichtete, nach einem mit W. v. Humboldt entworfenen Plane das erste pädagogische Seminar in Deutsch- land, das jedoch nicht von Bestand war. In die Königsberger Zeit fällt der Ausbau seines Systems: die zweibändige Psycho-

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132 Die Gegner

logie (1824/5); das Hauptwerk, die ebenfalls zweibändige Allgemeine Metaphysik (1828/9); und — schon vorher — das klassische „Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie" (1812).

Aber er fühlte sich in seinem Königsberger »Exil" nicht wohl.

1833 finden wir ihn wieder in G ö 11 i n g e n. Als hier 1837 der bekannte V e r f a s s u n g s s t r e i t ausbrach — Herbart war gerade Dekan —, nahm er die vom König auf- gezwungene Verfassung an, beteiligte sich nicht an der Wei- gerung der „Göttinger Sieben". Das hat ihm viele Vorwürfe eingetragen. Aber Herbart hätte nicht anders handeln können.

Wohl besaß er Interesse an politischen Fragen, aber keine po- litische Aktivität. Von großer Zurückhaltung, Spröde und Empfindlichkeit, gilt ihm die Ruhe, die Freiheit von „Stö- rungen", als höchstes Gut. Gerade auch der Staat, die durch Macht geschützte Gesellschaft, darf nicht gestört werden.

„Diejenigen beginnen schon in ihrem Innern die Störung des Staats, welche irgendetwas vorzunehmen gedenken, das in die Sphäre der Machthandlungen fällt".

Er starb am 14. August 1841 in Göttingen am Schlaganfall.

Herbart erscheint — wenn man nicht genau hin- sieht — wie ein Denker unserer Zeit. Seine Philosophie will nicht erwärmen, erleuchten, begeistern; sie will Be- griffe bearbeiten und Probleme lösen, die die Erfahrung aufgibt. „Der Philosoph ist nicht, wie der Künstler, Schöpfer der F o r m und H e r r des Stoffes, sondern in seiner H a n d formt der Gegenstand sich selbst; und wann derselbe fertig ist, muß man ihn lassen, wie er sich dar- stellt." Das G e g e b e n e ist der Ausgangspunkt; das R e a l e , das dem Gegebenen zugrunde liegt, soll er- kannt werden: die Metaphysik beschreibt „gleichsam einen Bogen, der von der Oberfläche des Gegebenen in die Tiefe hinabsteigend sich dem Realen erst nähert, dann wieder aus derjenigen Tiefe, die man hatte er- reichen können, sich erhebt, und beim Gegebenen mit den Erklärungen desselben, insofern sie uns möglich sind, endigt." Objektivismus, Realismus, Ablehnung „welt- anschaulicher" Entscheidungen, exakte und möglichst mathematische Formulierung sind die auffälligsten Merkmale seiner Philosophie.

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Herbarts Leben 133

Den a b s o l u t e n I d e a l i s m u s bekämpft er mit Er- bitterung, mit Hohn, mit schlagenden Bildern und kräftigen Argumenten. „Es bewundert jemand die harmonienreiche Orgel; er begehrt, einmal recht voll zu werden von der Fülle ihrer Akkorde. Lege er sich denn mit beiden Armen auf die Tasten; in dem einen Mißlaut stecken alle möglichen Akkorde. — Solche Strafe ist demjenigen recht, der nicht versteht, sich zu mäßigen in seiner Einheits-Begierde!" Natürlich strebt die Philosophie nach Einheit; sie will nicht beim Gegebenen stehen bleiben. Töricht aber wäre es, die Formen unseres A u f f a s s e n s mit den Formen des G e g e b e n e n zu ver- wechseln, und die Erfahrung aus dem Erkenntnisvermögen abzuleiten. Das wäre so, als wollte man „demjenigen, der seine Schulden nicht bezahlen kann", den Rat erteilen, „er solle sich vor den Spiegel stellen und darin sein Angesicht be- trachten. Der Schuldner muß arbeiten, er muß erwerben; er darf nicht in müßiger Selbstbeschauung die Zeit verlieren".

Nicht minder töricht ist die Meinung, ein „ P r i n z i p " genüge, um das Einzelne zu erkennen. „Im Gegenteil: alles Einzelne will Stück für Stück von neuem, mit einer ihm b e s o n d e r s angepaßten Geschmeidigkeit des Denkens untersucht sein; oder man umarmt die Wolke statt der Juno".

Methodenpluralismus, Absonderung der Ä s t h e t i k (Lehre v o m Schönen und v o r den Musterbildern des W i l - lens) v o n der M e t a p h y s i k , der Gemütsbedürfnisse v o n den Erkenntnisforderungen, des Selbstbewußtseins von der Erfahrung, — das sind die Punkte) die H e r b a r t der dichtenden Philosophie entgegensetzt, jener Philo- sophie, die durch Schelling in den R a n g des „berühmten Goethesdien Märchens v o n den goldschüttenden Irrlich- tern und dem mächtigen Schatten des Riesen" erhoben w o r d e n sei.

Die Metaphysik ist eine „eisigte Insel". W e r ihr K l i m a mit Blumen und edlen Früchten verbessern möchte, v e r r ä t nur seine U n k u n d e in der Geographie.

„Eisigt" ist die Metaphysik hinsichtlich ihrer Ergebnisse, wie nach ihrem Zugang. Dieser ist die S k e p s i s , in den beiden F o r m e n „niederer" und „höherer" Skepsis, d. h. der Skepsis „unter Voraussetzung der gemeinen Weltansicht" (sind die Dinge so beschaffen, wie sie er-

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scheinen?), und der Skepsis, die daran zweifelt, über- haupt „feste Anfangspunkte unseres "Wissens" zu finden:

Solidität, Entfernung, leere Zeiten, Ursache, Zweck- mäßigkeit, Ich, alles dies ist „hinzugedacht"; die In- duktion ist Erschleichung, synthetische Urteile a priori sind unmöglich usf. Nach ihren E r g e b n i s s e n ist die Metaphysik klimatisch so unzuträglich, weil Herbart zwar zu einer letzten Vielheit von „Realen" gelangt, diesen aber nicht die Eigenschaften der Leibnizsehen Mo- naden gibt, sondern sie für qualitativ unerkennbar hält.

Die S k e p s i s hat recht, weil sie uns vor die W i - d e r s p r ü c h e führt, in denen wir das Gegebene den- ken. Die Probleme der Metaphysik, gerade als Probleme, die uns die Erfahrung aufgibt, sind d i a l e k t i s c h e . Das eben hat Hegel auch behauptet. „Nur eines scheint der berühmte Mann zu vergessen: des Columbus Ei muß geknickt werden, wenn es stehen soll." Die Wider- sprüche der Erfahrung hat- Hegel erkannt, aber er „be- sitzt eine, nicht eben beneidenswerte, Übung sie zu er- tragen." D. h. Hegels Methode, die Widersprüche immer weiter fortzuschiebeen, diese dialektische Methode, muß durch eine andere ersetzt werden: Herbart nennt sie die M e t h o d e d e r B e z i e h u n g e n , und ihren .Kunst- griff die zu f ä l l i g e n A n s i c h t e n . Wie man näm- lich in der Mathematik Gleichungen, die sich nicht auf- lösen lassen, umformt, so muß man in der Metaphysik widerspruchsvolle Begriffe so durch andere Begriffe e r g ä n z e n , daß sich der Widerspruch im Ganzen aufhebt. „Wenn ein Gegebenes nicht kann gedacht werden, so ist es deshalb nicht verurteilt, weggeworfen zu werden: sondern es muß im Denken anders gefaßt werden."

Es sind im wesentlichen vier „Widersprüche des Gege- benen", die Herbart in der Metaphysik untersucht und auf die drei Grunddisziplinen: O n t o l o g i e (Seinslehre), S y n - e c h o 1 o g i e (Lehre vom Zusammenhang) und E i d o 1 o - 1 o g i e (Lehre vom Trugbild des Ich bezw. vom Idealismus) verteilt. Der erste Widerspruch steckt im Begriff der S u b -

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Dialektik bei Herbart 135 s t a n z , als des einen Dinges mit vielen Merkmalen (Akzi-

denzen), die ihm inhärieren sollen (Inhärenzproblem). Der zweite im Begriff der V e r ä n d e r u n g bezw. des wirklichen Geschehens (Kausalität und Kraft). Der dritte, mit dem es die Synechologie zu tun hat, ist der Widerspruch des K o n - t i n u u m s , des gegebenen Stetigen, wie wir es im Raum- oder Zeitbegriff denken. Der vierte ist die sogenannte Iden- tität von Subjekt und Objekt im I c h b e w u ß t s e i n .

Dieser im Idibegriff enthaltene 'Widerspruch ist der ge- netisch und systematisch wichtigste. Denn Herbarts Meta- physik ist aus Ficbtes (erster) Wissenschaftslehre entstanden.

Und die „Lösung" der Ichdialektik ergibt die neue P s y - c h o l o g i e oder Metaphysik der Seele, die wiederum den Schlüssel zur Metaphysik des Seins bezw. der „Realen" bildet.

„Das Ich ist die ärgste aller Einbildungen, ein Objekt, das sich aufs Subjekt, ein Subjekt, das sich aufs Objekt beruft, keins, das auf die Frage: Wer? nicht verstummte; vorgeb- licher Zusammenhang ohne alles Zusammenhängende". Wie Kant fügt Herbart seiner Metaphysik eine „Widerlegung des Idealismus" ein; und Fichte gegenüber sagt er: „das Ich scharf denken, heißt, den Idealismus widerlegen. Hiermit beschul- digen wir Fichten, das Ich nicht scharf gedacht zu haben".

Daß Herbarts Seelenlehre, die dem Spuk des „Ich"

ein Ende bereiten soll, der Schlüssel zur Metaphysik ist, ergibt sich aus folgendem. Erstens ist die Psychologie

„realistischer" als die Naturwissenschaft. Unsere ein- fachen Vorstellungen, der „Grundstoff unseres Bewußt- seins", sind „wirkliches Geschehen in unserer Seele".

In der N a t u r w i s s e n s c h a f t aber hängt alles am Begriff der B e w e g u n g , die nicht wirklich geschieht, sondern nur für den „Zuschauer". Die materielle "Welt

„ist eine Scheinwelt; sie gehorcht der Mathematik und lebt wie diese von Widersprüchen; als ein wahres Reales kann Materie eben so wenig gedacht werden, wie die Bewegung als wirkliches Geschehen; aber die Gesetz- mäßigkeit des Scheins aus dem Realen zu erklären, das läßt sich leisten."

Zweitens ist auch die O n t o 1 o g i e auf die Psycho- logie angewiesen. „Eigentliche Ontologie ist keine selb- ständige Wissenschaft, und obgleich sie vom Sein redet,

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136 Die Gegner

so geschieht dies doch in höchst allgemeinen Begriffen, die nur den Wert von Abstraktionen haben." Das hat für Herbart den bestimmten Sinn, daß von der E m p f i n d u n g abstrahiert wird. Denn „seiend"

heißt, etwas so zu „setzen", wie ursprünglich das Empfundene gesetzt wurde. „Das Reale hängt an der Empfindung wie die Empfindung an der Seele als realer." Soll das kein Zirkel sein, so muß eben die

„Seele als reale" Grundlage und Modell aller nicht- seelisdien „Realität" sein.

Zwar ist Psychologie für Herbart schon „Fachwissenschaft".

Aber doch nicht ganz. Und gewiß nicht im Sinne späterer

„Psychologie ohne Seele". Ob wir zwischen analytischer und synthetischer, empirischer und rationaler Psychologie unter- scheiden, — in j e d e r Hinsicht ist die Psychologie „ange- wandte Metaphysik". Ergänzt die Metaphysik die wider- spruchsvollen Erfahrungsbegriffe durch „Beziehungen", so ergänzt die Psychologie die „innerlich wahrgenommenen Tat- sachen". Dabei steht der i d e a l i s t i s c h e A u s g a n g s - p u n k t für Herbart (wie für Fichte und Schopenhauer) außer Frage. „Wir haben gar keinen Gegenstand des Wissens als unsere Vorstellungen und uns selbst", — „wir sind in unseren Begriffen völlig eingeschlossen . . . Wer dies für Ide- alismus hält (wovon es ganz verschieden ist), der muß wissen, daß nach seinem Sprachgebrauch es gar kein anderes System gibt als Idealismus".

Kurz gefaßt: sind unsere Vorstellungen der „Grundstoff unseres Bewußtseins", so erweist die metaphysische Psycho- logie die „Vorstellungen" als dasjenige, wodurch die Seele

„ihr Wesen aufrecht hält", als S e l b s t e r h a l t u n g e n des vorstellenden Subjekts. Das Subjekt — nicht das Ich, sondern die Seele als einfaches, der Qualität nach unbekanntes Wesen — ist vorstellend, indem es S t ö r u n g e n widersteht. Vorstel- lungen sind so gleichsam Reaktionen, und setzen ein Ver- hältnis zwischen Mehreren, ein „Zusammen" voraus. Sie bilden nicht eine besondere Klasse seelischer Inhalte, sondern sind die elementaren Zustände der Seele selbst (allerdings verwendet Herbart den Vorstellungsbegrilff auch in kom- plexerem Sinne).

Das Weitere: die Auffassung der Vorstellungen als Kräfte, ihrer „Verdunkelung" als Bewegung, die Berechnung ihres

„Gleichgewichts", diese ganze S t a t i k und M e c h a n i k

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Herbarts Psychologie 1 3 7 der Vorstellungen, die Herbart entwickelt, gehört nicht mehr

hierher. Seinem Ausspruch, daß die Gesetzmäßigkeit im menschlichen Geist vollkommen der am Sternenhimmel gleicht, mag man zustimmen oder nicht, — seine mathematische Psy- chologie hat ihn nicht verifizieren können, und ist in Ver- gessenheit geraten.

Selbst die kürzeste Behandlung von Herbarts

„System", das weniger einem Organismus als einem Drahtgeflecht mit abstehenden Spitzen gleicht, dürfte nicht unerwähnt lassen, daß der entscheidende Punkt der am wenigsten geklärte ist. Herbart trennt Meta- physik als Wirklichkeitslehre und Ästhetik als Wert- lehre. Das Reale ist kein Gegenstand der Ästhetik, es hat keinen Wert; es gibt kein „Zusammen" von Wert und Realität. Die Qualitäten des Realen sind unerkenn- bar; die (praktischen) Ideen (als wichtigster Gegenstand der Ästhetik) sind „absolute Qualitäten". Diese werden in Herbarts dunkelster Schrift, der „Allgemeinen prak- tischen Philosophie", als Musterbilder des Willens auf- gestellt: Idee der inneren Freiheit, der Vollkommenheit, des Wohlwollens, des Rechts, der Billigkeit oder Ver- geltung (und daraus die „gesellschaftlichen" Ideen ab- geleitet: Rechtsgesellschaft, Lohnsystem, Verwaltungs- system, Kultursystem, beseelte Gesellschaft).

Kann aus dem Realen kein Wert, aus dem Sein kein Sollen folgen, und umgekehrt, — wie ist ethische Ver- wirklichung im Einzelnen (Tugend) und in der Gemein- schaft überhaupt möglich? Die Frage ist nicht peripher.

Denn sie ist die Grundfrage der P ä d a g o g i k , die Herbart auf Psychologie und praktische Philosophie be- zieht. Erziehung ist Charakterbildung; Bildung und Bildsamkeit sind die Grundbegriffe der Pädagogik.

Aber der Begriff der Bildung gehört auch in die Psychologie. Er gehört auch in die Naturphilosophie.

Er gehört mithin in die Metaphysik selbst. Die Seele ist ein System von Selbsterhaltungen; aus Störung und Selbsterhaltung ergibt sich eine Vielfalt innerer Zu- stände, die Vorstellungen „verwändein" sich in Streben,

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138 Die Gegner

Begehren, Trieb. Dies ist es, was Herbart die i n n e r e B i l d u n g (der Seele als einfachen Wesens) nennt, und zum „Typus" jedes anderen „auch unter den nicht vorstellenden Wesen" macht. Wie die Psychologie der Schlüssel zur Naturphilosophie, so ist die „innere Bil- dung" der Schlüssel zur Bildung (Organisation) der Lebewesen, der Materie überhaupt. Lebenskraft ist Bil- dungskraft, und die Lehre von der Bildung mündet in die T e l e o l o g i e .

Die Teleologie aber ist das Kreuz der Herbartischen Metaphysik. Es gibt keinen Ort im System für sie;

Zweckmäßigkeit ist kein metaphysisches Problem.

Zweckmäßigkeit ist das „unberührte Geheimnis". Hier grenzt Wissen an Glaube, Metaphysik an Religions- philosophie. Eine Ausführung der Religionsphilosophie selbst hat Herbart seinen Schülern überlassen (Taute, Drobisch, Schoel, Flügel), die sie in plumper und Her- barts Denken unwürdiger Weise vorgenommen haben.

Schopenhauers Stellung zum absoluten Idealismus be- stimmt sich durch seine eigene idealistische Auffassung, durch seinen Irrationalismus des „blinden" Willens, und durch seine Weigerung, den Gottesbegriff unter der Maske des „Absoluten" in die Metaphysik einzulassen.

In der ersten Hinsicht vertritt Schopenhauer, unter Be- rufung auf Kant, als dessen „größtes Verdienst" er die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung preist, einen subjektiven Vorstellungsidealismus, und unter Be- rufung auf Piaton, eine Lehre von der Idee als Objekt der Kunst (Ästhetik), die durch Schelling jedenfalls mit- bestimmt ist. In der zweiten Hinsicht verbindet er den romantischen Pessimismus und Nihilismus mit einer Philosophie am „Leitfaden des Leibes": die eigene Leib- lichkeit und Triebwelt (für die er eben das Wort: Wille einsetzt) erschließt das Verständnis a l l e r „Willens- ob jekti vationen ".

In der dritten Hinsicht ist ihm das Absolute, „dieses fast alleinige Thema der seit Kant versuchten Philoso-

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Herbarts Ideenlehre 139 phien", nichts anderes als der (von Kant widerlegte) kos- mologische Gottesbeweis incognito, eine zugedeckte leere Schlüssel. Von allem theistischen Inhalt abgesehen (der aber für Schopenhauer eben nur ein scheinbarer Inhalt und wesentlich Anthropomorphismus ist), ist das „Abso- lute" eine völlig unrechtmäßige Erhöhung des Prinzips der mittelbaren Erkenntnis: der Vernunft. Dies allein ist es, was Schopenhauer zum Verächter der i n t e l - l e k t u e l l e n A n s c h a u u n g macht.

Denn sowohl die Anschauung selbst, von der räumlich- geometrischen bis zur Anschauung der „Objektivations- stufen" (Potenzen) des Willens und der eigentlich ästhetischen Anschauung, als auch die Intuition, unmit- telbare Erkenntnis des „inneren Wesens der Welt", sind für Schopenhauer von größter Bedeutung. Nur nicht die Vernunftanschauung. Sie ist ein hölzernes Eisen. Und die Philosophie Hegels, die er freilich auch aus sehr persönlichen Gründen angreift, gilt ihm be- sonders deswegen als Monstrosität, weil in ihr die All- gemeinbegriffe „welche wir aus der empirischen An- schauung abstrahieren", zum „wahrhaft Realen" gemacht werden, — das „Absurdeste", welches die Welt je ge- sehen. (Daß Schopenhauer in der Erkenntnislehre von

„intellektualer Anschauung" spricht, bzw. die empirische Anschauung als von den apriorischen Anschauungs- formen bedingt erweist, hat natürlich mit seiner Polemik gegen die intellektuelle Anschauung des absoluten Idealismus nichts zu tun).

Aber noch viel näher steht Schopenhauer in Wirklich- keit dem „absoluten" Idealismus. Das ergibt sich aus der Entstehung seiner Philosophie, auf die im Zusam- menhange mit den Lebensdaten kurz einzugehen ist.

Schopenhauers L e b e n (1788—1860) ist so gewissenhaft durchforscht, und auch die kleinsten Züge seines persönlichen Verhaltens, Umgangs und Handelns sind uns durch seine Biographen (Grisebach, Gwinner, Damm, Hübscher u. a.) so genau überliefert, daß es genügt, sich auf die wichtigsten

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Daten, zu beschränken. Sein Bildungsgang unterscheidet sich von dem seiner großen Zeitgenossen wesentlich: der Vater, Heinrich Floris, Danziger Patrizier und Handelsherr, läßt ihm eine weltmännische Bildung angedeihen; der Knabe ver- bringt zwei Jahre in Frankreich und reist als Fünfzehnjäh- riger mit den Eltern nach Holland, England, Südfrankreidi.

Dann freilich muß er — widerstrebend — zu einem Ham- burger Kaufmann in die Lehre. Als der jähzornige und ge- mütskranke Vater 1805 stirbt, und die Mutter, zwanzig Jahre jünger, lebenslustig, klug, und von nicht geringer Intelligenz, nach Auflösung des Haushaltes in W e i m a r eine neue Heimat findet, wendet sich das Blatt. Mit 19 Jahren erhält Schopenhauer zuerst in Gotha, dann in Weimar Privatunter- richt, und am 9. Oktober 1809 wird er in G ö t t i n g e n im- matrikuliert.

Er beginnt als Mediziner, studiert dann bei G. E. Schulze (s. o.), der ihm rät, Piaton und Kant zu lesen, Aristoteles und Spinoza vorerst zu meiden. Da es ihn drängt, einen wirk- lichen Philosophen zu hören, geht er 1811 nach B e r l i n zu Fichte. Doch weder dieser nodi Schleiermacher kann ihn be- friedigen. Dafür entschädigt er sich an Philologie und Natur- wissenschaften. Durch die Kriegsereignisse behindert, zieht er sich nach R u d o l s t a d t zurück, wo er seine Dissertation vollendet, und sie dann in J e n a einreicht.

Die nächsten Jahre stehen im Zeichen seiner Bekanntschaft mit Goethe (der häufig im Hause der Mutter zu Gast war) und seiner Mitarbeit an Goethes Farbenlehre. (1816 erschien seine Schrift über das Sehen und die Farben). Aber der Bruch mit Johanna Schopenhauer, deren Privatleben dem Sohne mißfiel, und die, inzwischen zur gefeierten Tagesschriftstel- lerin geworden, nicht gewillt war, seine fortdauernde Kritik zu ertragen, treibt ihn aus Weimar (1814).

Der nun folgende Aufenthalt in D r e s d e n ist die Zeit der Konzeption des Hauptwerkes, das nicht zufällig aus Apho- rismen hervorging, und in dieser wie in vielen anderen Hin- sichten romantischen Charakter besitzt. Im März 1818 vol- lendet, erhält es der Verlag Brockhaus, bei dem es im De- zember 1818 (mit der Jahreszahl 1819) erscheint. Das Werk des Dreißigjährigen ist ein Jugendwerk, vergleichbar Kants

„Naturgeschichte des Himmels". Obzwar Schopenhauers Ent- wicklung damit nicht abgeschlossen ist, hat er doch zeitlebens an den früheren Formulierungen festgehalten und gleichsam sich selbst kanonisiert. Als er später (1843) unter vielen

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Schopenhauers Leben 141 Schwierigkeiten eine zweite Auflage durchsetzte, ergänzte er

das Werk durch einen zweiten Band, anstatt diesen unter neuem Titel erscheinen zu lassen. Und die Schriftensammlung von 1850, die endlich den heißersehnten Ruhm herbeiführt, nennt er „Parerga und Paralipomena", —• immer die Fiktion bewahrend, daß er die „Wahrheit" einmal entdeckt und sie nie verlassen habe.

Im September 1818 reist er nach I t a l i e n , muß aber im Juni 1819 von Mailand zurückkehren, da das Danziger Hand- lungshaus, bei dem er einen Teil seines Vermögens angelegt hatte, in Konkurs geraten ist. Jetzt erst entschließt er sich, die Universitätslaufbahn zu ergreifen. Ein unglücklicher Stern führt ihn nach B e r l i n , wo er sich im März 1820 habilitiert.

Alle weiteren Daten: der fruchtlose Wettbewerb mit Hegel, der Verzicht, die Flucht vor der Cholera (1833), die immer wieder scheiternden Bemühungen um die Gunst des Publikums,

— dies, und die Gestalt des alternden Schopenhauer mit seinem vom Ressentiment zerfressenen Sendungsbewußtsein, ist so bekannt, daß darüber nichts berichtet zu werden braucht.

Als er am 20. September 1860 in Frankfurt stirbt, hat er sein irdisches Ziel erreicht, — in einer der Metaphysik ent- fremdeten Zeit, die für den „einzigen Gedanken" seines Lebens kein Verständnis mehr aufbringt.

Schopenhauer, der das treffende Wort prägte, die Systeme seien „so ungeselliger Natur wie die Spinnen, deren jede allein in ihrem Netze sitzt, und nun zusieht, wie viele Fliegen sich werden darin fangen lassen, aber einer anderen Spinne nur, um mit ihr zu kämpfen, sich nähert", ist in dieser Hinsicht selbst eine wahre Giftspinne. Nicht allein seine Urteile über die zeitgenössischen Denker sind voller Bosheit und Unge- rechtigkeit, auch sein eigenes System hat er von allen Spuren unliebsamer Beeinflussung gereinigt, und die Entwicklung seines Denkens vor 1818 unkenntlich gemacht. Nachdem E. v. Hartmann zuerst die Abhängigkeit Schopenhauers von Schelling, Fichte, Bouterwek, Solger nachgewiesen, und Gri- sebach den von Frauenstädt verzettelten Nachlaß gesammelt hatte, konnte die Schopenhauerforschung ein immer deut- licheres Bild von dem jungen Schopenhauer und seinen Bezie- hungen zum absoluten Idealismus gewinnen.

Darüber ist hier nur anzudeuten, daß Schopenhauer, der schon in Hamburg romantischer Dichtung (Tieckj zugetan war, zu Beginn seines Göttinger Studiums mit der Lektüre von Schelling beginnt (Weltseele), dann Piaton liest (immer

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142 Die Gegner

in Verbindung mit weiterer Schelling-Lektüre) und sich am 16. Oktober 1810 Kants Prolegomena entleiht; sein gründ- licheres Jfanistudium fällt jedoch in die Berliner Studienzeit.

Auch mit Aristoteles und natürlich mit Schutzes „Kritik der theoretischen Philosophie" befaßt er sich in Göttingen, während er Spinoza erst 1813 in "Weimar kennen lernt. Daß der Einfluß Fichtes nicht negativ gewesen sein kann, wie aus Schopenhauers Randbemerkungen hervorgeht, zeigte schon Herbart (1820), der auf Obereinstimmungen mit Fichtes Sittenlehre hinwies. Bouterwek war Professor in Göttingen:

sein „Virtualismus", der von der Selbsterfassung des Men- schen im „Willen" ausgeht, daraus die Interpretation aller Dinge als „Kräfte" fordert und hierfür eine das bloße

„Denken" übersteigende unmittelbare Erkenntnis (Jacobi) zu Hilfe nimmt, mußte für Schopenhauers „Voluntarismus"

ebenso aufschlußreich sein wie die (ebenfalls von Jacobi bestimmte) Unterscheidung zwischen unmittelbarer Seins- erkenntnis durch Anschauung und mittelbarer durch Begriffe bei Schulze selbst.

Wichtig ist jedenfalls die Aufschichtung: Schelling — Piaton

— Kant, das Übergewicht der Ideenlehre (die im System selber nur in rudimentärer Form auftritt), die Herkunft auch des Schopenhauerschen Vorstellungsidealismus aus Piaton, die Wendung des Jahres 1811 (Berlin), dem „Ding an sich"

Kants einen positiven Inhalt zu geben, und die schließliche Verdrängung des „besseren Bewußtseins" durch den „Willen".

Dieses „ b e s s e r e B e w u ß t s e i n " ist der Grund- begriff von Schopenhauers Jugendphilosophie. Es steht dem empirischen, zeitverhafteten Bewußtsein gegenüber.

Es ist das Licht, die Tugend, der „heilige Geist". Es kann sich entweder von innen, von selbst und frei erheben. Das ist der eine Weg. Oder aus dem Drang und der Qual des Weltseins, aus immer tieferer Ver- strickung in „Laster und Sünde, in Tod und Nichtigkeit"

hervorgehen. Das ist der andere Weg, den Schopenhauer hernach als Umkehr des Willens zum Leben durch Askese und Mortifikation beschreibt. Das bessere Be- wußtsein, der „Friede Gottes", bedeutet, daß wir uns nicht mehr als endliche, hinfällige Wesen, sondern „als etwas ganz anderes" bewußt werden. Es steht der Welt entgegen, „will sie n i c h t". „Mit dem Eintritt des

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Schopenhauers Quellen 143 besseren Bewußtseins verschwindet jene ganze Welt wie ein leichter Morgentraum, wie ein optisches Blendwerk",

—• hier ist die „Freiheit, die Möglichkeit selbst theore- tisch die Welt zu vernichten."

Daß diese Auffassung nicht nur romantischer Idealis- mus, sondern auch eine P h i l o s o p h i e d e s A b - s o l u t e n ist, liegt auf der Hand. Das bessere Be- wußtsein, heißt es in einer Randbemerkung zu Kants

„Prolegomena", ist die „absolute Erkenntnisweise"

gegenüber der bedingten des Verstandes. Und in einer Aufzeichnung zu Schelling bemerkt Schopenhauer: „In- sofern der Mesch dem Absoluten sich unbedingt nähert (wie er kann und soll) w e i ß er nicht vom Absoluten, sondern i s t das Absolute selbst."

Hält man daneben den späteren Satz (Parerga II):

das Absolute, als dasjenige, „was nie entstanden sein, noch jemals vergehen kann, woraus hingegen alles, was existiert, besteht und geworden ist", sei nicht in imaginären Räumen zu suchen, „sondern es ist ganz klar, daß jenen Anforderungen die M a t e r i e gänzlich ent- spricht", so hat man Anfang und Ende der Philosophie Schopenhauers beisammen. In der Tat bewegt diese sich vom a b s o l u t e n I d e a l i s m u s zum M a t e r i a - l i s m u s , und die wichtigsten Stationen sind dabei: die Identifikation der platonischen Idee mit Kants Ding an sich; des Dinges an sidi mit dem „Willen"; des

„Willens" mit dem Leibe; der „Vorstellung" mit der Gehirnfunktion, und die dadurch mögliche „Über- setzung" des Vorstellungsidealismus in Materialismus (wobei neben dieser Bewegung noch eine weniger deut- liche vom reinen M o n i s m u s zum I n d i v i d u a - l i s m u s einhergeht).

Das System von 1818 selbst gliedert sich bekanntlich in vier Teile, von denen zwei die Welt als Vorstellung, und zwei die Welt als Wille behandeln. Die „ V o r - s t e l l u n g " tritt im ersten Buch auf als „Objekt der Erfahrung und Wissenschaft", und in diesen Teil hat Schopenhauer die Ergebnisse seiner Dissertation über die

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144 Die Gegner,

„vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde"

(1813; zur Identifikation des Willens mit dem Ding an sich kommt es erst 1814) hineingearbeitet. Sie tritt ferner im dritten Buch auf als vom Satz des Grundes unabhängiges „Objekt der Kunst". Der „ W i l l e "

wird im 2. Buch in seiner „Objektivation" betrachtet, im 4. Buch dagegen in seiner ethischen Qualifikation: sich selbst „verneinen" zu können. Dieses ist die eigentliche Erlösungslehre Schopenhauers; das dritte Buch enthält die Ideenlehre bzw. Ästhetik; das erste die Erkenntnis- lehre (Dianoiologie); das zweite den Zugang zur Meta- physik und die Naturphilosophie.

Die P r o b l e m k r e i s e , die Schopenhauer bearbeitet, fügen sich dieser Gliederung nicht ganz. Es sind jeweils be- stimmte Schauweisen, die nach und auch nebeneinander zur Geltung gelangen; von einer begrifflichen Entwicklung im Sinne Fichtes, Schellings oder gar Hegels kann bei Schopen- hauer keine Rede sein. Die d i a n o e t i s c h e Schau ordnet die 4 Objektklassen (Andiauungsgegenstände, Begriffe, mathe- matische Gegenstände, innere Gegenständlichkeit) den ver- schiedenen Formen des „Satzes vom Grunde", d. h. der apri- orischen Verstandesfunktion zu. Die m o r p h o l o g i s c h e Schau erstreckt sich auf die „Ideen" als Urtypen der Natur, wobei die Natur selbst als Stufenreich im Sinne Schellings gedacht wird. Die ä s t h e t i s c h e Schau betrifft ebendiese

„Ideen" als Objekte der Kunst bezw. künstlerischen Dar- stellung. Systematisch heimatlos ist dagegen die anthropolo- gische Schau oder das Bild vom Menschen in seiner Trieb- haftigkeit, Intelligenz, Durchschnittlichkeit und „Übermensch- lichkeit" (Genie), mit dem es Schopenhauer eigentlich ständig zu tun hat, und auf dessen Schilderung der Reiz seiner Dar- stellung vornehmlich beruht.

Eng damit verbunden ist die a x i o l o g i s c h - p e s s i - m i s t i s c h e Schau, die meist als Kennzeichen von Schopen- hauers I r r a t i o n a l i s m u s gilt, aber doch eben nur, weil sie nicht bloß anthropologisch ist, sondern das Leben selbst, die Willenswelt überhaupt betrifft. Der „blinde" Wille ist nicht wertindifferent, sondern böse: der Lebensdrang führt zum Kampf ums Dasein, insofern jedes Individuum das andere zu unterdrücken und zu zerfleischen sucht (dies die R e a l d i a l e k t i k Schopenhauers); Lust und Unlust lassen sich nicht gegeneinander aufrechnen, weil der einzige positive

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Schopenhauers System 145 Zustand die Unlust bezw. der Schmerz, und die Lust (das

Glück) nur Mangel an Unlust, mithin negativ ist; Schmerz und Langeweile sind die Pole, zwischen denen das (mensch- lidie) Leben spielt. Daß dieser Strukturzusammenhang, der auch auf die menschliche G e s c h i c h t e übertragen und zur Kritik aller historischen „Entwicklung" verwendet wird, nicht ausreicht, um das menschliche „Dasein" zu beschreiben, ist klar. Er betrifft eben nur den Menschen in seiner Endlichkeit, Hinfälligkeit, nicht jenes „bessere Bewußtsein", das in der ästhetischen Kontemplation zur partiellen, in der Akese zur totalen Verneinung des triebhaften „Willens" führt, und m dieser Form im System selbst beibehalten ist.

Wenn wir diese letzte Schau — unter Absehen von der eigentlich m o r a l i s c h e n , die den Sinn alles sittlichen Handelns in der Nächstenliebe bzw. im Mitleid erblickt — als die r e l i g i ö s e bezeichnen, so ist dafür entscheidend, daß die „Verneinung" des Willens zum Leben nicht nur aktmäßig von religiöser Bedeutung ist, sondern auch auf einen religi- ösen Inhalt verweist: das Nichts, in das der durch Selbster- kenntnis und Heiligung verneinte bezw. geläuterte Wille zu- rückkehrt, ist eben ein positives Nichts, das Nichts der Mystik, das nicht mehr im Bereiche möglicher Erkenntnis liegt. Daß dies genau der Punkt ist, zu dem nicht nur Eckc- hard gelangte, den Schopenhauer preist, sondern auch Fichte, den er herabsetzt, ist ein Beweis mehr dafür, wie auch Scho- penhauer, der Gegner des absoluten Idealismus, die letzte Intention der „Philosophie des Absoluten" auf seinem Wege erreichte.

Literatur

I. Ausgaben und Neuausgaben

a) Fries: Siehe Seite 126; Neuausgaben: Neue oder anthropo- logische Kritik der Vernunft I—II, Berlin 1935; Julius und Evagoras, Göttingen 1910 (ed. BOUSSET); System der Logik, Leipzig 1914; Philosophische Rechtslehre, Leipzig 1914; Wissen Glaube und Ahndung, 2. Aufl., Berlin 1931 (ed. L. NELSON).

b) Herbart: Siehe Seite 132; Neuausgaben: Lehrbuch zur Ein- leitung in die Philosophie, Leipzig 1912 (ed. HÄNTSCH);

Philosophische Hauptschriften, hrsg. von FLÜGEL und FRITZSCH I—III, Leipzig 1914; Pädagogische Schriften, hrsg. von WILLMANN und FRITSCH I — I I I , O s t e r w i e c k (Harz) 1913 ff.; Pädagogische Schriften, hrsg. von BARTHOLOMÄI I — I I , L a n g e n s a l z a 1 8 8 3 .

Lehmann, Philosophie VIII 10

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146 Die Gegner

c) Schopenhauer: Außer den im Text angegebenen Ausgaben noch die bei Reclam erschienene (ed. E. GRISEBACH),

die auch den handschriftlichen Nachlaß umfaßt, aller- dings nicht vollständig, sowie die Ausgabe von

FRISCHEISEN-KÖHLER in 8 Bänden (Berlin o. J . ) . Ferner die Jubiläumsausgabe bei Brockhaus, Leipzig 1 9 3 7 / 3 8 ;

Gespräche und Selbstgespräche (ed. G R I S E B A C H) , Berlin

1 8 9 8 ; Briefe (ed. GRISEBACH) bei Reclam, ebenfalls unvollständig.

II. Monographien

a) Fries: Th. ELSENHANS, Fries und Kant I—II, Gießen

1 9 0 8 . — J . HASENFUSS, Die Religionsphilosophie bei

J . Fr. Fries, (Diss.), München 1 9 3 4 . — M. H A S S E L - BLATT, J . Fr. Fries, München 1 9 2 2 . — E. L. Th.

HENKE, J . Fr. Fries, Leipzig 1 8 6 7 . — W . MECHLER,

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b) Herbart, H. LANGENBECK, Die theoretische Philosophie Herbarts und seiner Schule, Berlin 1 8 6 7 . — G . W E I S S ,

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