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(1960) PhilippeAriès(1914–1984), GeschichtederKindheit K K

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Philippe Ariès (1914–1984), Geschichte der Kindheit (1960)

PATRICKBÜHLER

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Dass die Geschichte seiner eigenen Kindheit nicht etwa am 21. Juli 1914, einem Diens- tag, in Blois mit der Geburt in eine streng katholische und erzkonservative Familie beginnt, sondern eigentlich im 16. Jahrhundert anfängt, hat Philippe Ariès selbst 1960 in seinerGeschichte der Kindheit dargelegt. Dank dieser Studie und vor allem ihrer amerikanischen Ausgabe 1962Centuries of Childhood: A Social History of Family Life gelingt Ariès der internationale Durchbruch als Historiker. Sein Ruhm verhilft ihm schließlich sogar dann noch zu einer Stelle an derÉcole des Hautes Études en Sciences Socialesin Paris. An diese renommierte Lehranstalt wird Ariès jedoch erst 1978 mit 64 Jahren nur wenige Jahre vor seinem Tod – er stirbt am 2. September 1984 – berufen.

Bevor er damit zum Kollegen von so bekannten ›Annales‹-Historikern der ›zweiten Generation‹ wie André Burguière, Roger Chartier, Georges Duby, Jean-Louis Flandrin, Jacques Le Goff oder Pierre Nora wird, ist Ariès fast sein Lebtag lang – so lautet der Titel seiner Autobiographie – ein »Sonntagshistoriker«. Denn ab 1943 leitet Ariès die Doku- mentationsabteilung eines Instituts für tropische Früchte, desInstitut des Fruits et Agru- mes Coloniaux. Nach dem Krieg betreut er daneben als Lektor beim Plon-Verlag auch eine historische Reihe. Außer kleineren Studien und den Arbeiten, die er für das Ge- meinschaftswerkHistoire de la vie privée(1985–1987) zu unternehmen beginnt, verfasst Ariès den größten Teil seines Werks neben seiner Berufstätigkeit, so seineGeschichte der Kindheit, so seine nicht minder berühmteGeschichte des Todes(1977). Bei Plon findet Ariès übrigens eines Tages das dicke Manuskript einer Doktorarbeit in Philosophie vor, das von allen anderen Verlagen abgelehnt wurde. Nach der Lektüre, die ihn begeistert, setzt sich Ariès für die Studie ein, die schließlich in seiner Reihe erscheint: Es handelt sich um Michel FoucaultsFolie et déraison: Histoire de la folie à l’âge classique(1961).2

Ariès’ Schulzeit verläuft tumultuös, da er ein schwieriger und undisziplinierter Schüler und ebenso geschickt wie furchtlos im Erfinden von Ausreden und Geschich- ten ist. Fleißig fälscht er etwa die Unterschrift seines Vaters, um ungestört ins Kino gehen zu können. Außer Latein kann er kein Fach leiden, eine Liebe, die bis zu seinem Lebensende Bestand haben wird. Noch im Alter liest Ariès täglich Texte auf Latein, so etwa dieVulgata. Die katholische Messe auf französisch zu feiern, scheint ihm über- haupt ein grundlegender theologischer Irrtum und eigentümlicher ästhetischer Fehl-

KulturPoetik Bd. 12,1 (2012), S. 109–117, ISSN 1616-1203

© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2012

1In dieser Rubrik werden, nach einheitlichem Grundschema, ›klassische‹ Werke zur Theorie von Kultur und Kulturwissenschaft vorgestellt.

2Vgl. Philippe Ariès, Un historien du dimanche. Avec collaboration de Michel Winock. Paris 1980, S. 145.

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griff zu sein. Nachdem Ariès wenig erfolgreich verschiedene katholische Schulen durchlaufen hat – er wird von Orden zu Orden gereicht –, verfrachten seine Eltern ihn in die Provinz, wo er das Fernabitur ablegt. Danach studiert er ein Jahr lang Ge- schichte des Mittelalters in Grenoble und darf dann ›wegen guter Führung‹ nach Paris zurückkehren, wo er an der Sorbonne sein Studium abschließt. Während des Zweiten Weltkriegs, der ihn in den Ferien überrascht, ist er nur für kurze Zeit Soldat. Danach arbeitet Ariès als Geschichtslehrer an einem Institut des Vichy-Regims. Bei deragré- gation, der Prüfung, um in den höheren Schuldienst aufgenommen zu werden, fällt er zwei Mal beim mündlichen Examen durch. Während der Vorbereitungen zum zweiten Anlauf entdeckt Ariès 1941 entzückt die Bücher Marc Blochs und Lucien Febvres, ihre ZeitschriftAnnalessowie die französische Soziologie.3

Ariès selbst betont immer wieder, wie sehr er durch sein Engagement von frühester Jugend in der äußerst rechten, antisemitischen, royalistischenAction françaisegeprägt worden sei, zu deren Anhängern auch alle seine Verwandten zählten: Er komme aus einer »ganz und gar reaktionären Familie«.4Erst die Enttäuschung seiner politischen Hoffnungen und die Erschütterung seines Weltbilds durch den Zweiten Weltkrieg – zuerst setzt Ariès noch auf Vichy – hätten aus ihm eine Art rechten, reaktionären Anarchisten gemacht.5Ariès’ politische Wandlung vollzieht sich dabei in Raten. So engagiert er sich noch bis in die 60er Jahre hinein als Journalist in rechten Blättern zusammen mit seinen alten Freunden aus derAction française, denen er bis zu seinem Tod die Treue hält. Studien zu Ariès’ Leben und Werk heben denn auch hervor, dass Ariès sein schweres reaktionäres Trauma erst durch ein langsames ›Erinnern, Wieder- holen und Durcharbeiten‹ – davon legt auch etwa seine AufsatzsammlungLe temps de l’histoire(1954) Zeugnis ab – in eine ebenso sublime wie sublimierte rechte, roya- listische Historiographie verwandelt habe. Schließlich finde Ariès eine idyllische Grö- ße und Herrlichkeit des alten Frankreichs da, wo sie niemand zu suchen gewagt hätte:

in der Geschichte der Regionen, der Bevölkerung und ihrer Einstellung zum Leben, der Kindheit, des Todes und des Privatlebens.6

Wie seineHistorie des populations françaises et leurs attitudes devant la vie depuis le XVIIIesiècle(1947) zeigt, begeistert sich Ariès schon früh für Statistik. Wäre es nach ihm gegangen, hätte die Monographie noch »et devant la mort« im Titel tragen sollen, aber dem Verleger war dieser Zusatz zu düster. Rückblickend stellt Ariès fest, sein ganzes Werk finde sich in dieser Studie »vorprogrammiert«.7Und tatsächlich enthält die Abhandlung auch ein Kapitel zu »L’enfant et la famille«, das nachträglich als eine Art erste Skizze derGeschichte der Kindheitgelten kann und deren zentrale These vorwegnimmt. Im 18. Jahrhundert komme es – später setzt Ariès diesen emotionalen Urknall etwas früher an – zu einer »Gefühlsexplosion«.8Man beginne sich für Kinder zu interessieren, scheide sie von den Erwachsenen und schreibe ihnen nun erstmals

3Vgl. Ariès (Anm. 2), S. 38–40, 47, 73–82 u. 191–202.

4Philippe Ariès, Confessions d’un anarchiste de droite. In: Contrepoint 16 (1974), S. 87–99;

hier S. 88.

5Zum reaktionären Anarchisten vgl. ebd., S. 92; Ariès (Anm. 2), S. 149 u. 202.

6Zur Sublimierung von Ariès’ reaktionären Ansichten vgl. Guillaume Gros, Philippe Ariès.

Un traditionaliste non-conformiste de l’Action française à l’École des hautes études en sciences sociales (1914–1984). Villeneuve d’Ascq 2008; Patrick H. Hutton, Philippe Ariès and the Politics of French Cultural History. Amherst, Boston 2004.

7Ariès (Anm. 2), S. 92.

8Philippe Ariès, Histoire des populations françaises et de leurs attitudes devant la vie depuis le XVIIIesiècle. Paris 1979, S. 324.

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eigene Lebensformen zu: Ein neuer, moderner Typ von Familie entstehe. Solche tief- greifenden kulturellen Veränderungen ließen sich jedoch weder durch den Zerfall von Sitte und Brauch, noch durch die sich wandelnde Wirtschaftslage erklären. Ariès hat – wie er nachträglich feststellt – also schon damals Mentalitätsgeschichte betrieben:9 Er habe, einem Ethnologen nicht unähnlich, die »unbewussten«, »versteckten« »Me- chanismen« der Gesellschaft beschreiben wollen.10Denn auch die Moderne schaffe sich »Mythen«. So sei das Familiengefühl, das man für uralt und durch die Moderne bedroht gehalten habe, tatsächlich selbst ein neue, moderne ›Erfindung‹.11

Auch nach seinerHistorie des populations françaisespflegt Ariès sein Faible für Zah- len – sowohl in seiner ›Nebenbeschäftigung‹ als Historiker als auch in seinem Berufs- leben. Als Leiter der Dokumentationsabteilung für tropische Früchte hilft er mit Elan, eines der ersten modernen Datenverarbeitungssysteme Frankreichs aufzubauen.12So- wohl Ariès’ politisches›debriefing‹ als auch seine Geschichtsschreibung scheinen so auch dessen scharfem ›Ingenieursblick‹ geschuldet zu sein. Ohne ihn hätte Ariès we- der die ›Konstruktionspläne‹ seiner eigenen, noch die der europäischen Kultur be- schreiben können. Ariès’ Beruf sei dessen offenes Geheimnis, wie Foucault in seinem Nachruf festhält. Ohne die Kenntnis der »Informatikrevolution« und der internatio- nalen technischen »Modernität« – Ariès war ein weitgereister Experte – wäre seine Art, Geschichte zu schreiben, nicht möglich gewesen.13

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Mit dem TitelGeschichte der Kindheiterhebt die deutsche Übersetzung 1975 die Über- schrift eines Unterkapitels von Ariès’ Studie zum Haupttitel. Wie eine Fußnote des Vorworts zur deutschen Ausgabe erläutert, hätten die Herausgeber diesen Titel »in Anlehnung an Michel FoucaultsHistoire de la folie« gewählt.14Dieser Entscheidung könnte man durchaus etwas abgewinnen, da Ariès und Foucault sich sehr schätzten und sich in ihren Werken durchaus Übereinstimmungen feststellen lassen. So schreibt Ariès etwa in seiner Autobiographie, dass er, ohne es zu wissen, in eine ganz ähnliche Richtung wie Foucault geforscht habe: DieGeschichte der Kindheitspüre ebenfalls den

›weichen‹, modernen Mechanismen des ›Überwachens und Strafens‹ nach.15Den- noch hat die deutsche Überschrift das Problem, dass Foucaults Studie im Titel zusätz- lich die Präzisierung »à l’âge classique« aufweist und Ariès’ Untersuchung im Original eben die nüchternere und genauere BezeichnungL’enfant et la vie familiale sous l’an- cien régimeträgt.16Der Titel der deutschen Übersetzung weitet also zum einen Ariès’

9Ariés (Anm. 8), S. 1 u. 399 f.

10Philippe Ariès, L’histoire des mentalités. In: Jacques Le Goff, Roger Chartier, Jacques Revel (Hg.), La nouvelle histoire. Paris 1978, S. 402–423; hier S. 408 u. 423.

11Philippe Ariès, Préface. Histoire d’un livre qui n’en finit pas. In: Ders., Essais sur l’histoire de la mort en Occident du Moyen Age à nos jours. Paris 1975, S. 7–14; hier S. 8.

12Vgl. Ariès (Anm. 2), S. 125–128.

13Michel Foucault, Le souci de la vérité. In: Ders., Dits et écrits. 4. Band. Paris 1994, S. 646–649; hier S. 647.

14Hartmut von Hentig, Vorwort. In: Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit. München 1975, S. 7–44; hier S. 9. – Den Titel der englischen AusgabeCenturies of Childhoodhält Ariès übrigens für schön, aber falsch; vgl. Ariès (Anm. 2), S. 138.

15Vgl. Ariès (Anm. 2), S. 208.

16Michel FoucaultsFolie et déraison: Histoire de la folie à l’âge classique(1961) wird 1972 neu

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Geschichte unerlaubt ›undifferenziert‹ aus. Zum anderen wird dadurch auch ver- deckt, dass nicht nur die Kindheit, sondern auch das Familienleben Gegenstand von Ariès’ Untersuchung ist. Zuerst hatte Ariès’ statt »la vie familiale« sogar »le sentiment familial« für den Titel vorgesehen. Die erfolgreiche deutsche Taschenbuchausgabe, deren 17. Auflage 2011 gedruckt wird, lässt sich neben dem Titel noch eine weitere Nachlässigkeit zu Schulden kommen: Sie druckt die wichtigen Illustrationen der fran- zösischen Ausgabe nicht ab. DieGeschichte der Kindheitentsteht nämlich aus einer abgebrochenen Geschichte der Bekleidung heraus, die Ariès anhand von Stichen schreiben wollte, und die Interpretation von Bildern ist denn auch für dieGeschichte der Kindheitnach wie vor von großer Bedeutung.17

Ariès’ Untersuchung gliedert sich in drei Teile, die das Kindheitsgefühl, das Schul- leben und die Familie behandeln. Im ersten Teil vertritt Ariès den Standpunkt, dass es die Kindheit als spezielles Lebensalter im Mittelalter nicht gegeben habe. Dabei stützt Ariès sich auf ein fehlendes Vokabular für Kinder, auf Bilder, in denen Kinder entweder nicht vorkommen oder als ›verkleinerte‹ Erwachsene dargestellt werden, auf Grabsteine, auf denen sie nicht verzeichnet werden, und auf die Belletristik, in der ihnen kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird. Überlieferungen dazu, wie man Kinder kleidet, mit welcher Freizügigkeit sie am Leben der Erwachsenen teilnehmen und wel- che Spiele sie spielen, benützt Ariès ebenfalls als Belege, um seine These zu untermau- ern. Lange Zeit gebe es keine eigentlichen Kinderspiele (oder nur für die sehr frühe Kindheit), sondern viele der Spiele und Beschäftigungen – wie die mit Märchen oder Masken – seien allen gemeinsam: Erwachsene begeisterten sich ebenfalls für Märchen und verkleideten sich, auch sie spielten mit Puppen (so wie es auch Knaben tun) und besuchten das Kasperle-Theater. Ein neues Gefühl, eine neue Bedeutung der Kindheit lässt sich nach Ariès erst ab dem 16. Jahrhundert beobachten, auch wenn die langsame Entdeckung der Kindheit schon im 13. Jahrhundert beginne, wie Darstellungen des Jesus-Kindes zeigten. Im 17. Jahrhundert nähme dieses neue Gefühl dann genauere Formen an, besonders bedeutsam seien dabei die frommen Innerlichkeitsbewegun- gen, für Frankreich der Jansenismus: Im 18. Jahrhundert komme es schließlich zum

›Durchbruch‹ dieses neuen Gefühls und die ›Absonderung‹ der Kindheit setze sich durch. Die neue Vorstellung und Bedeutung der Kindheit lasse sich dabei zuerst in der Oberschicht und bei Knaben beobachten und dehne sich dann erst allmählich auf Mädchen und alle Klassen aus. Diese neue Art der Kindheit sei überdies nicht von einem neuen, paradoxen pädagogisch-psychologischen Interesse und einer ebenfalls widersprüchlichen moralischen Sorge zu trennen: Die Unschuld des Kinds soll be- wahrt und dennoch sein Charakter gestärkt und sein Denken entwickelt werden.

Der zweite Teil der Studie besteht in einer Geschichte der Schule, da nach Ariès die Entdeckung der Kindheit und die Entwicklung der Schule zusammenfalle. Wiederum geht Ariès vom offeneren, freieren Mittelalter aus, auf das eine immer stärker diszi- plinierende moderne Schule folge. So kennt nach Ariès das Mittelalter weder nach Stufen organisierte Lehrpläne – man besucht parallel Veranstaltungen für Anfänger und Fortgeschrittene – noch Klassen oder getrennte Unterrichtsräume: In einem gro- ßen Saal werden gleichzeitig verschiedene Veranstaltungen gehalten. Die ›Schüler‹

sind dabei ziemlich frei, zum Teil auch alt, in jedem Fall nicht nach ihrem Alter ›sor- tiert‹. Es herrscht zudem eine ziemlich ungezwungene Komplizenschaft zwischen Stu-

alsHistoire de la folie à l’âge classiqueaufgelegt. Die deutsche Übersetzung erscheint 1969 als Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft.

17Vgl. Ariès (Anm. 2), S. 134–136.

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denten und Lehrern. Für die Zeit nach dem Mittelalter beobachtet Ariès, wie Schulen zunehmend reguliert und kontrolliert werden: Die Administration der Schulen wach- se, Moral und Disziplin der Schüler würden immer wichtiger, genau so wie die Be- schäftigung mit dem für sie angemessenen Stoff zunehmend an Bedeutung gewinne.

Denn nun sei man davon überzeugt, dass Kinder ein eigenes Lebensalter hätten, schwach seien und dass ihre Lehrer die Verantwortung für die Moral ihrer Schüler zu übernehmen hätten. Vor dem 17. Jahrhundert existiere die Vorstellung eines wohler- zogenen Kindes überhaupt nicht. Mit diesem neuen Konzept änderten sich auch Dau- er und Ausbreitung der Schule: Immer mehr Jugendliche und Kinder gingen immer länger – die Elementarschule entsteht im 16. Jahrhundert – in die Schule. Ebenso wandelten sich die Schulformen – das Internat entwickelt sich – und die Strafen. Ken- ne das Mittelalter Geldstrafen, und zwar gerne in der Form, dass man eine Runde Wein ausgeben musste, komme es ab dem 15. Jahrhundert zu einer massiven Ausbrei- tung der Körperstrafen, vor allem durch die Rute, die in Frankreich dann ab Mitte des 18. Jahrhunderts wieder in Frage gestellt werde.

Der dritte, letzte und kürzeste Teil derGeschichte der Kindheituntersucht schließ- lich die Familie. Ariès zeigt, wie die Familie als Sujet in der Malerei überhaupt erst im 16. Jahrhundert auftaucht und sich danach im 17. und 18. Jahrhundert stark verbrei- tet. Nach Ariès handelt es sich dabei um ein Zeichen des neuen Familiengefühls, das nicht von der neuen Auffassung der Kindheit zu trennen sei, sondern sich unter an- derem in diesem ausdrücke. Im Mittelalter hätte es komplizierte Formen von ›Groß- familien‹ und zahlreiche Arten des Zusammenlebens gegeben, für die das ›Familien- gefühl‹ vor allem in einer Frage der Erbfolge bestanden habe und nichts mit einer eingeschränkten, exklusiven Intimität, Zuneigung oder einem gemeinsamen Haus und Herd zu tun gehabt hätte. Gerade wegen der herrschenden sozialen Dichte sei der Familie nur wenig Platz eingeräumt worden. Dass das Kind dann neu das Zent- rum der Familie bilde, zeige sich z. B. auch daran, dass im 18. Jahrhundert das Recht des Erstgeborenen als ungerecht gegenüber den anderen Nachkommen angegriffen werde oder es immer mehr in Verruf komme, Kinder von Ammen stillen zu lassen.

Diese Veränderungen ließen sich auch an der Inneneinrichtung und der Verwendung von Räumen studieren. Im Mittelalter gebe es keine Kinderzimmer, aber auch keine speziellen Ess-, Schlaf- oder Wohnzimmer: Ein Raum werde meist multifunktional für alles genutzt. Bis Ende des 17. Jahrhunderts sei niemand je allein, im 18. Jahrhun- dert entwickle sich dann überhaupt erst so etwas wie ein Privatleben.

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Im Vorwort zur gekürzten Neuausgabe seinerHistoire des populations françaises et de leurs attitudes devant la vie depuis le XVIIIesièclestellt Ariès 1979 fest, dass er nun kaum mehr den Wagemut aufbrächte, so schematisch zu verfahren wie damals. Seine These behalte er dennoch als Ganzes bei, auch wenn er sie im Einzelnen nuancieren würde: Im 19. Jahrhundert setze sich eine neue moderne Vorsorgegesellschaft und eine neue moderne Form der Familie durch. Wie Ariès zugleich anmerkt, wäre eine abgeschwächte Hypothese vermutlich aber auch weniger anregend gewesen.18Ein ganz ähnliches Urteil ließe sich ebenfalls über seineGeschichte der Kindheitfällen und Ariès selbst scheint auch zu einem entsprechenden Schluss zu gelangen. Im Vorwort

18Vgl. Ariès (Anm. 8), S. 2.

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zur Neuausgabe derGeschichte der Kindheitunterstreicht er nämlich 1973, dass er zwei Hauptthesen vertreten habe, die von verschiedenen ›Kreisen‹ ganz unterschiedlich aufgenommen worden seien. Erstens habe er versucht, den Stellenwert der Kindheit, deren ›Fehlen‹ als eigenes Lebensalter im Mittelalter zu beschreiben. Zweitens habe er die neue, entscheidende Bedeutung von Kindheit und Familie seit dem 18. Jahrhun- dert aufzeigen wollen. Während die zweite These bei Pädagogen, Psychologen und Soziologen auf breite Zustimmung gestoßen sei, hätten die Historiker nur mit skep- tischer Zurückhaltung auf seine erste Annahme reagiert.19

An dieser reservierten Aufnahme von Ariès erster These hat sich bis heute nur wenig geändert. Denn zwar ist es nach wie vor eigentlich unmöglich, über Kindheit und Familie zu schreiben, ohne Ariès zu erwähnen, dabei fehlt aber auch fast nie der Hinweis, dass Ariès sich wohl, was die ›fehlende‹ Kindheit im Mittelalter anbelange, gründlich geirrt habe. So sei es Ariès gewesen, wie Steven Ozment hervorhebt, »who has done the most to shape our present-day view of the family, past and present«.

Ozment unterstreicht in seinem ÜberblickAncestors: The loving Family in Old Europe jedoch auch – schon der Untertitel stellt eine Art ›Kampfansage‹ dar –, dass es sich bei der Idee eines »evolutionary development of the sentimental family over centuries«

um einen »Arièsian myth« handle.20Solche Kritik wird von Historikern schon sehr früh geäußert und führt zu einer sehr reichen ›Gegen-Ariès‹-Kindheitsforschung, die Ariès wiederum gut gefällt: »Kritiken sind lehrreicher als Billigung oder Zustim- mung«.21Ariès kanonischer Status als ein teilweise unglaubwürdiger ›Gründervater‹

lässt sich etwa auch daran ermessen, dass seine Annahmen mitsamt der Kritik daran nun auch zum Schulbuchwissen für die gymnasiale Oberstufe und zum ›pädagogi- schen Grundwissen‹ geronnen sind.22Dass Ariès’ erste Vermutung, verglichen mit seiner zweiten, weniger Argwohn hervorruft, liegt natürlich auch daran, dass sie we- niger überraschend ist. Denn dass sich die moderne Familie – mitsamt dem Staat als Faktor des Familienlebens – zu einer ›konjugalen‹, intimen wandelt, beschreibt etwa Émile Durkheim bereits 1892 in einer Vorlesung.23

Eines der großen Verdienste Ariès’ ist es, überhaupt Kindheit, Familie und die da- zugehörigen Gefühle zu einem Forschungsgegenstand erhoben zu haben, da vor ihm solchen Fragestellungen nur wenig Beachtung geschenkt wurde. Erst seit den 70er Jahren gibt es dann eine ausgiebige Forschung mitsamt spezialisierten Zeitschriften dazu. Eine weitere Leistung besteht darin, dass Ariès sich nicht nur neuen Forschungs- objekten zuwendet, sondern dabei auch eine neue Methode benutzt. Ariès fasst näm- lich schon 1960, lange bevor es allgemein üblich wird, Kindheit und Familie als kul-

19Philippe Ariès, Préface à la nouvelle édition. In: Ders., L’enfant et la vie familiale sous l’An- cien Régime. Paris 1973, S. I–XX; hier S. III u. VI.

20Steven Ozment, Ancestors. The Loving Family in Old Europe. Cambridge, London 2001, S. 9, 21.

21Für einen Überblick über Forschung vgl. z. B. Marie-Madeleine Compère, L’histoire de l’éducation en Europe. Essai comparatif sur la façon dont elle s’écrit. Bern u. a. 1995, S. 155–182;

Margret L. King, Concepts of Childhood. What We Know and Where We Might Go. In: Renais- sance Quarterly 60 (2007) 2, S. 371–407; Ozment (Anm. 20).

22Vgl. Simone Alberts/Bettina Heine, Geschichte der Kindheit. Baltmannsweiler 2009; Her- bert Gudjons, Pädagogisches Grundwissen. Überblick – Kompendium – Studienbuch. Bad Heil- brunn 10. Aufl. 2008, S. 78 f.; Winfried Marotzki/Arnd-Michael Nohl/Wolfgang Ortlepp, Ein- führung in die Erziehungswissenschaft. 2., durchges. Aufl. Opladen, Farmington Hills 2006, S. 74 f.

23Émile Durkheim, La famille conjugale. In: Ders., Textes. 3. Band. Paris 1975, S. 35–49.

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turell, historisch ›gemacht‹ auf: »Ariès’s greatest contribution [. . .] is his insistence on the historicity of childhood: that childhood was not an essential condition, a constant across time, but something that changed«.24So hat Ariès’ Studie »einem breiten Pub- likum die Einsicht in die Geschichtlichkeit von Kindheit vermittelt und damit der Kindheitsforschung einen entscheidenden Impuls gegeben«.25Da Ariès sich also nicht für ›ein ewig Seiendes‹ zu begeistern vermag wie etwa die Idee der Kindheit oder der Erziehung, sondern wie andere Forscher von historischen ›Brüchen‹ und kulturellen

›Konstruktionen‹ ausgeht, vermag es auch nicht wirklich zu erstaunen, dass dieGe- schichte der Kindheitetwa von Foucault – z. B. inSurveiller et punir: Naissance de la prison(1975) – oder Niklas Luhmann – z. B. inDas Erziehungssystem der Gesellschaft (2002) – gerne angeführt wird. Neu an Ariès’ Arbeitsweise ist schließlich auch, was er für seine Geschichte von anscheinend biologisch gegebenen Tatsachen und angeblich natürlichen Gefühlen als Quellen heranzieht. So verwendet Ariès als ›Indizien‹ etwa Bilder, Biographien, sich wandelnde Bezeichnungen, Spielzeug oder Inneneinrichtun- gen. Auch in dieser Hinsicht ist Ariès ein Pionier. Heute werden etwa die »reiche Fülle der Bilder, in denen Individuen und Erziehungsverhältnisse in der abendländischen Geschichte gegenwärtig sind«, dank Ariès und »der Kritik«, die an seiner Studie geübt wurde, wie selbstverständlich als Quellen genutzt, um »die symbolische und struktu- relle Ordnung des Alltagslebens« zu erforschen.26

Ein solcher Ansatz, der sich mit scheinbar unwichtigen ›Spuren‹ angeblich bedeu- tungsloser Gegenstände beschäftigt, um zu zeigen, wie vermeintlich natürliche Tatsa- chen eine Geschichte haben, hat Ariès selbstverständlich – und das ist eine ›Moral‹

seinerGeschichte der Kindheit– nicht erfunden, sondern eine solche Methode hat selbst eine Geschichte. Es handelt sich um ein »epistemologisches Modell«, das sich in der Wissenschaft »gegen Ende des 19. Jahrhunderts« entwickelt und sich in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts als Kulturgeschichte und –wis- senschaft zu etablieren beginnt: Man stützt sich auf ein »Indizienparadigma«, das verräterische, vermeintliche Details unter die Lupe nimmt.27Denn was unter anderem Marc Bloch, Lucien Febvre, Sherlock Holmes oder Aby Warburg versuchen, ist – so beschreibt es 1914 Sigmund Freud, ein weiterer Verfechter dieser Vorgehensweise –

»aus gering geschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub – dem›refuse‹

– der Beobachtung, Geheimes und Verborgenes zu erraten«.28Das neue kulturwissen- schaftliche Vorgehen besteht also schlicht darin, den Wert des anscheinend Wertlosen zu erkennen und kulturelle ›Ausscheidungen‹, den symbolischen ›Müll‹, zu erfor- schen.29Ariès ist Teil dieser›nouvelle histoire‹, welche die vielfältigen, verborgenen

24King (Anm. 21), S. 372.

25Michael-Sebastian Honig, Entwurf einer Theorie der Kindheit. Frankfurt/M. 1999, S. 28.

26 Heinz-Elmar Tenorth, Historische Bildungsforschung. In: Rudolf Tippelt/Bernhard Schmidt (Hg.), Handbuch Bildungsforschung. 3., durchges. Aufl. Wiesbaden 2010, S. 135–153;

hier S. 142 f.

27Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. In: Ders., Spu- rensicherung. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. Berlin 1983, S. 61–96; hier S. 61 u. 90.

28Vgl. Sigmund Freud, Der Moses des Michelangelo. In: Ders., Gesammelte Werke. Bd. 10.

Frankfurt/M. 1967, S. 172–201; hier S. 185; zit. nach Ginzburg (Anm. 27), S. 65.

29Für das englischerefuse, »[t]hat which is cast aside as worthless; rubbish or worthless mat- ter of any kind«, so dasOxford English Dictionary, wählt Sigmund Freud an anderer Stelle die Übersetzung »Abfall«. DerAdelungverweist unter ›Abhub‹ auch darauf, dass man neben dem-

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›Mechanismen‹ der Kultur untersucht, deren Geschichte zu beschreiben versucht und nur wenig Begeisterung für vermeintlich einschneidende Ereignisse, wichtige Institu- tionen oder große Persönlichkeiten hegt.30Dass Ariès selbst immer wieder auf die Geschichte seiner Art Geschichte zu schreiben zu sprechen kommt, ist schließlich ein weiteres seiner großen Verdienste und ein weiterer Grund für die Wirkung seiner ebenso ingeniösen wie kurzweiligen Studien: »Ariès hatte Eleganz – moralische und intellektuelle Eleganz« –, er besaß die »Generosität« und den Sinn für »Ironie« eines

»Edelmanns«.31

Auswahlbibliographie Textausgaben

L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime, Paris 1960; neue Ausgabe mit neuer Vorrede Paris 1973. Übersetzungen z. B. auf Englisch: Centuries of Childhood: A Social History of Family Life. London, New York; Dänisch: Barndommens historie, København 1982;

Deutsch: Geschichte der Kindheit, München 1975; Italienisch: Padri e figli nell’Europa me- dievale e moderna. Roma, Bari 1976; Portugiesisch: A criança e a vida familiar no antigo regime. Lisboa 1988; Spanisch: El niño y la vida familiar en el antiguo régimen. Madrid 1988.

Ausgewählte Sekundärliteratur

Albrecht Classen, Philippe Ariès and the Consequences. History of Childhood, Family Re- lations, and Personal Emotions: Where Do We Stand Today? In: Ders. (Hg.), Childhood in the Middle Ages and the Renaissance. The Results of a Paradigm Shift in the History of Mentality. Berlin, New York 2005, S. 1–65.

André Burguière, L’école des »Annales«. Une histoire intellectuelle. Paris 2006.

Peter Burke, What Is Cultural History? Cambridge 2004.

Pia Haudrup Christensen, Children as the Cultural Other: The Discovery of Children in the Social Cultural Sciences. In: Kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 6 (1994), S. 1–16.

Martin Dinges, Philippe Ariès (1914–1984). Pionier der Mentalitätengeschichte. In: Klaus Garber (Hg.), Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Ihr Werk im Blick auf das Europa der Frühen Neuzeit. München 2002, S. 283–306.

Guillaume Gros, Philippe Ariès. Un traditionaliste non-conformiste de l’Action française à l’École des hautes études en sciences sociales (1914–1984). Villeneuve d’Ascq 2008.

Edmund Hermsen, Ariès’ »Geschichte der Kindheit« in ihrer mentalitätsgeschichtlichen und psychohistorischen Problematik. In: Friedhelm Nyssen/Ludwig Janus (Hg.), Psy-

jenigen, »was abgehoben wird, besonders in den Bergwerken«, an »einigen Höfen« auch »die Speisen, welche von der herrschaftlichen Tafel abgetragen werden«, als »Abhub« bezeichne; vgl.

Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. 1.

Band. 2. Aufl. Leipzig 1793, Sp. 55; Sigmund Freud, Charakter und Analerotik. In: Ders., Gesam- melte Werke. Bd. 7. Frankfurt/M. 1955, S. 203–209; hier S. 208; Eintrag ›refuse‹. In: John Andrew Simpson/Eva S. C. Weiner (Hg.), The Oxford English Dictionary Bd. 13. 2. Aufl. Oxford 1989, S. 494 f.; hier S. 494.

30Vgl. z. B. Peter Burke, What Is Cultural History? Cambridge 2004; Jacques Le Goff, L’his- toire nouvelle. In: Ders./Roger Chartier/Jacques Revel (Hg.), La nouvelle histoire. Paris 1978, S. 210–241.

31Foucault (Anm. 13), S. 647 u. 649.

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chogentische Geschichte der Kindheit. Beiträge zur Psychohistorie der Eltern-Kind-Be- ziehung. Gießen 2. Aufl. 2002, S. 127–158.

Michael-Sebastian Honig, Entwurf einer Theorie der Kindheit. Frankfurt/M. 1999.

Michael-Sebastian Honig, Das Kind der Kindheitsforschung. Gegenstandskonstitution in denchildhood studies. In: Ders. (Hg.), Ordnungen der Kindheit. Problemstellungen und Perspektiven der Kindheitsforschung. Weinheim, München 2009, S. 25–51.

Patrick H. Hutton, Philippe Ariès and the Politics of French Cultural History. Amherst, Boston 2004.

Margaret L. King, Concepts of Childhood. What We Know and Where We Might Go. In:

Renaissance Quarterly 60 (2007) 2, S. 371–407.

Fritz Osterwalder, Jansenismus und pädagogische Reformen im ausgehenden 17. Jahrhun- dert. In: Zeitschrift für pädagogische Historiographie 8 (2002) 2, S. 43–49.

Christin Sager, Die »Geschichte der Kindheit«. Internationale und disziplinäre Unterschie- de in der Rezeption von Philippe Ariès. In: Zeitschrift für pädagogische Historiographie 14 (2008) 2, S. 71–75.

PD Dr. Patrick Bühler, Universität Bern, Institut für Erziehungswissenschaft, Muesmatt- straße 27, CH-3012 Bern; E-Mail: buehler@edu.unibe.ch

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