Diskothek: Welte Mignon – eine pianistische Zeitreise. 2. Teil
Montag, 26. April 2021, 20.00 - 22.00 Uhr, SRF 2 Kultur
Samstag, 1. Mai 2021, 14.00 - 16.00 Uhr, SRF 2 Kultur (Zweitsendung) Gäste im Studio: Manuel Bärtsch, Tomas Dratva und Peter Hagmann Gastgeberin: Eva Oertle
Es ist eine Art Jukebox aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts, ein seltsames Wesen zwischen
Instrument und Automat - das Welte Mignon. Ein Klavier, dessen Tasten sich wie von unsichtbarer Hand berührt bewegen. Es erklingt, ohne dass ein Mensch daran sitzt.
Als die Aufnahme und Wiedergabe von Musik noch in den Kinderschuhen steckte, ist der Firma Welte eine geniale Erfindung gelungen: Sie hat im Jahr 1904 ein Verfahren vorgestellt, bei dem das Klavierspiel von berühmten Komponisten und Interpreten äusserst genau auf Papierrollen festgehalten wird. In einem speziellen Apparat, dem sogenannten Welte Mignon, wird es dann wieder zum Klingen gebracht.
Komponisten wie Maurice Ravel oder Claude Debussy, Max Reger oder Sergey Rachmaninov haben für Welte aufgenommen, aber auch berühmte Pianisten der Jahrhundertwende wie Arthur Schnabel, Emil Sauer oder Alfred Reisenauer.
In der Diskothek haben wir so die Möglichkeit, u.a. Claude Debussy selbst als Pianist zu hören und mit modernen Interpretationen zu vergleichen. Was zeichnet das Spiel dieser Musiker aus den Anfängen des 20.Jahrhunderts aus? Welche Erkenntnisse können wir für einen heutigen Interpretationsansatz daraus gewinnen?
Gäste von Eva Oertle in diesen zwei Spezialausgaben der Diskothek sind der Musikkritiker Peter Hagmann und der Pianist Tomas Dratva sowie der Pianist und Klavierrollenspezialist Manuel Bärtsch.
1.Teil: Musik von J.S. Bach, L. van Beethoven, Johannes Brahms und Robert Schumann 2.Teil: Musik von Frédéric Chopin, Camille Saint-Saens, Claude Debussy und Franz Liszt
Die Aufnahmen:
Camille Saint-Saëns: Valse nonchalante
Aufnahme Saint-Saëns 1:
Bertrand Chamayou, Klavier Label: Erato (2018)
Aufnahme Saint-Saëns 2:
Anne Queffélec, Klavier Label: Mirare (2016)
Aufnahme Saint-Saëns 3:
Camille Saint-Saëns, Welte-Mignon WR 796
Label: Tacet 159 (2008)
Frédéric Chopin: Nocturne op. 27 Nr. 2
Aufnahme Chopin 1:
Arthur Rubinstein, Klavier Label: RCA (1984)
Aufnahme Chopin 2:
Vladimir Pachmann, Welte-Mignon WR 1218 (1906)
Emulation: Peter Phillips
HKB Bern, www.magic-piano.ch
Aufnahme Chopin 3:
Jozef Kazimierz Hofmann, Welte-Mignon WR 668 (1905)
Emulation: Peter Phillips
HKB Bern, www.magic-piano.ch
Aufnahme Chopin 4:
Theodor Leschetizky, Welte-Mignon WR 1194 (1906)
Emulation: Peter Phillips
HKB Bern, www.magic-piano.ch
Aufnahme Chopin 5:
Yundi Li, Klavier Label: EMI (2010)
Aufnahme Chopin 6:
Emil von Sauer, Welte-Mignon WR 879 (1905)
Emulation: Peter Phillips
HKB Bern, www.magic-piano.ch
Claude Debussy: Valse la plus que lente
Aufnahme Debussy 1:
Stephen Kovacevich, Klavier Label: EMI (2000)
Aufnahme Debussy 2:
Claude Debussy, Welte-Mignon WR 2736
Label: Tacet 166 (2009)
Aufnahme Debussy 3:
Jean-Efflam Bavouzet, Klavier Label: Chandos (2008)
Franz Liszt: Rumänische Rhapsodie Nr. 12
Aufnahme Liszt 1:
Arthur Friedheim, Welte-Mignon WR 198 (1905)
Emulation: Peter Phillips
HKB Bern, www.magic-piano.ch
Aufnahme Liszt 2:
Alfred Reisenauer, Triphonola Emulation: Sebastian Bausch HKB Bern, www.magic-piano.ch
Aufnahme Liszt 3:
Bernhard Stavenhagen, Welte-Mignon WR 1033 (1905)
Emulation: Peter Phillips
HKB Bern, www.magic-piano.ch
Aufnahme Liszt 4:
Valentina Lisitsa, Klavier Label: Decca (2013)
Das Resultat:
Oft würde man gerne wissen, wie es denn geklungen hat, wenn die Komponisten um 1900 ihre eigenen Klavierwerke aufgeführt haben. Dank Welte-Mignon ist es möglich, z.B. Claude Debussy oder Camille Saint-Saëns ihre eigenen Stücke spielen zu hören. Was dabei besonders auffällt, ist die grosse Freiheit, die sich die Komponisten nehmen. Gerade Debussy geht in seiner «Valse la plus que lente» z.T. sehr
unbekümmert mit dem eigenen Notentext um, lässt sogar einige Passagen einfach weg.
Auch die Pianistinnen und Pianisten, die Werke anderer Komponisten aufführten, gingen damals viel weniger textgetreu mit den Partituren um, sie empfanden sich als Schöpfer zweiter Art und erlaubten sich grosse Temposchwankungen, starke Ritardandi, schnelle Accelerandi, überlange Triller etc.
Und man stellt eine typische Charakteristik des Klavierspiels um 1900 fest: die Asynchronität der linken und rechten Hand. Zudem sind die kleinen, durch die Mechanik bedingten Stocker sowie die etwas eingeebnete Dynamik (es gibt dynamisch nur je einen Diskant- und einen Basssektor) typische Merkmale für die Welte-Aufnahmen. Spannend ist z.B. der Pianist Bernhard Stavenhagen, der in seiner
fantasievollen Interpretation von Franz Liszt’ Ungarischer Rhapsodie Nr.12 sogar eigene kleine Passagen einbaut.