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Archiv "Syrien: Der Tod ist allgegenwärtig" (03.10.2014)

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A 1694 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 111

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Heft 40

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3. Oktober 2014

M

it versteinerter Miene saßen sie im Behandlungszelt vor mir: Die beiden Eltern, die deutlich älter wirkten als ihre 20 Jahre, und der einjährige Sohn Said, der seit Tagen erbrach, ebenso wie sein äl- terer Bruder Hussein, der an Fieber, Husten und Erbrechen litt. Fünf Ta- ge zuvor hatte die Flucht der ein - fachen Arbeiterfamilie in der Nähe von Aleppo begonnen. Seit Aus- bruch der Krise waren sie sechsmal innerhalb Syriens umgezogen, im- mer auf der Suche nach einem si- cheren Ort. Bei einer der unzäh - ligen Straßensperren wurden sie festgenommen, die Augen wurden ihnen verbunden, sie wurden gefes- selt und gefoltert. Weil sie politisch unverdächtig waren, ließ man sie frei. Die weitere Flucht zwang sie zum illegalen Grenzübertritt in die Türkei, nur diese Wege gen Osten sind einigermaßen ungehindert pas-

sierbar, dann wieder zurück nach Syrien und am frühen Morgen in den Irak. Völlig erschöpft, trauma- tisiert und krank kamen sie in un- ser Zelt und stellten doch keinerlei Ansprüche, saßen still und beschei- den vor uns und hätten ohne unse- re Nachfragen nichts berichtet von ihrer fürchterlichen Odyssee. Ähn- liche Geschichten erlebten fast al- le Flüchtlinge aus dem kriegsge- schundenen Land.

Hunderttausende fliehen Von Mitte August bis Mitte Septem- ber 2013 war ich im Dreiländereck Syrien-Irak-Türkei tätig. Innerhalb der vier Sommerwochen, in denen dieser entlegenste Grenzübergang geöffnet war, verließen mehr als 60 000 Syrer in der größten Flücht- lingswelle seit Ausbruch des Kon- fliktes vor mehr als drei Jahren das Land. Zunächst überquerten einige

Tausend Syrer die Peshkabour- Grenze, dann etwa 1 000 täglich.

In unserem Behandlungszelt konn- ten wir 850 Flüchtlinge medizi- nisch behandeln. Viele von ihnen waren erschöpft vom kilometer - langen Marsch durch die schatten - lose Wüste mit Temperaturen von mehr als 50 Grad, im Niemandsland zwischen den Grenzposten, andere kamen mit Verletzungen und chro- nischen Erkrankungen. Es sind dra- matische, oft emotionale Geschich- ten, von denen die Flüchtlinge be- richteten. Junge Mütter warteten in der Heimat nur die Geburt ihres Kindes ab und machten sich dann Stunden später auf den Weg. Eine Familie mit sieben Kindern, das jüngste und zweitjüngste waren auf der langen Flucht mit Fieber und Durchfall erkrankt, harrten ohne Essen und Trinken die vergangenen 24 Stunden am Grenzposten aus.

SYRIEN

Der Tod ist allgegenwärtig

Zurzeit dominiert in der Berichterstattung über Syrien der Kampf gegen den Terror des IS.

Dabei gerät die humanitäre Katastrophe, die der Bürgerkrieg ausgelöst hat, in den Hintergrund.

Fotos: dpa

T H E M E N D E R Z E I T

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A 1696 Deutsches Ärzteblatt

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3. Oktober 2014 Medizinisch waren die Heraus-

forderungen meist zu bewältigen, selten aber wurde mir in einem Pro- jekt die Notwendigkeit der komple- xeren humanitären Hilfe deutlicher:

die Flüchtlinge nach ihrem Befin- den fragen, geduldig zuhören, nach Monaten unfasslichen Leides einen Moment menschlicher Zuwendung zeigen. Als ich eine alte Frau frag- te, der medizinisch nichts zu fehlen schien, wie es ihr ginge, fing sie still an zu weinen – wie lange hatte sie das keiner mehr gefragt?

Das größte Flüchtlingslager Do- miz im Nordirak ist mit weit mehr als 40 000 Bewohnern längst wegen Überfüllung geschlossen, aber im- mer noch drängen weitere hinzu.

Ärzte ohne Grenzen betreibt die Klinik im Camp, wo wir täglich Hunderte Konsultationen durchfüh- ren. Neben den somatischen Krank- heiten erleben wir auch hier das seelische Leid und die wachsende Frustration über die ausbleibenden Zukunftsoptionen. Unsere Psycho- logen berichten von traumatisierten Kindern, die in ihrem Leben nur den Krieg kennenlernten.

Täglich entstanden zudem neue provisorische Flüchtlingsunterkünf- te. Trotz aller Hilfsbereitschaft der irakischen Bevölkerung und Be - hörden ist vor allem das Gesund- heitssystem mit dem fortdauern- den Zustrom der Flüchtlinge über- fordert. Einige von ihnen kehren enttäuscht über die schlechten Aufnahmebedingungen und unzu- reichende Krankenversorgung in ihr Bürgerkriegsland zurück.

Eine Höhle als OP

Ärzte ohne Grenzen betreibt seit Juni 2012 Krankenhäuser und Ge- sundheitszentren im Norden von Syrien. In den Einrichtungen der Organisation wurden bisher mehr als 10 000 chirurgische Eingriffe und mehr als 63 400 Notaufnahmen durchgeführt. Fast 110 000 Patien- ten wurden ambulant behandelt und knapp 2 400 Geburten begleitet.

Ärzte ohne Grenzen unterstützt außerdem 48 Krankenhäuser sowie 38 Gesundheitsposten, die von syri- schen Ärzte-Netzwerken in sieben Provinzen betrieben werden. In Irak, Jordanien und dem Libanon

hat Ärzte ohne Grenzen umfangrei- che medizinische Hilfsprogramme für syrische Flüchtlinge. Bisher wurden in diesen Ländern mehr als eine halbe Million medizinische Behandlungen durchgeführt.

2012 waren wir das zweite Team von Ärzte ohne Grenzen, das nachts zu Fuß nach Syrien einreiste, nach- dem zuvor ein Erkundungsteam in den Akkrad-Bergen den medizini- schen Bedarf ermittelt hatte. Jetzt war es unsere Aufgabe, in einer Höhle eine chirurgische Klinik ein- zurichten, um dort Verletzte schnell und sicher operieren oder zumin- dest stabilisieren zu können. Denn unzählige Verletzte sind in dieser Gegend schon auf der Flucht ver- blutet oder an der Grenze verstor- ben, wenn diese geschlossen war.

Zunächst beeindruckte die schö- ne Bergwelt. In den sonnig-warmen

Obstgärten waren die Landwirte damit beschäftigt, die pflückreifen Äpfeln, Feigen und Trauben zu ernten, und sie begegneten uns mit warmherziger Gastfreundschaft.

Der zweite Eindruck war der des allgegenwärtigen Todes. Denn von zwei etwa 30 Kilometer entfernten Berghöhen feuerten Armeepanzer Bomben und Raketen in unregelmä- ßigen Abständen in die Berge, kaum ein Haus oder eine Straße waren un- versehrt geblieben. Die Höhle war 20 mal 13 Meter groß und vier Me- ter hoch, die robuste Felsdecke soll- te uns Schutz bieten. Wir entschie- den, im oberen Bereich die Notauf- nahme und postoperative Behand-

lungseinheit einzurichten und in der unteren Etage ein aufblasbares Zelt zu installieren, um dort unter steri- len Bedingungen operieren zu kön- nen. Die nächsten Tage verbrachten wir mit dem Ausbau der Höhle. Ne- benher behandelten wir Patienten, fast ausschließlich Zivilisten aus der Umgebung, die mit Kriegsverlet- zungen zu uns kamen, aber auch mit chronischen Erkrankungen, wie Bluthochdruck oder anhaltenden Bauchschmerzen. In den Patienten- gesprächen zeigten aber fast alle auch Anzeichen von seelischen Traumatisierungen, zudem ver- schlimmerten die Kriegsängste die chronischen Beschwerden. Erschre- ckend war das Leid der Zivilbe - völkerung zu erleben und wie lange sie schon von der Strom- und Was- serversorgung abgeschnitten war.

Auch die Essensvorräte gingen im- mer wieder zur Neige, und ein zweiter kalter Winter stand bevor.

Benzin für Generatoren musste in kleinen Kanistern über die Grenze geschmuggelt werden und auch Mehl für das tägliche Brot.

Ruhe und Überforderung Eine alte Frau wurde zu uns ge- bracht, deren Hinterkopf durch ei- nen Bombensplitter weggesprengt wurde. Bei Ankunft lag sie bereits im Koma und starb innerhalb weni- ger Minuten. Eine junge Frau, die einen Flankenschuss erlitten hatte, klagte über stärkste Schmerzen, und in ihren Augen flackerte Todes- angst. Das sind unvergessliche Bil- der. Andere Patienten kamen mit Bauchschüssen oder Knochenver- letzungen und viele zur täglichen Wundreinigung oder zum Verband- wechsel.

Anders als in Epidemiegebieten wechselten sich für uns Momente der Ruhe und der Überforderung ab, denn die Verletzten kamen nicht kontinuierlich, sondern oft in Grup- pen und manchmal nachts. Täglich kreisten Helikopter über den Ber- gen. Für die Nacht wechselten wir aus Sicherheitsgründen immer wie- der das Quartier, denn Ärzte und Kliniken werden weiterhin gezielt

angegriffen.

Dr. med. Tankred Stöbe Präsident von Ärzte ohne Grenzen Deutschland

Neben somatischen Krankheiten erleben wir das seelische Leid und den Frust über fehlende Zukunftsoptionen.

Im Einsatz für die syrischen Flücht- linge: Ärzte ohne Grenzen betreibt seit 2012 Hilfspro- jekte im Irak, in Jordanien und dem Libanon. Hier deren Präsident Tankred Stöbe (M.)

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