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Stille Tage in der Calle Ocho

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132 IP September / Oktober 2013

© Henning Kettel

Brief aus … Miami

Stille Tage in der Calle Ocho

Die viel gescholtene kubanische Exilgemeinschaft genießt den Pluralismus

Marko Martin | Seit Jahrzehnten ist das immer gleiche Mantra zu hören:

Schuld an Kubas ökonomischer Mise- re seien das US-Embargo und „die“

kubanischen Exilanten in Miami. Die scheint man immer noch für eine ho- mogene Masse Zigarre paffender Oli- garchen zu halten, die nach einem Ende des Castro-Regimes flugs wieder auf ihre Latifundien zurückkehren und dem Sozialstaat den Garaus ma- chen würden. Die Alternative zu Castro wäre also feudale Regression.

Die alte Exilanten-Generation mag längst auf den idyllischen Friedhöfen Floridas liegen. Doch ein Verweis auf die sichtbare kubano-amerikanische Präsenz im Finanzdistrikt Miamis ge- nügt, um das Schreckgespenst eines dollarstarken „militärisch-industriel- len Komplexes“ auch heute noch zu beschwören. Dabei plädiert die Mehr- heit der Exil-Kubaner (deren größter Teil in den USA geboren wurde) für eine Lockerung der Sanktionen; Geld- überweisungen und Hilfspakete des

„Miami-Exils“ sichern Kubas Bevölke- rung seit Jahrzehnten das Überleben.

Wer in diesen Tagen durch Miamis 8th Street, die als „Little Havanna“

berühmte „Calle Ocho“ streift, wird in Cafés und Geschäften jedoch vor allem

nicaraguanisches und venezolanisches Personal finden: eine gänzlich neue Generation von Flüchtlingen, die vor autoritärer Misswirtschaft geflohen sind. In einem winzigen Park spielen muntere Greise Domino und fügen sich dabei klaglos einer Regelwut, die sich am Parkeingang mit einem Ver- botsschild für öffentliches Rauchen und Trinken bemerkbar macht. Auch das ist eine lebensweltliche Relativie- rung einer weiteren Dämo nisierung, die vor einigen Jahren der konservati- ve Samuel P. Huntington betrieben hatte: Er beschrieb Miami als unregier- bare, nach hispanischem Korruptions- muster umgemodelte Stadt. Ähnlich hatten damals auch Linksliberale wie Joan Didion und Susan Sontags Sohn David Rieff argumentiert: Miami be- fände sich im Würgegriff von Anti- Castro-Rechtsextremisten wie Orlando Bosch und Jorge Mas Canosa, die der ebenfalls kubanischstämmige Bürger- meister Xavier Suarez stillschweigend gewähren ließe.

Inzwischen aber weilen der ehe- malige Terrorist Bosch wie der autori- täre Exilführer Mas Canosa längst nicht mehr auf dieser Welt. Und den einst von Suarez senior betriebenen Stimmenkauf kann sich dessen Sohn

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Von dieser Vielfalt kann man auf Kuba nur träumen

kaum leisten. Ohnehin schleppt sich die Kampagne für die Bürgermeister- wahl im November dahin. Amtsinha- ber Tomás Regalado und Herausforde- rer Francis Suarez streiten sich ma- nierlich über Sachfragen.

„Das ist das Wunderbare an der amerikanischen Demokratie: Selbst die größten Hitzköpfe respektieren ir- gendwann die Regeln und halten ab- weichende Meinungen nicht mehr für Hochverrat.“ Carlos Alberto Monta- ner weiß, wovon er spricht. 1943 in Havanna geboren, nach kurzer Haft 1961 geflohen, ist er seit Jahrzehnten der exilkubanische Intellektuelle schlechthin – präsent in spanisch- und englischsprachigen Zeitungen und Talkshows. Er hat zahlreiche Bü- cher geschrieben, von denen ihm be- sonders der mit Alvaro Vargas Llosa verfasste „Guide to the Perfect Latin American Idiot“ den treuen Hass des Castro-Regimes und seiner intellektu- ellen Sympathisanten eingebracht hat.

Aber auch die Hardliner im Exil hat- ten den überzeugten Liberalen wegen seiner Präferenz für eine kubanische

„Transición“ nach spanischem Vor- bild als „Verräter“ gebrandmarkt.

Davon ist keine Rede mehr. Doch auch die Hoffnung eines evolutionä- ren Regime Change hat sich verflüch- tigt. „Wenn Fidel stirbt, könnte der pragmatischere Raúl zur flexibleren Machtsicherung das vietnamesische Modell von Privatwirtschaft plus poli- tischer Repression ausprobieren oder auch das nicaraguanische Sandinis- ten-Vorbild kopieren: Man erlaubt freie Wahlen, aber behält die Macht über die Armee, die gleichzeitig ihre wirtschaftlichen Pfründe wahrt.“

Dass hingegen die kubanische Exil- gemeinschaft viel heterogener wurde,

das sei nicht zuletzt durch jene An- fang der neunziger Jahre eingetroffe- nen Immigranten zustande gekom- men, die Castro vor allem aus ökono- mischen Gründen hinauskomplimen- tiert hatte, darunter unzählige freigesetzte Geheimdienstmitarbeiter.

Eine neue Fünfte Kolonne? Montaner lächelt. „Nicht in

jedem Fall. Die meisten wurden Teil der kubani- schen Exilcommu- nity und gehören

inzwischen zur unteren Mittelschicht.

Auch das zeigt die trotz aller Krisen funktionierende Bindekraft des ameri- kanischen Modells.“ Er schaltet dann, um die frohe Botschaft ein wenig zu konterkarieren, einen vom venezola- nischen Erdölunternehmen CITGO finanzierten Sender ein, der zwei Stunden täglich seine Frequenz an hiesige Pro-Castro-Journalisten ver- mietet. Und da sind sie wieder, die altbekannten Kampfbegriffe für den Klassenfeind: „Saboteure, Ver räter, Würmer, CIA-Söldner, Agenten des Imperialismus, Schwuchteln, Volks- feinde“. Das Regime in Havanna ist kein Jota moderater geworden. Das viel gescholtene „Miami-Exil“ aber ist derart ausdifferenziert, dass es sogar solche Rabulistik toleriert. Ein Plura- lismus, von dem Kubaner auf der Insel nur träumen können.

Marko Martin lebt als freier Autor in Berlin. Soeben ist sein neuestes Buch erschienen: „Die Nacht von San Salvador.

Ein Fahrtenbuch“

(Andere Bibliothek).

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