A2002 Deutsches ÄrzteblattJg. 104Heft 276. Juli 2007
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m Morgen des 28. Dezember 1937 schlief Maurice Ravel nach längerer Krankheit ohne Schmerzen ein. Ravel litt an der Pick-Krankheit. Arnold Pick (Prag) beschrieb erstmals 1892 eine spezi- elle degenerative Hirnerkrankung mit umschriebener Atrophie im Frontal- und/oder Temporallappen sowie Beteiligung sowohl der grau- en als auch der weißen Substanz, da- her auch die Bezeichnung lobuläre Sklerose. Die Ventrikel sind später hydrozephal vergrößert.Ravel beobachtete an sich seit 1918 eine zunehmende Schlaflosig- keit, ein vorzeitiges Ergrauen der Haare und seit 1927 apraktische Störungen mit Aphasie, Alexie und Agrafie. Anfang der 30er-Jahre traten Konzentrationsstörungen, Antriebs- losigkeit und Depression hinzu. In den letzten Jahren kam es zunehmend zu einer Sprachverarmung. Er verlor also ganz langsam seine Fähigkeit, zu sprechen und Klavier zu spielen. Der französische Neurologe François Boller beschrieb es so: „Er verlor nicht die Fähigkeit, Musik zu kompo- nieren, sondern er verlor die Fähig- keit, sie auszudrücken.“
Maurice Ravel, geboren am 7.
März 1875, war der Sohn des Ingeni- eurs Joseph Ravel, einem Pionier des Automobilbaus. Mit seinem Bruder Edouard wuchs er in gesi- cherten Verhältnissen auf. Mit 14 Jahren besuchte er das Pariser Kon- servatorium. In der Kompositions- klasse war sein Lehrer Gabriel Fauré. Fauré ließ keine Gelegenheit aus, ihn ständig zu ermutigen und zu fördern. Ravel galt als „sehr begabt, fleißig und sehr intelligent“. 1905 verließ er das Konservatorium. Es folgte eine schöpferische Phase mit solch bedeutenden Werken wie
„Rapsodie espagnole“, „Ma Mère l'Oye“ („Meine Mutter, die Gans“),
„Daphnis et Chloé“ und die „Sona- tine“. Mit 33 Jahren befand er sich bereits auf dem Zenit seiner Karriere als Meister origineller Orchester- musik. Er begann als Impressionist, ging durch die Spätromantik und ge- langte in eine Art von Neoklassik.
Von Anfang an hatte Ravel einen individuellen Stil gepflegt, den er
während seiner Schaffensjahre we- nig veränderte. Seine wohl berühm- teste Komposition von 1928 ist der
„Boléro“. Diese Ballettpartitur hatte einen kometenhaften Aufstieg zu einer Popularität, die in der klassi- schen Musik selten zu finden ist.
Trotz aller Erfolge bereitete ihm sein Gesundheitszustand wachsen- de Sorge. Er fühlte sich von Tag zu Tag müder und verbrachte die Nächte ohne Schlaf. In der Phase zwischen Hoffnung und Mutlosig- keit erhält Ravel 1929/1930 den Auftrag des Wiener Pianisten Paul
Wittgenstein (der im Ersten Welt- krieg seinen rechten Arm verloren hat) für ein Konzert für die linke Hand, und er nimmt an. Parallel ent- stand noch ein anderes Klavierkon- zert in G-Dur. Mitte 1933 bereitete es Ravel unerklärliche Mühe, zu schreiben und zu unterzeichnen.
Manche Gebärden, manche Worte gehorchten nicht mehr ganz seinem Willen. Ravel beklagte sich selbst
darüber, „im Nebel zu leben“. Da der Zustand Ravels sich weiter ver- schlechterte, brachte man ihn mit dem Verdacht einer Hydrozephalie mit zunehmender Hirndrucksym- ptomatik zu dem Hirnchirurgen C.
Vincent. Am 19. Dezember 1937 öffnete Vincent den Schädel. Einen Gehirntumor fand er nicht; die lin- ke Gehirnhälfte war in ihrer Kam- mer zusammengefallen. Eine Wo- che nach der Operation fiel Ravel sanft in Agonie und starb am 28. De-
zember. n
Dr. med. habil. Klaus Janowski
MAURICE RAVEL (1875–1937)
Zwischen Hoffnung und Mutlosigkeit
Durch die Pick-Krankheit verlor Ravel „nicht die Fähigkeit, Musik zu komponieren, sondern er verlor die Fähigkeit, sie auszudrücken“.
Fotos:picture-alliance
Maurice Ravel am Klavier, Fotogra- fie, um 1930. Trotz aller Erfolge berei- tete ihm sein Ge- sundheitszustand wachsende Sorge.